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Bruder

von
Koautor:  YoungMasterWei

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Vergangenheit

“Wei Ying.”

Lan Wangjis Stimme sickerte mit Verzögerung in Wei Wuxians in Watte gepackten Kopf. Er hatte gewusst, dass seine erste Rückkehr an diesen Ort ihn empfindlich treffen würde. Deshalb hatte er sie so lange hinausgezögert. Aber wenigstens zum Totenfest musste er einfach hier sein.

“Wei Ying”, erklang Lan Wangjis sanfte Stimme erneut.

Ich weiß.

Es war Zeit zu gehen. Sie hatten die Gräber gesäubert, Räucherstäbchen angezündet und Totengeld verbrannt. Wei Wuxian hatte in die Stille hineingebetet, wissend, dass seine Gedanken niemanden mehr erreichten, und es ließ ihn verloren zurück, riss kaum geschlossene Wunden wieder auf. Die Seelen der verstorbenen Wen, seines kleinen Dorfes, das ihm kostbare Momente der Normalität geschenkt hatte in der schwersten Zeit seines Lebens, waren in den Kreislauf der Wiedergeburt zurückgekehrt. Er wusste, dass sie ihm nichts nachtrugen, dass sie ihm dankbar dafür waren, dass er sie aus der Unterdrückung der Jin gerettet und ihnen eine neue Chance auf Leben gegeben hatte.

Dennoch hatte er sie im Stich gelassen. Sein Hochmut war ihr aller Untergang geworden. Er hatte ihnen nie sagen können, wie leid es ihm tat, und er würde es auch niemals können.

Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter, erdete sein aufgewühltes Gemüt. Wei Wuxian ließ sich an Lan Wangjis Brust ziehen, schöpfte Kraft aus dem stillen Trost.

Er schluckte schwer.

Die Brust, auf der das Mal der Sonne prangte, das Lan Wangji sich im Schmerz des Verlusts selbst eingebrannt haben musste. Dreiunddreißig Peitschenhiebe. Drei Jahre lang war er bewegungsunfähig gewesen. Welch unsäglichen Schmerz musste er dreizehn endlose Jahre lang erlitten haben.

Wei Wuxian griff nach dem Arm, der sich um seinen Bauch geschlungen hatte.

“Ich bin so blind gewesen.” Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

“Dein Herz ist nie vom Weg abgekommen. Du hast dein Bestes gegeben.”

“Es hätte besser sein müssen.”

“Jetzt ist es besser.” Lan Wangjis linker Arm glitt von Wei Wuxians Schulter, strich zärtlich den Oberarm hinab, schlängelte sich unter der Hand hindurch und umfasste Wei Wuxians Brust, zog ihn enger an sich.

Wei Wuxian wusste nicht, ob Lan Wangji von den Wen oder von ihm oder von sich selbst sprach. Vielleicht alles irgendwie. Wären ihre Rollen vertauscht, würde er genauso denken. So, wie er auch den Verlust seines goldenen Kerns hinter sich gelassen hatte und Jiang Cheng nur bitten konnte, ebenfalls loszulassen. Doch solange die Schuldgefühle ihn begleiteten wie ein Schatten, ging diese Rechnung nicht auf und keine noch so gut gemeinten Worte konnten etwas daran ändern. Wohin mit dieser Last, wenn niemand sie sehen wollte?

Ob er es Jiang Cheng am Ende nur schwerer gemacht hatte mit seiner Bitte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen? Jiang Cheng hatte sich oft genug darüber aufgeregt, er hätte einen Heldenkomplex. Allmählich hatte Wei Wuxian das Gefühl, er verstand, was dieser gemeint hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  _Scatach_
2023-01-22T21:13:36+00:00 22.01.2023 22:13
Hey meine liebe Nancy :)

Ich habe mich ja schon wahnsinnig gefreut, als du angekündigt hast, dass du eine MDZS FF schreibst. Als ich dann das Thema gelesen habe, war ich noch begeisterter, da ich immer fand, dass es ein wichtiges, umangeschnittenes Thema der Geschichte ist. Ein Problem, das gelöst werden will und gelöst werden muss, weil es irgendwie immer da ist.

Aber jetzt mal zu deinem Prolog.
Sehr passend, dass die Geschichte aus Wei Yings Sicht beginnt (Bin gespannt, ob Jiang Cheng Sicht auch noch kommen wird).
Und ich hatte sofort wieder die Bilder im Kopf, als Wei Ying mit Lan Wangji in diesem Tempel Abschied von seinen Zieheltern nimmt und Jiang Cheng kommt und diesen Moment der Trauer und des Abschieds für Wei Ying noch qualvoller macht mit seinen scharfen, verletzenden Worten.
Ich finde, man merkt hier richtig, dass Wei Ying das immer noch extrem beschäftigt, dass er immer noch so sehr daran zu knabbern hat, dass das immer noch eine Wunde in seinem Herzen ist, die blutet und sich nicht schließen will, da Wei Ying einfach keinen Abschluss für diese Entfremdung zu seinem Bruder gefunden hat...und vielleicht will er diesen Abschluss ja auch gar nicht finden. Wei Ying ist ja durchaus eine Persönlichkeit, die großen Wert auf zwischenmenschliche Bande legt, sie hoch schätzt, sie aufrecht erhalten, schützen und ja, zur Not auch reparieren will, egal wie schmerzhaft es ist. Zumindest habe ich es immer so gesehen.
Auch bei dir wird das finde ich wieder deutlich, besonders als er an die verstorbenen Wen denkt, die ihm in diesem kleinen Dorf der Ausgestoßenen doch so viel Normalität wie möglich geben konnten. Der Schmerz dieses Verlustest wiegt auch immer noch schwer auf Wei Ying und man merkt, wie er mit dem Schicksal dieser Leute hadert, wie er sich vielleicht auch immer noch Vorwürfe macht, sie nicht besser geschützt zu haben?
Umso tröstender ist hier dann diese unaufdringliche und dennoch so auffangende Präsenz von Lan Wangji. Nicht nur für Wei Ying, sondern auch für den Lesern. Gleich mit dem ersten Satz machst du sowohl Protagonist als auch Leser deutlich: "Du bist nicht allein, da ist jemand, der dich auffängt, wenn du nicht mehr kannst, der dich stützt." Denn ich finde, du verleihst Wei Yings Schwermut sehr eindrucksvoll Gestalt, man fühlt direkt mit ihm, trauert und hadert mit ihm.
Da ist der Moment, in dem Lan Wangji so subtil und dennoch auf seine charakteristische Art vielsagend eingreift. Ohne große Worte, ohne große Taten, nur das nötigste, aber eben zielsicher genau das, was sein Geliebter grade braucht, eine Brust, an die er sich lehnen kann, ein Felsen, an den er sich klammern kann, um nicht von den immer höher steigenden Wellen seiner Gedanken nach unten gezerrt zu werden.
Es spielt auch eigentlich keine Rolle, ob Lan Wangji jetzt von sich, von Wei Ying, oder von den Wen gesprochen hat, denn irgendwie hängt alles miteinander zusammen, somit sehe ich den Gedanken als gerechtfertigt, dass damit 'Vielleicht alles irgendwie' gemeint ist.
Lan Wangji ist sicher auch bewusst, dass diese Schuldgefühle und die Last auf Wei Yings Herzen trotz all seines Beistandes nicht einfach verschwinden werden. Man merkt, dass Wei Ying zum Ende des Prologs anfängt, sich ernsthafter mit dem Konflikt mit seinem Bruder auseinander zu setzen. Auch mal an dem so vorherrschenden Kummer vorbei zu schauen und auch den Blickwinkel von Jiang Cheng einzunehmen. Der erste Schritt, dieses - ja, ich finde, man kann es durchaus Trauma nennen, aufzuarbeiten.
Ich bin schon sehr gespannt, wie Wei Ying das bewerkstelligen möchte, wie Jiang Cheng darauf reagieren wird und welche Rolle Lan Wangji in dieser Geschichte einnehmen wird. Nur unterstützender Beistehen, oder aktiver Teilnehmer?
Ich freu mich auf jeden Fall schon sehr wie es weiter geht. Geschrieben war es wunderbar, du hast mich direkt abgeholt und du schaffst es, ohne schwülstige Ausschmückungen, tiefe Emotionen im Leser auszulösen.
Vielen vielen Dank schonmal für diesen sehr gelungenen Einstieg! <3
Antwort von:  Lady_Ocean
24.01.2023 07:00
Oh, das ist ja eine schöne Überraschung! Danke, dass du auch mal reingelesen hast! :D Und vielen Dank für die zwei total tiefgründigen Kommentare! Es ist so spannend, deine Perspektive auf das Bruder-Verhältnis und deren jeweilige innere Verstrickungen zu lesen und du sprichst mir damit aus der Seele.
Jaaaa, Jiang Cheng und Wei Wuxian. Diese zwei. T_T Ich glaub, wenn die nicht irgendwann mal in einer unausweichlichen Situation gemeinsam feststecken, kriegen die es nie hin, ihre dummen, auf Missverständnissen beruhenden Diskrepanzen zu überwinden. ^^°
Und stimmt, im Grunde kann man wohl wirklich sagen, dass er erst mit diesem (mehr oder weniger erzwungenen, weil Totenfest) Besuch der Grabhügel anfängt, sich ein Stück weit auf sein inneres Dilemma einzulassen. Drüben, in der Wolkenschlucht, so weit ab von seiner Vergangenheit und mit neuen Aufgaben, hat er genug Ablenkung, um das nicht so an sich ranzulassen. Hier ist das weit schwieriger. Und ich denke, er merkt jetzt auch zum ersten Mal, dass es einem manchmal eben nicht hilft, gesagt zu bekommen, dass alles okay ist und man sich keine Vorwürfe machen soll, wenn der Schmerz so tief reicht. Als Wei Wuxian im Guangyin-Tempel zu Jiang Cheng gemeint hat, er würde sich wünschen, dass Jiang Cheng es hinter sich lassen kann und dass es für ihn selbst inzwischen auch einfach Teil der Vergangenheit ist, tat mir Jiang Cheng ziemlich leid.
Antwort von:  _Scatach_
25.01.2023 16:11
Sehe ich ganz genauso wie du! Klar, Wei Ying hat es nur gut gemeint und wollte Jiang Cheng vielleicht auch die Last abnehmen, aber ich kann Jiang Cheng auch sehr gut nachvollziehen und er tut mir auch leid. Es ist auch einfach schmerzhaft, wenn etwas, das für einen von entscheidender Bedeutung ist, von jemand anderem einfach klein gemacht und als nichtig erklärt wird - wenn man es mal überspitzt ausdrücken will ^^ Und irgendwie hat Wei Ying ja nichts anderes getan, finde ich.
Von:  Duchess
2022-11-13T14:46:36+00:00 13.11.2022 15:46
Erst einmal finde ich es jetzt schon wahnsinnig schön, dass du ausgerechnet dieses Thema für diese Ff gewählt hast.
Genau das war eines der Dinge, die immer so unbefriedigend und offen im Raum stehen gelassen wurden.
Dabei konnte man gerade bei den beiden so mitfiebern und zumindest ich hab bis zum Schluss auf eine Aussöhnung gehofft q.q
Ich würde mich freuen, wenn die beiden bei dir ein bisschen zumindest zur Ruhe kommen könnten?!
Der Prolog ist auf jeden Fall schon mal sehr einfühlsam geschrieben und macht so richtig Lust darauf mehr von ihnen zu lesen.
Ich freu mich schon wahnsinnig drauf <3


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