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Weihe des Siegelschwerts (neu)

von

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Kapitel 3 und ein Blick gen Norden

Der Tag ist endlich gekommen! Trotz der Dringlichkeit meiner Mission hat es ein wenig gedauert, alles für meine Abreise vorzubereiten – hauptsächlich meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich nicht von Wölfen gefressen werde, sobald ich auch nur einen Fuß außerhalb des Dorfes setze. Selbst jetzt behält sie mich im Auge wie ein Neugeborenes anstatt ihres Sohnes von fünfzehn Jahren. Beinahe ein erwachsener Mann.
 

Wir haben uns alle vor der Ordensbarracke versammelt. All die Novizen sind hier, die mich überschwemmen mit Ratschlägen, was ich tun und nicht tun sollte, während ich weg bin. Die Ordensältesten und Gart sind ebenfalls gekommen, zusammen mit seinen Brüdern, die er obendrein mitgeschleift hat. Es ist früh am Morgen und die Sonne hat sich gerade mal hinter den Baumkronen hervorgetraut, uns mit ihrem warmen Licht streichelnd, als würde Vas uns von seinem Beistand in dieser Mission wissen lassen.
 

Die Menge beruhigt sich etwas, als Orson vortritt. Er sieht bärbeißig aus wie immer, aber in seinen Augen funkelt ein kleiner Schimmer von tiefer, freundlicher Sorge, den man nicht oft erblickt. In seinen Händen hält er mein Übungsschwert und eine mäßig verzierte Schwertscheide. „Frisch am Wetzstein geschärft,“ lässt er mich wissen, „Um sicherzugehen, dass du eine sichere Reise hast. Benutz es nur wenn nötig, ein scharfes Schwert ist kein Spielzeug.“ Ich nicke unterwürfig und will schon nach der Klinge greifen, aber er ist noch nicht fertig, „Und wenn du dich gezwungen siehst, es zu benutzen, dann mach keine halben Sachen! Das Gesocks da draußen soll ruhig wissen, dass wir euch Jungs ordentlichen Schwertkampf lehren! Harhar!“ Die anderen und ich stimmen in sein herzhaftes Lachen mit ein, während er mir das Schwert überreicht und ich es an einem Gurt an meiner Hüfte festmache.
 

Nachdem Orson beiseite gegangen ist, bringen zwei Knechte das Pferd des Wiedergängers. Ich bin zwar ganz froh, nicht den ganzen Weg laufen zu müssen, aber... wirklich, musste es ernsthaft dieser störrische Gaul sein? Simmias – als hätte er meine Gedanken gelesen – sagt, „Es ist nur rechtens, wenn es jetzt dir gehört. Der Rappe ist kräftig und ruhig – ein Pferd, das selbst für die Schlacht geeignet wäre. Nichts von dem Bösen seines ehemaligen Reiters haftet ihm an, das schwöre ich dir.“
 

Ich nehme mit Zögern die Zügel entgegen, das Pferd misstrauisch beäugend. Dann schlägt Simmias vor, „Aber es bringt Unglück, ein namenloses Pferd zu reiten, daher würde ich sagen, du solltest ihm jetzt einen Namen geben.“
 

„Am besten du sicherst dir den Beistand der Götter, indem du ihnen den Namen widmest,“ rät Orson mir. Indes hat Gart eine andere Idee, „Wieso nicht den Namen eines Mädels aus’m Dorf?“ Nicht mal ansatzweise subtil, Gart. Der will doch nur wissen, ob ich mir endlich ein Mädchen ausgeguckt habe. Aber ich tu ihm nicht den Gefallen, das Geheimnis zu lüften, „Ich glaube, ich weiß etwas Besseres. Ich nenn ihn Porstellion, zu Ehren eines echten Helden von Doarnb!“
 

Gart schüttelt seinen Kopf, während Simmias nickt, doch beide lächeln – und denken bestimmt grade dasselbe, „Wie typisch, dass er einen Namen aus seinen Lieblingsgeschichten herauspickt.“ Nun, wenn ich ehrlich bin, kommt mir der Gaul auch wirklich so besonnen vor wie Porstellion – vielleicht sogar genauso mutig, falls ein Pferd mutig sein kann anstatt zu blöd, um Gefahr wahrzunehmen. Wird schon schiefgehen.
 

Schließlich wird mir noch etwas überreicht. Simmias kommt auf mich zu und drückt mir ein dickes Bündel Bücher in die Hände. „Bring das zu den anderen Orden in der Gegend,“ beauftragt er mich zwar, doch wir wissen beide, für wen die Bücher wirklich sind. Selbst ohne sein verschwörerisches Zwinkern. Ich kann mein Lächeln kaum unterdrücken. Dieser Alte ist einfach zu nett für diese Welt. Ich stibitze und verlier seine Bücher und er gibt mir allen Ernstes noch mehr zu lesen!
 

Eine kleine Spitze kann er sich jedoch nicht verkneifen, „Obwohl die jüngsten Ereignisse daran zweifeln lassen, bin ich fest davon überzeugt, dass du gut auf sie Acht geben wirst.“
 

„Werde ich! Bei meiner Ehre!“ schwöre ich.
 

„Dann genug Zeit vertrödelt,“ sagt Orson mit einem heftigen Schulterklopfer für mich, „Eine gute Reise wünsche ich dir, Marin. Mach uns keine Schande da draußen!“
 

„Bleib nicht zu lange weg!“ ruft Sara traurig und springt mich in einer knochenbrechenden kleine-Schwester-Umarmung an. Ehe ich mich versehe, hat auch schon Mama ihre Arme um uns geschlungen.
 

„Sei bloß vorsichtig, ja?“ fleht sie, wobei ihr schon wieder Tränen in die Augen steigen. Ich ertrage es nicht, sie so zu sehen. Vielleicht... vielleicht war das doch keine so gute Idee. Aber der Orden zählt auf mich! Das ist meine allererste Reise. Ich muss die Gelegenheit beim Schopf ergreifen!
 

„Ich werd schon nichts Dummes anstellen, keine Sorge. Ich werde wieder da sein, bevor man überhaupt merkt, dass ich weg bin!“ Dennoch klammern sie sich noch ein Weilchen länger an mich, ehe sie mich schließlich ziehen lassen. Sara drückt ganz fest Mamas Hand, als wir uns voneinander lösen.
 

Als nächstes breitet Gart seine Arme aus. Er hat wieder dieses verschmitzte Grinsen im Gesicht. „Und jag nich‘ allen Röcken nach, ja? Nur den hübschen.“
 

„Ich lass ein paar für dich übrig, falls die Umstände es erlauben.“ Er gibt mir einen leichten Schlag gegen die Schulter, drückt mich dann einmal und wir beide lachen. Anschließend hilft Hendrik mir in den Sattel. Während ich ein wenig hin und her rutsche, bis ich bequem sitze, sagt er, „Mach’s gut. Ich weiß, dass du herausfinden kannst, was vor sich geht in Cardighna.“ Zuversichtlich nicke ich ihm zu.
 

„Ich lass keinen Kiesel unberührt.“ Der Rest der Novizen ruft mir ihre Glückwünsche zu, während ich langsam Porstellion umkehren lasse und mich auf seinem kräftigen Rücken vom Orden entferne. Ich riskiere einen Blick zurück über meine Schulter, um all die vertrauten Gesichter ein letztes mal zu sehen, ehe ich gehe. Sie winken und jubeln mir zu. Das Gluckern des kleinen Baches, der durchs Dorf fließt, klingt wie ein trauriges Lebewohl und im Morgenlicht sehen die Hütten des Dorfes aus wie mit Goldhalmen gedeckt statt mit Stroh. Mein Magen kribbelt vor Aufregung und auch ein wenig vor Trauer. Das ist ein richtig großer Schritt für mich.
 

Aber genug Zeit mit Zweifeln vertan! Ich versetze Porstellion in einen Trab und schon reiten wir in den Tunnel aus Baumstämmen und Blätterkronen beidseits des Weges, Welsdorf hinter uns lassend und ostwärts ins Ungewisse.
 

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„Nun, jetzt sollten wir eigentlich bald den Waldrand erreicht haben,“ murmle ich später, während ich die Karte studiere. Die Bäume stehen nicht mehr so dicht beieinander und tiefe Furchen ziehen sich durch den sandigen Weg, wo Karren zwischen Welsdorf und den umliegenden Weilern verkehren. Es wird zunehmend wärmer, ein Duft von Sommer erfüllt die Luft. Ich lasse Porstellion in langsamen Schritten vorwärts gehen und genieße einfach nur die Ruhe und Stille.
 

Sie sind nur von kurzer Dauer, wie sich herausstellt, als auf einmal eine kleine, peipsige Stimme anmerkt, „Wenn du weiter so trödelst, können wir froh sein, bis zum Winter aus dem Wald herausgefunden zu haben.“ H... hab ich grad wirklich jemanden gehört? Ich schaue mich hastig um, aber da ist niemand. Ich gucke noch mal, drehe mich sogar einmal im Sattel herum. Immer noch nichts.
 

„Beruhig dich,“ sagt die Stimme, „Wenn das schon reicht, um dich fast vom Pferd fallen zu lassen, werden wir da draußen eine Menge Probleme haben.“
 

„Wer bist du?“ will ich wissen, „Wo bist du? Zeig dich!“ Da bemerke ich ein Paar schwarz- und rot-gemusterter Schmetterlingsflügel, das es sich zwischen Porstellions Ohren bequem gemacht hat. Das Krabbeltierchen gibt ein schwaches, grünes Licht ab, wie ein Glühwürmchen. „Na endlich hast du mich entdeckt,“ seufzt die Stimme spöttisch. Als es sich von Porstellions Kopf abstößt und auf mich zugeflogen kommt, bemerke ich, dass es gar kein Schmetterling ist, sondern in Wirklichkeit eine winzige, grüne Frau... ohne einen einzigen Fetzen Kleidung. Oh, wunderbar, also verliere ich tatsächlich den Verstand. Wie schön, dass ich immerhin noch geistesgegenwärtig genug bin, das mitzubekommen.
 

Ich starre die geflügelte Frau weiterhin voller Verwunderung an. Sie mustert mich fragend. „Geht’s dir gut? Dein Gesicht ist ja rot wie eine Tomate,“ neckt sie mich, geht sogar so weit, sich auf meiner Nasenspitze abzustützen mit gehässigem Grinsen. Ich zucke zusammen und weiche von ihr.
 

„Was zum... wer... was bist du?!“
 

Ihre Miene verdüstert sich mit einem Mal, wobei ihre roten Augen mich durchdringend anstarren. „Mein Name ist Sira, vielen Dank.“ Beleidigt setzt sie hinzu, „Und ich bin eine Víla. Eine Vila, der du zufällig dein Leben verdankst.“
 

Mir dreht sich schon alles bei den ganzen Fragen, die mir durch den Kopf schwirren. Eine Víla? Ich verdanke ihr mein Leben? „Wovon redest du? Ich glaub, das wüsste ich, wenn ich dir was schuldig wäre.“ Kurze Zeit schaut sie mich an, als hätte ich etwas unglaublich Dummes gesagt. Dann meint sie, „Nun, dann schau dir doch mal deine rechte Hand an und denk mal gut nach. Vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge.“
 

Ich schüttele meinen Kopf, um sie endlich von meiner Nase fortzuscheuchen. Ein „Hmpf!“ kann sie sich dabei nicht sparen. Ich kann nicht glauben, dass ich diesen Mist mitmache. Also schön, schauen wir mal auf meine Hand... ich kann nichts sehen, was irgendetwas zu tun hätte mit einer winzigen, käfergroßen, nervigen- Moment, die Pustel! Der Stich! „Das warst du?“
 

„Ganz recht. Ich hab dich im Wald gesehen, wie du kurz davor warst, deinen letzten Atemzug zu tätigen, nachdem du Bekanntschaft mit dem Stiefel des Knochenmanns gemacht hattest. Also hab ich mir gedacht, ich weck dich mit einem kleinen Piekser. Ich warte übrigens immer noch auf ein Dankeschön dafür.“ Ich glaube, ich lasse sie noch ein wenig länger warten. Stattdessen frage ich, „Bist du mir deswegen hierher gefolgt?“
 

„Nein, aber da gibt es diesen alten Kauz Simmias, der dachte, es wäre ganz gut, wenn du nicht völlig alleine ausziehen würdest in eine Welt, wo es abertausende Möglichkeiten gibt, dir das Genick zu brechen.“ Meine Überraschung überwiegt die Wut über ihre Wortwahl.
 

„Simmias hat dich geschickt? Ihr kennt euch?“
 

„Pfft, ich hab keine großartige Wahl gehabt, ihn kennenzulernen, so oft wie er in den Wald kommt, um die Affen zu füttern.“ Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Simmias füttert die Affen? Trotz Orsons leidenschaftlichem Hass auf sie? Während ich versuche, alles, was sie gesagt hat, zu verdauen, fährt Sira fort, „Nun, und als er mir erzählt hat, was ihr am Strand gefunden habt, da hat er mich gebeten, auf dich aufzupassen.“
 

Mit verschränkten Armen in der Luft flatternd fügt sie noch grummelig an, „Hätt ich gewusst, dass das so kommen würde, nur weil ich dich davor bewahre, auf ewig ein Nickerchen zu halten, hätt ich’s mir zwei mal überlegt.“ Trotz ihrer Miene seh ich ihr an, dass sie es nicht ganz so meint, und muss grinsen.
 

„Ich zieh Hilfe wohl einfach magisch an in letzter Zeit.“
 

„Du ziehst Gefahr an nach meiner Einschätzung,“ korrigiert sie mich. Dann kann sie nicht anders und lächelt selbst. „Es ist einfach nur Zufall, dass wir immer auftauchen, um dir aus der Patsche zu helfen.“
 

„Nun, dann will ich dem Zufall danken... und dir, weil du mich gerettet hast. Sara und mich, um genau zu sein.“
 

„Na also, es geht ja doch!“ schnauft sie und schlüpft plötzlich in eine meiner Gurttaschen. Als sie meinen fragenden Blick bemerkt, meint sie, „He, einen kleinen Platz für mich bereitzuhalten, wo ich mich ausruhen kann, ist das Mindeste, was du für deine Lebensretterin tun kannst!“
 

„Wenn du mir dann vielleicht den Gefallen tätest und dir mal was anzögest.“ Da fängt sie plötzlich an zu prusten vor Lachen.
 

„Für einen leidenschaftlichen Leser weißt du aber wenig über uns Víly!“ Ich runzle die Stirn. Was soll das denn heißen? „Ich verrat dir ein kleines Geheimnis! Wir Víly verfügen über so ein paar Kniffe... zum Beispiel ein praktisches Gift, das selbst bei großen Geschöpfen wie dir zu Halluzinationen führt.“ Erstes mal, dass mich jemand groß nennt. „Nachdem du dich hast grün und blau prügeln lassen, hab ich dir einen kleinen Stich versetzt... und falls du mich gesehen hättest, wollte ich dir nicht einen noch größeren Schrecken einjagen als ohnehin schon. Da hab ich mir diese kleine Gestalt für dich einfallen lassen.“ Spitzbübisch fragt sie: „Gefällt sie dir etwa nicht?“ Oh, dieses gerissene Biest!
 

„W-wofür hältst du mich denn?!“ Obwohl ich zugeben muss, sie hat’s nicht schlecht getroffen – aber das sag ich ihr bestimmt nicht! Lieber würde ich wissen, „Wie siehst du denn dann wirklich aus?“
 

„Glaub mir, das willst du nicht erfahren. Hab von wenig Leuten gehört, die den Anblick genossen haben.“ Was sie sagt, bereitet mir eine richtige Gänsehaut, während alle möglichen schrecklichen Bilder durch meinen Geist blitzen. Schleimige Käfer, aufgedunsene Tausendfüßler, mit krummen, scharfen Klauen und gifttriefenden Zähnen, haarigen Beinen wie Stelzen, spitzen Saugrüsseln und-
 

Mein kleiner Tagalptraum nimmt ein jähes Ende, als Sira wieder in Gelächter ausbricht, „Man, ist das einfach, dir deine Gedanken vom Gesicht abzulesen! Du bist ja ganz fahl!“
 

„Ach sei still!“ blaffe ich sie an und wende mich endlich wieder der Karte zu. Da fällt mir auf: der Wald hat sich ganz schön gelichtet in der Zwischenzeit. Nur wenige Bäume säumen noch den Weg, bis wir unter dem Blätterdach hervortreten auf eine lehmige Klippe, von der sich die Straße in einer steilen Serpentine hinabschlängelt auf eine grüne, schier endlose Landschaft von flachen Hügeln. Der Ausblick ist ja unglaublich! Die Dörfer und Bauernhöfe sehen aus wie nichts weiter als vereinzelte Farbsprengsel hier und dort, zwischen denen sich hauchfeine, blaue und braune Linien winden. Und ganz fern am Horizont, kaum zu erkennen, erhebt sich der stolze, rote Bergrücken von Ardnas, von dem ein warmer Sommerwind zu uns herüberweht. Er lässt es mir richtig in den Fingern kribbeln, mit den Zügeln zu knallen.
 

Das ist sie also, die Außenwelt. Noch viel schöner als ich sie mir vorgestellt habe. Allerhöchste Zeit, dass ich sie mir von Nahem besehe, also drücke ich Porstellion meine Füße in die Flanken und eile die Straße hinab.
 

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Bald schon ist die Nacht hereingebrochen. All das Reiten durch die herrliche Landschaft und das Befragen irgendwelcher Bauern und Reisender hat die Zeit wie im Handumdrehen vergehen lassen. Obwohl eine gewisse Víla sich allerbeste Mühe gegeben hat, auch wirklich jeden Moment zu verderben, in dem ich vor Freude fast gequietscht hätte wie Sara manchmal. Immer wenn ich für ihren Geschmack ein wenig zu viel Spaß zu haben scheine, sagt Sira sowas wie, „Das ist kein lustiger Ausflug, ja? Du hast eine Mission zu erfüllen!“
 

Dann geht es wieder zurück ans Fragenstellen in den paar Weilern, an denen wir vorbeigekommen sind. Aber wir haben bislang nichts geerntet außer eine Reihe von „Wir wissen von nichts“s – wenn die Leute sich überhaupt von Sira haben losreißen können, um mir zu antworten. Weiß nicht, wie mir ist bei den Leuten, die uns sogar noch anstarren, wenn ich schon wieder gehe.
 

Auch Sira gefällt all die Aufmerksamkeit nicht, „Urgh, wäre ich doch bloß im Wald geblieben und hätte die Ruhe genossen.“
 

„Gibt es im Wald mehr von euch? Víly, meine ich. Ich hab nie welche gesehen.“
 

„Du hast ja auch keine Ahnung, wie sie wirklich aussehen. Vielleicht war ja irgendsoein richtig fetter, hässlicher Tausendfüßler, auf den du mal drauf getreten bist, in Wahrheit eine Víla?“ Es schüttelt mich regelrecht bei dem Gedanken an so ein Vieh unter meinem Fuß, sehr zu ihrer Belustigung. „Aber ja, es gibt eine ganze Reihe von uns um Welsdorf herum. Víly könntest du so gut wie überall finden. Wir... sind einfach bloß nicht sehr gesellig, wenn ich ehrlich bin.“ Oha, und das sagt ausgerechnet sie.
 

„Und Simmias und ihr seid trotzdem Freunde?“
 

„Er ist zumindest mein Freund. Die anderen... mögen ihn nicht so recht. Denken, er sei so wie dieser Dummkopf Orson, der nur zu gerne den ganzen Wald niederbrennen würde, wegen irgendwelcher Alpträume, die er am helllichten Tag hat.“ Ich schenke ihr einen skeptischen Blick. Schnell räuspert sie sich und wechselt das Thema, „Ein Haufen Langweiler sind das. Da hab ich gedacht, ich könnte mal eine Weile von zuhause verschwinden. Schon ‘ne Weile her, dass ich reisen war.“
 

Das ist ja eine Überraschung! „Du warst also schon mal hier?“
 

„Ich war an tausenden Orten. Was glaubst du, warum Simmias mich als deine Begleiterin ausgesucht hat?“
 

Mir rutscht raus, „Um sicherzugehen, dass ich so wenig Spaß wie möglich hab auf dieser Reise?“
 

„Redet man so mit der eigenen Lebensretterin?!“ Stolz verschränkt sie die Arme und starrt mich erst wutentbrannt, dann herausfordernd an. Oh oh, mir gefällt dieser Blick überhaupt nicht. „Nun, wenn das so ist, hoffe ich, du bist Frühaufsteher. Ab morgen heißt es zeitig aufstehen!“
 

„Pff. Bring mich dazu.“
 

„Oh, warte nur, genau das werd ich tun.“
 

Nun hat die Nacht also ihren dunklen Mantel über den Hügeln ausgebreitet und so langsam merke ich, dass ich es vielleicht etwas übertrieben habe. Mein Hintern bringt mich um und es erfordert all meine Selbstbeherrschung, dass mir nicht einfach die Augen zufallen und ich vom Pferd plumpse. Finde ich vielleicht bald mal ein Gasthaus oder so?!
 

„Lass gut sein. Schlag dein Lager einfach hier in der Nähe auf und leg dich schlafen,“ sagt Sira, „Du musst morgen fit sein. Mit dem ersten Sonnenstrahl ziehen wir weiter.“ Sie hat es sich wieder in meiner Tasche bequem gemacht und döst bereits, wobei ihr Licht auf einen kümmerlichen Schimmer zusammengeschrumpft ist.
 

„Ich such weiter,“ sage ich, mehr zu mir selbst als zu ihr. Und als sei da draußen ein Öhrlein, das mich hört, erspähe ich hinter der nächsten Hügelkuppe ein paar Dachgiebel. Na also! Meine Freude schwindet jedoch, als sich herausstellt, dass sie nur zu einem kleinen Bauernhof gehören, der von einer niedrigen Mauer aus unförmigen Ziegeln umringt ist. Oh, bitte lass wenigstens jemanden wach und so gnädig sein, mir Unterschlupf zu gewähren!
 

Ich finde den kleinen Platz zwischen der Scheune und dem Bauernhaus jedoch verlassen vor und nirgends brennt Licht hinter den geschlossenen Fensterläden. Na großartig. Dann wohl doch neben der Straße und unter freiem Himmel schlaf-
 

„He, wer bist du?“ ruft mir da ein Mädchen zu. Wo kam das denn her? Ich seh niemanden. Nein, warte, da auf dem Dach vom Bauernhaus hockt es! Ein schlankes Mädchen, so alt wie ich, und noch vollständig angekleidet. Ein Kranz aus ihrem eigenen Haar sitzt auf ihrem dunklem Schopf, sodass die restlichen Strähnen zu den Seiten ihres Gesichts auf ihre Schultern herabfallen. Was treibt sie da oben? Und vor allem um diese Uhrzeit?
 

„Hast du mich nicht gehört?“ fragt sie, als ich immer noch nicht antworte, „Wer du bist und was du hier zu schaffen hast, will ich wissen!“ Ihre königliche Hoheit gibt sich ja allergrößte Mühe, dass ich mich höflich vorstellen will. Aber gehen wir jemandem ausnahmsweise nicht gleich an die Gurgel. So ruhig wie bei meiner Laune möglich entgegne ich, „Entschuldige, ich bin auf Reisen und hab mich gefragt, ob ich hier vielleicht für die Nacht unterkommen könnte.“
 

„Sieht das hier aus wie ein Gasthof?“
 

„Nein...?“
 

„Nun, dann ist es unwahrscheinlich, dass wir hier ein Bett für deinesgleichen entbehren können.“ Wären da nicht ein paar Mannslängen zwischen uns, würde ich ihr mal zeigen, was meinesgleichen so kann. Und wenn sie die Königin wäre, als die sie sich hier aufspielt.
 

Da wird Sira wach. „Was soll der Krach...?“ nuschelt sie müde, „Reiten wir immer noch?“ Ihr Licht flammt kurz auf und mit einem Mal stößt das Mädchen einen erschrockenen Laut aus. „Bei Kin! Ist das ein Irrlicht?!“
 

„Ein Irrli- willst du mich verkohlen?!“ platzt es aus Sira heraus, „Seh ich aus wie ein Geist, oder was?!“ Mit einem Geräusch wie eine wütende Biene flitzt sie auf das Mädchen zu, das vor Schreck noch vom Dach stürzen wird, wenn ich nicht eingreife! „Nun beruhig dich doch, Sira! Sie ist bloß überrascht.“ Etwas leiser füge ich an, „Wie jeder, der heute deine Bekanntschaft gemacht hat...“
 

Sira hält an, nur um sich zu mir umzudrehen. Trotz ihrer winzigen Größe kann ich ausmachen, dass sie die Hände in die Hüften gestemmt und ihre Lippe beleidigt hochgezogen hat. „Die Überraschung ist ganz meinerseits! Ich bin nur ein paar Augenblicke eingenickt und schon triffst du dich mit irgendeinem Mädchen. Grade mal einen Tag weg von daheim obendrein. Du lässt nichts anbrennen, was?“ Ich kann geradezu spüren, wie die Farbe aus meinem Gesicht weicht – um tiefrot zurückzukehren.
 

„Sie ist nicht- Ich hab- Sie...“
 

„Ich möchte anmerken, dass ich bis jetzt warte, allein seinen Namen zu erfahren,“ kommt mir das Mädchen ein wenig kühl zur Hilfe. „Mein Name ist Griselda.“ Sira und ich beäugen sie argwöhnisch. Eine unangenehme Stille entsteht. Gerade als ich sie brechen will, tut Sira es, „Ich bin Sira. Eine Víla, kein Irrlicht.“
 

„Und ich heiße-“
 

„Das ist Marin, ein Grünschnabel aus den Wäldern.“
 

Und Novize im Orden der Armen Ritterschaft zu Doarnb,“ ergänze ich schnaubend in Richtung dieses Stinkkäfers, „wo wir das ein oder andere über Respekt und gute Manieren lernen.“
 

Da fängt Griselda zu lachen an. Sobald sie sich beruhigt hat, ziert noch immer ein breites Lächeln ihr Gesicht. Sie sagt, „Vielleicht habe ich vorschnell geurteilt. Es könnte doch Platz für euch geben, wenn ihr hier nächtigen wollt. Falls euch etwas Heu im Stall genügt.“ Nun... besser als auf dem kargen Boden zu schlafen, schätze ich. Obwohl ich draußen bloß den Geruch eines Pferdes aushalten muss.
 

Ich will Griselda Angebot gerade annehmen, da öffnet sich plötzlich die Tür des Bauernhauses und ein haariger Hüne kommt heraus, der so entgegenkommend aussieht wie Griselda noch vor ein paar Augenblicken. Nämlich gar nicht. Oh oh. Das ist bestimmt nicht der Bauer, wenn ich so seine Lederrüstung und die Waffe an seiner Seite sehe. Seine schmalen, argwöhnischen Augen bohren sich in mich wie die spitzen Zähne eines Raubtiers. Da fällt mir auf... er starrt auf mein Schwert. Und verzieht kampflustig den Mund dabei. Plötzlich fühlt es sich wie der größte Fehler meines Lebens an, es mitgenommen zu haben.
 

Er wirft Griselda einen knappen Blick zu. „Du solltest nicht mehr auf sein. Geh ins Haus.“ Dann wendet er seine Augen wieder mir zu. Ich könnte schwören, ins Gesicht eines Mensch gewordenen, knurrenden Wolfes zu starren. „Ich kümmere mich um den Burschen.“
 

„N-nicht, Halsänn!“ ruft Griselda, „Tu ihm nicht weh! Er ist niemand! Er wollte nur wissen, ob er im Stall nächtigen darf.“ Halsänn nicht aus den Augen lassend aus Angst, zu verpassen, wie er mir an die Kehle geht, überhöre ich fast, dass bei den Tieren zu schläfen, nun meine Idee war. Doch Griseldas Worte bringen Halsänn tatsächlich dazu, sich noch einmal von mir abzuwenden.
 

Ich wage keinen Atemzug, bis er nicht spricht, „Nun, wenn du im Morgengrauen aufstehen und dem Bauern das erklären willst, bevor wir weiterreisen...“
 

„Werde ich!“ verspricht Griselda schnell, „Ehrenwort!“ Er grunzt zur Antwort und wendet sich zum Gehen. Ich nehme all meinen Mut zusammen und frage, „Ihr seid also auch Reisende? Wohin seid ihr denn unterwegs? Vielleicht können wir-“
 

„Geht dich nichts an.“ Er schaut mich nicht mal an. „Du hast dir schon ‘ne Tracht Prügel erspart, also lass es nich‘ drauf ankommen und geh schlafen, Junge. Schlaf so lang du willst, denn ich will deine dämliche Fresse morgen nicht noch mal sehen.“ Keiner sagt mehr ein Wort, ehe die Tür hinter ihm zugefallen ist.
 

Das... war vielleicht ein erster Eindruck.
 

Als ich hinaufschaue zu Griselda für eine Erklärung, was das gerade sollte, zuckt sie nur entschuldigend mit den Schultern und formt ein stimmloses „Gute Nacht“, ehe sie durch eines der Fenster zurück ins Haus klettert. Porstellion, Sira und ich bleiben alleine mit dem Zirpen der Grillen zurück in der Nacht. Nun ja, machen wir das Beste draus.
 

So führe ich Porstellion in den Stall, binde ihn gut an einem Pfahl fest und lasse mich ohne Weiteres in einen Heuhaufen fallen. Ganz egal ob Stroh oder feinste Daunen, das ist eine wahre Wohltat nach dem ganzen Reiten. Ich bin kurz davor einzuschlafen, als Sira sich neben meinem Gesicht niederlässt. Sie fragt, „Seltsame Leute, was?“
 

„Mhm. Und vielleicht genau, wen wir gesucht haben.“
 

Ein Blick gen Norden
 

Die Sonne von Meskardh kannte keine Gnade. Obwohl der Morgen gerade erst graute und sie noch vorsichtig hinter einer großen, roten Düne hervorlugte, fühlte sich ihr Licht bereits wie Feuer auf der Haut an, verwandelte den Wüstensand in ein Feld heißer Asche und die Felsen an seinem Rand in glühende Kohlen. Doch ein Ort blieb, an den die Sonne nicht so leicht gelangte. Im Westen, wo die Berge sich hoch erhoben, gab es ein Tal, versteckt vor neugierigen Blicken und der Sonne von Wällen, welche die Götter selbst errichtet hatten.
 

Wäre jemand aber mutig oder lebensmüde genug gewesen, sich in dieses einsame Ödland zu wagen, hätte er einen Sturm farbiger Flocken über dem Kessel aus scharfkantigem Gestein gesehen. Die Harpyien von Meskardh tanzten über ihrer Stadt Khaz’Ksar’Madr.
 

Und der Grund für ihre ausgelassene Stimmung befand sich in dem Gebäude im Norden der Stadt, einem großen Palast aus groben Tonziegeln, die so alt waren, dass sie längst von der Sonne schwarz gebrannt worden waren. Und obwohl die einst farbenfrohe Fassade bröckelte, wagte niemand die Majestät seiner Bewohner infrage zu stellen. Und so schenkten auch wenige Leibeigene der jungen Harpyie viel Beachtung, welche fröhlich durch die Arkaden tänzelte. Alle zehn Schritte drehte sie sich einmal auf ihren Krallen um sich selbst, wobei ihr langes, rubinrotes Haar und ihre weiten, schneeweißen Hosen wild um ihren sehnigen, braunen Leib schlugen. Mit jeder Drehung breitete sie glücklich das Paar großer, roter Schwingen aus, das aus ihrem Rücken wuchs, als sei es der erste Tag, an dem sie sie hätte.
 

Dabei war heute bereits ihr sechzehnter Geburtstag. Und somit konnte sie, während sie fröhlich summte und umherstolzierte, an nichts anderes denken als, Ich bin die Xh’máh! Ich! Heute bin ich endlich eine vollwertige Frau!
 

„Meine Güte, wüsste ich es nicht besser, würde ich mich fragen, was dich heute so besonders zufrieden stimmt, Kora,“ sprach da eine tiefe, kratzige Stimme, als Kora fast in einen hochgewachsenen, orange-fedrigen Harpyr rannte. Sein Gesicht war faltig und grau wie der bauschige Bart an seinem Kinn. Sie grinste bis über beide Ohren, als sie ihn erkannte, „Cas’hil Nassalph! Du bist aber früh hier!“
 

„Als würde ich das Risiko eingehen, beim heutigen Verkehr in der Stadt stecken zu bleiben mit diesem Haufen schnatternder Brüder und Schwestern, mit dem ich gestraft worden bin, und zu verpassen, wie meine Lieblings-Kat’hal endlich zu einer Frau erblüht,“ lachte Nassalph und nahm Kora fest in den Arm. Sie konnte spüren, dass sein einst wohl-geformter Körper wieder etwas weicher und seine Haut etwas blasser geworden war. Doch das mochte nichts daran ändern, dass er ihr Lieblings-Cas’hil war, einer der sechs Ehemänner ihrer Mutter. Oftmals fragte sie sich, ob womöglich er ihr leiblicher Vater sein mochte. Nicht, dass sie das jemals herausfinden würde. Nicht einmal ihre Mutter mochte die Antwort so genau kennen.
 

Sobald er Kora wieder abgesetzt hatte, scherzte Nassalph, „Siehst aber noch nicht ganz bereit aus. Oder planst du, in kurzen Hosen und bauchfrei zur Zeremonie zu erscheinen?“
 

„Nur, wenn Oltieve mich vorher nicht erwischt.“ Kora zog eine Schnute, als sie an ihre Mutter dachte. „Sie sagt, ich muss bestens aussehen, wenn die Madr mir ihre Jungs zeigen. Die dürfen doch eh nicht Nein sagen, wenn ich sie auswähle, also warum ist es nötig, dass ich mich umziehe?“
 

„Alte, verstaubte Tradition, fürchte ich,“ sagte er, „Außerdem müssen wir sichergehen, dass sie ganz sprachlos sind vor Ehrfurcht. Du würdest nicht glauben, was für Mist ich deiner Mutter erzählt hätte, wär ich in der Lage gewesen, etwas zu sagen, als ich das erste mal vor ihr stand. Das romantische Geschwafel eines jungen, dummen Burschen, wenn er vielleicht einer künftigen Xh versprochen wird.“ Seine tiefen, blauen Augen – so blau wie Koras – funkelten voll liebgewonnener Erinnerungen. „Sie hätte mich wohl trotzdem gewählt, deine Mutter. Ein schlaues Mädchen war sie. Ist sie, wie eh und je. Ich mag vielleicht nicht der Hübscheste gewesen sein...“ Spitzbübisch grinste er. „Aber Kora, das musst du dir merken: an einem Mann ist mehr dran als sein Aussehen.“
 

„Die Zahl seiner Schwestern, die man zu den eigenen Gefolgsleuten zählen kann bei einem Raubzug?“
 

„Pah, in die Wüste mit diesem Unsinn!“ spie er und das zauberte ihr ein besonders weites Grinsen ins Gesicht. „Genau,“ stimmte sie ihm zu, „Genau das hab ich zu Oltieve gesagt, als sie mir diesen Mist erzählt hat! Schließlich bin ich es, die meine Ehemänner aussuchen wird, nicht sie!“ Sie lachten gemeinsam darüber.
 

Dann sprach Nassalph, „All dieses Gerede über Oltieve... Ich würde sie gerne noch einmal sehen vor der Zeremonie. Wo ist sie? Sie treibt sich besser nicht gerade mit diesem verdammten Romen herum!“ Koras Lächeln schwand allmählich. Ein tiefer Seufzer glitt ihr über die Lippen. „Cas’hil, hast du das schon wieder vergessen? Cas’hil Romen ist längst tot. Zwei Jahre schon. Genauso wie Ab’ya Shal, dein Schwager.“
 

„Oh... Es... es tut mir schrecklich Leid, Liebes. Ich... ich werde ein wenig vergesslich in letzter Zeit.“ Sie tat es mit einem Winken ab. Er hatte schon Recht, er war vermutlich nicht der hübscheste Ehemann ihrer Mutter zu ihrem sechzehnten Geburtstag gewesen – und auch nicht der jüngste. Ganz im Gegenteil. Kora hasste es, wenn sie sich das klar machen musste.
 

„Da bist du ja!“ schnitt eine Stimme sie aus ihrer Trauer, um sie durch Verdruss zu ersetzen. Na toll, dachte Kora, hat Mama mich also doch gefunden. „Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt, dass du in deinem Zimmer zu bleiben und auf mich zu warten hast, damit wir dich für die Wahl zurecht machen können!“ schimpfte die große Harpyie in dem reich verzierten, goldenen Kleid sie. Der Stoff schmiegte sich geradezu an ihre dezent geformten Hüften, und obwohl sie fünfundzwanzig Jahre älter war als Kora, hätte man sie fast für ihre ältere Schwester halten können. Das einzige, was Aufschluss gab über ihr Alter, waren ihre sich deutlich abzeichnenden Wangenknochen und dass sie seit Langem aufgegeben hatte, ihr Haar wieder lang wachsen zu lassen, und es nun kurz wie eine Fingerspitze trug.
 

Oltieves olivfarbenen Augen bemerkten Nassalph und schenkten ihm ein Wimpernklimpern. „Oh hallo, Nassalph,“ gurrte sie, „Ich hätte wissen müssen, dass du als Erster hier sein würdest.“ Er verbeugte sich würdevoll vor ihr und küsste ihre Hand. „Ein Vergnügen, dich zu sehen, Oltieve,“ sagte er, „Wir haben grad von dir gesprochen und ich habe gehofft, du hättest vielleicht ein, zwei Momente für mich übrig. Ich hab dich schrecklich vermisst zuhause.“
 

„Vielleicht später,“ versetzte sie ihn, um Kora anzusehen, plötzlich wieder temperamentvoll und gestreng. „Eine gewisse Möchtegern-Xh’máh muss sich etwas Adäquates anziehen, wenn sie zu ihrer eigenen Haremswahl erscheinen will!“ Mit Freuden erwiderte Kora den wütenden Blick ihrer Mutter.
 

Nassalph lachte, „Ich wär nicht überrascht, wenn diese Xh’máh später mal den Brauch abschafft, all ihre Ehemänner die meiste Zeit zuhause bei deren streitsüchtigen Geschwistern und Eltern zu lassen.“ Oltieve lächelte dezent und nahm den draufgängerischen Scherz knapp zur Kenntnis, „Es ist für das Wohl der Stämme. Das ist erste und oberste Priorität einer Xh.“ Sie schaute wieder zu Kora. „Und deswegen wird sie ihr Reifen zu einer erwachsenen Frau nicht damit beschmutzen, dass sie die Lenden ihrer künftigen Männer zu sehr anregt, nur weil sie der ganzen Welt ihre Beine und ihren Bauch präsentiert.“ Mit einem Seufzen und Augenrollen gab Kora sich geschlagen, „Ja, ja, ich bin ja schon unterwegs!“ Sie winkte Nassalph noch einmal, als sie ihrer Mutter auf ihr Zimmer folgte, die ganze Zeit denkend, Sie mag vielleicht entscheiden, welches blöde Kleid auch immer ich heute anziehen werde... aber die große Überraschung heute wird auf ihre Kosten gehen!
 

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Die Sonne stand fast senkrecht über dem kreisrunden Innenhof, als die Madr mit ihren Adjutanten eintrafen. Verblasst formte das Pflaster das Wappen der Rothelstern und ringsum ragten lange, hölzerne Stangen aus den Wänden, behangen mit den Bannern der großen Stämme von Khaz’Ksar’Madr. Wie gewöhnliche Zweibeiner und nicht etwa wie die geflügelten, die Lüfte liebenden Harpyien, die sie waren, traten sie vor Oltieve, die noch weiter oben hockte, neigten ihre mit Haarnetzen und Diademen geschmückten Häupter und breiteten ihre zusammengefalteten Schwingen erst aus, als die Xh ihnen erlaubte, ihren Platz einzunehmen.
 

Alle bis auf eine Stange waren besetzt, als Kora von vier kräftigen Skalven auf einer mit Seidenkissen gepolsterten Sänfte hereingetragen wurde. Große Ringe aus massivem Gold hingen von ihren Ohrläppchen herab, während eine Kette aus filigranen, diamantbesetzten Goldgliedern ihre Schultern schmückte. Oltieve hatte ihr Haar gebürstet, bis es glänzte, und es mit einer schimmernden Hülse, in der ein faustgroßer, orangener Edelstein ragte, zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. Ihr frisch gestriegeltes Brustgefieder schien zu verschmelzen mit dem edlen, schwarzen Korsett um ihre Hüften, während ihre Beine versteckt waren in Pluderhosen, so weiß wie Schnee.
 

Rundum sah man sie unterwürfig an, sodass Kora sich jetzt schon wie eine Xh vorkam. Selbst Nassalph, der beim Stamm seiner Mutter saß, wirkte demütig. Vielleicht ist dieser Aufzug gar nicht mal so schlecht, überlegte Kora. Oltieve hatte sogar etwas ausgewählt, was ganz gut zu ihr passte. Das einzige, was Kora selbst hatte veranlassen müssen, war das beige, blau und rot gemusterte Stirnband, welches sie trug.
 

Sie würdigte die leere Stange nur eines kurzen Blickes. Das war inzwischen genauso Tradition wie alles andere heute. Eigentlich waren diese Plätze für die Harpyien von den Gegenschwingen reserviert, doch die hatten seit hunderten von Jahren mehr keiner Haremswahl beigewohnt. Sie wollten die zukünftige Xh nicht auf ihren Raubzügen begleiten. Und so störte es niemanden, dass fortgefahren wurde, ohne auf sie zu warten.
 

Oltieve rief, „Mütter von Khaz’Ksar’Madr, ich präsentiere Euch meine älteste Tochter, Kora von den Rothelstern, und ab heute, ihrem sechzehnten Namenstag, eine vollwertige Frau, die ich auserkoren haben, mir als Xh unserer Stadt eines Tages nachzufolgen! Sie soll in allen Fragen über die Harpyienstämme von Meskardh verfügen, wenn ich nicht mehr bin.“ Kora verkniff sich ein Grinsen. Gleich käme der angenehmste Teil der Zeremonie. „Doch keine Xh darf allein auf die Jagd gehen und auch nicht dazu verdammt sein, einsam ihre Nächte zu verbringen! Sie braucht treue Beraterinnen, Kameradinnen im Kampf und auf Reisen, die ihr mit Haut und Haar untergeben sind, und Gatten, die ihr helfen mögen, unsere stolze Familie zu Uljha’ikes Freuden fortzuführen. Hört Ihr mich, Madr von Khaz’Ksar’Madr?“
 

„Wir hören Euch!“ riefen die Ältesten der Frauen einstimmig.
 

„Dann rufe ich Euch um Eure Hilfe für unsere Xh’máh an! Wie werdet Ihr ihr bestehen?“
 

„Mit nichts weniger als unseren Söhnen und Enkeln!“
 

„So gewährt ihr einen Blick, auf dass sie von ihnen die auswählen möge, die sie zum Mann nehmen will!“ Daraufhin brachte ein Diener ein Dutzend junger Harpyre herein, allesamt groß gewachsen und schön anzusehen. Im ersten Moment waren sie noch voller Selbstvertrauen, sich ihres Sieges sicher schmunzelnd, obwohl sie mit nicht mehr bekleidet waren als einem dünnen Schurz. Doch wie Koras Cas’hil Nassalph vorausgesagt hatte, fiel all diese Überheblichkeit von ihnen ab, als sie Kora erblickten. Sie wurden plötzlich bescheiden und ehrfürchtig, sodass sie ihre Häupter senkten und vor ihr niederknieten.
 

„Lasst mich euch anschauen!“ befahl Kora ihnen, ihre Köpfe zu heben. Man muss diesen Greisinnen lassen, sie haben guten Geschmack, dachte sie, mit Wonne all die kupfernen und goldenen Leiber betrachtend. Jetzt konnte sie ihr Grinsen nicht länger in Zaum halten. Wollen wir doch mal sehen, was sie sonst so hergeben. Mit einem Händeklatschen ließ sie die Sänfte abstellen und erhob sich von ihren weichen Kissen, um näher an die Jungen heranzutreten. Jeder einzelne Schritt, den sie tat, war hunderte Male unter Oltieves strengem Blick geübt worden, um so anmutig wie für einen Sterblichen möglich zu wirken.
 

Als Kora ihre Arme erhob, begannen die Diener in der Galerie über ihnen, Musik zu spielen. Es war eine schnelle und wilde Melodie, sodass es Kora geradezu in den Krallen juckte. Einen Burschen nach dem anderen rief sie herbei, mit ihr zu tanzen, wirbelte um sie herum, folgte dem immer schneller werdenden Rhythmus, während die jungen Männer versuchten, mit ihr Schritt zu halten. Sie plusterten ihr Gefieder auf, sie zu betören, versuchten ihre mächtigen Schwingen im Kora zu legen, doch sie entwischte ihnen ein ums andere mal, und sobald jemand hinter der Musik zurückblieb, war der nächste Freier an der Reihe. Ehe sie sich recht versah, hatte Kora mit jedem von ihnen getanzt, und Schweißperlen standen auf ihrer Stirn.
 

Sie ließ sich zurückfallen auf die Sänfte, um gleich mit großen Fächern Kühlung spendiert zu bekommen von ihren Sklaven. Während sie verschnaufte, lächelten viele der Madr, ganz überzeugt von der Schau ihrer Jungen. All jene, die es schafften, ihresgleichen mit einer Xh’máh zu verheiraten, würden später Madr’Illuhem genannt, die Vertrauten der Xh und ihr Rückhalt im Stadtrat. Die verschmähten Stämme hingegen würden den Namen Madr’Olharem annehmen, auf ewig allein auf Raubzüge gehen, und sich im Stadtrat zu den Gegenschwingen gesellen müssen.
 

Sobald Kora sich etwas erholt hatte, verkündete sie, „Das sind alles wunderbare, junge Männer, die Ihr mir da anbietet, stolze Madr von Khaz’Ksar’Madr. Man möchte keinen von ihnen so recht in die Wüste schicken...“ Sie spürte den zornigen Blick ihrer Mutter im Nacken. Sie hatte Kora klare Anweisungen gegeben, welchen Burschen – und somit welche Familie – zu wählen. Zu schade, dass es meine Entscheidung ist, egal, ob ihr das gefällt oder nicht.
 

„Eine Xh braucht nicht mehr als die besten sechs, und daher muss sie sich entscheiden,“ erinnerte eine alte, bucklige Harpyie Kora. Ihre Federn waren in dunklem Grün gehalten und über und über mit schwarzen Punkten bedeckt. Ihr Name war Zalva, wenn Kora sich recht entsann, von den Felsgreifen. „So verlangt es der Brauch,“ sprach Zalva.
 

„Ja, ja,“ entgegnete Kora achselzuckend, „Ein Brauch, der älter ist als meine Ururgroßmutter.“ Als sie die entsetzten Gesichter rundum sah, ergänzte sie flink, „Keine Angst, ich werde mich entscheiden, mit wem ich gedenke, das Bett zu teilen. Bloß nicht jetzt gleich.“ Sie hörte ihre Meister erschrocken nach Luft schnappen und wie die Madr sie verwirrt und teils beleidigt anstarrten.
 

„Wann dann?! Heute findet Eure Haremswahl statt!“ beanstandete eine von ihnen. Kora nahm ihren Ausbruch mit zufriedenem Lächeln zur Kenntnis. „Findet Ihr das nicht komisch“ fragte Kora, „wenn einer Xh’máh einfach so etwas gegeben wird? Während unseresgleichen seit Jahrhunderten in dieser Wüste lebt, wo kein einziger Halm Gras wächst und kein Schaf lang bleiben will? Alles, was wir haben, das Essen, die Kleider, das Gold und unsere Schätze – wir nehmen uns alles von anderen. Lassen dämliche Bauern und Kaufleute all die Arbeit für uns machen, und wenn die Zeit reif für die Ernte ist, schnappen wir uns ihr Mehl und Brot und Gold, legen sie in Ketten und machen mit ihnen, was uns gefällt! Das ist es doch, was eine Harpyie von Meskardh tut, nicht wahr?“ Zufrieden bemerkte sie die ersten, sich aufhellenden Mienen, als einige Harpyien begannen zu verstehen. Sie fuhr fort, „Ich werde mir nicht einfach so einen Mann und eine Krone geben lassen – ich werde sie mir nehmen! Ich werde Euch, stolze Madr, beweisen, dass ich die größte Xh in der gesamten Geschichte von Hesproys sein werde!“
 

Da schrie eine besonders dreiste Alte, „Wir Glimmerfedern haben neulich eine Karawane ausgenommen, die so groß war, dass unsere Kornspeicher zwei weitere Monate lang voll bleiben werden! Ich hab sogar läuten hören, dass die Felsgreifen ein paar Dörfer in Ardnas ausgenommen haben. Wie wollt Ihr das übertrumpfen, Xh’máh?!“
 

„Hüte deine Zunge, Helmaie!“ zischte Zalva, als auch schon eine andere Harpyie begann zu spotten, nur um sich von vier anderen Madr zurechtweisen zu lassen. Ihr Gezeter brach erst ab, als sich Koras Gelächter über das Stimmengewirr erhob.
 

„Nichts leichter als das,“ sagte sie, „Ich werde etwas erbeuten, von dem Ihr alle nur träumen könnt. Etwas, das noch keine Harpyie in den Händen gehalten hat. Den Schatz der Schätze. Und wer mir hilft, wird immer willkommen sein in meiner Familie und seinen fairen Anteil an all den anderen Reichtümern kriegen, die ich gedenke zu erbeuten.“ Sie schaute zu den Harpyren. „Und natürlich verwehre ich mich auch keinem Mann, der mir seine Treue auf diesem Raubzug beweist.“
 

„Niemals!“ kreischte Helmaie, „Das ist nicht wie von unseren Ahnen vorgesehen! Wir werden niemandem folgen, der unserem Stamm nicht den Respekt zollt, den er verdient!“
 

„Wer braucht auch schon die Glimmerfedern?“ höhnte eine Harpyie von den Cinnobreflügeln, „Geht doch zu den Gegenschwingen!“ Kora wusste nicht, wessen dämliches Gesicht sie mehr amüsierte: das der alten Krähe Helmaie, als ihr klar wurde, dass sie ihren Schwarm selbst verdammt hatte, zu den Madr'Olharem zu gehören, oder das von Oltieve, als diese mit Staunen begriff, wie ihre Tochter gerade die erhabensten Frauen der Stadt an der Nase herumführte.
 

"Xh'máh, der Schwarm der Silberkrallen ist Euch treu ergeben!"
 

"Dass ich nicht lache! Wir Kupferadler werden der Xh'máh beweisen, dass wir am meisten verdient haben, an ihrer Seite zu kämpfen!" Der Palast der Rothelstern verwandelte sich mit einem mal in einen Stall aufgeschreckter Hühner. Selbst die Harpyre wagten plötzlich zu sprechen, schworen auf Mutter und Uljha'ike, Kora bis an ihr Lebensende zu dienen. Sie küssten ihre Fußkrallen, fielen vor ihr nieder und verbeugten sich unzählige Male.
 

"Schluss mit diesem Wahnsinn!" brüllte auf einmal Oltieve und mit einem Mal wurde alles wieder ganz still. Voller Argwohn, wie Kora ihn noch nie von ihrer Mutter gekannt hatte, starrte Oltieve sie an und eigentlich galt, was sie sagte, auch nur ihr, "Die Xh'máh hat sich selbst eine schwere Prüfung auferlegt! Eine Prüfung, die sehr wohl beweisen wird, ob sie fähig sein wird, all die Stämme innerhalb der Mauern unserer Stadt eines Tages zu führen. Es ist daher nur angemessen, dass man ihr Gehör schenkt und sie erklären lässt, was genau sie gedenkt, zu erbeuten, das alle anderen Reichtümer der Harpyien so in seinen Schatten weisen soll!"
 

"Nichts leichter als das", grinste Kora ihre Mutter unerschrocken an, "ich werde das Geschenk der Göttinnen an mich bringen: den Dreizack von Oreichalkos!"



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