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Ein Moment

Ryousuke x Mizusawa
von

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Taku ist der Erste im Clubhaus, sogar noch vor Yuuta.
 

Inzwischen ist er meistens der Erste.

Das hat verschiedene Gründe, aber der Wesentliche ist, dass er die letzte große Pause im Moment lieber alleine verbringt.

Spätestens seitdem jeder weiß, dass mit ihm was nicht stimmt.

Er ist nicht sicher, wer getratscht hat (vielleicht jemand aus der Mädchenmannschaft? Immerhin ist die halbe Schule bei seinem unfreiwilligen Outing anwesend gewesen), aber eigentlich ist es kein Wunder, dass es sich sofort wie ein Lauffeuer überall herumgesprochen hat, dass Mizusawa Taku ein 'kleiner Homo' ist.
 

Das sind nicht seine Worte, aber das ist das Letzte was heute Morgen auf dem Schulweg in seine Richtung gezischelt wurde und jetzt hängt es immer noch in seinem Kopf, bitter und ranzig wie ein Nachgeschmack.

Homo.
 

Das ist nicht alles, was sie sagen, und es ist nicht mal das Schlimmste, aber über die meisten anderen Dinge kann er nicht mal nachdenken.
 

Er will nicht, dass Yuuta es weiß.

Vor allem nicht Yuuta, weil sein bester Freund mit dieser Art von Aggression völlig überfordert ist und das ist auch gut so.

Yuuta ist ein Einhorn. Und das soll er auch bleiben.
 

Taku will generell nicht, dass es irgendjemand weiß, es ist auch so schon demütigend genug.

Und deswegen ist er in den großen Pausen gerade lieber allein und versteckt sich im Clubhaus wie ein Feigling, um in Ruhe sein Bento zu essen.
 

Über ihm wird abrupt die Tür aufgerissen und knallt mit Nachdruck gegen die Wand.

Überrascht fährt Taku zusammen und springt beinah reflexartig von dem blauen Sofa auf.
 

Tsukimori steht im Türrahmen.

Seine hellen Haare sind zerzaust und stehen in alle Richtungen ab. An seiner Lippe klebt Blut, und seine linke Wange ist geschwollen und beginnt bereits sich in schillerenden Violett und Blautönen zu verfärben.

Er sieht genauso aus wie sein schlechter Ruf, nämlich kriminell und gewalttätig, aber vor allem sieht er maßlos sauer und frustriert aus.
 

„Tsukimori ...“, beginnt Taku, unsicher wie er diesen Satz beenden soll.
 

Tsukimori stapft die Treppe so aufgebracht hinunter, als hätte sie ihn persönlich angegriffen, und pfeffert unten angekommen unzeremoniell seine Sporttasche in die Ecke.

„Was…? Wieso bist du denn…“, faucht er, als ob Takus Anwesenheit gleich die nächste Beleidigung darstellt und deutet mit dem Zeigefinger auf ihn. „Gut, wo ich dich gerade sehe...!“
 

Sämtliche Worte, die er sagen wollte, ersterben auf Takus Lippen. Erschrocken stellt er sich aufrechter hin.

Er rechnet schon eine Weile nicht mehr damit, dass er von Wataru oder Ryousuke verprügelt wird. Aber das heißt nicht, dass er nicht immer, immer, damit rechnet doch noch aus der Mannschaft geworfen zu werden.

Alles andere war einfach zu schön um wahr zu sein.

Es war nur eine Frage der Zeit, ertappt er sich dabei zu denken. Nur eine Frage der Zeit bis Tsukimori genug davon hat, mit einem Homo zusammen in der Gruppe zu sein. Natürlich. Wie hätte es auch sonst…
 

„Richte Yuuta aus, dass ich ihn mit einer Gymnastikmatte verhaue, wenn er weiter mit Watarus Gefühlen spielt“, knurrt Tsukimori und rauscht an ihm vorbei zum Waschbecken. „Das sehe ich mir nicht länger an.“
 

Taku klappt den Mund auf und gleich wieder zu.

Das… ist nicht das, womit er gerechnet hat.
 

Er blinzelt verwirrt und lässt sich langsam zurück auf das Sofa gleiten.

Wortlos sieht er dabei zu, wie Tsukimori sich Wasser ins Gesicht spritzt und sich mit dem Handrücken das Blut von der Unterlippe wischt.
 

„Ähm... was?“ fragt Taku schließlich leise, unsicher ob er richtig gehört hat oder ob das ein seltsamer Scherz sein sollte.
 

Tsukimori dreht sich zu ihm um.

Seine blonden Stirnfransen sind feucht und Wasserperlen tropfen über sein Gesicht.

Ein einzelner Tropfen, verfärbt von Blut, hinterlässt einen zartrosa Streifen auf seiner Wange, so als ob man einer unsichtbaren Hand dabei zusehen kann wie sie sein Gesicht mit den Fingerspitzen entlang fährt.

Einen Moment lang ruht sein Blick auf Taku, nachdenklich und aufgewühlt zugleich.
 

Schließlich seufzt er und Taku kann beinah sehen, wie er ausatmet und seine Schultern mit dem Nachlassen der Anspannung ein Stück weit nach unten sacken.

„Sorry“, murmelt er und fährt sich mit einer Hand über das Gesicht.

In diesem Moment sieht er weniger kriminell und gewalttätig und mehr wie ein geprügelter Hund aus.
 

Einen Moment lang wünscht Taku sich, dass Wataru hier wäre. Er ist zwar laut und schräg und wirft viel zu oft in wilden Gefühlsaufwallungen seine Sporttasche zu Boden, aber Taku ist ziemlich sicher, dass er seinen besten Freund besser händeln kann als die meisten.

Auf jeden Fall besser als er. Er ist Leute wie Yuuta gewohnt, die Gefühle prinzipiell erst mal drei Tage lang schweigend in sich hineinfressen und dann anfangen zu weinen, wenn sie nicht von alleine weggehen.

„Okay.“ Er nickt vorsichtig.
 

„Ich wollte dich nicht anblaffen.“
 

„Ist nicht schlimm.“
 

„Das war trotzdem ernst gemeint“, schiebt Tsukimori hinterher, während er sich neben Taku niederlässt. „Wataru ist mein bester Freund.“
 

„Ich weiß.“
 

„Und Yuuta ist mein Captain, aber trotzdem...! Die kriegen einfach nicht mit… Wenn er auch nur...oder falls er... „ Tsukimori macht nachdrückliche Bewegungen mit den Händen, bevor er pausiert. „Weißt du überhaupt wovon ich rede?“
 

Taku räuspert sich und macht den Deckel über seinem Bento wieder zu. „Ja.“ Er nickt vorsichtig. Er fühlt sich ein bisschen unwirklich, wie im falschen Film. „Ich glaube schon. Aber ich fürchte Yuuta weiß es nicht, und ich bin ziemlich sicher, dass Wataru es auch nicht weiß.“

Und das ist auch besser so, denkt er insgeheim. Aber das sagt er nicht.
 

Tsukimori schnaubt. Er verdreht die Augen und kratzt sich am Hinterkopf, und einen Moment lang sieht er überall hin nur nicht zu Taku.

„Kannst du nicht...?“ beginnt er schließlich, bricht ab und kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Zu spät scheint ihm zu dämmern, dass das keine gute Idee ist und er verzieht schmerzhaft das Gesicht, als die Schürfwunde erneut anfängt zu bluten.
 

Zögernd greift Taku in seinen Rucksack und kramt nach einem sauberen Taschentuch. „Hier“, bietet er an.
 

Überrascht hebt Tsukimori den Kopf und eine Sekunde lang flackert sein Blick unentschlossen zwischen dem Taschentuch und Takus Gesicht hin und her.

„Danke.“ Es klingt perplex.
 

Taku sieht ihm einen Moment lang dabei zu wie er sich das Blut von seiner Lippe tupft. Und dann sieht er weg, weil ihm klar wird, dass er schon viel zu lange starrt und schon viel zu lange gedanklich mit Tsukimoris Lippen beschäftigt ist.
 

„Was ähm...?“ Er macht eine unschlüssige Geste in Richtung von Tsukimoris Gesicht. „Was ist denn passiert?“
 

Die Antwort besteht aus einem vagen Schulterzucken.

„Ich hab nicht angefangen“, sagt Tsukimori. „Und ich hab auch nicht zurückgehauen“, fügt er nach kurzer Überlegung hinzu. Seine Finger spielen mit dem Taschentuch herum. Es ist offensichtlich, dass er sich nach einer Zigarette sehnt.
 

Taku hebt die Augenbrauen.
 

„Möglicherweise haben sie was Blödes über Wataru und Yuuta gesagt und… darüber wie sie ihre Zeit am Strand verbringen.“
 

„Und du hast gesagt, dass es nicht stimmt“, vermutet Taku.
 

„Ne, ich hab gesagt, dass es sie nichts angeht und dass es auch nicht schlimm wäre, wenn es so wäre.“
 

Überrascht hebt Taku die Augenbrauen.
 

„Was?“ Tsukimori zupft an seinem zerknautschten T-Shirt herum. „Ist doch so. Nur wurde mir dann klar, dass ich nicht mal weiß, ob es so ist… und ich glaube Wataru weiß es auch nicht und das ist doch irgendwie beschissen.“
 

„Hm“, macht Taku wenig konstruktiv, denn er hat den vagen Verdacht, dass es eigentlich gerade um was anderes geht. Aber er ist nicht ganz sicher, um was.
 

„Im Ernst“, sagt Tsukimori, offensichtlich bemüht das Thema wieder zum Ausgangspunkt zurückzubringen, „kannst du nicht...?“
 

„Nein“, sagt Taku rasch und abrupt. „Nein, definitiv nicht.“
 

Tsukimori seufzt. „Aber ich bilde mir das nicht ein, oder?“, bohrt er. „Du siehst das doch auch?“
 

Taku verdreht die Augen. „Was? Möchtest du das Siegel der schwulen Bestätigung von mir?“ rutscht es ihm heraus und er presst vor lauter Entsetzen abrupt eine Hand auf seinen Mund.

Er weiß nicht, was ihn mehr entsetzt. Dass er das Wort laut ausgesprochen hat oder dass er es in Zusammenhang mit sich selbst ausgesprochen hat.
 

Tsukimori lacht. Es ist ein leiser, tiefer Laut und ein breites Grinsen zerrt an seinen Lippen. „Schon gut, lass den Sarkasmus stecken, ich habs kapiert.“
 

„Ich bin nicht sarkastisch, ich bin starr vor Angst“, platzt es aus Taku heraus. Ihm ist heiß und kalt zugleich. „Und ich habe keine Ahnung… davon. Echt nicht. Ich weiß es nicht. Ich denke auch niemals darüber nach. Ich versuche die meiste Zeit über es einfach zu vergessen. Es wäre nur leichter wenn ...“ Abrupt stoppt er ab.
 

„Wenn was?“ bohrt Tsukimori und sein Grinsen verschwindet so schnell wie es gekommen ist.
 

Wenn sie es mich nur vergessen ließen‘, denkt Taku, aber es ist ein gallenbitterer Gedanke, so scharf und beißend, dass er ihm fast die Tränen in die Augen treibt.

Er schüttelt den Kopf. „Nichts.“
 

Nachdenklich sieht Tsukimori ihn an.

Ein einzelner, verirrter Sonnenstrahl, der von oben durch das Fenster hinein in den Clubraum scheint, landet auf seinen Haaren und quer über seinem zerschrammten Gesicht. In seinen Haaren leuchten goldene Pünktchen und das warme Licht malt einen halben Sonnenuntergang aus den blauen Flecken auf seinen Wangenknochen.
 

Bis vor kurzem hätte Taku noch Stein und Bein geschworen, dass Kiyama mit Abstand der schönste Junge der Schule ist, vermutlich der ganzen Stadt oder vielleicht des ganzen Universums. Hier und jetzt, in diesem Augenblick ist er nicht mehr ganz so sicher.
 

„Aber du musst keine Angst haben.“ Es klingt leise und seltsam betroffen. „Nicht vor mir, meine ich. Und nicht deswegen.“
 

Taku schüttelt den Kopf. „Das ist nicht… ach, nicht so wichtig.“
 

„Vielleicht sollten wir mal darüber reden“, sagt Tsukimori langsam. „Wir reden ja auch dauernd über Mädchen. Aber wir können auch total mal über Jungs reden. Oder über das… das mit dem Schwul sein.“
 

„Nein“, sagt Taku. Sein Herz stolpert entsetzt in seiner Brust. Er ist nicht sicher, ob man vor lauter Verlegenheit tot umfallen kann, aber er ist ganz sicher, dass er bestimmt kurz davor ist.
 

„Ich meine ja nur. Es kommt mir nicht besonders fair vor, wenn du das Gefühl hast das verschweigen zu müssen.“
 

„Das ist total in Ordnung, wirklich, ich lege gar keinen Wert…“
 

„Und vielleicht bist du ja auch gar nicht der Einzige, der über sowas nachdenkt.“
 

Abrupt bricht Taku ab, startet erneut und bricht wieder ab. „…was?“ bringt er schließlich hervor.
 

Das ist ein Scherz, ist sein erster Gedanke.

Das muss ein Scherz sein. Ein wirklich grausamer Scherz, der…

Nein.

Moment.

Stopp.

Widerwillig muss er vor sich selbst zugeben, dass er Wataru und den anderen Yankees eine ganze Menge Scheiß zutraut. Aber das nun irgendwie auch nicht.

In den letzten Wochen haben sie sich regelmäßig verprügeln lassen ohne einen Finger zu krümmen, damit ihr Club nicht aufgelöst wird. In den letzten Wochen haben sie rosa Anzüge mit Glitzersteinchen darauf getragen und dreifach Saltos geübt, bis ihnen sämtliche Gliedmaßen wehgetan haben, egal wer sie ausgelacht hat.

In den letzten Wochen sind sie einem verdammten Bus hergelaufen, nur um ihn wieder zurückzuholen in die Mannschaft, obwohl sie ihn genauso hätten gehen lassen können.
 

„Weißt du, ich hab darüber nachgedacht.“ Tsukimori reibt mit einer Hand über seinen Nacken. „Was du gesagt hast. Und dann hab ich mich gefragt… Ich meine… woher wusstest du es? hast du es schon immer gewusst? Oder gab es einen Moment, wo du…? Und war es ein bestimmter Junge oder waren es alle Jungen? Und seit wann…“
 

„Stopp, halt, warte, zurück“, befiehlt Taku atemlos. „Was? Was?… Was?“
 

„Keine Ahnung“, erwidert Tsukimori überraschend ehrlich. Er hat sein Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt. „Ich weiß es doch auch nicht. Ich hab eben drüber nachgedacht. Dass man immer durchs Leben geht und denkt ‚Mädels!‘ und damit ist alles klar. Und man stellt auch keine weiteren Fragen. Aber plötzlich sagt jemand ‚Jungs!‘ und man denkt… oh. Hey. Warte. Die sind eigentlich auch ganz toll. Und dann fällt dir plötzlich auf, dass dein bester Freund plötzlich sehr viel Zeit am Strand verbringt, bei Sonnenuntergang, mit deinem Captain, und du fragst dich eben, wie viel du sonst nicht mitkriegst. Weil auf der einen Seite… Mädels! Aber auf der anderen Seite… Jungs! Verstehst du? Das bringt einen doch durcheinander.“
 

Nicht wirklich, denkt Taku, aber er ist viel zu erleichtertaufgeregtsprachlosperplex, um irgendetwas in dieser Richtung zu äußern.
 

Im Nachhinein hat er plötzlich jede Menge Verständnis dafür wieso Yuuta so völlig vor den Kopf geschlagen und wortlos vor ihm gestanden hat, als das auf einmal rauskam. Es ist wirklich nicht ganz einfach die richtigen Worte zu finden, wenn sich gerade jemand vor dir outet, von dem du es wirklich gar nicht erwartet hast.

Was sagt man dazu?

Gratuliere?

Mein Beileid?

Willkommen in der Vorhölle von Intoleranz und fiesen Sprüchen, neben mir sind noch Plätze frei?
 

„Bisexuell“, sagt er langsam.
 

„Was?“ Tsukimoris Gesicht ist ein einziges Fragezeichen.
 

„Das Wort, das du suchst, ist ‚bisexuell‘.“ Er hat die optimistische Hoffnung, dass er dafür keinen in die Fresse kriegt.
 

Aber Tsukimori sieht vor allem aufrichtig fasziniert aus, als ob sich mit einem Mal eine ganze neue Welt für ihn auftut. „Ah“, macht er langsam. Und dann: „Oh. Aber… OH.
 

„Reden wir noch über Wataru und Yuuta?“ fragt Taku vorsichtig.
 

„Ne“, erwidert Tsukimori gedehnt. „Die haben ganz andere Probleme.“
 

Taku lacht. Er kann nicht anders.

Es sprudelt glucksend aus ihm heraus, eine Mischung aus bodenloser Erleichterung, schamroter Verlegenheit und der Erkenntnis wie unglaublich absurd das ganze Gespräch zwischen ihnen ist.

Er möchte im Boden versinken.

Gleichzeitig möchte er, dass es niemals aufhört.

Das ist das Absurdeste von allem.
 

Ein Zeigefinger tippt sacht gegen seine Wange. Taku zuckt überrascht zusammen und wendet fragend den Kopf.
 

Tsukimori betrachtet ihn aufmerksam. „Du lachst so selten“, erklärt er, als Taku fragend die Augenbrauen hebt. Er lässt die Hand sinken und zuckt mit den Schultern. „Das ist schade. Du bist nämlich sehr hübsch wenn du lachst.“
 

Taku erstarrt und verschluckt sich an seinem eigenen hektischen Atemzug.

Das kann nicht wahr sein, was hier gerade passiert. Vielleicht hat ihm jemand das Bento vergiftet, denkt er fassungslos. Vielleicht ist er einmal zu oft mit dem Kopf auf die Matte geknallt beim Training. Das muss eine Gehirnerschütterung sein.

Tsukimori Ryousuke hat doch nicht wirklich gerade mit ihm geflirtet, oder doch?
 

„Du kannst nicht einfach…“, stammelt er. „Das geht nicht, okay? Das kannst du nicht einfach so sagen.“
 

„Aber ich bin vielleicht bisexuell“, gibt Tsukimori zu bedenken, als ob das ein Freifahrtschein ins Abenteuerland wäre und nicht direkt in die Vorhölle.
 

„Trotzdem! Das geht nicht. Das ist nicht das Gleiche wie bei Mädchen! Das ist was ganz anderes!“
 

Tsukimori sieht so fasziniert aus, als ob er am liebsten Blog und Stift gezückt hätte um alles mitzuschreiben. „Wirklich? Gibt es eine Regel, dass ich nicht mit Jungs flirten darf?“ fragt er. „Ich flirte so gerne. Ich kann das so gut. Das wäre so schade!“
 

„Bist du deswegen verprügelt worden?“ gibt Taku zurück, bemüht darum seine Fassung wieder zu erlangen.
 

„…ich habe gesagt, dass er mir was lutschen soll, aber so war es nicht gemeint.“
 

Taku verdreht die Augen. „Ich dachte du hast nicht angefangen.“
 

„Na ja, technisch gesehen…“
 

„Schon gut, vergiss es.“ Er schüttelt den Kopf und seufzt. „Du solltest nicht… du darfst nicht… versteh doch…“

Er stoppt und sucht vergeblich nach Worten.

Es gibt keine, wird ihm klar.
 

Wie soll man jemandem wie Tsukimori erklären, dass die Welt nicht größer und bunter wird dadurch, sondern nur immer beängstigender und verunsichernder.
 

Er sieht Tsukimori an, in all seiner rebellischen, zerschrammten Schönheit, mit leuchtenden Sonnenpünktchen im Haar und den blauen Flecken auf dem Gesicht und seinem warmen, breiten Lächeln, und ihm tut das Herz weh.
 

„Hör zu“, sagt er langsam und eindringlich. „Wenn du eine, nur eine einzige, Sache darüber wissen musst, dann ist es diese: Es ist beschissen, okay? Es macht keinen Spaß. Und begeh nicht den gleichen Fehler wie ich. Sorg dafür, dass es niemals jemand rausfindet. Denen da draußen ist der Unterschied zwischen bisexuell und homosexuell nämlich völlig egal. Die tun dir sonst Schlimmeres an, als dich zu verprügeln. Verstehst du das?“
 

Tsukimoris Reaktion ist anders als er erwartet hat. Seine Augen sind plötzlich sehr dunkel und er ist Taku plötzlich sehr nah. Das Lächeln ist aus seinen Augen verschwunden.

„Was ist passiert?“ fragt er leise und ernst.
 

Taku schluckt, überrascht von der abrupten Wendung des Gesprächs. „Nichts, ich…“
 

„Taku.“ Er greift nach seinem Arm und schlingt die Finger um sein Handgelenk. „Wer ist ‚Sie‘? Und was haben sie mit dir gemacht? Deswegen sitzt du doch hier drin… allein. Nicht wahr?“
 

Für einen Moment ist die Versuchung so groß, dass Taku mit Gewalt dagegen ankämpfen muss, sich nicht einfach gleich fallen zu lassen.

Er hat vergessen wie gut Tsukimori zwischen den Zeilen lesen kann.

Er ist Yuuta gewohnt, der alle diese Dinge und Zwischentöne nicht mitkriegt, bis sie ihm mit Stäbchen und Ringen eine Choreographie vortanzen.
 

„Taku…“
 

„Ryousuke“, flüstert Taku. Ihm ist heiß und kalt zugleich.
 

Er schließt die Augen und atmet einen Moment lang tief durch.

Als er sie wieder öffnet, lächelt er.
 

„Es ist nichts“, sagt er ruhig. Behutsam löst er einen Finger nach dem anderen von seinem Handgelenk. „Es ist alles in Ordnung. Wirklich.“
 

Frustriert schüttelt Ryousuke den Kopf. „Aber wieso… rede doch mit mir, man. Wir hatten doch gerade einen Moment! Oder nicht?“
 

„Ja“, gibt Taku zu.
 

„Aber wieso willst du dann nicht…?“
 

Er kommt nicht mehr dazu diese Frage zu beenden. Über ihnen wird die Tür aufgestoßen und die Stimmen von Yuuta und Kaneko dringend zu ihnen hinunter.
 

„…vielleicht wenn wir eine andere Musik…?“ fragt Yuuta. Kanekos Antwort wird unter dem Geklapper der Treppenstufen überdeckt.
 

Taku wirft Ryousuke ein entschuldigendes Lächeln zu.

„Wir sollten uns umziehen“, murmelt er.
 

„Und dazu soll ich nicht flirten?“ murmelt Ryousuke genauso leise zurück. „Liefer mir keine Steilvorlagen.“
 

„Ryousuke“, wiederholt Taku erneut. Und dann: „Dieses Gespräch hat nie stattgefunden.“

Und das ist auch besser so, denkt er.

Es ist alles besser so je weiter unten man es begraben kann.
 

Ryousuke seufzt tief. „Hat es wohl“, murmelt er, wie der kleine Rebell der er ist.
 

Taku lächelt als er sich umdreht.

Aber das sieht ja keiner.

Ein paar Tage lang ist Taku gespannt ob sich irgendetwas ändert, dadurch dass Tsukimori Ryousuke entdeckt hat, dass er (möglicherweise) bisexuell ist.

Aber nachdem keine Parade aufgefahren wird, Ryousuke es nicht über den halben Strand schreit und Wataru keine animierende Rede hält, wieso das total in Ordnung ist, wenn Ryousuke ein ‚Bicycle‘ ist, vermutet Taku, dass das Ganze vielleicht doch nur ein Sturm im Wasserglas war.

Eine Probierpackung von „oh vielleicht bin ich bisexuell“. Mit Rückgabegarantie falls es einem doch nicht gefällt.
 

So glücklich müsste er mal sein, denkt er, während er im Spagat auf der Matte sitzt, Yuutas Hände auf seinen Schultern, weil sie sich gegenseitig beim Dehnen helfen.

Vielen Dank, aber die Probepackung an Homosexualität hat meinen Wünschen nicht entsprochen. Ich würde sie gerne umtauschen gegen ein normales Leben, danke.
 

„Oi Captain“, sagt eine Stimme über ihnen. „Ich glaube, Wataru zerrt sich da vorne gleich was Wichtiges.“
 

„Was?“ Yuuta blickt auf. Taku spürt auch ohne aufzusehen wie er beginnt lautlos zu lachen. „Warte, ich mach das schon. Würdest du…?“
 

„Klar.“
 

Yuutas kleine, feingliedrige Hände verschwinden von seinem Rücken und werden durch ein neues Paar ersetzt.
 

„Oi“, verkündet Ryousuke, während er sich hinter ihn auf die Matte kniet. „Ich bins.“ Als ob es irgendeine Möglichkeit geben würde, dass Taku NICHT gemerkt hätte, dass er da ist.
 

„Hallo“, erwidert Taku zögernd.
 

Möglicherweise hat sich doch eine Sache geändert, seit ihrem Gespräch im Clubhaus. Nur eine. Und nur eine kleine.

Ryousuke ist plötzlich permanent… da.

Es ist nicht so als ob sie sich vorher absichtlich aus dem Weg gegangen wären oder so, aber mit einem Mal hat Taku das Gefühl, egal wo er steht und geht (oder in dem Fall sitzt), er muss sich nur umdrehen und schon ist Ryousuke da, der ihn breit anlächelt oder zufällig gerade irgendetwas von ihm will.

Er kann nicht behaupten, dass das schrecklich unangenehm wäre, es ist nur sehr… irritierend.
 

„Ist das gut so?“ fragt Ryousuke. Seine gespreizten Finger ruhen auf Takus Schulterblättern ausgebreitet wie Flügel. „Soll ich fester? Oder weniger fest? Härter? Tiefer?“
 

Taku schnaubt, beinah gegen seinen Willen belustigt. „Vergiss es.“
 

„Ich lerne doch sonst nichts“, stellt Ryousuke pragmatisch fest. „Sag schon.“
 

Taku seufzt und wirft einen raschen Seitenblick zu den anderen, aber die sind zum Glück alle selbst beim Dehnen. „Fester“, murmelt er.
 

Ryousuke prustet.
 

Taku rollt mit den Augen und versucht ernst zu bleiben, während er ausatmet und sich weiter nach vorne beugt. Ein Lächeln zerrt an seinen Mundwinkeln. „Bist du zwölf?“
 

„Tschuldigung“, wispert Ryousuke. Gehorsam drückt er die Handflächen fester auf Takus Rücken. Seine Hände sind nicht einmal so viel größer als Yuutas, das weiß Taku auch, aber sie nehmen gefühlt so viel mehr Raum ein, dass er manchmal gar nichts anderes mehr spüren kann.
 

Er fährt fort gleichmäßig aus und einzuatmen, während er mit den Fingerspitzen nach seinen Zehen angelt. So gleichmäßig er das eben hinkriegt, wenn Ryousuke sich mit vollem Körpereinsatz auf ihm lehnt.
 

„Taku“, sagt Ryousuke leise und direkt an seinem Ohr, sein Kinn auf Takus Schulter.
 

Es hat den Effekt dass er sofort Gänsehaut bekommt, instinktiv und wie ein Reflex.

Niemand nennt ihn Taku. Nicht mal Yuuta, der ihn am längsten von allen kennt, nennt ihn beim Vornamen.

Vielleicht liegt es daran.

Daran oder an dem warmen Atem, der sein Ohr streift, weil Ryousuke das Wort ‚Intimzone‘ nicht mal buchstabieren kann und viel zu nah, zu dicht über ihm hängt, warm und schwer wie eine Bettdecke.
 

„Wir reden eigentlich nicht beim Dehnen“, wispert er.
 

„Echt? Ist mir nicht aufgefallen.“
 

Wie von selbst wandert Takus Blick hinüber zu Nippori, der lauthals mit Kaneko darüber diskutiert wo er sein Bein hintun soll und Wataru, der zappelnd unter Yuuta liegt und sich bei jeder Bewegung beschwert. Er schnaubt, beinah gegen seinen Willen belustigt.

„Ihr habt damit angefangen“, korrigiert er, während er sich aufrichtet und abwechselnd einen Arm über die Brust streckt. „Eigentlich geht es dabei ums Atmen.“
 

Ryousuke nimmt die Hände von seinem Rücken. „Zeig mir das doch mal“, sagt er. „Mit dem Atmen, meine ich.“
 

Taku zögert. „Versuchst du zu flirten?“ fragt er misstrauisch und mit einem hastigen Seitenblick, ob das jemand gehört hat. Aber die anderen sind alle mit sich selbst beschäftigt. „Weil das… das geht nicht. Das hatten wir besprochen.“
 

„Ich versuche nur was zu lernen!“ Ryousuke hat die Augen dramatisch weit aufgerissen. Er ist ein Bild der Unschuld, was ihn gleich noch viel verdächtiger aussehen lässt. Als Taku ihn immer noch skeptisch ansieht, seufzt er abgrundtief.

„Hey“, sagt er leise. „Ich mache auch nichts. Ich schwöre es. Du machst. Du hast das Sagen. Du bist der Boss.“
 

Es fühlt sich an wie eine Falle, und Taku ist beinah sicher, dass es eine Falle ist, aber falls es eine ist, sieht er keine Möglichkeit, wie er ihr ausweichen soll. „Okay“, sagt er zögernd. „Dreh dich um.“
 

Ryousuke setzt sich mit dem Rücken zu ihm, die Beine V-förmig vor sich ausgestreckt.
 

„Du atmest ein wenn du anspannst, und atmest aus, wenn du entspannst“, zählt Taku auf. Er kniet hinter ihm und seine Hände schweben unentschlossen über Ryousukes Rücken. „Das ist eigentlich schon alles.“
 

„Versteh ich nicht. Zeig mal.“
 

„Du stellst dich jetzt mit Absicht blöde, oder?“
 

„Das ist total die fiese Unterstellung!“ behauptet Ryousuke eiskalt. Er legt den Kopf in den Nacken und zieht eine beleidigte Schnute, die ihn aussehen lässt wie einen Hund, der hoffnungsvoll mit dem Schwanz wedelt.
 

Taku verdreht die Augen. Er verbeißt sich das mutwillige kleine Lächeln, das an seinen Mundwinkeln zerrt, wie fast immer wenn er in Ryousukes Gegenwart ist. „Na gut. Komm her.“

Ryousuke rutscht ihm ein Stück entgegen und Taku beugt sich vor. Er schlingt von hinten die Arme um Ryousukes Taille und legt die Handflächen auf eine Stelle unterhalb seines Rippenbogens.
 

Ryousuke gibt ein fragendes Geräusch von sich. Es vibriert in seiner Brust und kribbelt unter Takus Fingerspitzen.
 

„Da ist das Zwerchfell“, murmelt Taku zur Erklärung und spürt wie er rot wird.
 

„Ah.“
 

„Zuerst nach links“, befiehlt er und versucht zu ignorieren wie passgenau seine Brust sich an Ryousukes Rücken schmiegt. „Beug dich vor und versuch mit der rechten Hand nach deinem linken Fuß zu greifen. Nein, nicht so. Du musst es hier spüren“, er legt eine Hand auf Ryousukes Hüfte, „nicht im Rücken.“
 

Ryousuke gehorcht.
 

„Ausatmen“, sagt Taku, während er mit der Bewegung mitgeht. „Ganz langsam. Halten. Und genauso langsam einatmen.“
 

Er spürt wie sich Ryousukes flacher, harter Bauch langsam unter seinen Händen bewegt als er ein- und ausatmet. Sein Körper ist erhitzt unter dem weichen, pinken T-Shirt, warm und fest und verschwitzt.

Es ist eine Qual, es ist unendlich grauenhaft, und gleichzeitig ist es das Beste überhaupt.
 

„Ist das richtig so?“ fragt Ryousuke leise.
 

„Nicht reden“, befiehlt Taku. „Nur Atmen.“
 

„Ich versuch es ja.“ Ryousuke atmet aus und Taku kann spüren wie die Muskeln unter seinen Händen vibrieren, als er lautlos lacht.

Sein Hals fühlt sich mit einem Mal sehr eng an.
 

„Ein“, wiederholt Taku leise. „Und aus.“

Er bewegt sich mit Ryousuke mit, die Hände immer noch auf seinem Bauch, und er lehnt so dicht auf ihm, dass er das Gesicht in Ryousukes Haaren vergraben könnte.

An der Oberfläche riecht Ryousuke nach Haarspray und Deo, nach Turnschuhen und Kaugummi und Jungenumkleidekabine. Darunter schwebt sein ureigener Geruch mit, warm und frisch, salzig und süß, der in Taku freifliegende Assoziationen nach Gänseblümchen, Meersalz und Schokolade, und warmer Mittagssonne auf feuchtem Asphalt wachruft.
 

„Ein“, flüstert Taku, während Ryousuke sich unter ihm bewegt. Sein Gesicht brennt. „Und aus…“
 

Er spürt wie Ryousukes Herz dumpf gegen seine Rippen schlägt, synchron zu seinem eigenen, er spürt jeden Muskelstrang, der sich unter ihm bewegt und jeden einzelnen Atemzug. Sie atmen im Gleichtakt, ein und aus, genauso wie Yuuta ihm das vor Urzeiten mal vorgemacht hat, aber damals ist das alles sehr viel technischer gewesen, viel theoretischer und nicht so.

Nicht so…
 

„Ryousuke-san…?“ fragt eine quietschige Stimme langsam. „Mizusawa-san?“
 

Taku erstarrt abrupt. Ryousuke, der sich überrascht aufrichtet, stößt auf halbem Weg mit ihm zusammen. Reflexartig reißt Taku die Arme von Ryousukes Taille und rutscht hastig drei Meter von ihm weg. Er fühlt sich ertappt.
 

Nippori und Kaneko stehen vor ihnen. Beide haben den Kopf schief gelegt und betrachten sie aufmerksam.

„Wir sind fertig“, stellt Kaneko hilfreich fest. „Also mit dem Dehnen. So seit fünf Minuten.“
 

Nippori nickt bestätigend. „Seit fünf Minuten“, echot er.
 

Takus Kopf fliegt herum und er stellt entsetzt fest, dass die anderen bereits dabei sind sich auf der Matte aufzuteilen.
 

„Wow“, sagt Ryousuke. Es klingt nachdenklich.
 

Takus Herz pocht dumpf in seiner Brust. Er fühlt sich seltsam unwirklich, als ob er gerade aufgewacht ist. Seine Handflächen kribbeln, überall da wo er Ryousuke angefasst hat, wie ein Phantomabdruck.

Ruckartig zieht er die Beine an und atmet tief durch. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er dankbar, dass seine schwarze Trainingshose nicht so eng ist wie sie sein könnte.
 

„…und jetzt los, jetzt verzieht euch schon, ihr kleinen Blutegel, wir kommen ja gleich“, sagt Ryousuke und macht wedelnde Bewegungen mit der Hand, während er aufsteht. „Shush!“
 

„Ryousuke-san! So gemein“ jammert Nippori, aber lässt sich gehorsam von Kaneko mit sich ziehen.
 

Ryousuke dreht sich um und streckt Taku die Hand entgegen. „Wir hatten gerade einen Moment, oder?“ fragt er leise und Taku hat ein seltsames Déjà vu zu dem Augenblick im Clubhaus.
 

Zögernd ergreift Taku seine Hand und lässt sich von ihm nach oben ziehen. Er fühlt sich schwerelos, so als könnte Ryousuke ihn mit einer einzigen Handbewegung durch die Decke und hinauf ins All befördern.

Hat er irgendwie ja schon.
 

„War das… okay?“ fragt Ryousuke.
 

Taku ist nicht ganz sicher, was er meint, aber es war absolut und eindeutig NICHT okay, auf keiner Ebene war das irgendwie OKAY, großer Gott NEIN… aber vermutlich redet er nur über das Dehnen.

„Du bist sehr dehnbar“, bringt er hervor und hämmert sich gleich darauf geistig mit der Hand ins Gesicht.

Phantastisch. Das ist GENAU das, was er sagen wollte. GENAU das.

Du bist dehnbar.

„Ich meinte, du…“ Er zerrt ruckartig seine Hand aus Ryousukes. „Du kannst atmen. Das ist toll. Das wird dir viel weiterhelfen im Leben. Mach weiter so.“
 

Ryousukes Mund verzieht sich zu einem sanften, kleinen Lächeln, während er ihm zuhört. Es ist sonnig und entzückend, und Taku tut das Herz weh, als er es sieht. Abrupt presst er die Lippen zusammen und atmet tief durch.
 

„Wir sollten jetzt lieber…“ Er macht eine unbeholfene Handbewegung in Richtung der Matte.
 

Ryousuke nickt. „Ja. Aber später könnten wir…“, beginnt er eifrig.
 

„Nein“, sagt Taku scharf, schärfer als beabsichtigt. „Nein“, wiederholt er und sieht wie Ryousukes Lächeln in sich zusammen fällt wie ein Kartenhaus.

Es gibt kein später. Das ist alles schon viel zu viel, und viel zu weit gegangen.
 

Im Training sind sie eine Katastrophe.
 

Yuuta hat die dämliche Idee, dass Ryousuke und Taku den gemeinsamen Radschlag mal probieren könnten, wo man sich gegenseitig weiterdreht („Wir könnten das parallel machen, du und Ryousuke hier, und Kaneko und ich auf der anderen Seite, während Hino und Wataru in der Mitte mit dreifach Saltos kreuzen, siehst du, hier…“) und das ist wie erwartet ein einziges Desaster.

Beide haben das schon tausend Mal gemacht (okay, Taku hat es schon tausendmal gemacht), sie können beide phantastisch Rad schlagen, aber an der Stelle wo Ryousuke nach seinen Hüften greift, fällt alles in sich zusammen.

Sie stürzen ineinander, aufeinander wie ein Unfall in Dauerschleife, wieder und wieder und wieder. Nassgeschwitzte Hände rutschen von erhitzten Hüften, Takus Knie sind wie weichgekochte Spagetti und knicken unter ihm weg, Ryousuke ist steif und zappelig zugleich, und einmal fällt er beim Drehen so hart auf seinen Ellbogen, dass Taku es knacken hört, und es sieht so dramatisch aus, dass Wataru panisch über die Matte sprintet und sich auf seinen besten Freund stürzt.
 

Im Endeffekt ist es nur ein blauer Fleck, aber es reicht um Yuutas Begeisterung für diese neue Choreographie einen gehörigen Dämpfer zu verpassen.

„Ich glaube, das vertagen wir lieber auf morgen“, verkündet er am Ende, während er Wataru überwacht, der einen von Satoshi organisierten Eisbeutel auf Ryousukes Ellbogen drückt.
 

Taku kniet ein wenig abseits auf der Matte und sieht dabei zu.

Vermutlich sieht er kühl und unbeteiligt aus, aber er hat die Arme um seine Taille geschlungen, damit niemand sehen kann wie sehr seine Hände zittern.

Auf eine völlig idiotische Art und Weise weiß er, dass es allein seine Schuld ist.

Ryousuke ist verletzt weil Taku schwul ist, und das Schlimme ist, er hat immer gewusst, dass sowas irgendwann passieren würde.

Wieso hat er ihn nicht gleich eigenhändig mit einer Eisenstange zu Tode geprügelt.
 

Vage wird ihm bewusst, dass er vermutlich schon zu lange mit Yuuta befreundet ist, wenn er solche Gedanken hat.

Es ist trotzdem seine Schuld.
 

Wenn die anderen es niemals herausgefunden hätten, dann hätte Ryousuke niemals angefangen die andere Hälfte seiner Sexualität zu hinterfragen und dann wäre er weiterhin glücklich hinter Mädchen hergedackelt und dann wäre er nicht auf die Idee gekommen mit Taku zu flirten und dann wären sie beide jetzt nicht so durch den Wind und… Taku muss das alles im Keim ersticken, sofort. Besser heute als morgen.

Das kann alles nur schief gehen.

Es wird schief gehen.
 

‚Homo…‘
 

‚Schwuchtel…‘
 

‚War doch klar, dass er auf Schwänze steht…‘
 

‚…weiß doch jeder seit dem Trainigscamp…‘
 

‚…mich angeguckt? Ich schwöre dir, wenn du mich angeguckt hast, Homo, dann…‘
 

Er denkt an Ryousukes warmen Atem an seinem Ohr, an seinen sich hebenden und senkenden Bauch unter den Fingerspitzen und daran wie es klingt, wenn Ryousuke seinen Vornamen sagt.

Taku…
 

Er hört das Knacken als Ryousuke auf die Matte aufprallt.

Und genauso wird es klingen, wenn sie ihm den Schädel einschlagen.
 

Das ist es, was dabei herauskommt, wenn man denkt, dass man so etwas haben kann.

Man wird umgehend dafür bestraft.

Das… was immer es ist… ist nicht für Leute wie ihn bestimmt.
 

„Siehst du?“ sagt Ryousuke in dem Moment, als hätte er seine Gedanken gelesen, und hebt seinen probeweise seinen Arm hoch und runter. Er lächelt. „Alles noch dran.“
 

„Ja“, bringt Taku über die Lippen, aber er kann ihm dabei nicht ins Gesicht sehen.
 

„Es ist okay“, beteuert Ryousuke.
 

Ist es nicht.
 

-
 

Im Badehaus sitzt Taku steif und still wie eine Statue in seiner Ecke und hört Yuuta zu, der mit leiser angenehmer Stimme über neue Überkreuzungstechniken plaudert, die ihm letzte Nacht eingefallen sind; und Ryousuke ist so ungewohnt schweigsam und nachdenklich, dass Wataru ihn dreimal fragt, ob wirklich alles in Ordnung ist. Einmal taucht er ihn unter, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Sie sitzen an gegenüberliegenden Seiten des Beckens und sie sehen sich nicht an.
 

„Geh schon vor mal vor“, hört Taku ihn nachher sagen. „Ich komme nach. Nein, ich lass mich nicht verprügeln auf dem Heimweg. Jetzt geh schon.“
 

Taku, der bis eben getrödelt hat damit seine Klamotten anzuziehen, spürt wie sein Herzschlag sich unwillkürlich beschleunigt. Sorgfältig faltet er sein Trainingsshirt dreimal zusammen und wieder auseinander, und wartet bis Kiyama und Satoshi vor ihm fertig werden und die Umkleidekabine verlassen.

Erst dann atmet er aus.
 

Als er endlich rauskommt, als allerletzter, wartet Ryousuke auf ihn.

Er lehnt unentschlossen an der Hauswand, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Als er Takus Schritte hört, hebt er den Kopf. Seine nassen Haare sind dunkler als sonst und fallen ihm offen und ungestylt in die Stirn.
 

„Tut es noch weh?“ fragt Taku leise und deutet auf seinen Ellbogen.
 

„Ach das.“ Ryousuke winkt ab. „Ich merk es kaum noch.“
 

Lügner, denkt Taku.
 

Ryousuke hebt den Kopf und senkt ihn gleich wieder. Er räuspert sich umständlich. „Hör zu…“, sagt er leise.
 

„Das kannst du nicht machen“, platzt es aus Taku heraus, im selben Moment als Ryousuke sagt: „Ich hab absolut keinen Plan, was hier läuft, aber ich hätte gerne mehr davon.“
 

Taku pausiert. „Was?“
 

„Was kann ich nicht machen?“ fragt Ryousuke gleichzeitig.
 

Mich durcheinander bringen, denkt Taku mit klopfendem Herzen. Das ist nicht in Ordnung. Aber das sagt er nicht. Was er sagt ist: „Du zuerst.“
 

„Ich denke die ganze Zeit darüber nach, was du gesagt hast.“ Ryousuke zieht die Schultern hoch und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Es sieht seltsam defensiv aus. „Dass es mit Jungs nicht das Gleiche ist wie mit Mädchen. Und ich versteh das auch irgendwie. Aber ich weiß nicht, was… oder wie… und du hast nicht gesagt inwiefern es anders ist!“
 

„Mädchen hauen dir nicht in die Fresse, wenn du sie anbaggerst“, sagt Taku hilfreich. „In der Regel.“
 

„Ja, gut, okay. Aber trotzdem… ich meine, das kann doch nicht die einzige Regel sein, wenn man auf Jungs steht? Ich meine, was ist denn dein Plan?“
 

„Mein… Plan?
 

„Na ja, wie soll es weitergehen? Was stellst du dir vor?“
 

Taku starrt ihn an.

Als Ryousuke abwartend zurückstarrt, schüttelt er resigniert den Kopf.

„Ich werde es so lange vor meinen Eltern geheim halten wie möglich“, zählt er langsam auf. „Sie werden irgendwann verzweifeln, dass ich immer noch kein nettes Mädchen mit nach Hause gebracht habe. Dann werden sie sich irgendwann damit abfinden, dass ich einsam sterben werde.“
 

„Und dann?“
 

„Na ja, ich nehme an, dann werde ich einsam sterben.“
 

„DAS ist dein Plan?“
 

Taku nickt. „Vielleicht finde ich vorher einen Job. Da bin ich noch nicht sicher.“
 

„Das ist ein furchtbarer Plan!“ Ryousuke wedelt mit den Armen. „Warum…? Wieso würdest du…? Was…? WIESO…?! HAST du sie noch alle?“
 

Taku zuckt mit den Schultern.
 

„Willst du nicht… keine Ahnung… mal ausgehen… oder mit jemandem flirten… oder eine Beziehung haben… oder wenigstens guten Sex?“ fragt Ryousuke fassungslos. „Rumknutschen am Strand? Händchen halten auf der Brücke? Zusammengekuschelt einschlafen? Solche Sachen.“
 

„Oh klar. Weil das genau das ist, was Typen wie mich im Leben erwartet.“
 

„Typen wie dich…?“
 

„Der einzige Mensch, der mich jemals küssen wird, ist meine Oma.“
 

Typen wie dich?“ wiederholt Ryousuke lauter.
 

Graue, unscheinbare Mäuse, die einen Sport betreiben bei dem man rosa Glitzeranzüge trägt und Rad schlägt und die zufällig schwul sind, stehen sicher GANZ WEIT OBEN auf der Liste von Leuten, die glückliche Beziehungen haben, flüstert die sarkastische kleine Stimme in Takus Innerem. GANZ. OBEN.

„Wie auch immer“, lenkt er ab. „Ich weiß sowieso nicht, wieso du nicht einfach weiterhin mit den anderen 50% der Gesellschaft beschäftigst, die Mädchen sind. Das ist doch prima. Das würde dir so viel weniger Probleme machen.“

Und mir auch.
 

„Weil ich dich mag, du Depp!“ platzt es aus Ryousuke heraus und es klingt als ob ihm gerade endgültig der Geduldsfaden reißt. „Das ist das, was ich die ganze Zeit versuche dir zu sagen! Und du bist halt kein Mädchen!“
 

Taku öffnet den Mund und schließt ihn gleich wieder. Eine Sekunde lang fühlt er sich, als ob ihm jemand in den Bauch getreten hätte. Er atmet ein und aus und es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, in der Ryousuke ihn erwartungsvoll anstarrt.

„Tust du nicht“, sagt er schließlich.
 

„Entschuldige…?“
 

„Du bist einfach… verwirrt“, erklärt Taku so rational wie möglich, auch wenn es in seinem Brustkorb zieht und schmerzt wie kurz vor dem Herzinfarkt. „Ich hab dich verwirrt. Weil ich der einzige schwule Junge bist, den du kennst und du… jetzt interpretierst du da was rein. Das ist okay. Das ist normal. Du musst nur…“
 

„Taku…“
 

Er macht die Augen zu, um Ryousukes Gesicht nicht sehen zu müssen, und redet einfach weiter. „Du kannst nicht… bitte, du kannst nicht mit Sachen vor meinem Gesicht herum wedeln, die ich sowieso nie haben kann. Vielleicht ist das nur eine Phase für dich und in zwei Wochen merkst du, dass Mädchen doch wesentlich angenehmer zu daten sind als Jungen, und das ist auch okay so.“ Er zuckt hilflos mit den Schultern. „Küssen am Strand und Händchen halten auf der Brücke sind Dinge, die dir passieren werden und nicht mir, und das wissen wir beide“, sagt er leise.
 

Als er die Augen wieder aufmacht, steht Ryousuke direkt vor ihm. Taku weiß nicht, wann er ihm so nah gekommen ist.

Ryousuke sieht nicht einmal wütend aus, sondern eher so als ob ihm jemand mit beiden Händen die Kehle zusammendrückt.
 

„Ich bin nicht verwirrt“, sagt er leise.
 

„Du bist…“
 

Er kommt nicht mehr dazu diesen Satz zu beenden, denn in diesem Moment lehnt Ryousuke sich nach vorne und drückt seine Lippen auf Takus.

Es ist der zarteste aller Küsse, nicht mehr als ein Hauch. Er ist eine zuckerwatteweiche, unbeholfene Lippenberührung, süß und warm, und jedes einzelne Wort, dass Taku vielleicht irgendwann mal sagen wollte, löst sich in seinem Kopf in Luft auf.
 

Ryousukes Gesicht ist ein verschwommenes Oval vor ihm, als er langsam zurückweicht.
 

„Oh…“, haucht Taku sprachlos.
 

„Ich bin nicht verwirrt“, wiederholt Ryousuke. „Nicht deswegen, okay? Das ist… das ist wirklich die einzige Sache, die ich weiß. Ich MAG dich und du bist wahnsinnig süß wenn du lächelst, und wenn wir uns anfassen, ist das besser als jedes Date, was ich jemals hatte. Und ich will das alles mit dir machen, Händchen halten auf der Brücke und Küssen am Strand und noch viel mehr. Und wenn du… wenn du mich einfach nicht magst, dann sag es und ich lass dich in Ruhe, ich verspreche es. Ich flirte dich nicht mehr doof von der Seite an und wir machen keine Dehnungsübungen mehr zusammen, und ich dusche ganz viel kalt in nächster Zeit. Aber ich glaube, du hast einfach nur Angst“, sagt er leise. „Und du sagst mir nicht wieso.“
 

„Du verstehst es nicht“, flüstert Taku. Blut rauscht in seinen Ohren. „Es geht nicht… ich kann nicht…“
 

Ryousuke wartet stumm.
 

„Es tut mir leid.“
 

Ryousuke seufzt. Es ist ein langes, tiefes Ausatmen und es klingt seltsam resigniert.

Er greift nach seinem Rucksack und schlingt ihn sich über die Schulter, während er einen Schritt zurücktritt. Taku sieht ihm wortlos dabei zu, wie er an ihm vorbeiläuft. Schon jetzt fühlt er sich unendlich weit weg an.
 

Als sie auf einer Höhe sind, hält Ryousuke noch einmal an, aber er dreht sich nicht um dabei. „Wenigstens kannst du jetzt nicht mehr sagen, dass der einzige Mensch, der dich je geküsst hat, deine Oma ist“, sagt er leise.

Die nächsten beiden Tage läuft Taku wie in Watte gepackt durch die Welt. Er fühlt sich die ganze Zeit so, als ob er gleichzeitig weinen und sich übergeben möchte.
 

„Magenverstimmung“, murmelt er, als Yuuta ihn am Mittwoch fragt, wieso er nicht im Training war. Irgendwie stimmt das ja auch.
 

„Tut mir leid“, sagt Yuuta. „Gute Besserung?“ Er klingt nicht vorwurfsvoll, nur verwirrt, was daran liegen kann, dass Taku in den letzten zwei Jahren noch nicht ein einziges Mal im Training gefehlt hat.
 

Taku ringt sich ein Lächeln ab. „Wird schon wieder.“
 

Yuuta runzelt die Stirn. „Hast du Fieber?“
 

„Hm?“
 

„Du bist so…“ Er macht eine vage Handbewegung an ihm entlang.
 

Taku schüttelt den Kopf. Yuuta sieht ihn abwartend an.
 

„Vielleicht solltest du zur Krankenschwester gehen“, schlägt er schließlich vor, als keine Antwort mehr kommt.
 

Guter Plan. Taku wünscht sich ja auch, dass es eine Tablette dagegen gäbe, gegen das alles, inklusive dem schwul sein, mit dem alle seine Probleme überhaupt erst angefangen haben. Aber diesen Gedanke hatte er schon so oft, dass es sich gar nicht mehr lohnt ihn Ende zu denken.

Es gibt keine Tablette dagegen wenn einem das Leben wehtut.
 

Er ist nicht der einzige, der ein bisschen neben der Spur ist, und das merkt er spätestens als Ryousuke die Klasse betritt.

Er ist unversehrt und ohne blaue Flecken, und das ist gut. Aber er trägt die Haare offen und das ist schlecht. Sogar Taku weiß das. Schuldbewusst sinkt er ein bisschen tiefer in seinen Stuhl.

Er ist schuld.
 

Natürlich gibt es noch jemanden, der sofort weiß, dass das kein gutes Zeichen ist. Sogar aus den Augenwinkeln kann er sehen wie Wataru sich etwas aufmerksamer in seinem Stuhl aufrichtet. „Oi!“ sagt er beunruhigt und winkt energisch in seine Richtung. „Ryousuke.“
 

Vermutlich weiß Ryousuke selbst nicht einmal, was für ein eindeutiges Signal er aussendet, wenn er vergisst das übliche, kleine Zöpfchen in seine Ponyfransen zu knoten, denn er hebt irritiert die Augenbrauen, während er zu seinem besten Freund hinüber schlendert. „Was?“
 

„Was ist los?“ fragt Wataru beunruhigt.
 

„Häh? Ich hab keine Ahnung wovon du…“
 

Was auch immer er antwortet, geht in dem allgemeinen Lärm im Klassenraum unter, aber Wataru verbringt den Rest des Tages damit besorgte Blicke auf seinen besten Freund zu werfen und ein Teil von Taku ist unglaublich erleichtert deswegen.
 

Er weint, wenn er traurig ist. Er vergräbt sich unter der Bettdecke und macht das Radio an, damit seine Eltern sein Schluchzen nicht hören.

Aber Ryousuke… Ryousuke weint nicht. Er hört vermutlich auch keine traurigen Lieder. Er zieht los und rempelt fies aussehende Typen an, wenn er traurig ist, so viel weiß Taku inzwischen auch, und allein der Gedanke verursacht ein heißes, brennendes Gefühl in seiner Magengegend.

Er kann nicht dafür verantwortlich sein, dass Ryousuke irgendwas Dummes tut, das geht nicht.
 

Doch nicht er.

Doch nicht deswegen.

Das ist es doch alles gar nicht wert.
 

-
 

„Mizusawa“, sagt eine ruhige Stimme hinter ihm und Taku zuckt so heftig zusammen, dass er ruckartig sämtliche Ordner fallen lässt, die er in der Hand hat. Sie poltern auf den Boden wie ein Donnergrollen.
 

Es ist Kiyama.
 

Ihm wird schwindelig vor lauter Erleichterung und vielleicht gerät er ein wenig ins Schwanken, denn Kiyama macht einen alarmierten Schritt nach vorne. „Alles in Ordnung?“
 

„Ja.“ Taku nickt und geht hastig in die Knie, um die Ordner wieder aufzusammeln. „Ja. Entschuldigung. Was… was kann ich für dich tun?“
 

Kiyama kniet sich neben ihn und reicht ihm eins seiner Bücher. „Du warst nicht im Training. Yuuta hat gesagt, du bist krank.“ Sein prüfender Blick ruht auf Taku, und Taku fühlt sich augenblicklich durchleuchtet von seinem Röntgenblick.
 

Er gibt ein unbestimmtes Geräusch von sich, welches man mit viel gutem Willen als Zustimmung interpretieren kann. Oder auch nicht. Er nickt vage.
 

„Ich wollte nur sehen, wie es dir geht“, sagt Kiyama schließlich.
 

Taku räuspert sich umständlich, während er aufsteht und die Ordner und Hefte eilig in seinem Rucksack verstaut. „Danke. Gut. Wirklich.“

Er verdreht innerlich die Augen über sich selbst, und wünscht sich, er hätte das ‚wirklich‘ nicht hinterher geschoben.

Doppelte Bejahung ist immer so gut wie ein ‚nein‘.
 

Kiyama sieht ihn forschend an.
 

„Du bist so still in letzter Zeit“, stellt er langsam fest. „Das ist kein Vorwurf“, fügt er hinzu, als Taku hastig widersprechen will. „Ich habe mich nur gefragt ob irgendetwas nicht Ordnung ist. Ob… dich vielleicht jemand ärgert.“
 

‚Du kleiner Homo…ich mach dich kalt…‘
 

„Nein“, erwidert Taku. „Natürlich nicht.“
 

Kiyama nickt nachdenklich. „Es ist nicht Ryousuke, oder?“ fragt er leise.
 

„Was?“ Mit pochendem Herzen hält Taku inne. Er fühlt sich ertappt, nackt, durchschaut, alles auf einmal. „Wieso…?“
 

„Ich weiß, dass er im Trainingscamp ein paar Startschwierigkeiten hatte, aber ich dachte, das hätte sich…“ Abrupt hält Kiyama inne. „Ah“, sagt er sacht und über sein Gesicht flackern in kurzer Folge Erkenntnis, Amüsement und dann Verlegenheit. „Entschuldige.“
 

„Das ist es nicht“, erwidert Taku mit brennendem Gesicht. Innerlich verpasst er sich selbst einen Klaps.

Er hat Bauchschmerzen, und Ryousuke trägt die Haare offen. Wieso haben sie es nicht gleich als Choreographie für alle vorgetanzt, dass etwas passiert ist. „Ryousuke ist nicht… Er würde nie… Er ist einfach nur Ryousuke“, endet er lahm.

So eilig wie möglich stopft er seine Sachen in den Rucksack und macht Anstalten zu gehen.
 

„Mizusawa“, sagt Kiyama leise und Taku hält noch einmal inne. „Wenn du jemals über irgendetwas reden möchtest… ich würde zuhören.“
 

Taku nickt langsam. „Ich weiß“, erwidert er ehrlich. Und das tut er wirklich.
 

-
 

Am selben Tag wird Taku unfreiwilliger Zeuge davon wie Ryousuke sich vor Wataru outet.

Zumindest kann er sich im Nachhinein zusammenreimen, dass es das ist, was er gerade gesehen hat.
 

Die beiden stehen in einer Ecke des Schulhofs zusammen. Taku kann das Gespräch nicht hören, aber Wataru sieht ernster aus als gewöhnlich, und er lauscht aufmerksam und ohne zu unterbrechen. Ryousuke macht vage, halbfertige Gesten, blickt überall hin nur nicht in Watarus Gesicht und er sieht aus, als ob er beim Reden über seine eigenen Worte stolpert.

Es endet damit, dass er verlegen den Kopf senkt und die Schultern hochzieht, eine abwartende, beinah defensive Geste, die dafür sorgt, dass Taku eine Sekunde lang bang den Atem anhält und mit beiden Händen die Stangen der Treppe umklammert auf der er sitzt.
 

Er hätte sich keine Sorgen machen müssen.

Wataru macht einen Schritt auf Ryousuke zu und umarmt ihn.
 

Taku kann sehen wie Ryousuke ihm entgegen sinkt und die Arme um ihn schlingt. Erleichterung breitet sich in ihm aus.

Es endet mit ausgiebigem Schulterklopfen und damit dass Wataru ihm liebevoll durch die Haare wuschelt, und mit Ryousukes breitem, sonnigem Lächeln, das sogar aus der Entfernung so hell leuchtet, dass er vermutlich eine halbe Kleinstadt mit Energie zu versorgen könnte.
 

Takus Herz pocht.

Ryousukes nachdrückliches ‚Ich bin nicht verwirrt‘ hallt in seinem Kopf wieder.
 

-
 

Abends wälzt Taku sich im Bett und kann nicht schlafen.

Es ist heiß und die Gedanken kreisen in seinem Kopf.
 

Er hat heute in fünf Minuten mehr mit Kiyama geredet als die letzten zwei Schuljahre zusammen.

Man sollte meinen, dass ihn das mehr aus der Fassung bringt als die Tatsache wie Ryousuke seine Haare trägt. Oder ob er seinem besten Freund gesagt hat, dass er vielleicht auch auf Jungs steht.

Aber das tut es nicht.
 

Ich bin nicht verwirrt. Nicht deswegen, okay? Das ist wirklich die einzige Sache, die ich weiß…
 

Taku ist ja nicht ganz blöd.

Nachträglich ist ihm schon klar, dass seine Schwärmerei für Kiyama vor allem zwei Gründe hatte. Erstens ist Kiyama unglaublich schön. Und zweitens ist Kiyama noch nie irgendetwas anderes gewesen als unerreichbar.

Es war immer ein bisschen so wie in einen Schauspieler verknallt zu sein und dessen Poster über dem Bett aufzuhängen. Eine ungefährliche, unbedenkliche Schwärmerei, die völlig sicher ist, weil aus ihr sowieso nie etwas werden kann.
 

Natürlich hat Taku sich manchmal Dinge vorgestellt.

Kitschige, dämliche, ‚Liebesschnulzen im dritten Programm‘-Szenarien in denen er und Kiyama eine geheime Beziehung haben, die vorwiegend aus langen sehnsüchtigen Blicken quer über den Schulflur besteht, und ihren Händen, die sich im vorbeigehen berühren und darin, dass sie nie beieinander sein können.

Das war immer klar.

Also, das nie beieinander sein können. Sogar in den Szenarien wo er es gewagt hat sich auszumalen, dass Kiyama auch etwas für ihn empfindet, war das Ganze immer eher eine Art gegenseitiges unerreichbares Schmachten. Aus der Ferne. Ohne Körperkontakt.

Manchmal ist auch einer aus lauter Verzweiflung ins Wasser gegangen.

Vorzugsweise Taku, weil er es sogar in seiner Phantasie niemals über sich gebracht hat, Kiyama etwas anzutun.
 

Happy Ends sind da nie eingeplant gewesen, auch nicht in seinem Kopf.

Wenn man sich selbst so bodenlos eklig und abstoßend findet, dann gibt es keine Happy Ends. Dann gibt es auch keine Sexphantasien, außer diese Art Phantasie, wo man sich die ganze Zeit auf die Lippe beißt, um jeden Laut zu ersticken, und noch während des Orgasmus in Tränen ausbricht, weil man sich so sehr schämt.

Wenn Taku ganz, ganz ehrlich mit sich selbst ist… dann weiß er selbst am besten, dass unter den vielen widerstreitenden Gefühle, die er an der Bushaltestelle empfunden hat, auch ein bisschen Erleichterung war als Kiyama gesagt hat ‚Tut mir leid, aber ich empfinde nicht so für dich‘.
 

Denn eigentlich ist Kiyama nie eine reale Option gewesen, sondern ein Traumgebilde.

So viele Psychologie kriegt Taku auch noch zusammen, um das zu wissen.
 

Aber jetzt ist da Ryousuke.

Ausgerechnet.

Ryousuke, der in jeder Hinsicht so anders ist als Kiyama wie man überhaupt nur sein kann.

Ryousuke der laut und hell ist, und sonnig und aufbrausend, der dämliche Witze macht und komische Grimassen schneidet, der Dinge sagt wie ‚ich bin vielleicht bisexuell‘ und ‚ich MAG dich‘ und der manchmal geistig noch zwölf Jahre alt ist.

Ryousuke, der denkt Bisexualität ist der Freifahrtschein ins Abenteuerland.

Ryousuke, der nicht die geringste Ahnung hat, worauf er sich da einlässt.
 

Ryousuke, der warm und fest und real unter seinen Fingerspitzen ist. Mehr als andere ist er das. Real.

Ryousuke, der ihn vor dem Badehaus geküsst hat.
 

Einen Kuss, dessen Existenz Taku immer noch nicht richtig glauben kann.

Ein Kuss, der nicht eklig war und nicht abstoßend, sondern warm und weich und sacht, wie Zuckerwatte.
 

Happy Ends sind niemals eingeplant gewesen.

Nicht für ihn.

Aber für eine Sekunde hat er sich beinah gefühlt, als ob das auch nur ein theoretische Möglichkeit wäre…
 

-
 

Taku rennt.
 

Er biegt um eine Kurve und prallt ruckartig mit jemandem zusammen.
 

„Oi, pass doch…“, sagt eine Stimme. Und dann: „…Taku?“
 

Schwer atmend dreht er sich um. „Es tut mir leid“, stammelt er. „Ich…ich muss nur…“

Es dauert einen Augenblick bis er registriert, wer es ist, gegen den er gerade geprallt ist.

Ryousuke.
 

„Hey, hey… was ist los? Alles in Ordnung?“ Ryousukes Augen werden erst weit und dann ruckartig schmal. Er packt nach seinen Armen, und Taku lässt sich willenlos mitziehen, hinein das leere Klassenzimmer. Seine Knie fühlen sich an wie weich gekochte Spagetti.
 

„Was machst du hier?“ bringt er hervor.
 

„Was machst du hier?“ gibt Ryousuke zurück. Seine Stimme wird scharf. „Ist jemand hinter dir her? Hat dir jemand weh getan? Taku!
 

„Was? Ich… nein…“ Taku schüttelt den Kopf. „W-wie kommst du darauf?“
 

„Weil ich weiß, wie einer aussieht, hinter dem jemand her ist!“
 

Taku zwingt sich tief durchzuatmen.

Jetzt wo sein laut hämmernder Herzschlag sich langsam beruhigt, kann er hören, dass es leise im Flur geworden ist, keine trappelnde Schritte mehr, kein hektischer Atem außer seinem eigenen. Wer auch immer da war, ist inzwischen still schweigend verschwunden, vielleicht schon in dem Moment als sie einen kurzen Blick auf blond gefärbte Haare erhascht und Ryousukes Stimme gehört haben.
 

Ryousuke prügelt sich schon seit einer Weile nicht mehr, aber das weiß ja kaum einer außer dem Team, und er und Wataru haben immer noch einen ziemlich üblen Ruf an der Schule.

Zum ersten Mal ist Taku froh deswegen.
 

„Es ist okay“, murmelt er. „Entschuldige den Zusammenstoß. Aber es war nichts.“
 

„Taku…“
 

„Wirklich“, beteuert er. „Es ist in Ordnung. Was machst du hier?“
 

Ryousuke lässt die Arme sinken und seufzt. „Ich hatte Nachsitzen.“ Es klingt zerknirscht.
 

„Ernsthaft?“
 

„Ich hab nicht angefangen“, beteuert Ryousuke.
 

Taku hebt die Augenbrauen.
 

„Okay, aber ich hatte gute Gründe für meine Aussage und… überhaupt, hätte man das nicht so persönlich nehmen müssen.“
 

Taku lächelt und beißt sich sofort auf die Unterlippe.
 

Einen Moment lang ist es still zwischen ihnen und sie stehen immer noch viel zu nah voreinander. Aber keiner von ihnen macht einen Schritt zurück.

Taku fühlt sich wie ein Süchtiger, der sich einen Schuss gesetzt hat und jetzt nicht mehr von der Nadel wegkommt. Einen Schuss von… was auch immer das für ein Gefühl ist, dass er empfindet, wenn Ryousuke vor ihm steht.
 

„Ich hab es Wataru gesagt“, sagt Ryousuke schließlich leise. Es klingt zögernd. Persönlich. „Das mit dem Bisexuell sein. Nippori auch.“
 

Taku hebt den Kopf. Sie stehen so dicht voreinander, dass er zum ersten Mal den Größenunterschied zwischen ihnen bewusst wahrnimmt, jeden einzelnen Zentimeter. Wenn sie sich umarmen würden, denkt er, würde sein Gesicht genau in die weiche Beuge zwischen Ryousukes Schulter und seinem Kinn rutschen. Er zwingt sich in Ruhe weiter zu atmen. „Und?“
 

Ryousuke zuckt mit den Schultern. „Wataru ist… Wataru. Er freut sich über alles was mich auch freut. Nippori ist das total egal, solange ich nur niemals seine kleinen Geschwister anbaggere.“
 

„Hast du das denn vor?“
 

Ryousuke verzieht das Gesicht. „Ne. Die sind Babies.“

Er hat eine Hand in der Hosentasche und hebt die andere hoch, um sich damit über den Hinterkopf zu fahren. Es ist eine ungewohnt unsichere, kleine Geste. „Im Moment gibt es sowieso nur einen, den ich gerne anbaggern würde…“, sagt er leise und blickt überall hin nur nicht in Takus Gesicht.
 

„Nur einen?“ Taku verzieht das Gesicht zu einem matten Lächeln. „Sonst sind es doch immer gleich acht.“
 

„Das war gelogen, okay?“ Ryousuke streckt die Hand nach ihm aus, als er sich abwenden will, und schlingt die Finger lose um sein Handgelenk. „Es waren nie wirklich acht, sondern zwei. Und ich hab beiden geschrieben, dass ich mich nicht mehr melden werde.“
 

„Ach ja? Wieso?“ Takus Herz pocht. Er ist sicher, dass Ryousuke den hektisch vibrierenden Puls an seinem Handgelenk spüren kann.
 

„Weil mir was anderes wichtiger ist.“
 

„Wirklich?“
 

„Willst du die SMS sehen?“
 

Taku schüttelt den Kopf. Er glaubt ihm ja. Das ist ja das Schlimme.
 

Abrupt, als ob ihm jetzt gerade erst auffällt, dass er ihn festhält, lässt Ryousuke ihn los und weicht einen Schritt zurück. „Entschuldige“, murmelt er.
 

„Schon okay.“
 

„Ich wollte nie, dass zwischen uns jetzt alles so… blöd ist. Du kannst ruhig…“ Er schluckt und seine Ponyfransen fallen ihm tief in die Augen. „Ich wollte nur sagen, du kannst ruhig wieder ins Training kommen.“
 

Taku errötet. „Es war nicht, weil…“, murmelt er, aber die Lüge ist so offensichtlich, dass sie ihm in der Kehle stecken bleibt.
 

„Schon okay. Ich werde mich zurück halten.“ Ryousuke zuckt mit den Schultern, ein Schauspiel von Gleichgültigkeit, die er offensichtlich nicht empfindet. „Wataru ist sowieso sehr anhänglich gerade. Ich komme gar nicht dazu, an jemand anderem zu kleben.“
 

Er kaut auf seiner Unterlippe herum und Taku muss sich zwingen woanders hin zu sehen.

Ryousukes Lippen und seine Tendenz darauf herum zu kauen oder Dinge dazwischen zu schieben, werden irgendwann sein Untergang sein.
 

Ich bin nicht verwirrt!
 

„Bist du böse auf mich?“ fragt Ryousuke so unendlich leise, dass Taku anfangs nicht sicher ist, ob richtig gehört hat. Und dann dauert es eine gefühlte Ewigkeit bis er versteht.
 

Er schüttelt den Kopf. Seine Lippen prickeln, und alles in seinem Verräterkörper schreit ihn an, dass dieser Kuss das Beste war, was ihm jemals passiert ist und er hat Ryousuke weggeschickt, nur weil er ein Idiot ist. „Nein.“
 

Ryousuke sieht erleichtert aus.
 

„Es liegt nicht an dir…“, murmelt Taku.
 

„…es liegt an deinem Plan einsam zu sterben“, vervollständigt Ryousuke.
 

Taku spürt wie er lächelt, wie immer wenn Ryousuke renitent und widerspenstig ist. „Ja, sowas in der Art.“
 

„Das ist ein ganz und gar beschissener Plan“, erwidert Ryousuke sacht.

Es klingt leise und hoffnungslos und Taku ist nicht sicher, was er dazu sagen soll.
 

Also nickt er wortlos und sieht Ryousuke zu, wie er an ihm vorbeiläuft, die Schultern hochgezogen und die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
 

„Das war gerade ein Moment“, rutscht es Taku hinaus, bevor er sich bremsen kann.
 

„Was?“
 

Sein Gesicht ist warm, als ob er zu lange in der Sonne gelegen hätte. „Wir hatten gerade einen Moment. Falls du… also, falls du noch eine Statistik führst.“
 

Ryousuke schnaubt überrascht. Ein schräges, kleines Lächeln spielt um seine Lippen. „Ist gespeichert“, sagt er leise.
 

In diesem Augenblick hat Taku ihn so lieb, dass es ihn fast zerreißt.

Warnungen für diesen Teil: Androhung von Gewalt, eine Prügelei, Blut, homophobe Beschimpfungen (fühlt euch gewarnt).
 

Die nächsten beiden Tage läuft es wieder entspannter zwischen ihnen.

Sie reden nicht viel miteinander, aber Taku fühlt sich wenigstens nicht jedes Mal so, als ob die gesamte Luft aus dem Raum gesaugt wird, sobald er Ryousuke sieht.

Er geht wieder zum Training.

Ryousuke trägt die Haare immer noch offen, aber wenn er Taku sieht, lächelt er wenigstens zaghaft in seine Richtung. Ansonsten hält er sein Versprechen und hält sich taktvoll auf der anderen Seite der Matte auf.

Sogar Yuuta hat mitgeschnitten, dass sie im Moment wirklich nichts weniger tun wollen als an einer gemeinsamen Figur zu arbeiten und hat die neue Choreographie vorerst auf Eis gelegt. Vielleicht hat Wataru auch dezent dabei nachgeholfen, Taku ist nicht ganz sicher. Wataru kriegt manchmal viel mehr mit als man ihm zutraut.

Stattdessen werden Sprünge und Saltos geübt, vorwärts und rückwärts, einfach, zweifach und dreifach, so lange bis die gesamte Halle vor Takus Augen kreiselt, und er einmal nachts aus dem Bett fällt, weil er sogar im Schlaf noch versucht sich nach hinten abzustoßen.
 

Es ist der Freitag, er ihm beinah das Genick bricht.

Wortwörtlich.
 

Taku ist nicht einmal überrascht.

Er hat gewusst, dass es passieren wird.

Seit dem Augenblick an dem Hamada aus der Parallelklasse sich im Flur zu ihm hinunter gebeugt und gezischt hat: ‚Du bist tot, du kleiner Homo, ich mach dich kalt‘, hat er es gewusst.

Das ist das, was mit Leuten wie ihm passiert.

Die kriegen kein Happy End. Die kriegen eine Eisenstange ins Genick.
 

Seit dem isst er allein im Clubhaus zu Mittag.

Seitdem macht er riesige Umwege um nach Hause zu kommen und versucht nie zweimal den gleichen Weg zu benutzen.

Seitdem zuckt er zusammen wenn ihn jemand überraschend anspricht.
 

Dass es auf Dauer nichts nützen wird, ist ihm selbst immer klar gewesen.
 

Sie erwischen ihn auf seinem Heimweg, kurz vor der Brücke.
 

Diesmal sind sie zu fünft, vielleicht auch zu sechst. Taku sieht sie nur aus den Augenwinkeln, während er stur gerade ausblickt. Die Nachmittagssonne brennt heiß auf das Pflaster und verschmilzt ihre Schatten zu einem großen, krakenartigen Monster, das sich bedrohlich hinter ihm aufbaut.
 

„Oi! Bleib stehen!“
 

Taku bleibt nicht stehen. Sein Herz pocht heiß in seiner Brust.

Er zwingt sich einfach ruhig weiterzugehen. Nicht wegrennen. Keine Angst zeigen.

Vielleicht ist es wie bei Raubtieren, denkt er. Man darf ihren Jagdinstinkt nicht wecken.

Tot stellen. Das ist es, was sie in allen Tiersendungen auf dem Discovery Channel sagen. Man muss sich tot stellen und hoffen, dass das Raubtier dich dann für uninteressant genug hält, damit es dir nicht die Kehle durchbeißt.

Tot stellen.

Einfach weitergehen.

Ignorieren.
 

„Hey, Schwuchtel!“ höhnt die Stimme erneut. „Bleib stehen.“

Eine Hand packt nach seiner Schulter und reißt ihn herum. Seine Tasche rutscht ihm von der Schulter und er wird mit dem Rücken gegen das Brückengeländer gepresst.

Ignorieren ist leichter bei einem Tiger.
 

„Ich rede mit dir!“ Heißer biergetränkter Atem schlägt ihm ins Gesicht. „Bist du taub oder was?“
 

Alkohol.

Takus Herz rutscht in die Hose. Das ist nicht gut.

Alkohol senkt die Hemmschwelle deinen kleinen schwulen Mitschülern etwas anzutun, und zwar ganz dramatisch.
 

„Ich hab dir doch gesagt, ich mach dich kalt“, tönt Hamada. „Hast es mir wohl nicht geglaubt, was?“
 

Doch. Hat er. Aber was hätte er denn machen sollen? Außer einen Versetzungsantrag stellen und nach Osaka ziehen?

Wohlweislich sagt Taku nichts davon.
 

„Das ist der kleine Homo, der auf die Kara High geht“, fährt Hamada fort. „Den Anblick muss ich jeden Tag ertragen. Könnt ihr euch das vorstellen?“
 

Hinter ihm werden Stimmen laut, die Dinge wie "eklig", "widerlich", "ich würde kotzen" von sich geben.
 

„Du stehst doch drauf, wenn dir mal ein Kerl so nah kommt, oder? Passiert sicher nicht allzu oft!“ Er bohrt auffordernd den Zeigefinger gegen Takus Brust. „Hey, ich rede mit dir!“ Der Zeigefinger bohrt sich gnadenlos in sein Brustbein.
 

Taku schweigt.
 

Eine Sekunde später wird die ganz Welt ruckartig nach rechts gedreht und das Geländer bohrt sich schmerzhaft fest in seinen Rücken, als er dagegen geschleudert wird.

Eine Faust hat sein Gesicht getroffen.

Taku hat sie nicht kommen sehen. Einen Augenblick ist er so perplex und erstaunt, dass es nicht einmal wehtut.

Unendlich langsam wendet er den Kopf. Mit sekundenlanger Verspätung beginnt seine Wange zu pochen und er spürt wie seine Augen sich reflexartig mit Tränen füllen.

Hamada hat ihn geschlagen. Ins Gesicht.

Scheiße, tut das weh.
 

„Na los, sag es! Du bist ‚ne Schwuchtel“, faucht Hamada, als ob er eine Frage stellt.
 

„Ja“, hört Taku sich selbst antworten. Seine Stimme kommt von weit weg. Sein ganzes Gesicht pocht und er blinzelt tapfer gegen den Tränenschleier an, der ihm die Sicht raubt.

Sie johlen um ihn herum wie Hyänen. In diesem Moment fühlt er sich nicht mehr schicksalsergeben.
 

Er wird es hinnehmen, hat er sich vorgenommen.

Er wird akzeptieren, dass das sein Schicksal ist, weil er das immer schon gewusst hat.

Er wird nicht rumjammern.

Er wird es hinnehmen wie ein Mönch, ausgeglichen und eins mit dem Universum und … OH MEIN GOTT, NEIN WIRD ER NICHT.
 

Okay, zurück! Zurück.

Er zieht es zurück. Er will nicht mehr. Stopp!

Panik macht sich in seinem Körper breit wie heiße Lava.

Das ist alles Blödsinn. Hat er einen an der Waffel?

Was hat er sich dabei gedacht, als er angenommen hat, er würde sich einfach hinlegen und sterben?
 

Er will nicht sterben.

Zumindest 23 aus 24 Stunden will er nicht sterben, höchstens manchmal, ganz kurz, in der einen Stunde zwischen zwei und drei Uhr morgens, die einsamste, dunkelste Zeit jeden Tages.

Aber sonst eigentlich nicht.

Er will nicht sterben. Er will auch nicht verprügelt werden. Er will keine Eisenstange auf den Kopf kriegen.

Er will…
 

Er will rhythmische Gymnastik machen mit Yuuta und den anderen. Er will die Schule fertig machen. Er will Sonnenuntergänge sehen und barfuß über den Strand laufen. Er will den Führerschein machen, seine Lieblingsband mindestens einmal life sehen und nach Europa reisen.

Er will wenigstens noch einen Moment mit Ryousuke haben. Und noch einen. Und vielleicht noch einen dritten.

Vielleicht steht ihm das alles nicht zu, aber er will… er will…

Er will.
 

Vielleicht ist es Watarus Schuld und die seiner vielen anfeuernden Reden. Vielleicht ist es sogar Yuuta, der irgendwann die weltbewegende Einsicht hatte, das es in Ordnung ist einen Wettbewerb sausen zu lassen, um deine Freunde zu retten.

Vielleicht ist es Ryousukes Schuld, und vielleicht sind es die vielen ketzerischen Gedanken, die er in seinem Kopf ausgesät hat wie kleine Blumen der Rebellion.
 

‚Ich MAG dich‘

‚Du bist wahnsinnig süß wenn du lächelst‘

‚Und ich will das alles mit dir machen, Händchen halten auf der Brücke und Küssen am Strand und noch viel mehr…‘
 

„Lass mich in Ruhe“, platzt es aus ihm heraus.
 

Um ihn herum wird gegrölt.
 

„Du stehst doch drauf“, bestimmt Hamada. „Dir geht doch einer ab, wenn dich ein Kerl anfasst.“
 

Taku atmet tief durch. „So funktioniert das nicht“, sagt er leise.
 

Die Typen um ihn herum johlen, als ob er genau das Gegenteil behauptet hätte, und direkt vor seinem Gesicht werden gelbliche Zähne gebleckt, als Hamada ihn noch fester gegen das Geländer drückt. Taku würde gerne weiter zurückweichen, aber es geht nicht.

„Ich seh doch, wie dir das gefällt, du kleiner Homo. Du siehst aus, wie jemand, der dazu da ist mir richtig gepflegt den Schwanz...“
 

Was er mit den Genitalien des Typen anstellen sollen, will Taku sich lieber nicht ausmalen, und zum Glück kommt der auch nicht mehr dazu es auszusprechen.
 

„Oi“, sagt eine Stimme. Eine Stimme, die Taku so bekannt vorkommt, dass sein Kopf unwillkürlich nach oben fliegt und er spürt wie seine Augen suppentellerweit werden.

Einen Augenblick lang glaubt er an Halluzinationen.
 

Es ist Ryousuke.

Taku hat keine Ahnung, wo er hergekommen ist. Er hat keine Ahnung wieso er hier ist. Das einzige was zählt ist, dass er hier ist.

Oh Gott sei Dank, denkt er impulsiv. Und gleich hinterher: Oh Gott. Nein.

Das ist nicht gut.
 

Ryousuke steht mitten auf der Brücke, den Rucksack lässig über seine Schulter geschlungen und den Kopf auffordernd zurückgeworfen. Es blitzt in seinen Augen und man sieht ihm an, dass er auf Krawall gebürstet ist.

„Ja, ihr“, sagt er ruhig, als sich endlich alle Typen der Reihe nach zu ihm umgedreht haben. „Pissnelken. Ich rede mit euch.“
 

„Wir sind beschäftigt“, gibt Hamada zurück, ohne Takus Hemd loszulassen.
 

„Schon gehört. Du suchst jemand, der dir den Schwanz lutscht.“ Ryousuke legt den Kopf schief und pustet eine kecke Haarsträhne aus seinem Gesicht, eine unendlich provokante, kleine Geste. „Weißt du was? 10.000 Yen und ich machs dir gleich hier“, bietet er an. „Mitten auf der Brücke.“
 

Hamada glotzt ihn an, offensichtlich vollkommen überfordert mit der unerwarteten Wendung der Ereignisse.

Taku kann das nachvollziehen. Er ist auch überfordert.

Ein Teil von ihm möchte Ryousuke zurufen, dass er verschwinden soll. Die sind doch zu sechst und er ist allein. Aber der größte Teil von ihm ist einfach nur starr vor Angst.
 

„Was denn? Ist das zu teuer?“ bohrt Ryousuke. Für jemanden, der ihn nicht gut kennt, mag er lässig, beinah überheblich aussehen. Aber Taku sieht seine Fäuste, die so fest geballt sind, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten und das Flattern seiner dunklen Wimpern, weil er viel zu schnell und viel zu viel blinzelt. Er sieht Taku nicht an. Nicht ein einziges Mal. Sein Blick ist fest auf Hamada gerichtet. „Für einen coolen Kerl für dich? Hey, ich mach dir schon ein Sonderangebot, weil es aussieht, als hättest du es nötig.“ Er macht eine eindeutige Handbewegung.
 

Das gibt den Ausschlag. Offensichtlich ist Taku doch nicht interessant genug, wenn gerade die eigene Männlichkeit zutiefst beleidigt worden ist.

Abrupt lässt Hamada sein Hemd los und dreht sich vollständig zu Ryousuke um.
 

„Verpiss dich du Penner!“ faucht er. „Ich bin kein Homo!“

Wie auf Kommando beginnen mehrere seiner Schlägertypen Ryousuke einzukreisen, und Taku spürt wie sein Herz in einer schwindelerregenden Talfahrt ins Bodenlose rutscht.

Nein, denkt er, beinah benebelt vor Angst. Und nochmal in Großbuchstaben: NEIN.
 

„Echt nicht?“ Ryousuke tritt einen Schritt zurück, die Hände entwaffnend vor sich erhoben. „Sorry, Junge, aber dann muss ich dir sagen, du sendest gemischte Signale aus. Daran solltest du mal arbeiten.“

Einer der Typen hat sich hinter ihm aufgebaut und Ryousuke stößt beim Zurückweichen an seine Brust. Abrupt und ohne sich umzudrehen, bleibt er stehen. „Okay“, sagt er langsam. „Okay. Vorschlag zur Güte… du lässt uns Homos ziehen und sparst dir 10.000 Yen. Damit haben doch irgendwie alle gewonnen, oder?“
 

Uns Homos.

Taku kommt nicht mehr dazu darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass Ryousuke sich so schnell und ohne zu Zögern mit ihm in einen Topf geworfen hat.
 

Es passiert was passieren muss und zwar schneller als er reagieren kann. Einer der Typen holt aus und schlägt Ryousuke mit der Faust ins Gesicht.

Taku schreit auf.

Ryousukes Kopf fliegt zur Seite. Er stolpert nicht zurück, sondern schafft es stehen zu bleiben, so als ob er es kommen gesehen und sich innerlich schon dagegen gewappnet hätte.
 

Als er sich wieder umdreht, ist seine Lippe ist aufgeplatzt. Seine Zähne sind rot verschmiert als er lächelt. Langsam hebt er eine Hand und wischt sich über den Mund. „Tja offenbar nicht“, sagt er. „War einen Versuch wert.“
 

Sie gehen auf ihn los, alle zusammen.

NEIN!“ Takus Schrei geht unter in dem wütenden Gebrüll.

Sie sind wie ein Löwenrudel, die eine Gazelle reißen. Niemand interessiert sich mehr für Taku.
 

Er schreit. Es sind wütende, hilflose Dinge wie ‚Aufhören‘, ‚Nein!‘ und ‚Ryousuke!‘, aber die Brücke ist zu eng, und er wird zurückgedrängt und kommt nicht vorwärts durch die Masse an wild um sich schlagenden Körpern.
 

Ryousuke wird gegen das Geländer geschleudert und landet direkt neben ihm. Ohne sich abzufangen, verkrallt er eine Hand in Takus Hemd. „Was machst du noch hier? LAUF!“ befiehlt er atemlos. Als er sieht, dass Taku widersprechen will, schubst er ihn weg, mit so viel Nachdruck, dass Taku drei Schritte nach hinten stolpert. „Jetzt lauf doch!“ faucht er, sein Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. „Mach schon!“
 

Taku wirbelt herum, mehr instinktgetrieben als durch eine bewusste Entscheidung.

Er läuft.

Er läuft so schnell er kann, atemlose hektische Schritte. Nur nicht besonders weit.

Seine Füße hämmern über den Asphalt und er stolpert in die nächste Straße, um die nächste Hausecke herum, bevor er mit zitternden Fingern sein Handy hervor zerrt. Die Zahlen flimmern vor seinen Augen. Er muss nicht einmal scrollen. Der, den er sucht, steht ganz am Anfang. Unter A wie Azuma Wataru.
 

„Bitte“, keucht er hinein, ohne auch nur eine Begrüßung abzuwarten. „Du musst kommen! Sie schlagen ihn tot…! Bitte!“

Er stammelt etwas von ‚Brücke‘ und ‚Ryousuke‘, und er legt auf mit schweißnassen Fingern, die haltlos von der glatten Displayoberfläche abrutschen.
 

Als er sein Handy in die Hosentasche zurückschieben will und nach unten blickt, erstarrt er auf halbem Weg. Dünne rote Flecken zieren sein Hemd.

Es sind blutige Fingerabdrücke. Ryousuke hat sie dort hinterlassen.

Es ist Ryousukes Blut.
 

Er läuft zurück.

Er muss nicht einmal darüber nachdenken.

Es gibt überhaupt keine andere Option als zurückzulaufen.
 

Schon von Weitem hört er das Johlen und das Gebrülle und das schreckliche dumpfe, klatschende Geräusch von Faustschlägen, die wiederholt auf etwas aufprallen. Weich. Menschlich. Er rennt schneller.

Taku ist ein guter Läufer. Man sieht es ihm nicht an, aber wenn ihn Yuuta nicht zu rhythmischer Gymnastik überredet hätte, wäre er bei den Leichtathleten gelandet.

Er ist ziemlich sicher, dass er seine persönliche Mittelstreckenbestzeit gerade überbietet. Nicht, dass es eine Rolle spielt.

Nichts spielt eine Rolle.

Nur Ryousuke.
 

Seine Lunge brennt als er ankommt. Er rennt auf die Brücke genau in dem Moment als Ryousuke von zwei Typen nach hinten gezerrt wird und sie ihn mit dem Kopf voran gegen die Eisenstangen der Brücke donnern. Es verursacht ein grässliches, lautes Geräusch, und als sie ihn loslassen, sackt Ryousuke leblos auf dem Asphalt zusammen.
 

„Stopp!“ brüllt Taku. „Aufhören!“

Sein Herz stolpert in seiner Brust. Nein, nein, nein, nein.
 

Hamada lacht höhnisch und holt aus um nach Ryousuke zu treten, der zusammengekrümmt auf dem Boden liegt.
 

Taku wartet nicht ab. Er stürzt nach vorne und wirft sich blindlings über ihn.

Hamadas Tritt erwischt seine Schulter und er beißt die Zähne zusammen, als ein heftiger Schmerz durch seinen Arm schießt.

Es ist egal.

Es ist alles egal.
 

„Ryousuke!“ Wilde Panik zerrt den Schrei aus seiner Kehle.

Sie stoßen auf halbem Weg zusammen, als Ryousuke sich plötzlich unter ihm bewegt. Er stemmt die Hände auf den Boden um sich nach oben zu drücken und stößt mit dem Rücken gegen Taku, der halb auf ihm gelandet ist.
 

„Bleib unten“, befiehlt er. Erleichterung brennt scharf wie Eis in seinen Venen. „Bleib unten!“
 

„Was machst du…?“ Ryousuke hustet und presst schmerzverzerrt zusammengekrümmt eine Hand auf seine Rippen. „Taku…?“ Blut klebt in seinen Haaren. Blut klebt in dunklen Flecken unter ihm auf dem Asphalt.

Taku kann nicht hinsehen.
 

„Lasst ihn in Ruhe“, faucht er und blickt nach oben, wo Hamada und seine Schlägertypen sich in einem Halbkreis vor ihnen aufgebaut haben, soweit es die Enge der Brücke zulässt. „Er hat überhaupt nichts getan!“
 

„Was ist das denn?“ höhnt Hamada. „Ist Tsukimori etwa dein Lover? Dieser Versager?“
 

„Ja“, hört Taku sich selbst antworten. Es ist als ob die heißglühende Wut, die plötzlich durch seinen Körper rauscht mit einem Mal das Kommando übernommen und jeden rationalen Gedanken ausgeschaltet hat. „Und er ist kein Versager. Er ist ein viel besserer Mensch als du jemals sein wirst.“
 

Er spürt wie Ryousuke unter ihm plötzlich still wird. Er wendet den Kopf, seine Augen weit und überrascht, die Lippen halb geöffnet als ob er etwas sagen möchte.

Taku vergräbt die Hand in Ryousukes T-Shirt, das schweißnass an seinem Rücken klebt. Es ist eine hilflose, beschützende kleine Geste, die ihn wortlos anfleht, dass er bloß unten bleiben soll.

Sei still. Bleib unten.
 

Ryousuke gehorcht und klappt wortlos den Mund zu. Taku wird ganz schwindelig vor lauter Erleichterung.
 

Zeit schinden, denkt er.

Das ist alles was er tun kann. Zeit schinden, bis Wataru hier ist und Ryousuke so lange davon abhalten, sich selbst umzubringen.
 

„Seht sie euch an“, spottet Hamada, zu seinen Kumpels gewandt. „Sind sie nicht entzückend, die kleinen Schwuchtel?“
 

Stimmen werden laut. Einer der Jungs johlt und macht eindeutige Bewegungen mit seinem Becken. Ein paar abwertende Sprüche werden in ihre Richtung geworfen, und sehr graphische Beschreibungen von schwulen Sexpraktiken, die den vagen Verdacht aufkommen lassen, dass mehr als einer der Jungs sich bereits viel zu viele Gedanken darüber gemacht hat wie zwei Kerle es miteinander treiben.
 

„Gemischte Signale, sag ich doch“, keucht Ryousuke, aber seine Stimme ist so heiser, dass sie untergeht in dem Lärm. Taku zieht ihn dichter zu sich, die Finger nachdrücklich in seinem T-Shirt vergraben. Jeder Teil von ihm möchte sich beschützend um Ryousuke wickeln, wie ein Wall aus Panzerglass. Es ist ein alberner, ein nutzloser Wunsch, denn sein Körper ist genauso menschlich und zerbrechlich wie jeder andere.
 

„Ich hab dir doch gesagt, ich mach dich kalt“, faucht Hamada über ihm. „Aber hey, weißt du was? Vielleicht mach ich deinen Lover zuerst kalt und lass dich zusehen.“
 

Hamada bedroht ihn schon seit Wochen, morgens, mittags, abends, und nicht ein einziges Mal hat es dieselbe wilde Panikreaktion in Taku ausgelöst wie die Drohung gegen Ryousuke.

Nein, denkt er. Nein, das wirst du nicht.
 

Er sieht es wie in Zeitlupe. Hamada, der auf sie zustürzt, ein Bein erhoben, als ob er Ryousuke unter sich zerquetschen möchte wie ein Insekt. Wie einen Schmetterling. Ryousuke, der sich mit zitternden Armen versucht nach oben zu stemmen, blutig und verschwitzt, das Kinn trotzig erhoben.

Taku reagiert instinktiv und ohne nachzudenken.
 

Er kann sich nicht prügeln. Er weiß nicht einmal wie das geht.

Aber er ist gut in Physik. Trägheitskraft. Newton. Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung. F = m x a.

Hamada ist die Masse.

Taku wird den Aufprall verursachen.

Hamada holt aus, sein Fuß in Tritthöhe mit Ryousukes Gesicht. Taku wirft sich nach vorne, an Ryousuke vorbei und bekommt Hamadas anderes Bein zu fassen. Er reißt daran, mit ganzem Körpereinsatz und Hamada verliert den Halt. Sein wütender Schrei halt über die Brücke, als er den Halt verliert. Einer seiner Schlägertypen versucht noch nach ihm zu greifen, aber Hamadas eigener Schwung schleudert ihn an das Geländer. Und darüber hinweg.
 

Taku knallt auf den Boden, direkt neben Ryousuke.

Parallel dazu hört er das Klatschen als etwas Schweres unter ihnen im Wasser landet und stemmt sich hastig auf die Ellbogen.

Hamada.

Scheiße.

Er hat Hamada ins Wasser geworfen.

Ach du scheiße.
 

Offensichtlich ist er genauso geschockt wie jeder einzelne von Hamadas Schlägertypen, denn sie stehen alle mit offenem Mund am Geländer und glotzen.
 

„Woah“, murmelt Ryousuke beeindruckt. „Taku. Taku.

Er stößt seinen Namen so inbrünstig hervor wie er ihn noch niemals ausgesprochen hat, so als ob da Herzchen und Blümchen außen herum gemalt sind.
 

„Shit“, flüstert Taku mit panisch aufgerissenen Augen. „Shit.“
 

Offenbar ist Hamada nicht ertrunken. Er brüllt wütende Schmähungen aus dem Wasser zu ihnen hinauf. Das löst alle aus ihrer Erstarrung. Drei von seinen Jungs versuchen gleichzeitig auf Taku und Ryousuke loszugehen, während die beiden anderen versuchen an ihnen vorbei zu stürmen, offensichtlich in dem Bestreben ihren Boss aus dem Wasser zu fischen. Es resultiert in einem hoffnungslosen Knäuel aus Gliedmaßen, als sie alle gegeneinander stoßen, und nur Ryousukes Hand, die Taku geistesgegenwärtig zurückzieht, bewahrt ihn vor einem Tritt in die Rippen.
 

Er schafft es kaum ‚Jetzt sind wir geliefert …‘ zu Ende zu denken, als jemand panisch ihre Namen ruft.

„Ryousuke! Mizusawa!“

Die laute Stimme erkennt er inzwischen immer und überall, und er spürt wie Ryousuke erleichtert neben ihm ausatmet.
 

Es ist Wataru.

Er stürmt so schnell auf die Brücke, dass Taku spüren kann wie der Boden unter ihnen vibriert. Unmittelbar hinter ihm, und das ist die viel größere Überraschung, ist Yuuta. Takus Mund klappt überrascht nach unten.

Wieso ist Yuuta hier?
 

Hamadas Schlägertrupp wirbelt herum.

„Hey, wer zum Teufel…?“ faucht einer.

„Das ist Azuma Wataru“, murmelt ein anderer und zerrt ihn am Arm zurück. Er sieht mit einem Mal kreidebleich aus. „Der hat Akabane platt gemacht, behaupten sie. Ganz allein. Nur mit Hilfe von so ein paar Ballettfuzzis! Keiner weiß wie!“ In Windeseile wird sein Name herum geflüstert wie ein böser Fluch.
 

„Ballett?“ murmelt Ryousuke empört und richtet sich auf. „Entschuldige mal, du…!“
 

Taku schlingt die Arme um ihn und hält ihm geistesgegenwärtig den Mund zu.
 

„Schnell weg hier…“, murmelt ein dritter, dem das offenbar alles zu viel wird.
 

„Aber Hamada…?“
 

„Der kann schwimmen!“
 

Es ist wie eine Herde Büffel, die über sie hinweg braust, als sie alle gleichzeitig beschließen dass sie besser abhauen, bevor Wataru sie zwischen die Finger bekommt. Was unter anderen Umständen lustig wäre, weil Wataru der netteste Kerl ist, den es gibt. Und Akabane hat er auch nur mit ganz viel Liebe platt gemacht. Das glaubt nur keiner.
 

Taku drückt sich mit dem Rücken ans Gitter, beide Arme fest um Ryousuke geschlungen und wartet bis sie an ihm vorbeigestürmt sind. Er zittert am ganzen Körper.

Er kann gar nicht glauben, dass es das schon gewesen sein soll. Er kann nicht glauben, dass er nicht tot ist.

Er kann nicht glauben, dass Ryousuke das gemacht hat.

Ryousuke.

Oh Gott. Ryousuke.
 

„Bist du verletzt?“ stößt er panisch hervor und revidiert die Frage sofort wieder, weil sie so unendlich dumm ist. „Brauchst du einen Krankenwagen?“
 

Ryousuke schüttelt langsam den Kopf. Er sieht genauso benebelt aus wie Taku sich fühlt. „Hatte schon schlimmeres. Ist okay.“ Blut läuft über seine Stirn und tropft ihm in die Augen. Er wischt mit einer Hand darüber und schafft es dabei sein halbes Gesicht rot zu verschmieren. Es sieht dramatisch aus, wie Kriegsbemalung.
 

„Ist es nicht“, würgt Taku hervor. „Die hätten dich fast umgebracht!“
 

„Hey, Taku, hey…“ Unendlich behutsam und unter offensichtlich Schmerzen setzt Ryousuke sich auf und greift nach Takus Händen. „Es ist in Ordnung. Ich versprechs. Es ist okay. Du hast Hamada für mich ins Wasser geschmissen!“ Er klingt fassungslos und beeindruckt zugleich.
 

„Das war nur Physik“, stammelt Taku.
 

„Das war hardcore.“
 

Taku schafft es nicht etwas darauf zu erwidern. Wie die Tatsache, dass das mehr ein Unfall war als alles andere.
 

„Alles in Ordnung?“ Wataru wirft sich dramatisch neben ihnen auf den Boden. „Ryousuke! Mizusawa!“
 

Sogar Yuuta, der sonst durch nichts aus der Puste gerät, schnauft schwer und stützt die Arme in die Knie, als er vor ihnen ankommt. Sie sehen beide aus, als seien sie den ganzen Weg bis hier her gerannt. „Was ist passiert?“ fragt er so scharf, wie er nur klingt, wenn er sich wirklich Sorgen gemacht hat. „Mizusawa! Wer war das?“
 

Taku ist zu beschäftigt damit keine Panikattacke zu bekommen, um zu antworten. Sein Kopf ist leer.
 

„Ryousuke!“ Wataru legt besorgt die Hand auf die Schulter seines besten Freundes. Seine Augen weiten sich entsetzt als er das ganze Blut sieht.
 

„Öh“, macht Ryousuke verwirrt. „Hi“, stammelt er. „Was…? Wieso…?“ Sein Blick wandert zu Taku. „Hast du ihn angerufen?“ Und dann zu Wataru: „Ist das deine dringende Verabredung?“ Er deutet anklagend auf Yuuta.
 

Wataru wird rot. „Das ist nicht…“
 

„Wieso ist da jemand im Fluss?“ fragt Yuuta verwirrt.
 

Taku wird blass.
 

„Den retten wir jetzt nicht“, bestimmt Ryousuke mit einem Blick auf sein Gesicht. Er versucht aufzustehen und sinkt stöhnend zurück. „Hilf mir mal einer hoch“, japst er. „Und dann schnell weg hier.“

Anmerkungen zu diesem Kapitel: Mit extra fluff und extra Wataru & Yuuta! :D
 

Im Nachhinein hat Taku keine klare Erinnerung mehr daran wie sie zu dem Restaurant von Watarus Mutter gekommen sind.

Er erinnert sich an Blutflecken auf dem heißen Asphalt und an Watarus Arm um Ryousukes Taille. Er erinnert sich an Ryousukes Hand, die auf halbem Weg nach seiner angelt, und an ihre ineinander verschränkten Finger. Es sind Fotoschnappschüsse, ohne Ton und ohne Bewegung.
 

Er kann nicht fassen was passiert ist.
 

Er erinnert sich nicht mehr richtig an die Diskussion, die entsteht, als Yuuta versucht durchzusetzen, dass sie Ryousuke in die Notaufnahme bringen; nur noch daran wie Ryousuke sämtliche Argumente mit einem einzigen, müden Satz niederschmettert.

Lass es sein. Die werden mir eine Rechnung schicken, die ich niemals bezahlen kann…
 

Yuuta klappt abrupt den Mund zu. Sekundenlang sieht er perplex aus und dann vage beschämt, als ob es ihm leid tut, dass er an so etwas nicht gedacht hat. Hat Taku auch nicht.

Wataru, Ryousuke und Nippori leben in einer Welt, die gar nicht so weit weg ist von seiner eigenen oder der von Yuuta, aber sich manchmal so unfassbar anders anfühlt als kämen sie von einem anderen Planeten.
 

„Wir kriegen das schon hin“, sagt Wataru beruhigend. „Meine Mama hat einen Verbandskasten, der ist sehr gut ausgestattet. Ist ja nicht das erste Mal.“
 

Taku ist nicht sicher, wieso Wataru denkt, dass ausgerechnet das beruhigend sein sollte. Ist es nicht.

Aber Ryousuke lächelt, also beruhigt es ihn vielleicht tatsächlich. Eine Assoziation mit ‚nach Hause kommen‘, an einen Ort, der dich immer in Empfang nimmt, wenn du blutig und zerschlagen dorthin stolperst.
 

Taku hat den plötzlichen, heftigen Impuls zurückzugehen und Hamada ins Gesicht zu schlagen.
 

„…Mizusawa?“
 

Wataru klingt besorgt und Taku wird klar, dass er mitten auf dem Weg in sein Zimmer einfach stehen geblieben ist und die Fäuste geballt hat.
 

„Taku?“ Das ist Ryousuke.
 

Taku schluckt und schließt für eine Sekunde die Augen. Er fühlt sich unwirklich und weit weg von allem. Wut und Panik pulsieren in gleichen Teilen durch seine Adern, aber alles ist seltsam gedämpft, wie in Watte gepackt. „Entschuldigung“, murmelt er.
 

Das ist der Schock, denkt er beinah hysterisch.

Wieso steht er unter Schock? Ryousuke ist doch derjenige, den sie halbtot geprügelt haben. Ryousuke ist derjenige, der…
 

„Hey, hey …“ Ryousukes Stimme ist ganz leise und besorgt und Taku macht die Augen wieder auf.

Die Wirklichkeit läuft mit Zeitverzögerung an ihm vorbei, wie eine Tonspur die hängen geblieben ist, und er bekommt erst zwei Sekunden verspätet mit, dass Ryousuke plötzlich direkt vor ihm steht. „Bist du verletzt? Hat er dir wehgetan? Lass mich…“ Ryousuke stockt.
 

Taku weiß nicht, was er verpasst hat, aber Wataru und Ryousuke scheinen es zur gleichen Zeit gesehen zu haben, denn beide starren ihn plötzlich an.

Ryousukes Augen sind weit aufgerissen und er sieht mit einem Mal viel erschrockener aus als er es die ganze Zeit über getan hat als Hamada und seine Kumpels ihn verprügelt haben. Er berührt Takus Gesicht und lässt die Fingerspitzen unendlich behutsam über seine Wange wandern. „Er hat dich geschlagen“, sagt er erstickt.
 

Hamada? Hat er?

Ach ja…

Das hat Taku inzwischen völlig vergessen.

Seltsam wie das vor weniger als einer Stunde noch so ziemlich das Schlimmste gewesen ist, was er je erlebt hat, und wie es plötzlich völlig untergegangen ist neben allem anderen was danach passiert ist.

Wie auf Kommando fängt seine Wange an zu pochen. Er kann sich nur ansatzweise ausmalen, wie sie langsam anfängt anzuschwellen und sich hässlich zu verfärben.
 

„Es tut mir leid…“, flüstert Ryousuke. Er klingt so geknickt, als sei er höchstpersönlich dafür verantwortlich. „Ich dachte, ich sei rechtzeitig gekommen… ich hatte dich nur ganz kurz aus den Augen verloren, nur ´ne Minute…“
 

Das leise Geständnis reicht aus um Taku schlagartig aus seiner Betäubung zu holen und die Wirklichkeit ruckartig wieder in Echtzeit laufen zu lassen. Äh… wie bitte…? Was? „Du bist mir gefolgt?“ fragt er ungläubig.
 

Ryousuke nickt schuldbewusst. „Schon seit ein paar Tagen…“, murmelt er kleinlaut. „Nur auf dem Heimweg, ich schwörs! Ich hab nicht nachts vor deinem Haus gestanden oder so, ehrlich.“
 

Taku spürt wie seine Kinnlade auf den Boden knallt. „…äh?“ stammelt er perplex, weil diese Information etwas völlig Neues für ihn ist. „Seit wann…? Aber…? Wieso…?“
 

„Weil ich doch gemerkt hab, das was nicht stimmt…“, sagt Ryousuke leise.
 

‚Ich weiß, wie einer aussieht, hinter dem jemand her ist!‘ hallt es in Takus Kopf wieder wie eine schlechte Schallplattenaufnahme.

Und noch ein anderer Satz, halb vergessen, weil er schon eine gefühlte Ewigkeit her ist.

‚Wer ist ‚Sie‘? Und was haben sie mit dir gemacht? Deswegen sitzt du doch hier drin… allein. Nicht wahr?‘

Das muss… lieber Himmel, das muss ganz am Anfang gewesen sein, wird ihm klar, bei ihrem Gespräch in der Umkleidekabine. DAS Gespräch wo Ryousuke plötzlich mit dem ganzen ‚vielleicht bin ich bi‘-Kram angefangen hat und wo überhaupt alles, alles angefangen hat.
 

Taku möchte sich selbst gegen die Stirn hämmern, weil er so blöd war jemals zu glauben, dass Ryousuke das einfach so auf sich beruhen lassen würde. Es ist nur… weil es doch alle immer auf sich beruhen lassen.

Er fühlt sich wie vom Blitz getroffen von der schlagartigen Erkenntnis, dass Ryousuke sich alle diese winzigen Nebensätze und Kleinigkeiten behalten hat… über all diese Zeit… und offensichtlich lange genug darüber nachgedacht hat, dass er die richtigen Schlüsse gezogen hat. Dass er lang genug über ihn nachgedacht hat.
 

Taku ist noch nie jemand gewesen, der sonderlich beachtenswert wäre. Das weiß er selbst und das will er ja auch so haben. Irgendwie.

Er ist still und freundlich, formschön, farbneutral und unauffällig, und er bleibt immer im Hintergrund. Meistens ist er nur ‚einer der Gymnastik-Jungs‘ oder ‚der Freund von Yuuta‘, er fällt überhaupt niemandem groß auf und deswegen ist es ja auch so leicht, viel zu leicht gewesen, das vor allen geheim zu halten oder sie mit ein paar Sprüchen abzuwiegeln.
 

Aber nicht Ryousuke.

Taku fühlt sich als ob er erstickt.

Er fühlt sich gesehen und durchschaut und geöffnet, und es ist gleichzeitig das Beste und das Beängstigendste seit langem.
 

„Ich wollte nur, dass du sicher nach Hause kommst“, sagt Ryousuke leise. „Sei nicht böse. Bitte. Ich weiß, das war falsch, aber du wolltest nicht mit mir reden und ich wusste, dass was nicht stimmt und ich… ich hab mir nur Sorgen gemacht…“ Er bricht ab und ringt hilflos mit den Händen.

„Taku…“, murmelt er ängstlich. „Sag was.“
 

Ich hab dich so lieb‘, denkt Taku mit einem plötzlichen Kloß im Hals. Ich hab dich so lieb und ich hab dich überhaupt nicht verdient und du hast keine Ahnung wie sehr…
 

„Du blutest“, bringt er stattdessen hervor. Weil es stimmt, und weil es total Banane ist, dass Ryousuke sich ausgerechnet JETZT Gedanken um Takus Gefühle macht, wo er dabei ist auf Watarus Boden zu bluten, und wo er doch überhaupt nur blutet weil er IHN verteidigt hat.
 

„Das ist doch jetzt nicht so…“
 

„Bitte… jetzt lass dich doch erst mal verarzten“, unterbricht er verzweifelt. „Sonst bringen wir dich wirklich noch ins Krankenhaus, und wenn ich die Rechnung von meinem Taschengeld bezahlen muss.“

Es soll witzig sein, aber es klappt nicht, weil mitten im Satz seine Stimme bricht und er sich generell fühlt, als ob er gleich anfängt zu weinen.

Er weiß nicht einmal woher die ganzen Gefühle auf einmal kommen, aber ein Teil von ihm wünscht sich beinah die benebelte Gleichgültigkeit von eben zurück. Das war irgendwie deutlich leichter zu händeln.
 

„Taku…“, flüstert Ryousuke. „Du weißt doch, dass ich…“
 

In genau diesem Moment fällt Yuuta das Handy aus der Hand.
 

Es landet mit einem Scheppern auf dem Boden. Das ist der Moment wo Taku klar wird, dass sie nicht einmal allein sind. Glühende Röte schießt in seine Wangen und er möchte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn hämmern.

Ah shit.

Das war nicht der Plan.

Nicht, dass es jemals einen Plan gegeben hätte mit Ryousuke über Gefühle zu reden oder auch nur so viele für ihn zu haben.

Aber vor allem nicht, DEFINITIV nicht, vor Wataru und Yuuta, die jetzt daneben stehen wie Statisten im Laientheater, die ihren Text vergessen haben und auf die Souffleuse warten.
 

Er müsste das längst gewohnt sein, denkt Taku seufzend, weil sie sich sowieso immer alle lautstark ihre Gefühle entgegen brüllen, am Strand, bei Sonnenuntergang und mit einem Publikum von mindestens fünf Matrosen, ein paar spielenden Kindern und dem alten Rentnerpärchen, das immer auf der gleichen Bank sitzt und ungerührt die Möwen füttert.

Diesmal sind es NUR Wataru und Yuuta, aber irgendwie macht es das ganze noch persönlicher und noch intimer und noch peinlicher.
 

„Ähm…“, murmelt Yuuta.
 

„Entschuldige mal, wir hatten grade einen Moment“, faucht Ryousuke.
 

Ein mattes Lächeln zerrt an Takus Lippen.

Es fühlt sich nicht an wie ein Moment, denkt er.

Es fühlt sich an wie der Moment.
 

Es ist nur leider gleichzeitig auch der ungünstigste Moment aller Zeiten.
 

Yuuta sieht so verwirrt aus, als ob er mitten in einem koreanischen Drama gelandet ist, keinen Ton versteht und jetzt verzweifelt nach den Untertiteln sucht.

Wataru ist der Einzige, der Erbarmen mit ihm hat. Hastig räuspert er sich. „Tee?“ fragt er und seine Stimme überschlägt sich vor Eifer. „Ich meine, will irgendjemand Tee? Ich kann welchen machen. Ich kann meiner Mutter sagen, dass sie welchen machen soll. Wir könnten welchen gebrauchen, denke ich. Will jemand… Tee?“
 

Ryousuke und Taku starren sich an und dann sofort wieder auf den Boden.
 

Yuuta hebt verlegen die Hand. „Ich“, murmelt er. „Ich hätte gerne Tee…“
 

„Gut! Großartig. Ich hole Tee und einen Verbandskasten. Und ihr… wartet hier“, bestimmt Wataru. Dann haut er ab.
 

Perfekt. Taku stöhnt innerlich.

„Ich wollte nicht…“, stammelt er.
 

„Das war nur…“
 

Er und Ryousuke verstummen beide gleichzeitig.
 

Die Uhr in der Ecke von Watarus Schlafzimmer tickt laut und penetrant. Keiner sagt etwas.

Taku hat einen Fußboden noch nie so interessant gefunden wie jetzt, und Ryousuke starrt mit einer Faszination auf Watarus Tapete als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.
 

„Ja also…“, sagt Yuuta in die Stille hinein, und offenbart dabei sein angeborenes Talent für unverkrampften Small Talk. „Hast du… hast du schon öfter hier geblutet?“



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Hera
2016-01-31T00:27:01+00:00 31.01.2016 01:27
Ich liebe deine Geschichten, ich liebe, dass du über Tumbling schreibst, und ganz besonders liebe ich, dass du über diese beiden Idioten schreibst.
Mizu bricht mir in jedem Kapitel mein kleines Herz, weil er sich nicht traut, sich Glück zu wünschen und niemanden in seine Probleme einweiht – deshalb ist es so gut, dass Ryousuke da ist und aufpasst und hinsieht und merkt was los ist und Mizu erklärt, dass seine Zukunftspläne… noch Luft nach oben haben. Und der Anderssein nicht als Fluch, sondern als Herausforderung betrachtet. Du hast einen ganz wunderbaren Schreibstil, der die zartbittersüßen Emotionen der beiden unglaublich stimmungsvoll einfängt.
Es ist ein wunderschöner Moment, wenn Mizu auf der Brücke merkt, dass er eigentlich noch ganz viel WILL und dass er sich selbst nicht einfach aufgeben kann, und dann ist Ryousuke da und hach. Ich möchte sie in Zuckerwatte und Glück und Glitzeranzüge einwickeln.
Und auch ganz wunderschön finde ich, dass im Hintergrund noch Yuuta und Wataru herumhüpfen und es noch weniger auf die Reihe kriegen. Weil Yuuta. Und weil Wataru.
Ich freue mich auf das nächste Kapitel, und hoffe sehr, dass Taku und Ryousuke noch einen Moment hinkriegen. Und vielleicht noch einen. Und eigentlich noch ganz viele, vor allem aber glückliche – denn das verdienen die beiden Schnuffel.

P.S. Falls mich jemals jemand fragen sollte, worum es bei Tumbling geht, werde ich diesen Satz zitieren müssen:
„Er müsste das längst gewohnt sein, denkt Taku seufzend, weil sie sich sowieso immer alle lautstark ihre Gefühle entgegen brüllen, am Strand, bei Sonnenuntergang und mit einem Publikum von mindestens fünf Matrosen, ein paar spielenden Kindern und dem alten Rentnerpärchen, das immer auf der gleichen Bank sitzt und ungerührt die Möwen füttert.“
Denn, ja. Das ist die Serie.
Von:  Dreaming_Lissy
2015-12-09T20:42:26+00:00 09.12.2015 21:42
Ich habe zwar keine Ahnung von Tumbling und habe auch vorher noch nie von der Serie gehört, aber ich lieb diese Geschichte.

Es ist vollkommen unberechtigt, sie in irgendeiner Weise als sinnfrei zu bezeichnen. Es ist dir gelungen, dich mit dem nötigen Ernst und Respekt einem schweren Thema zu widmen und ihm trotzdem eine wunderbare Leichtigkeit zu verleihen.
Die Charaktere sind liebenswert und einzigartig in all ihren Eigenarten dargestellt, man merkt in jedem Satz, dass du dir wirklich viele Gedanken über sie gemacht haben musst. Du hast eine unglaublich schöne, einfühlsame Art dich mit dem Gefühlsleben deiner Protagonisten auseinander zu setzen und sie in deinem bildhaften Schreibstil auszuschmücken.
Du spielst wunderbar mit deinen Sätzen und findest immer die richtigen Worte, um dem Moment eine gewisse Magie zu verleihen.

Auch wenn man die grobe Handlung in gewisser Weise vielleicht schon kennt, so lebt sie doch vor allem von der Dynamik der Protagonisten. Die ist dir in diesem Fall so hervorragend gelungen, dass du dich eigentlich schon selber übertroffen hast. Die beiden passen in ihren Eigenarten so gut zusammen und haben die perfekte Chemie, dass es eigentlich gar nicht genug fluff mit ihnen geben kann. Sie sind unglaublich niedlich und ich finde es großartig, dass du dir so viel Zeit für die Entwicklung ihrer Beziehung genommen hast.
Vor allem Taku’s Konflikt mit seiner Sexualität wird sehr gut dargestellt. Es ist zwar immer präsent, wirkt aber nie gestelzt oder als diene er nur der künstlichen Streckung der Geschichte. Im Gegenteil, es hat ihr sogar erst den gewissen Reiz gegeben. An dieser Stelle hätte die Geschichte sehr leicht ins Selbstmittleid abdriften können, aber du hast es geschafft, ihn nicht auf diese Eigenschaften zu reduzieren und es subtil in seine Gedankengänge einfließen lassen, ohne dass es unpassend oder gezwungen erschienen ist.
Wer kann es ihm verübeln auch mal glücklich zu werden, wenn er sich trotz all seiner Probleme immer noch Sorgen um andere macht? Dadurch bekommt auch das Thema Homophobie noch einmal zusätzlich Brisanz, denn wer hätte eine solch miese Behandlung weniger verdient als er?
Mir gefällt sehr gut, wie du die Protagonisten und ihre Beziehungen untereinander analysierst und auch weitere Charaktere miteinbaust, statt dich nur auf das Hauptpaar zu fokussieren.

Außerdem liebe ich die Art und Weise wie du Romantik schreibst. Von subtilen Andeutungen bis hin zu konkreten Szenen, alles verursacht dieses wunderbare Herzklopfen.
Bis jetzt ist das noch niemanden so schön gelungen wie dir. Die Emotionalität deiner Geschichten ist bestimmt Geschmacksache, aber mir persönlich gefällt sie unglaublich gut. Auch wenn es teilweise schon nahe am Kitsch vorbei geht, ist es dafür umso beeindruckender, dass du es trotzdem schaffst, ihm nie zu verfallen. Auch das liegt vor allem an deinem unglaublich schönen Schreibstil und deinen ausgearbeiteten Charakterstudien. So wirken deine Geschichten zwar leichtherzig, aber niemals belanglos. Auch da sie trotz allem einen wunderbaren Sinn für Humor haben. Vor allem bei dem letzten Satz habe ich mich vor Lachen fast weggeschmissen.

Wenn ich einen Kritikpunkt anbringen müsste, wäre das wohl, dass es noch immer viel zu wenig ist.
Es tut mir furchtbar leid, dass dieses Kommentar so lang geworden ist und viel zu sehr ins fangirlen abgedriftet ist. Aber ich hoffe es beschreibt annährend, wie sehr ich vor Freude ausgerastet bin, als ich gesehen habe, dass du ein neues Kapitel veröffentlicht hast.

Von:  Jitzu
2015-12-09T20:31:43+00:00 09.12.2015 21:31
Haaaaaach~ I like it. Ich hab mir jetzt tatsächlich vorgenommen Tumbling während meines Weihnachtsurlaubs zu gucken. Und anschließend werd ich deine ganzen FFs nochmal lesen und vermutlich noch tausendmal mehr Feels dazu haben. Ich steh jetzt schon ganz krass auf Ryosukes Chara. Mir gefällt auch wie du immer mal in Nebensätzen die Freundschaft zu Wataru mit einträufelst (ich steh total auf BFF-Momente!). Und Taku ist sooooo ein süßer, lieber Schnuff, der verdient jetzt auch mal ein bisschen Glück! Freu mich auf das nächste Kapitel!
Von:  Schwarzfeder
2015-12-09T14:00:36+00:00 09.12.2015 15:00
...ich sterbe vor lachen!
Na gut nicht wirklich, aber ich kam grade zum Ende hin nicht mehr aus dem Lachen raus. Es war wirklich super süßer Fluff, aber als Ryosuke ihn anfährt mit einem wir haben hier grade einen Moment, war vorbei. Aber sowas von. Ich musste so~ lachen und es war so süß und herrlich und es wurde immer komischer und witziger und mit der letzten Frage...ich hab mich vermutlich nur nicht über's Bett gerollt, weil mir sonst der Laptop runter gefallen wäre.
Das Kapitel ist so super!!
Ich mag, wie die hier beschrieben werden (Statisten etc.) und die Entwicklung der Situation. Wie Taku versteht, dass Ryosuke sich so sehr um ihn kümmert und ihm sogar folgt, damit er sicher nach Haus kommt (himmelarsch und zwirn, das ist ja mal SO süß!!!) und dass er ihn sieht (so schön dargestellt, ich hab ne Gänsehaut bekommen) und ich mag wie Wataru versucht zu flüchten und die Stimmung zwischen den übrigen dreien so awkward ist, dass die Stille anfängt zu dröhnen. Da kann man sich so schön rein finden und einfach herrlich.

Ich freu mich wahnsinnig auf den Schluss x3
LG
Schwarzfeder
Von:  Schwarzfeder
2015-12-08T22:39:07+00:00 08.12.2015 23:39
Wua~h~

So super! Es ist ewig her, dass ich das gesehen habe, weshalb ich nochmal nachgucken musste, wer wer ist (Namensgedächtnis = Lowlevel) und ich finde es super, dass Taku grade auf dem Weg zu seinem Happy End ist (wehe wenn nicht ;3) weil ich schon in der Folge dachte, scheiße auch wenn Kiyama nicht der richtige ist...irgendeiner muss sich dem Kleinen annehmen und jetzt finde ich das und ich liebe es.

Der Stil ist gleichermaßen nüchtern wie Gefühlvoll und es ist so spannend und fesselnd erzählt, dass ich nicht aufhören konnte! Es ist super!! Ich liebe es!

Ich mag den Wechsel und die Chardarstellung und die Entwicklung und einfach alles und verdammt, wenn ich nicht so erkältet und matschebirning und kopfschmerzbefallen wäre, würde ich so viel mehr ins Detail gehen, was mir alles gefällt...I'm sorry v.v

Ich freu mich auf die nächsten Kapitel und hoffe und bange und bibber und bete, dass Taku sein wohlverdientes Happy End endlich bekommt. Sein Lebensplan ist nämlich wirklich...deprimierend. =___="

LG
Schwarzfeder


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