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Mission Erholung

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MISSION ERHOLUNG - Kapitel 7
 

Der Ärger fiel dann doch sehr mild aus, beziehungsweise er blieb eigentlich ganz weg. Das war so ungewöhnlich für das cholerische Ehepaar, dass Tatsuomi das ungute Gefühl nicht los wurde, dass diese Ruhe etwas Schlimmeres zu bedeuteten hatte als das übliche Gebrülle.

Am nächsten Morgen öffnete die Frau, zu der er "Mama" sagen musste, die Zimmertür und ließ ihn auf Toilette. Sie fragte nur, wen er hatte anrufen wollen. Sicherheitshalber verschwieg er, was er über Nanjo Hirose herausgefunden hatte und behauptete: "Tante Nadeshiko." Das war schließlich nichts Neues.

Obwohl sie ihm mehrmals ausdrücklich verboten hatten, mit jemandem aus Japan zu telefonieren, schimpfte sie noch immer nicht. Sie sagte nur: "Pack deine Sachen und zieh dich um. Wir reisen ab."

Damit ließ sie ihn wieder allein und er hörte, wie sich das Ehepaar im Wohnzimmer leise unterhielt. Kein Wort von Frühstück, aber er traute sich auch nicht, nach etwas zu Essen zu fragen, obwohl sich sein Magen schon unangenehm bemerkbar machte. Das letzte mal gegessen hatte er mit Pitt und Nagi in Cuxhaven und das war schon einen ganzen Tag her!

(Er hatte keine Ahnung davon, dass Schuldig einige erfolglose Diskussionen mit Nagi geführt hatte wegen dieses Namen. Aber Pitt blieb Pitt, und ohne Gedächtnismanipulation war da nichts mehr zu machen. Und das war es dann doch nicht wert. Dann eben Pitt!)

Der Hunger verging auch schnell wieder, als ihm bewusst wurde, was jetzt geschehen würde. Abreise, das bedeutete Abschied von Nagi. In Bielefeld hatte er keinen einzigen Freund. Und bestimmt konnte er sich nicht einmal verabschieden... er hatte weder Telefonnummer, noch E-Mail-Adresse... er wusste nicht mal, aus welcher Stadt Nagi kam... eigentlich wusste er so gut wie gar nichts über ihn, stellte er erschreckt fest. Mysteriöser Nagi...

"Na, bist du fertig?" Frau Mauritz erschien wieder in seinem Zimmer. Sie lächelte jetzt sogar, das war ja schon fast unheimlich. Aber eigentlich war die Abfahrt auch schon Strafe genug. Tatsuomi nickte stumm und sah sie mit großen Augen an.

"Papa packt das Auto. Bevor wir fahren, wollen wir noch einen Spaziergang zu dem kleinen Weiher machen. Da hinten im Wald, weißt du, wo wir schon mal waren", flötete sie harmlos. "Wir gehen durch die Strandpromenade. Ich kaufe dir ein Eis oder Schokolade, wenn du willst. Papa wartet dann am Waldrand."

Tatsuomi glotzte sie nur sprachlos an. Eis oder Schokolade zum Frühstück? Was war denn mit der los?

Wenig später lief Tatsuomi tatsächlich neben seiner Adoptivmutter an der Ladenzeile entlang, die parallel zum Strand verlief, in einer Hand einen Schokoriegel, in der anderen ein Eis. Unglaublich, aber wahr! Schließlich war er schon oft für viel weniger viel schlimmer bestraft worden. Allerdings wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass sich hinter diesem ruhigen Verhalten des Ehepaares etwas Furchtbares, etwas, das noch nie dagewesen war, verbarg. Dieses Gefühl verdarb ihm sogar den Appetit auf sein Eis, aber um Frau Mauritz nicht zu verärgern, leckte er dennoch langsam daran herum. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit würde er seinen Vater noch einmal anrufen. Und dann würde alles gut werden.

//FALLS ich noch eine Gelegenheit dazu bekomme...// meldete sich seine Vorahnung wieder. Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit diesen beunruhigenden Gedanken vertreiben und wartete darauf, dass Mauritz-San endlich abgelenkt wäre, damit er das Eis entsorgen konnte.

Als hätten die Götter ihn erhört, steuerte sie genau in dem Moment einen der vielen Souvenirläden an: "Ich hole nur schnell dieses Teeservice mit den Muscheln. Das MUSS ich einfach mitnehmen. - Komm!"

Tatsuomi schlängelte sich hinter ihr durch die Ständer mit Muscheln, Tassen, Hüten, Gummistiefeln und kitschigem Porzellan bis zur Ladentür. Als er ihr in das Innere des Geschäftes folgen wollte, wurde er plötzlich zur Seite gezogen. Vor Schreck fiel ihm das Eis aus der Hand.

"Hey, was..." setzte er an, doch dann sah er, wer ihn am Ärmel gepackt hatte: Nagi.

"Tut mir leid", sagte der mit seiner sanften Stimme. "Wegen gestern."

"Schon gut." Tatsuomi freute sich, ihn zu sehen und lächelte ihn an. Jetzt konnte er sich wenigstens noch verabschieden. Allerdings hatte man ihm verboten, Nagi noch einmal zu sehen, darum linste er zur Sicherheit zwischen den Tassen hindurch zu Mauritz-San. Doch die stand mit dem Rücken zu ihm vor der Wand mit den Teekannen und schien in ein Gespräch mit dem Verkäufer vertieft zu sein. Die benahm sich wirklich seltsam heute. Tatsuomi hatte noch nie gesehen, dass sie Tee getrunken hatte.

"Ich muss mit dir reden", sagte Nagi, ohne sein Lächeln zu erwidern. Natürlich. Nagi lächelte nie.

"Ich hab' aber nicht viel Zeit, gomen-nasai." Tatsuomi flüsterte nervös und wagte kaum, seinen Freund anzusehen, weil er seine "Mutter" nicht aus den Augen lassen wollte.

Nagi folgte seinem Blick. Frau Mauritz stand noch immer vor den Teekannen und konnte sich anscheinend nicht zwischen einem Service mit blauen und einem mit bräunlichen Muscheln entscheiden. "Die ist beschäftigt. Pitt und ich müssen fort. Wir reisen ab."

// Schu, irgendwas stimmt nicht mit Tatsuomi. Sieh mal nach!//

// Du hörst dich schon an wie Crawford.//

Tatsuomis Augen weiteten sich überrascht und jetzt vergaß er seine Adoptivmutter. "Ihr reist ab?"

Nagi erwiderte seinen Blick nicht, genauer gesagt blickte er nirgendwo hin. Tatsuomi war aufgefallen, dass er oft so abwesend aussah, als lausche er auf irgend etwas, das niemand sonst hören konnte.

"Ist es wegen gestern? Ist Pitt wütend? Ich... hat dich das gestern zu sehr angestrengt?" Er dachte an ihre erste Begegnung am Strand, wo Nagi auch so weggetreten und schließlich bewusstlos zusammengebrochen war. Augenblicklich bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er Nagi mit seinen Problemen belastet hatte. Hatte nicht sein Bruder, Pitt, auch mal gesagt, dass sie hier waren, damit der junge Japaner sich erholte? Nagi war auch immer so blass und lachte nie. Er war so dünn, dass Tatsuomi dachte, ein Aikido-Wurf könnte ihn zerbrechen. Zum Glück dauerte es diesmal nur einen kurzen Moment.

"Hast du deinen Vater angerufen?" überging Nagi die Fragen.

"Nein..."

"Aber ich."

Tatsuomis Augen wurden noch größer. "Was hat er gesagt?"

"Er hat mir nicht geglaubt. Ist er..." Nagi unterbrach sich plötzlich und machte Tatsuomi ein Handzeichen zu schweigen. Sein Blick ging wieder nach innen.

Tatsuomi beobachtete ihn besorgt, und sah fasziniert, wie Nagis dünnes glattes Haar anfing zu schweben, als wäre es elektrisch aufgeladen.

//Scheiße! Die wollen ihn heute umbringen...// meldete sich Schuldig.

//WAS?//

//...oben am See... sie denkt grad dran... das Seil... ob er unter Wasser bleibt...// Der Kontakt brach ab.

Nagi starrte auf die Frau und versuchte, seine Gefühle zu kontrollieren... //Einatmen. Ausatmen. Ein-//

...um nicht den ganzen Laden über ihr zusammenbrechen zu lassen...

//-atmen. Ausatmen.//

...um zu entscheiden, was jetzt zu tun war.

Tatsuomi fragte sich gerade, ob er es sich einbildete, dass Nagis Augen nicht mehr tiefblau sondern rötlich schimmerten, als er ein seltsames Geräusch hörte. Wie das Verbiegen von Porzellan.

//Das Verbiegen von...???// Er blickte entsetzt zur Seite, wo sich die Souvenir-Tassen langsam zur Seite verbogen.

"Nagi?" Tatsuomi streckte die Hand aus, um ihn am Arm zu fassen, doch kurz bevor er ihn berührte, stieß er gegen eine unsichtbare Barriere. Als wären sie zwei Magneten, die sich abstießen. Überrascht sog er die Luft ein. Inzwischen vibrierte mit leisem Klingen das ganze Gestell mit den Tassen.

//-men. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.// Der Telekinet wurde aus seiner mühsam aufrechterhaltenen Konzentration gerissen, als Tatsuomi plötzlich einen leisen Schrei ausstieß. Nagi drehte sich zu ihm um und sah, dass Herr Mauritz ihn an der Schulter gepackt und auf den Fußweg gezerrt hatte. Seine freie Hand hob sich zu einer kräftigen Ohrfeige, doch sie erreichte den Kopf des Jungen nicht. Mit hörbarem Knacken verbogen sich Finger und Handgelenk wie von selbst in einem unnatürlichen Winkel nach hinten. Der Mann schrie vor Schreck und Schmerz auf und ließ den kleinen Japaner los, um seine Hand zu umklammern.

Tatsuomi stand wie erstarrt, bis Nagi ihn am Arm zog und schrie: "LAUF!!"

Die beiden Jungen rannten die Gasse entlang. Die Menschen, die ihnen entgegen kamen, stolperten, wie von unsichtbaren Händen gestoßen, aus dem Weg.

//NAGI! Sie schießt!//

Nagi wirbelte herum und sah Frau Mauritz mit einer Pistole in der Hand vor dem Souvenirgeschäft neben ihrem Mann stehen. Da Schuldig ihn schon gewarnt hatte, als sie erst den Gedanken gefasst hatte, gelang es dem Telekineten rechtzeitig, ihr die Waffe aus der Hand zu schleudern, bevor sie abdrücken konnte. Die Pistole fiel auf den Asphalt, und dabei löste sich mit lautem Knall ein Schuss. Unter den Passanten brach Panik aus, und die Leute liefen kopflos durcheinander.

So achtete niemand auf die schlanke Gestalt, die langsam und konzentriert die Arme nach vorne streckte, die Handflächen auf die fassungslose Frau gerichtet, die auf ihre nun unbewaffnete Hand starrte.

Schuldig hob mit einem eleganten Sprung die Pistole auf. In einer einzigen fließenden Bewegung wirbelte er herum und zielte auf Herrn Mauritz.

Der Mann starrte Nagi an. Und der Mann verstand, was er sah. Sein Herz schlug rasend schnell vor Angst, er hatte Angst vor Menschen mit Psi-Fähigkeiten. Er kannte Menschen mit Psi-Fähigkeiten!

Schuldig verstand endlich! Er hatte es schon in den Gedanken der Frau gesehen: Die beiden arbeiteten für SZ! Von SZ bekamen sie Geld dafür, Tatsuomi in Deutschland festzuhalten. Jetzt wusste Schuldig auch, warum Crawford Nagi gestern verboten hatte, sich einzumischen. Ob er auch schon gewusst hatte, dass das Ehepaar den Jungen töten sollte? Und warum wollte SZ den Jungen von Japan fern halten?

Eigentlich war das egal. Die Anweisung war klar gewesen: keine Einmischung und kein Kontakt mehr vor der Abreise.

Verdammte Scheiße! Jetzt war es sowieso zu spät! Nagi würde nicht zulassen, dass jemand Nanjo Tatsuomi tötete. Und sollte das Ehepaar den Vorfall an SZ melden... Dann könnte selbst Brad Crawford ihn und Nagi nicht mehr aus der unterirdischen Horroranstalt heraus holen. Oder Schlimmeres...

Er zielte Herrn Mauritz seitlich in den Kopf, bevor der Mann mit der unverletzten Hand seine Waffe ziehen und auf Nagi schießen konnte, und drückte den Abzug durch.

Während ihr Mann auf den Boden stürzte, wurde Frau Mauritz von einer unsichtbaren Kraft nach hinten geschleudert und krachte gegen die Fassade der Pizzeria. Unfähig, sich auch nur für einen kleinen Atemzug zu rühren, wurde sie schmerzhaft gegen die steinerne Wand gedrückt.

//Lass sie los! Bring den Nanjo hier weg!// rief Schuldig mental. Doch erst als er dem jungen Telekineten ein Bild von dem schreckensbleichen Tatsuomi schickte, ließ er von der Frau ab. //Zum Auto!//

Nagi nickte knapp und gehorchte. Er drehte sich nicht um, als hinter den Jungen ein dritter Schuss die Luft zerriss...
 

Schuldig lehnte keuchend an der Nordwand der Frischen Brise. Er hob seine rechte Hand prüfend hoch und sah, wie sie zitterte. Er ballte die Faust.

//So soll ich Auto fahren?//

Er versuchte, sich zu konzentrieren, um sein Stirn-Chakra, sein drittes Auge, zu schließen. Das Ergebnis war miserabel, aber es musste reichen. In wenigen Minuten würde es hier vor Polizei nur so wimmeln. Er stieß sich von der Wand ab und lief zum Parkplatz, wo der Leihwagen stand.

Die beiden Japaner saßen schweigend auf der Rückbank, Schuldig hätte nicht sagen können, wer von beiden blasser aussah: Wie zwei Vampire aus Porzellan, so unbeweglich und gleichzeitig zerbrechlich wirkten sie. Tatsuomi stand sichtlich unter Schock. Und Nagi war noch zu geschwächt, um so viel freigesetzte, telekinetische Kraft unbeschadet zu überstehen.

//Dein Kreislauf?// fragte der junge Telepath ihn besorgt, während er hinter das Steuer glitt.

Als Antwort kam nur eine Art mentales Kopfnicken und ein Schwall Übelkeit.

"Scheiße", knurrte Schuldig und ließ den Wagen dreimal absaufen, bevor der Motor endlich lief.

Nagis Übelkeit und Tatsuomis dumpfes Entsetzen mischten sich mit den Unmengen von Adrenalin in seinen Adern. Er spürte noch den Blick von Frau Mauritz, als sie begriff, dass sie sterben würde. Er wusste genau, was sie in diesem Augenblick empfand, er fühlte das selbe wie sie. Durch die telepathische Verbindung sah er sich mit ihren Augen...

//...links.//

Schuldig fuhr nach links. Der Wagen flog ein kurzes Stück durch die Luft, dann rumpelte er über den Acker.

Tatsuomi schrie auf.

"WAS MACHST DU??!" brüllte Nagi ihn an.

"ICH BIEGE AB!" brüllte Schuldig zurück und brachte den Wagen zum Stehen.

"Die Kreuzung ist aber erst da hinten..." Nagi kletterte aus dem Auto und erbrach sich. Sofort war Tatsuomi neben ihm und stützte ihn. Dann half er ihm, sich auf die Rückbank zu legen und beobachtete Schuldig, der auf und ab stapfte, eine Hand in den grünen Haaren vergraben, mit der anderen telefonierend. Er kickte kräftig gegen einen Erdklumpen und trat zu den Jungen.

Er wuschelte Nagi aufmunternd durch die Haare: "Ich hab' ein Taxi gerufen. Wer weiss, wo ich uns noch hinfahren würde! Gleich geht's weiter."

"Wohin?" fragte Tatsuomi.

"Nach Bremen. Zum Flughafen. Halt mal Nagis Beine hoch. Und jetzt esst ihr beide erst mal was..." Er verteilte Traubenzucker an die beiden. Seit Nagi sich an ihrem ersten Tag am Strand so überanstrengt hatte, befand sich immer etwas gegen Unterzuckerung in Schuldigs Hosentasche.

Tatsuomi sah ihn mit großen Augen an und gehorchte. So war Nagi versorgt und der kleine Nanjo beschäftigt und von den traumatischen Erlebnissen ein wenig abgelenkt. Trotzdem huschten noch Erinnerungsfetzen vor seinem inneren Auge vorbei. Schuldig sah sich ein paar dieser Schnappschüsse an und stellte beruhigt fest, dass der Junge zwar jede Menge gesehen hatte, aber nichts davon kapierte. Trotzdem, trotzdem...! SZ wollte dieses Kind anscheinend beseitigen. Nagi verhinderte dies gerade. Schuldig wurde ganz kalt bei dem Gedanken an SZ's Reaktion, sollten sie davon erfahren.

Und warum zum Teufel dachte er ständig an verbogene Teetassen?

"Ich brauch dringend ´n Kaffee." begrüßte Schuldig schließlich den ankommenden Taxifahrer.
 

Am Flughafen angekommen, steuerte der junge Telepath sofort einen Ticketschalter an. Er beglückwünschte sich selbst zu der neuen Haarfarbe. Seine mentale Abschirmung war noch immer nicht hundertprozentig, und die Gedanken der vielen Menschen um ihn herum sickerten in sein Bewusstsein. Und so, wie seine langen, leuchtend grünen Haare die Aufmerksamkeit der Menschen in seiner Nähe erregten, konnte er sich wenigstens hier nicht selbst verlieren. Er grinste schief bei diesem Gedanken. Er war wirklich gespannt, was sein neuer amerikanischer Teamleiter zu der veränderten Frisur sagen würde. Würde er Wort halten? //Alle Freiheit, solange unser gemeinsames Ziel nicht gefährdet wird.// Haarfarbe war ja wohl eindeutig privat...

"Was machen wir jetzt?" fragte Tatsuomi, als sie sich in die Warteschlange eingereiht hatten.

"Ihr beide könnt euch da hinten hinsetzen." Schuldig deutete auf eine aus gelben Plastiksitzschalen bestehende Sitzgruppe. Er musterte Nagi kurz in Sorge, aber der Telekinet sah schon wieder einigermaßen erholt aus. Sie hatten unterwegs reichlich gegessen und den Rest der Fahrt hatte er geschlafen, sodass seine Kräfte langsam zurückkehren konnten. "Und dir", antwortete er Tatsuomi, "besorg ich jetzt einen Flug nach Tokyo."

Nagi nickte mechanisch und wandte sich um, doch Tatsuomi rührte sich nicht von der Stelle, sondern sah den Deutschen eindringlich an. Sein Kinn zuckte leicht und seine Augen bekamen einen verdächtigen Glanz. Dennoch versuchte er, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Was auch einigermaßen gelang, zumindest zitterte sie nicht, auch wenn die Worte etwas dünn klangen.

"Und was ist mit euch? Bleibt ihr hier? Ich will nicht alleine fliegen."

"Es geht hier nicht um das, was du willst, Nanjo-Sama", sagte Schuldig schroff und hoffte, dass der Kleine jetzt nicht auch noch anfangen würde zu heulen. Leider waren weder Schuldigs Aussage noch sein Tonfall dazu geeignet, ihn zu beruhigen.

"Ich will aber nicht alleine bleiben! Kann ich nicht bei euch bleiben?" Hilfesuchend ging Tatsuomis Blick kurz zu Nagi. "Wenigstens... noch ein bisschen? Bitte?"

Schuldig rollte genervt die Augen und drehte sich kommentarlos weg.

//Das ist jetzt dein Part//, teilte er Nagi mit. Danach beschäftigte er sich damit, nicht geschäftlich nach Stuttgart und nicht Last-Minute Richtung Mallorca abzufliegen, wie die Leute vor ihm in der Warteschlange. Er versuchte, sich auf //Frankfurt - Tokyo// zu konzentrieren.

Derweil schob Nagi seinen Freund sanft zu der Plastiksitzgruppe, wo sie ungestört reden konnten. Tatsuomi kämpfte jetzt sichtbar mit den Tränen. "Könnt ihr nicht mit kommen? Oder kann ich nicht bei euch bleiben, bis mein Vater kommt?" flehte er.

"Das geht leider nicht, Tatsuomi" sagte Nagi traurig. "Wir können nicht nach Japan, und mitnehmen können wir dich auch nicht... Wir haben dir schon viel zu viel geholfen..." Er wurde immer leiser und verstummte schließlich.

"Wie meinst du das?"

"Hör mir zu!" sagte Nagi eindringlich. "Du musst mir versprechen, niemandem von uns zu erzählen. Bitte! Das ist wichtig! Als hättest du uns nie getroffen." Er konnte Tatsuomi nicht mehr ansehen und senkte den Blick. "Wir könnten sonst jede Menge Schwierigkeiten bekommen." setzte er leise hinzu.

"Was ist denn los? Was für Schwierigkeiten?" In Tatsuomis Stimme schwang echte Sorge mit, seine eigenen Probleme hatte er kurz vergessen.

Nagi zog die Schultern hoch und antwortete nicht auf die Fragen. "Und dein Vater... solltest du Recht haben... also, ich meine, ihr solltet das besser nicht so bekannt machen, wenn du wieder zurück bist, bitte. Verstehst du, was ich meine?" Er dachte daran, dass Tatsuomi noch immer in Gefahr war. Außerdem hatte er noch immer Zweifel, was Tatsuomis Vater betraf. Daher fasste er den Entschluss, Tatsuomi erst fliegen zu lassen, wenn er wusste, ob Nanjo Hirose in die Machenschaften von SZ verwickelt war.

//Spinnst du?! Und wie willst du das so schnell heraus finden?// tönte plötzlich Schuldigs Stimme in seinem Kopf.

//Hör auf, meine Gedanken zu belauschen!//

//Dann lass sie mich nicht lesen.//

//...ich könnte mich bei SZ einhacken, und...//

//Bist du wahnsinnig???// unterbrach ihn Schuldig entgeistert.

//Wir sollen doch unsere Fähigkeiten üben, hat Crawford gesagt.// Nagi benutzte Schuldigs Lieblingszitat und bemerkte gleichzeitig erleichtert, dass der Telepath abgelenkt wurde, weil das Paar vor ihm fertig und nun er an der Reihe war, den Flug zu buchen.

Schuldig musste seine ganze Konzentration aufbringen, um trotz des mentalen Lärms in seinem Kopf den Ausführungen der Schalterbeamtin zu folgen, die ihn freundlich über die Flugverbindungen von Bremen über Hamburg nach Tokyo aufklärte. So achtete er überhaupt nicht mehr auf die beiden Jungen, bis ihn ein erschrockener Aufschrei von Nagi zusammenzucken ließ.

//SCHU-!!//

Er wirbelte herum und sah zwei Männer bei den Jungen stehen. Beide hochgewachsene Asiaten in dunklen Anzügen. Der ältere von den beiden, in mittleren Jahren, trug sein Haar streng zurück gekämmt und hatte eine Hand auf Nagis Schulter liegen, während er gleichzeitig wachsam die nähere Umgebung im Auge behielt.

Der Andere stand schräg vor Tatsuomi, und ein paar Haarsträhnen fielen ihm über die Brille in das Gesicht, als er sich zu dem Elfjährigen nach unten beugte. So konnte Schuldig ihn nicht erkennen.

Schuldigs erster Gedanke war natürlich //SZ-Agenten!//, und seine Hand glitt automatisch in die Tasche, wo er noch immer die Pistole von Frau Mauritz trug.

Diese kleine Bewegung lenkte jedoch sofort die Aufmerksamkeit des älteren Mannes auf ihn, und Schuldig ließ seine Hand bewegungslos in der Tasche ruhen, die Finger allerdings fest um den Griff der Waffe geschlossen. Er lächelte den Mann frech und unschuldig an.

Ein kurzer Blick in seine Gedanken bestätigte dem Telepathen, dass sein Gegenüber zumindest den Verdacht hegte, dass Schuldig bewaffnet war. Was auf eine sehr gute Ausbildung schließen ließ. Gleichzeitig erfuhr er, dass der andere ebenfalls unter seinem Jackett eine Pistole trug. Und dass er Japaner war.

Nagi stand, ohne sich zu rühren, neben ihm, den Blick in Richtung Tatsuomi gewandt und machte zu Schuldigs Erleichterung keine Anstalten, schon wieder in aller Öffentlichkeit seine Telekinese anzuwenden. Aber vielleicht war es doch noch einmal nötig.

//Nagi, der Typ neben dir hat 'ne Knarre!// warnte ihn Schuldig.

Der Dreizehnjährige antwortete, wie er es gelernt hatte, ohne den Blick zu drehen, um keine sichtbare Verbindung zu dem Telepathen herzustellen.

//Schon okay, erstmal. Das ist Tatsuomis Vater.//

Damit meinte er den Mann mit der Brille, der bei Tatsuomi stand.

//Und warum hat er bewaffnete Begleitung? Gehört wohl doch zu SZ?//

//Keine Ahnung, müsstest du doch besser wissen als ich.// bemerkte Nagi trocken.

//Sieh zu, dass du aus der Schusslinie kommst!// knurrte Schuldig, der keine Lust verspürte, heute noch einmal jemanden zu erschießen, zu dem er telepathischen Kontakt hatte. Das fand er nämlich sehr unangenehm. Die ganze Situation fand er beschissen! Noch bevor sie richtig anfingen, für SZ zu arbeiten, arbeiteten sie schon gegen sie!

Er glitt sacht in das Bewusstsein des Mannes, der noch immer misstrauisch zu ihm herüber sah. Er spürte Besorgnis, Anspannung... Der Typ fühlte sich für die Sicherheit von Nanjo Hirose-Sama verantwortlich. Er war Bodyguard. Und dann war da noch mehr... Aber keine Spur von SZ. Sie waren nur hier, um dem mysteriösen, anonymen Anruf vom Vortag auf den Grund zu gehen und um Tatsuomi-Sama zu suchen. Keinerlei Erfahrung mit Psi-Fähigkeiten; es war für Schuldig ein Leichtes, ihn abzulenken.

//Jetzt!//

Doch statt fortzulaufen, blieb Nagi einfach stehen!

//Erst, wenn ich sicher bin, Schuldig. Was denkt sein Vater?//

Schuldig seufzte innerlich. Ob Crawford eine Ahnung davon hatte, wie Naoe Nagi sein konnte? Schuldig wusste nur zu gut, wie sich der junge Japaner benahm, wenn Crawford anwesend war. Der Amerikaner kannte nur einen einsilbigen, schüchternen Nagi, der alle Anordnungen widerspruchslos befolgte. Diesen Nagi kannte er bestimmt nicht! Nun, Schuldig freute sich auf den Tag, an dem Crawford seine Bekanntschaft machen würde und hoffte, dass er das dann nicht vorhersehen würde!

Er konzentrierte sich auf Hirose Nanjo, der inzwischen auf einem Bein kniend, seinen Sohn im Arm hielt.

//Liebe... Liebe... Liebe... Meine Güte! Der ist einfach nur froh, diese Nervensäge wieder zu haben//, informierte er seinen zukünftigen Teamkollegen. //Hat deinen Anruf nicht geglaubt... ist trotzdem geflogen, weil er sich's nie verziehen hätte, falls es doch stimmt... ist unendlich erleichtert, dass sein Sohn noch lebt... keine Spur von SZ.... Von dem hat dein Schatz nichts zu befürchten. ...jetzt lass uns verschwinden, sonst wird mir schlecht von so viel Familienglück!//

Nagi nickte leicht. Laut sagte er: "Ich muss jetzt los, meine Eltern warten sicher schon auf mich."

Der Druck der Finger auf seiner Schulter verstärkte sich, als der Mann sich auf einen Fluchtversuch einstellte.

"Nanjo-Sama?" Er warf seinem Auftraggeber einen fragenden Blick zu.

"Sie können ihn gehen lassen, Kurauchi-San", antwortete Tatsuomi statt dessen, indem er sich von seinem Vater löste und Nagi einen warmen, intensiven Blick schenkte. "Ich habe ihn erst vor ein paar Minuten hier auf dem Flughafen kennengelernt."

Nagi erwiderte den Augenkontakt. "Viel Glück. Pass auf dich auf." sagte er auf Deutsch, damit die Erwachsenen ihn nicht verstehen konnten.

"Und du auf dich! Meldest du dich bei mir?" bat Tatsuomi, ebenfalls in deutscher Sprache.

"Wenn die Zeit gekommen ist... vielleicht." antwortete Nagi zögernd. Er verneigte sich kurz: "Sayonara."
 


 


 

- Ende -



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2007-07-25T19:51:27+00:00 25.07.2007 21:51
Moin moin,

und noch mal möchte ich dir sage, dass dein Schuldig mir wirklich gefällt. Nicht so ein Übertelepath von Geburt an, sondern ein junger Mensch mit besonderen Fähigkeiten, die ihn auch in sich verlieren lassen können, wenn es zum Schlimmsten kommt.
Das Ende, so überhaupt nicht japanisch *grins*, und wie gut, ich mag Happy-Ends. Sehr realistisch geschrieben, im Gesamten eine Geschichte, die unheimlich gut von einem Kapitel zum nächsten leitet.
Obwohl ich sie früher schon mal gelesen hatte, bin ich wirklich von deinem Spannungsaufbau mitgerissen worden. Sehr gut.
Ach ja ...
und mein Großer hat auch so eine Tasse bekommen! Eine echte Nagi-Sturmtasse! *freu*
Alles Gute für dich,
dein Tier.
Von:  tough
2006-04-17T11:51:42+00:00 17.04.2006 13:51
Selbst mir, als altem WK-Kenner, fallen noch Dutzende
von Fragen ein, obwohl ich Deine FF oft gelesen habe.

Wie Xell schon schreibt, hast Du eine tolle Basis für
die nächste FF gelegt.
In zeitlichen Abständen die Entwicklung von Schwarz bis hin zur Killerelite zu lesen, würde mir sicher genau so viel Freude bereiten, wie die bisherige Story es getan hat.

In diesem Sinne Kollegin, schaff Dir den Freiraum, den Du brauchst, um weiter schreiben zu können.
Du gehörst zu den Wenigen, die ihr Talent nutzen müssen.

tough
Von:  Xell
2005-07-19T23:16:25+00:00 20.07.2005 01:16
Deine Fanfiction war super! Besonders Tatsuomi hat mir Leid getan... Wie seine "Adoptiveltern" ihn behandelt haben grenzt ja an Misshandlung... Zum Glück haben sie das gekriegt, was sie verdient haben. Aber wie wird es weiter gehen? Wenn SZ davon Wind bekommt haben Brad& Co echte Probleme... Schreib weiter!
Von: abgemeldet
2005-07-15T09:45:48+00:00 15.07.2005 11:45
so viel spannung im letzten kapitel! die ff ist dir voll gelungen und hat jetzt einen platz in meiner fav.liste^^

weiter so, freu mich schon auf deine nächsten ff

kamui_san


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