Kapitel 6: Das ist absolut nicht möglich.
„Ich kann mir das absolut nicht erklären.“ Jii hatte die Stirn gerunzelt und lief dabei unruhig immer wieder einige Schritte. „Bislang ist das noch keinem anderen Traumbrecher geschehen. Jedenfalls nicht, solange ich Direktor von Athamos bin.“
Im Gegensatz zu seinem Freund saß Vane auf einem Stuhl im Direktorat, war aber dank seiner Größe dennoch eine imposante Erscheinung. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt, der Gesichtsausdruck so ernst wie eh und je. „Es ist nur natürlich, dass Albträume andere Menschen vereinnahmen. Und auch, dass sie die Erinnerungen und Gedanken der entsprechenden Person in eine symbolhafte Form umwandeln – aber eben nicht, dass sie dabei selbst die Form eines Menschen annehmen. Sie hassen diese immerhin. Wenn überhaupt, wählen sie eine Gestalt, die das höhnische Abbild eines solchen ist.“
Wie der Albtraum zuvor, durchzuckte es Morte, dabei dachte sie wieder an dieses gesichtslose Wesen mit den unzähligen Armen zurück.
Sie saß ebenfalls auf einem Stuhl, ein wenig abseits allerdings, und hielt sich ihren rechten Arm. Nachdem sie erfolgreich entkommen war, hatte sie den Rest der Nacht geweint, besonders wenn Vane ihr zu nahe gekommen war. Deswegen war diese Aufgabe netterweise von Bernadette übernommen worden. Es waren Stunden gewesen, bis sie sich wieder einigermaßen hatte beruhigen können.
Inzwischen war es früher Morgen, Jii war von allem in Kenntnis gesetzt worden und hatte deswegen ein Treffen mit ihr und Vane anberaumt, um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Aber bislang sprachen sie nur darüber, dass es eigentlich nicht möglich sein dürfte, dass ein Albtraum derart viel aus ihren Erinnerungen ziehen und es so getreu wiedergeben konnte, ohne jedes Symbol, ohne einen klaren Drang, sie zu töten.
Ich war bereits bei ihm. Ich misstraute ihm nicht. Er hätte mich jederzeit töten können.
Stattdessen war seine gänzliche Gewalt nur auf Faren beschränkt gewesen, den er als unerwünscht bezeichnet hatte.
Vielleicht aber auch nur wegen meiner Abneigung ihm gegenüber.
Sicher, damals war es durchaus verständlich gewesen, dass dieser Faren einer anderen Welt sie zu töten versuchte, aber dennoch konnte sie nicht anders als es ihm nachzutragen.
Aber warum sollte er jemandem schaden, nur weil ich ihn nicht mag? Und warum hat es dann bei Rowan nicht funktioniert? Den hasse ich noch mehr.
Besonders nachdem er den Albtraum, auch wenn er ein Feind gewesen war, zerschmettert hatte, so dass es ihr vorkam als hätte er ihren Großvater höchstselbst getötet, brodelte ihr Zorn auf ihn. Am liebsten hätte sie Rowan einfach selbst auseinandergenommen. Sie beherrschte sich nur, weil sie wusste, dass man diese Zurückhaltung von ihr verlangte. Man erwartete, dass sie sich fügsam und gehorsam zeigte und niemandem Schaden zufügte, nicht einmal wenn diese Person sie derart hasste, verachtete und mit Beleidigungen und Vorwürfen traktierte.
Nein!
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, den aufkeimenden Wunsch nach Zerstörung wieder dorthin zu verbannen, wo er keinerlei Schaden anrichten konnte.
Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich wieder auf das Gespräch zwischen den beiden anwesenden Männern.
„Die Wirkung seiner Angriffe war also nur auf Faren und Ferris beschränkt“, fasste Jii gerade zusammen. „Warum hat er Morte nicht getötet, wenn sie schon in seiner Nähe war?“
Die Aussage Weil er mein Großvater ist lag ihr bereits auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. Dieses Ding, worum auch immer es sich handelte, war nicht ihr geliebter Großvater gewesen. Sie hörte noch immer die verzerrte Stimme, die am Ende zu ihr gesprochen hatte, und in der nichts mehr von seiner einstmaligen Magie gelegen hatte.
Vane warf einen kurzen Blick zu Morte hinüber, die diesen allerdings nicht erwiderte, stattdessen starrte sie konzentriert auf den Boden hinab. Da sie sich nicht an dem Gespräch beteiligen wollte, übernahm Vane das für sie: „Ich denke, er wollte sie behalten und mit sich nehmen.“
„In sein Refugium?“
„Ich gehe davon aus.“
Vermutungen. Das waren alles nur Vermutungen, ohne jede Substanz. Deswegen empfand Morte dieses ganze Gespräch als vollkommen sinnlos. Genausogut hätten sie über die Wahrscheinlichkeit von erfolgreich bepflanzten Maisfeldern auf dem Mond sprechen können. Wahrscheinlich wäre diese Unterhaltung sogar wesentlich ertragreicher.
Jii sah ebenfalls zu ihr hinüber, sie spürte seinen Blick unangenehm schwer auf ihr liegen.
„Du solltest dich lieber ausruhen. Bernadette sagte, du seist die ganze Nacht wach gewesen.“
„Ja, vielleicht.“ Sie strich sich das Haar aus der Stirn und bemerkte dabei, dass es bereits strähnig zu werden begann; statt zu schlafen sollte sie vielleicht lieber duschen gehen.
„Dann bist du für heute entlassen“, sagte Jii zu ihr. „Heute Nacht haben die Schüler keinen Einsatz. Also nutze die Zeit, um dich zu beruhigen. Falls irgendetwas sein sollte, kannst du mit einem von uns oder eben Bernadette oder Runa sprechen.“
Den Rest des Tages bemühte Morte sich, nicht mehr über die Vorfälle der letzten Nacht nachzudenken. Die durch den Stacheldraht verursachten Wunden an ihren Armen waren dank ihrer Lane-Gene bereits wieder verheilt, aber noch immer hörte sie die Verzweiflung dieses Bildes, als er zum Schluss nach ihr geschrien hatte, in ihrem Inneren widerhallen.
Etwas in ihr sehnte sich danach, wieder bei ihm zu sein, selbst wenn er eine Fälschung war. Aber der lautere, vernünftigere Teil, sagte ihr glücklicherweise, dass es unsinnig war. Sie musste normal weiterleben, darüber hinwegkommen, selbst wenn es schwer war.
Nach der Dusche begab sie sich direkt in ihr Zimmer, wo sie sich auf ihr Bett sinken ließ. Sie war nicht müde, aber auch nicht in der Stimmung, um irgendetwas anderes zu tun. Sie glaubte nicht, die dafür notwendige Konzentration aufbringen zu können.
Also lag sie nur auf dem Rücken und starrte an die Decke. Das Licht bildete seltsame Schatten auf dem weißen Untergrund, die sich zu bewegen schienen, je länger sie dort hinaufsah. Die Konturen wandelten sich zu menschengleichen Gestalten, die ein Schattenspiel aufzuführen schienen. Sie kannte das Stück nicht und ohne jegliche Erklärung oder irgendeinen Text war es ihr auch nicht möglich es zu verstehen. Genausowenig wie sie den Grund dafür kannte, dass sie das alles beobachten konnte.
„Ich bilde mir das nur ein“, murmelte sie. „Das ist absolut nicht möglich.“
Sie schloss die Augen, zählte bis zehn – und als sie die Augen wieder öffnete, waren die Schatten glücklicherweise verschwunden.
Vermutlich bin ich wirklich übermüdet. Und ich denke zu viel über diese Sache nach. Es führt doch zu nichts.
Gäbe es die Möglichkeit, diesem Abbild noch einmal zu begegnen, wäre sie nicht mehr so überwältigt. Sie würde Fragen stellen. Was er damit bezweckte. Woher es ihren Großvater kannte. Warum es gerade hinter ihr her war und nicht hinter jemand anderem.
Womit ich das verdient habe.
Auch wenn das vielleicht eine überflüssige Frage war. Wenn man jahrelang Welten zerstörte, hatte man mit Sicherheit noch mehr verdient als nur einen Albtraum, der einen mit sich nehmen wollte.
Egal, was bislang geschehen war, sie hatte noch nicht genug gesühnt. Noch lange nicht.
Der innere Drang sich zu verletzen kehrte an die Oberfläche zurück, wo er wie ein wilder Wolf wütete und grollte, begierig darauf, nach draußen zu kommen.
Mit einem gequälten Stöhnen drehte sie sich auf die Seite, presste sich ihr Kissen auf das noch freie Ohr, zog die Beine an und schloss die Augen wieder.
Bitte, hör auf. Bitte. Ich will das alles nicht mehr.
Sie musste an ihren Vater denken, der gestorben war, um sie zu retten. Gerade wegen ihm durfte sie das nicht tun. Sein Opfer wäre vollkommen umsonst, wenn sie sich nun einfach selbst zerstörte.
Aber vielleicht sollte ich auch nicht mehr existieren. Vielleicht hätte er mich einfach nicht retten dürfen ...
Sie atmete tief durch, um diese finsteren Gedanken abzuschütteln, ehe sie doch noch etwas tat, das sie bereuen könnte. Es wäre besser, wenn sie schliefe. Jii hatte recht, sie war nur müde, ausgelaugt und benötigte einfach eine Nacht voller Schlaf, um wieder klar im Kopf zu werden. Was auch immer es mit den Ereignissen der vorigen Nacht auf sich hatte, könnte sie erst dann wirklich ergründen.
Sie gab sich Mühe, sich zu entspannen und konzentrierte sich auf das Schlaflied, das ihr Großvater ihr stets vorgesungen hatte. Sie glaubte sogar, seine Stimme hören und seine Anwesenheit neben sich spüren zu können, während sie in einen tiefen Schlaf sank.
Es nahm nicht viel Zeit in Anspruch, bis sie sich wieder auf der ihr vertrauten Blumenwiese wiederfand. Allein. Von ihrem Großvater oder gar einem Bild desselben, war nichts zu sehen.
Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach zu setzen und wieder mit dem Flechten einer Blumenkette zu beginnen, so wie sie es immer getan hatte.
Aber sie wollte gerade nicht allein sein. Selbst in ihrem Traum spürte sie den Drang, sah ihn personifiziert in einer Dornenhecke, die kriechend die Blumenwiese zu umrunden begann. Riesige Dornen, fast schon Schwertern gleich, wuchsen an schwarzen Ästen, deren Umfang etwa dem einer menschlichen Hüfte entsprach.
Nein, sie konnte hier nicht bleiben. Nicht so allein, wie sie es im Moment war.
Also konzentrierte sie sich, legte eine geballte Hand auf ihr Herz und streckte die andere aus. Sie fand in ihrem Inneren den Faden, der sie mit den Fähigkeiten ihrer Mutter verband, berührte ihn sanft, worauf er zu schwingen begann und ein Geräusch erzeugte, das einer Melodie ähnelte. Energie floss durch ihren Körper, trat an ihren Händen aus und formte ein kreisrundes Portal, in dem ein grau-violetter Nebel waberte. Morte zögerte nicht, einfach hindurchzugehen, um einen Tunnel zu betreten, als die Dornen bereits ihre Füße erreichten. Sie schabten an ihren Schuhen, anders wäre sie nicht darauf aufmerksam geworden.
Der Tunnel schloss sich hinter ihr wieder, um die Hecke davon abzuhalten, ihr zu folgen. Dann machte sie einige Schritte, um sich an den Nebel und die eingeschränkte Sichtbarkeit zu gewöhnen. Als sie diese Fähigkeit das erste Mal genutzt hatte, war sie bei einem Versuch, einfach draufloszulaufen, mehrmals ins Stolpern geraten, wodurch sie sich rasch verlaufen hatte. Es war kein angenehmes Gefühl gewesen, zwischen den Träumen umherzuwandeln, ohne zu wissen, ob man unter diesen Umständen je wieder erwachen könnte.
An diesem Tag, dank ihrer gesammelten Erfahrung, funktionierte es tadellos, und so gelangte sie rasch an jenen Ort, an dem sie mehrere weitere Portale finden konnte. Jedes davon war, wie sie wusste, mit einem anderen Traum einer Person verbunden, die sie kannte. Sie musste sie nicht gut kennen, aber ihr zumindest einmal begegnet sein – und sie musste sich zufällig zur selben Zeit in diesem Korridor aufhalten, zu der die Person gerade träumte.
Es war unmöglich, bereits im Vorfeld zu wissen, welches dieser Portale zu welcher Person führte. Meist stellte sich das für sie erst im Inneren des Traumes heraus oder auch nie. Es war schon oft genug vorgekommen, dass sie sich in einem derart bizarren Traum wiedergefunden hatte, dass ihr nie klar geworden war, zu wem er eigentlich gehörte. Manchmal konnte sie es aber spüren, wenn sie lange genug vor einem Portal ausharrte – und manchmal geschah es einfach so; als legte man einen Schalter um, der dann einen ganzen Raum erhellte.
So war es auch, als sie bei einem bestimmten Portal stehenblieb. Sie wusste sofort, zu wem es gehörte und eigentlich hätte sie einfach weitergehen sollen, aber die Neugier ließ sie doch überlegen, ob sie nicht einfach eintreten sollte.
Dieser Traum gehörte einem Menschen, von dem sie nicht einmal geglaubt hätte, dass er noch träumen konnte, schon allein weil er derart unachtsam mit seiner Traumzeit umging. Aber dank der Hexen, die hin und wieder die Zeit einiger Traumbrecher aufluden, im Austausch gegen ihre eigene Kraft, war es vielen von ihnen doch noch möglich, zu träumen. Darunter eben auch Rowan.
Offenbar fand er doch noch Zeit zum Schlafen, dann war er wohl glücklicherweise nicht die ganze Zeit damit beschäftigt, sie zu beobachten, damit sie auch ja nichts Misstrauenserweckendes tat.
Wenn ich seinen Traum betrete, finde ich vielleicht etwas, das ihn dazu bringt, mich endlich in Ruhe zu lassen.
Oder um ihn noch wütender zu machen. Aber so wirkliche Sorge bereitete ihr dieser Gedanke nicht, deswegen streckte sie kurzentschlossen die Hand aus, um durch das Portal einzutreten.
Elektrizität schien durch ihren gesamten Körper zu zucken, im selben Moment, in dem sie in Kontakt mit dem Nebel seines Korridors kam. Wie nach einem Schlag zuckte sie zurück und hielt sich die Hand, die noch immer unangenehm kribbelte, während der Rest ihres Körpers sich nur noch an das Gefühl erinnerte.
„Was ist das denn?“
In all den Jahren, in denen sie nun schon ihre Träume mit anderen verband, war es ihr noch niemals untergekommen, dass jemand seinen Traum … geschützt hatte, nicht einmal bei anderen Traumbrechern. War das Rowans Tun oder geschah das auch seinerseits nur unbewusst, ohne dass er selbst überhaupt wusste, wie genau er das tat?
Vielleicht war es aber auch nur eine einmalige Reaktion?
Sie dachte darüber nach, die Hand noch einmal auszustrecken, aber sie wollte nicht einen weiteren elektrischen Schlag erleiden, deswegen beließ sie es nur bei dem Gedanken. Auch wenn sie sich deswegen nun wie ein Versuchstier vorkam, das gerade seine erste Lektion gelernt hatte.
Dafür starrte sie wütend das Portal an, im Grunde erleichtert darüber, dass sie nun jemand anderes hatte, auf den sich ihr Zorn konzentrieren konnte, statt auf sie selbst.
Mit einem Schnauben fuhr sie wieder herum, damit sie in ihren eigenen Traum zurückkehren und dort darüber nachdenken könnte, was für ein riesiger Idiot Rowan eigentlich war – und wie glücklich sie wäre, wenn sie ihn niemals wiedersehen müsste.