Einmal Vorweihnachtszeit
Hiromi kaute nervös auf ihrer Unterlippe, während sie darauf wartete, dass der Videochat sich verband. „Привет, товарищ!“, tönte ein zynisches, russisches Hallo, Genosse aus dem Lautsprecher ihres Smartphones, und auf dem Bildschirm war ein roter Haarschopf zu sehen. Hiromi verdrehte die Augen. „今日は, ジューリさん“, gab sie trocken zurück. Guten Tag, Yuriy-san.
Sie maßen sich einen Moment lang mit Blicken, ehe Hiromi auf Englisch wechselte und ihre Konversation fortsetzte, als wäre nichts gewesen. „Wie geht es dir?“
„Gut.“ Die blauen Augen ihres Gegenübers blitzten auf eine Art, die Hiromi wohl für immer Rätsel aufgeben würde. Hiromi fiel nicht ein, was sie weiter sagen sollte. Yuriy war ein schwieriger Gesprächspartner. Die Japanerin schielte auf ihre Armbanduhr. „Boris sollte in jeder Minute da sein“, erklärte sie.
„Gut.“ Yuriy nickte. Er hatte sich auf einer Couch zurückgelehnt, eine Tasse in der Hand, aus der er ab und an nippte. Er sah grimmig aus; Hiromi erkannte diese Haltung als dieselbe, die ihr Freund einnahm, wenn er nervös war und es sich nicht anmerken wollte. Ein Lächeln kroch in ihre Mundwinkel. Vielleicht war der Rothaarige doch nicht so undurchschaubar, wie sie immer gedacht hatte.
„Ich hoffe, er freut sich“, meinte sie an niemand Bestimmtes gewandt und erntete ein Brummen vonseiten des Rotschopfes. Boris ließ es sich kaum anmerken, dass er Heimweh hatte; Hiromi hatte es herausfinden, Puzzleteil um Puzzleteil zusammensetzen müssen. Es hatte damit begonnen, dass ihnen der russische Schwarztee ausgegangen war, den Boris aus Moskau mitgebracht hatte. Er war schweigend dazu übergegangen, Hiromis Sencha zu trinken, doch merkte man ihm an, dass etwas fehlte. Dann war seine Lieblingstasse zu Bruch gegangen – ein Erbstück aus dem Waisenhaus, hatte er gesagt und dann abgewunken. Zuletzt hatte er seufzend die dicke Jacke wieder in den Schrank geräumt, etwas davon gemurmelt, dass er sie nicht brauchte, wenn es so warm blieb.
Sie schwiegen einander noch ein, zwei Minuten an, ehe hinter Yuriy eine Tür schwer ins Schloss fiel. Eine tiefe Stimme rief den Namen des Rotschopfes. Es folgte ein schneller Wortwechsel auf Russisch – Hiromis Russisch reichte noch nicht aus, einem Gespräch in dieser Geschwindigkeit zu folgen. Dann kippte plötzlich der Bildschirm zur Seite, und eine blasse Hand mit langen Fingern schob sich ins Bild. Die Flüche, die der Rotschopf murmelte, waren Hiromi von Boris bekannt. Sie verbiss sich ein Kichern. Als die Hand sich wieder entfernte, hatte sich das Bild angepasst, und die Brünette erkannte Sergej an Yuriys Seite, der freundlich in die Kamera winkte. „Hallo, Hiromi, ich hoffe ich bin noch nicht zu spät!“
Hiromi schüttelte den Kopf und beobachtete grinsend, wie Sergej sich mit einigen Verrenkungen aus seinem Mantel schälte und diesen über die Lehne der Couch warf. „Kalt?“, fragte sie. Der Blonde schüttelte den Kopf. „Vor allem nass!“
Die Brünette nickte und hielt ihr Handy so, dass ihre beiden Gesprächspartner eine Reihe von verschiedenen Gewürzen, Butter, Mehl und Ingwer auf seinem Display sehen konnten. „Euer Paket ist heute Morgen angekommen“, informierte sie die beiden Russen auf ihrem Display und erntete ein zufriedenes Brummen. Sie lächelte warm. „Danke euch dafür! Das wäre nicht nötig gewesen“
„Spinnst du?“, schaltete sich eine dritte Stimme ein, deren Akzent es Hiromi manchmal schwer machte, sie zu verstehen. Ivan schob sich ins Bild, drängte Yuriy näher an Sergej, um sich Platz zu machen. „Alles für Borya!“
Hiromi verbiss sich ein hingerissenes Geräusch und fuhr herum als sie den Schlüssel im Schloss hörte, den sie Boris in die Hand gedrückt hatte, damit er etwas mehr Bewegungsfreiheit hatte. „Er kommt!“, mahnte sie die drei am anderen Ende der Leitung und rauschte in Richtung Tür, um ihren Freund mit einem schallenden „Okaeri“ und einem Kuss zu begrüßen.
Der Russe lachte, während er seine Jacke abstreifte. Dann schlang er seine Arme um ihre Hüften und zog sie mit einem Ruck näher an sich, um Hiromi zu küssen. „Womit habe ich das verdient?“
„Mit gar nichts“ Hiromi fasste nach seiner Hand und zog ihn mit sich in Richtung der Küche. „Ich habe eine Überraschung für dich“
Boris folgte ihr gehorsam und blieb überrascht stehen, als ihm ein „Привет, товарищ!“ aus der Richtung von Hiromis Smartphone entgegenschallte. Er blinzelte ungläublig. „Was macht ihr denn?“, fragte er vollkommen entgeistert. „Solltet ihr nicht alle in der Arbeit und der Schule sein?“
Yuriy zuckte lässig mit den Schultern. „Deine Freundin meinte, du brauchst mal wieder eine Dosis Russland“
Hiromi grinste, als Boris sie kopfschüttelnd ansah. „Die drei haben mir die Zutaten für Pryaniki geschickt, weil sie mir nicht geglaubt haben, dass wir in Japan Dinge wie Mehl und Butter und Ingwer haben“, erklärte sie und wies auf die bereitgestellte Reihe an Gewürzen und Zutaten. Der Angesprochene grinste schief. „Die Vorurteile sind eben real“, erwiderte er schulterzuckend. Dann inspizierte er die Zutaten, ehe er sich an die drei im Smartphone wandte. “Respekt”, triezte er. “Ihr habt alle Zutaten richtig hinbekommen. Und ihr? Schaut ihr uns zu oder bewegt ihr euch jetzt auch in die Küche?”