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Über den Tod hinaus

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Trennung ist unser Los
Wiedersehen ist unsere Hoffnung
So bitter der Tod ist…
…die Liebe vermag er nicht zu scheiden Komplett anzeigen

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Aiden

Wenn man jung ist macht man sich keine Gedanken über den Tod. Tod, das ist etwas, das bringst du mit alten Menschen in Verbindung, mit ziemlich alten Menschen und auch dann ist es eher eine Erlösung als eine Qual. Die meisten älteren Menschen können heute auf ein langes und glückliches Leben zurück schauen. Es ist heut zu Tage das normalste der Welt alt zu werden, schon längst kein Privileg mehr. Wir führen hier alle ein glückliches, wenn auch sehr durch Regeln bestimmendes Leben, doch es lässt uns weit älter als an die 70 Jahre werden. Ohne Krankheiten wie Krebs oder Aids, ohne Viren und Seuchen, ohne Tiergrippen auf den Menschen übertragbar. Lange sind die Zeiten vorbei, in denen man sich vor so etwas fürchten musste. Naturkatastrophen, Kriege, Vergrößerung des Ozonloches, Globale Erwärmung, das alles klingt nach Märchen, die man Kindern damals erzählte, damit sie artig blieben und sich an die Regeln hielten.

Der Tod ereilt dich, wenn es so weit ist, wenn du alt und bereit bist.

Jedenfalls denken wir das. Ich musste selbst erfahren, dass der Tod sich niemals besiegen lässt. Er selbst entscheidet, wen er bei sich haben möchte und wer noch länger am Leben teilhaben darf. Es sind nicht wir Menschen, die über Leben und Tod entscheiden. Das werden wir auch niemals sein. Egal wie viel Technologie wir anwenden werden, wie viele Seuchen und Krankheiten wir bekämpfen werden, es spielt keine Rolle, wie weit uns die Medizin bringen wird, es ist auch egal was uns noch alles an Ideen einfallen wird…

Wir sind keine Götter.

Es gibt Grenzen, die wir Menschen in unserem Wahnsinn nach Macht und ewigen Leben einfach nicht überschreiten können. Es wird uns niemals gelingen ewig auf diesem Erdboden verweilen zu können, ganz gleich wie sehr wir uns auch darum bemühen und danach streben. Und warum sollten wir das auch? Ich musste am eigenen Leib erfahren, dass der Tod sich nicht beherrschen lässt und zu sich nimmt, wen er verlangt.

Wir werden niemals in der Lage sein den Tod zu beherrschen, denn er wird immer über uns stehen.

Aiden

Mit meinen Händen trommelte ich gegen das Lenkrad. Die Heizung war bereits voll aufgedreht und die Scheibenwischer taten ihr Bestes, um den Regen von meiner Windschutzscheibe zu wischen. Gott sei Dank hatte ich nicht auf meine Mom gehört. Du könntest dein Auto auch mal wieder waschen. Ja, genauso gut hätte ich auch mein Zimmer aufräumen und für meine Abschlussprüfungen lernen können. Es war ja nicht so, als wäre ich stinkend faul, ich setzte lediglich andere Prioritäten. Allerdings sah man das hier nicht so gerne. Wir lebten in einer großen Vorortsiedlung, jedes Haus glich dem anderen. Selbst im Vorgarten standen exakt die gleichen Bäume, die auf wunderschönen grünen Gras wuchsen, abgegrenzt von exakt dem gleichen Zäunen. Gleiches für alle, war hier die Devise. Die Häuser waren alle gleich groß, mit derselben Anzahl von Zimmern und einer identischen Raumaufteilung. Sogar das Mobiliar war Flächendeckend dasselbe. Wenn ich genauer darüber nachdachte, schien mir das ganze schon etwas stumpf und langweilig. Aber wegen demselben Herd wollte ich noch lange keine Rebellion anfangen. Meine Großmutter hatte mir schon oft von einer Zeit erzählt, in der es weitaus schlimmer war. Kinder, die nicht genügend zu essen besaßen, keine Schulausbildung genießen konnten, die meistens nicht einmal richtige Kleidung getragen hatten. Obdachlose, wie meine Großmutter sie nannte, die kein Zuhause hatten, keine eigene Wohnung, Hab und Gut, welches ihnen gehörte, die betteln mussten. Es gab so viel, von dem sie erzählte, was einfach nicht in meinen Kopf rein wollte. Menschen, die so unterschiedlich lebten, weil das Geld es so bestimmte. Das manche so viel hatten und andere gar nichts. Hunger, einen Zustand, den ich nie kennenlernte. Manchmal glaubte ich allerdings auch, dass sie einen leichten Hang zur Übertreibung hatte, ich meine, es kann wohl kaum Naturkatastrophen gegeben haben, die der Mensch zu verschulden hatte?

Ich war mittlerweile so in meinem Trommeln und Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, wie die Tür neben mir aufgerissen wurde und ein eiskalter Luftzug mich erfasste. Fast wie eine Hand, die mein Gesicht umklammerte und nicht vor hatte wieder zu gehen. Mit meiner Hand rieb ich mir automatisch über die Stelle. Etwas genervt atmete ich aus, startete den Motor, während ich kurz zur Seite schielte. „Kannst du die Tür wieder zu machen?“ Das Mädchen neben mir kicherte. „So ein bisschen Kälte bringt dich doch nicht um“, scherzte sie, schnallte sich an, und ließ sich lachend in den Rücksitz fallen. „Ich bin erst 20 Jahre alt, mich bringt gar nichts um“, mit diesen Worten schaltete ich auch das Licht ein und fuhr endlich los.

Nun war nicht mehr ich es, der mit den Fingern trommelte, sondern das Mädchen neben mir. Wieder musste ich zu ihr rüber sehen. Diesmal ganz und obwohl es keinen Grund gab, keinen rationalen, musste ich trotzdem lachen bei ihrem Anblick. Ihre Finger trommelten in einem schnellen ‚Takt‘ auf dem Armaturenbrett, auf dem sie auch ihre Füße gestützt hatte. Sie wippte dazu leicht nach vorne, sodass ihr blondes leicht rötliches Haar mit schwang. Als könnten sie sich sanft mit zum Takt bewegen. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, ließ sie sich wieder zurück sinken, hörte auf zu trommeln. Stattdessen sahen mich ihre blauen Augen eindringlich an. Einen Moment versuchte sie ernst zu bleiben, doch dann kamen auch schon ihre strahlend weißen Zähne zum Vorschein und ein ansteckendes Lachen erhellte die Stille.

„Dein Lachen ist mir tausend Mal lieber.“

„Du bist manchmal echt doof Aiden.“

„Und du bist einfach immer untalentiert“, konterte ich, woraufhin sie nur die Arme verschränkte. Das Sommersprossen gesprenkelte Gesicht sah mich mahnend an. Als könnte sie jeden Moment doch noch zu einem Konter ausholen oder gar anfangen zu singen. Aber nichts dergleichen geschah. „Wie war denn die Party?“, fragte ich direkt weiter, die Stille im Auto war mir einfach zu unheimlich. Zwar musste ich mich auf dem Weg konzentrieren, es war mittlerweile schon Dunkel und der Regen wollte einfach nicht aufhören, dennoch wollte ich nicht auf ihre Stimme verzichten. „Naja es war nichts Besonderes. Wir haben eben etwas getrunken und uns darüber unterhalten, was wir nun nach unserem Abschluss machen wollen“, fing sie an zu reden, und zuckte mit den Schultern. Eine gewisse Spannung fing an sich um Auto auf zu bauen, so schnell, dass ich nicht mal einen Witz machen konnte, um dies zu verhindern. Wie ein schweres Tuch legte sich diese Spannung auf uns, es war fast so als würde sie mich tiefer in meinem Sitz drücken, mir die Sicht verschleiern und das Atmen schwerer machen, obwohl noch nichts gesagt war. Sofort bereute ich es auch schon, etwas gefragt zu haben. Vielleicht würde sie das Thema nicht ansprechen. Doch als ich den Gedanken fast zu Ende hatte, machte sie schon den Mund auf.

„Können wir denn nicht hierbleiben?“, bat sie, diesmal war nichts mehr von ihrer Leichtigkeit in der Stimme zuhören. Mein Herz verkrampfte sich bei ihren Worten. Es gab keinen Ort auf der Welt, an dem ich sein wollte, wenn sie nicht mit mir war. Dennoch glaubte ich, dass es mehr geben musste als nur diese kleine Vorstadtsiedlung, in der einfach alles gleich war. Wie gesagt ich wollte keine Rebellion wegen einer Kücheneinrichtung beginnen, aber irgendwo musste es doch auch noch ein anderes Exemplar geben. „Ich will ja nicht für immer von hier weg, aber fragst du dich nicht auch manchmal, wie es wohl woanders aussieht?

„Vielleicht. Ich frage mich eher, welches woanders du wohl meinst? Wir müssen jedes Mal fragen, ob wir in eine fremde Stadt einreisen dürfen oder nicht und wann wir wieder die Erlaubnis zur Rückkehr bekommen würden, ist auch ziemlich ungewiss.“ Ich atmete lange aus. „Du musst nicht mit mir kommen“, zwar kam es mir einfach über die Lippen, aber tief in mir drin, Ohrfeigte ich mich jedes Mal für diesen Satz. Natürlich musste sie nicht mit kommen. Niemals würde ich sie zu etwas zwingen. Doch der Gedanke daran, all die neuen Dinge in der Welt zu sehen, ohne dass sie es tun würde, stimmte mich auch nicht gerade glücklich. Ich hatte immer gedacht, es sei der Traum von uns beiden, doch je näher der Abschluss rückte, desto mehr schien es nur noch meiner zu werden. Die Frage, die sich uns nun stellte war, wer von uns war bereit seinen Wunsch zurück zu stellen. „Es kann ja auch gut sein, dass wir nach der ersten Stadt schon wieder zurückkommen. Das ganze könnte nach einem Jahr wieder vorbei sein. Was ist schon ein Jahr gerechnet an den siebzig Jahren, die noch vor uns liegen?“ Ein kleines, zaghaftes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Wenn du nicht bei mir bist gleicht es sicher einer Ewigkeit“ Wieder ließ ich weich und sanft. Aber in ihren Augen fand ich diese tiefe Entschlossenheit, die sie sich niemals von jemandem nehmen lassen würde.

„Dann erklärst du es aber meinen Eltern“, kam es über ihre Lippen, etwas vorwurfsvoll. „Als würden sie mich nicht schon genug hassen“, murrte ich.

„Eben. Es ist besser, wenn sie dich hassen, als ihre einzige Tochter.“

„Wir sind nun schon so lange zusammen, sie könnten sich langsam mal an mich gewöhnen.“ Ihre Eltern waren wirklich alles andere als angenehme Zeitgenossen.

„Wir kleben wir Kletten einander seit meinem dreizehnten Lebensjahr“, bemerkte sie so beiläufig wie möglich. „Und fühlst du dich von mir eingeengt oder bedrängt, wie sie immer so schön sage

„Du zwingst mich die Stadt zu verlassen.“

„Touché“

Mit einem Lächeln sah sie wieder zu Straße, und kaum war es kurzzeitig still gewesen, begann sie wieder zu trommeln, vollkommen fern jeglichen Rhythmus und Taktgefühl. Unglaublich, wie man sich so der Musik entziehen konnte. „Vielleicht lasse ich dich doch hier“, versuchte ich ihr Getrommel zu übertönen, was sie allerdings dazu veranlasste noch etwas heftiger zu trommeln. Ich beugte mich etwas weiter nach vorne, diese Nacht schien irgendwie noch dunkler als jede andere zu sein. Fast schien es so, als würden nicht mal die Sterne am Himmel zu erkennen sein. Ein dichter Nebel zog sich nun über die Fahrbahn, umhüllte alles und jeden, ausgerechnet dort, wo es kurvig wurde und die Straße in einer Art Wald einmündete. „Fahr nicht so weit rechts, ich habe das Gefühl, das der Abhang etwas zu nahe kommt“, kam es von ihr, aber natürlich hörte sie trotzdem nicht auf zu trommeln. „Vielleicht täte er das nicht, wenn du weniger getrunken hättest.“ Plötzlich wurde ihre blasse Haut vom Dekolleté aufwärts bis zu ihren Haarspitzen knallrot. Sie war nicht der Typ Mädchen, der oft trank. Außerdem sah man ihr ziemlich schnell an, wenn sie denn dann betrunken war. Mir persönlich machte das nichts aus. Es gab kaum ein Wochenende, an dem ich nicht feiern war. Vermutlich eine Eigenschaft, die ihre Eltern besonders an mir mochten. Der betrunkene Idiot, der ihre Tochter anhimmelte, seitdem er sie kannte und sie nun aus diesem wunderschönen Paradies entführen wollte, das klang nicht gerade nach einem Traumprinzen. Nicht nach dem, was sich ihre Eltern für sie gewünscht hatten. Sie war in einem soliden Elternhaus aufgewachsen, mit Tanzstunden und Kunst, mit sonntäglichen Ausflügen zu Museen oder ins Theater. Ihr Plan war es, aus ihr eine gescheite junge Dame zu machen, die erst einen der besten Abschlüsse erreichte, um dann Ärztin oder Anwältin werden zu können. Während ihrem Studium sollte sie jemanden kennen lernen, der sie ein Leben lang versorgen konnte, der ihr Kinder schenkte und ein sicheres Leben, bis sie alt und grau werden würde. Seitdem sie dreizehn Jahre alt war, war ich in sie verliebt und wie ein Schatten ständig bei ihr. Ich nahm sie mit zu Fußball spielen und sie half mir in Mathe. Von Freunden lieh ich mir Horrorfilme, damit wir sie zusammen schauen konnten, sie erklärte mir Gedichte. Ich nahm sie mit auf Partys, sie stritt mit ihren Eltern. Es war keine Seltenheit gewesen, dass ihre Eltern mir den Umgang mit ihr verboten hatten. Doch was sollte uns in den jungen Jahren auch passieren? Egal, was für einen Lebensstil wir führten, die Medizin war derweil so weit, dass uns nichts mehr umbringen konnte. Das letzte Mal als ein Mensch vor seinem neunzigsten Geburtstag starb, war über fünfzig Jahre her. Doch plötzlich entglitt ihnen ihre einzige Tochter, für die sie doch ein ganz anderes Leben bestimmt hatten. Doch von dem Tag an, an dem ich sie das erste Mal gesehen hatte, da wusste ich, ich würde sie nie wieder von meiner Seite weichen lassen. Denn egal, was ein anderer Mann für sie tun würde, was er ihr geben würde, ich wusste, dass ich sie für immer bis an ihr Lebensende lieben würde. Und es sollte nichts geben, was das ändern konnte.

„Ist schon ok, dafür hole ich dich ja auch ab“, versuchte ihr ich die Scham zu nehmen. Ihre zarte, kleine Hand legte sie auf meinen Oberschenkel. Verlegen lächelte sie mich von der Seite an. Auch ich musste lächeln, sah kurz rüber, bemerkte dann, dass ich kurzzeitig zu viel nach rechts zog, mit einem ruckartigen Schlenker, fuhr ich wieder zur Straßenmitte. Sie erschrak kurz. „So wird das nichts mit der Reise.“

„Naja, immerhin hast du nun wieder deine Hände bei dir“, neckte ich sie. „Meine Mutter hatte Recht, ein Künstler wie du es bist, wird sich immer für etwas besseres halten“, versuchte sie zu kontern, ihre Hand aber wich nicht mehr von meinem Oberschenkel. „Singst du es noch mal für mich?“, bat sie mich, dabei sah sie mich mit ihren unschuldigen Augen an, obwohl ich sie nur aus dem Augenwinkel betrachten konnte, milderte das ihre Wirkung auf mich jedoch kein Stück. „Wenn du nicht mit singst“, bat ich sie im Gegenzug dafür, und musste dafür einen Faustschlag auf meine Schulter in Kauf nehmen. Mit meiner freien Hand, nahm ich ihre, faltete sie auseinander, sodass sie gerade auf meinem Oberschenkel klatschen konnte, und versuchte sie dann so zu heben und zu senken, dass sie im Takt dazu klatschen würde.
 

„And when you feel no saving grace

I'm on my way, I'm on my way

And when you're bound to second place

I'm on my way, I'm on my way

So don't believe it's all in vain

'Cause I'm on my way, I'm on my way

And the light at the end is worth the pain

Cause I'm on my way, I'm on my way“
 

Ich konnte im Augenwinkel sehen, wie sie ihre Augen schloss und wie versprochen nicht mitsang. Ihre kleinen Lippen bewegten sich aber trotzdem mit. In diesem Augenblick schien alles so perfekt. Es hätte mich nicht einmal gestört, wenn sie doch mit gesungen hätte. Ich räusperte mich und in diesem Augenblick, schrie sie auf, ein Entsetzen im Gesicht, das all meine Alarmglocken zum Klingeln brachte. Sofort wandte ich den Blick von ihr ab und sah meinen Fehler.

Die Scheinwerfer des entgegenkommenden Autos waren viel zu hell, als das ich noch etwas hätte sehen können. Panisch riss ich das Steuer zur anderen Seite, um den Fahrzeug noch entgehen zu können, doch es rammte uns mit voller Wucht, genau auf der Seite, auf der sie saß. Sie schrie, doch es brach schnell ab, als der Knall der zwei aufeinander krachenden Fahrzeuge ertönte. Sie ging darin einfach unter. Ich spürte ihre Hand an meinem Oberschenkel zuerst kneifen, dann spürte ich nichts mehr. In meinem Kopf spielte sich gar nichts ab. Niemand über nahm die Kontrolle. Nichts. Gähnende Leere. Es fühlte sich eher so an, als würde ich auf der Rückbank sitzen und mir selbst beim Fahren zu sehen. Ich tat verschiedene Dinge, Schalten, Kuppeln, Bremsen, Lenken. Vergebens.
 

Es dauerte keine Sekunde, da krachten wir durch die Bande und fuhren mit dem Auto den Abhang herunter. Alles krachte und wackelte, meine Hände hielten eisern das Lenkrad fest. Generell schien ich der festen Überzeugung zu sein, dass ich dieses Fahrzeug wieder zurück auf die Straße bringen würde. Das Licht des Wagens war schon lange aus, wir waren in tiefer Dunkelheit gehüllt. Bevor ich noch irgendetwas tun konnte, knallte es ein weiteres Mal. Mit einem großen Ruck wurden unsere Körper nach vorne geschleudert. Der Anschnallgurt schnitt in meinen Oberkörper, drückte mir jegliche Luft zum Atmen aus den Lungen. Ich glaubte, nie wieder ein atmen zu können. Es war mein letzter Gedanke, dann muss ich das Bewusstsein verloren haben.

Das Hupen war unerträglich. Selbst nach meinen schlimmsten Partynächten hatte ich noch nie solche Kopfschmerzen verspürt. Ich stöhnte schmerzlich auf, alles an meinem Körper brannte.

Bei jeder kleinsten Bewegung schoss ein Schmerz durch meinen Körper, der sich ausbreitete wie Flüssigkeit aus einem umgefallenen Gefäß. Ich spürte wie sich meine Haut spannte, trotz des Schmerzes fuhr ich mit meiner Hand zum Kopf, Blut. Blut? Ich öffnete die Augen, eine Übelkeit übermahnte mich, ich musste würgen. Doch nichts weiter geschah. Plötzlich war es nicht mehr Schmerz, der durch meine Adern schoss, sondern Adrenalin. Sofort drehte ich mich zu ihr rüber, völlig verdrängend, dass mein Körper am liebsten explodieren würde vor Schmerzen. „Hey.. hey wach auf“, bat ich sie. Ich strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Blut floss an ihrer Wange entlang, aus ihrer Nase, ihre Lippe schien komplett aufgebissen zu sein. Ihre weiße Haut bildete einen harten Kontrast zu dem Weinrot, welches sich über ihren Körper erstreckte. Das weiße Oberteil war ebenfalls vollgesogen damit. Mir stockte der Atem und aus körperlichem Schmerz wurde nackte Panik. Ich versuchte mich ab zu schnallen, aber es klemmte. Wie immer. Ich muss nach Hilfe geschrien haben, denn mir brannte wenig später schon der Mund, alles war trocken, schmeckte nach Eisen und Metall. „Wach auf“, flehte ich sie an, ich beugte mich rüber zu ihr, doch ihr Körper hing schlaff und schwer auf dem Armaturenbrett, zusammengesackt. Ich nahm ihre kalte, kleine Hand in meine nun viel zu großen Hände. Drückte sie einmal fest, ich hatte das Gefühl sie würde es erwidern und seufzte. Wenige Minuten später sah ich die Sanitäter nach unten laufen in ihrer weißen Kleidung, mit Taschenlampen leuchteten sie nach unten, und ich schrie aus Leibeskraft, dass sie mich hören würden. In meiner Vorstellung liefen sie an uns vorbei, oder brauchten zu lange, um uns zu finden. Noch nie in meinem Leben hatte ich an so vieles gleichzeitig denken können und immer wieder war da dieser eine Gedanke:

Alles wird gut. Vorsichtig zog man mich aus dem Wrack, ich hörte sie verschiedenes zurufen, und mich dazwischen immer wieder: „Es wird alles gut, Kirsten. Hörst du mich, sie sind da, alles wird gut“ Obwohl ich meine Stimme hörte, erschien es mir als hätte jemand anderes das Kommando über meinen Körper und Geist ergriffen. Die Sanitäter hoben mich auf eine Liege, genauso wie sie es auch mit Kirsten taten. Doch dann… „Was.. nein...NEIN…NEIN“, schrie ich, doch die beiden Männer hielten mich fest, damit ich nicht von der Liege sprang, sogleich musste ich allerdings feststellen, dass mein Körper dazu auch gar nicht in der Lage schien, obwohl ich unbedingt wollte, musste. Die Liege auf der Kirsten lag, überzogen sie mit einer Plane, als… als könnte man ihr nicht mehr helfen. Auch wenn ich mich nicht mehr bewegen konnte, rief ich wirres Zeugs. Ich sah wie einer der beiden Sanitäter bei ihr den Kopf schüttelte und an einem Reißverschluss zog, er zog ihn bis über ihren Kopf hinweg zu. Doch bevor ich noch etwas sagen konnte, spürte ich, wie ich plötzlich gegen meinen Willen müde wurde. Meine Beine und Arme wurden schwer und meine Atmung langsamer. In meinen Fingerspitzen kribbelte es und dann vernahm ich nur noch eine sanfte Stimme, die mir ins Ohr flüsterte:

„Alles wird gut.“

Noch bevor ich willenslos meine Augen schloss, sah ich einen Stern am dunklen Himmel aufblitzen. Ich fragte mich, ob es immer noch diese Nacht war.

Kapitel 3

Erinnerung

Es muss irgendwann mit sechzehn gewesen sein, als er Kirsten, dass erste Mal diesen besonderen Ort zeigte. Es gab außer ihm und ihr später niemanden mehr, den er zu diesem Ort brachte. Heute um zwei? schrieb der junge Mann auf den Zettel und warf ihn durch den halben Klassenraum. Sie hatten gerade die anregende Diskussion, ob es ein Leben nach dem Tod geben würde oder nicht. Aiden hielt sich bei so was meistens zurück. Wieso musste er jetzt an den Tod denken, wenn die neunzig noch weit entfernt lag? Und überhaupt irgendwann würde es niemanden mehr geben müssen, der sterben würde. Immerhin gab es schon heute die Garantie, dass jeder hier mindestens neunzig Jahre alt werden würde, Ende offen. Die Medizin war schon so weit, dass Krebs, Seuchen, Vieren und Bakterien schon lange kein Thema mehr waren. Obwohl hier und dort Mal ein Haus brannte, oder aber ein Unfall geschah, kamen die meisten direkt in das örtliche Universitätskrankenhaus, heilten dort vollständig und kehrten meistens zurück. Einige brauchten eine längere Erholung und wurden an ‚bessere Orte‘ gebracht, wo sie besser genesen konnten. Sein Großvater zum Beispiel schrieb ihm einmal im Monat, wie es ihm ging und was er gerade tat. Er war irgendwo an einem Meer, wo er seit einem heftigen Sturz lebte. Ruhe und Entspannung war fortan die Devise gewesen und die schien er nur dort zu bekommen. Aidens Gedanken rissen ab, stattdessen widmete er sich dem weißen Blatt vor seinen Fingern. Sorgfältig faltete er es auf. Geht nicht, ich habe Klavierstunden, hatte Kirsten geantwortet, woraufhin er nur den Kopfschüttelte, anschließend antwortete er: Du vergeudest deine Zeit. Hab dir vor nem Jahr schon gesagt, du kannst nicht spielen. Er schnipste den Zettel wieder rüber zu ihr. Am liebsten hätte er den ganzen Tag mit ihr geschrieben. Das interessierte ihn alles viel mehr, als dieses Gerede über den Tod und über das Leben. Gerade in dem Augenblick, wie Kirsten die Nachricht zu Ende gelesen hatte, schaute Aiden zu ihr herüber und sah, wie sie ihm die Zunge raus streckte. Natürlich, für den Mittelfinger war sie einfach zu gut erzogen. Aiden lächelte darauf hin nur und zuckte unschuldig die Achseln. Als hätte er Schuld daran, dass sie kein Talent war, auch wenn ihre Eltern es gerne so hätten. Überhaupt schienen sie viel zu viel von ihr zu wollen. Flehend sah er zu ihr herüber, faltete seine Hände und formte seine Lippen immer wieder zu dem Wort Bitte, bis sie schließlich genervt die Augen verdrehte, um dann letzten Endes doch zu nicken. Triumphierend ließ er sich in seinem Stuhl zurück fallen. „So Aiden, wie ist denn deine Meinung zum Tod?“, fragte seine Lehrerin etwas spitz. Natürlich hatte sie mit bekommen, dass er nicht am annährend Interesse am Unterricht zeigte, sondern sich lieber mit anderen Dingen beschäftigte. „Sie lautet, dass ich noch viel zu jung dafür bin, um mich mit so etwas zu befassen.“ „Was macht dich da so sicher?“ „Na haben sie schon mal jemanden gekannt, der früh starb?“ Zuerst schien die Lehrerin zu überlegen, ob sie was sagen wollte, öffnete den Mund, schloss ihn dann aber rasch wieder. Wenn es eins gab, was hier nicht geduldet wurde, dann war es Gerüchte in die Welt zu streuen. Jeder wurde hier so erzogen, dass er nur die Wahrheit sagte, sonst sollte man lieber Schweigen. Auch wenn sie hier alle ein gutes Leben führten, so mussten sie sich doch an einiges halten. Die Regierung meinte es gut mit ihnen. Ein bisschen Vertrauen musste man ihr dafür schon entgegen bringen. Doch anstatt, dass sie das Thema nun sein ließ, entschied sie sich doch für eine Antwort: „Ich glaube, Übermut hat schon so einige Opfer gefordert. Man sollte vielleicht manche Dinge auch Mal hinterfragen.“ Doch damit ließ sie es gut sein. Die restlichen Stunden meldete sich Aiden nur noch zwischen durch. Er war jemand, der gerne coole Sprüche loswurde, anstatt sich ernsthaft zu beteiligen, seine Noten waren nicht die schlechtesten, doch immer wieder bekam er gesagt, dass aus ihm mehr raus zu holen sei. Aiden wusste nur nicht genau, wozu das gut sein sollte. Hier bekam jeder einen Job von der Regierung vorgeschrieben. Ob man ihn nun annehmen wollte oder nicht. Die Schulnoten machten dabei nur einen geringen Teil aus. Nach seinem ersten Abschluss, musste man noch einmal eine Prüfung absolvieren, die schon etwas spezifischer wurde. Es folgte noch ein Gespräch mit jemanden von der Regierung, der dann entschied in welche Richtung es gehen sollte. Natürlich durften Wünsche geäußert werden, aber Aiden glaubte nicht, dass sie immer Berücksichtigt wurden. Die Idee dahinter war wohl, dass man auch wirklich das tat, in dem man gut war und sich dem Stress der Sucherei ersparte. Außerdem konnte so auch immer koordiniert werden, dass jeder wirklich Arbeit hatte. Zudem sollte so vermieden werden, dass jemand unglücklich in seinen Job wurde, weil die Regierung immer die richtige Wahl traf. Was Aiden später einmal machen wollte, konnte er mit sechzehn noch nicht sagen. Für ihn gab es zu diesem Zeitpunkt nur zwei Wünsche: Nach seinem Abschluss die Welt zu um reisen und Kirsten dabei zu haben.

„Wenn meine Eltern das heraus bekommen, bringen sie dich um“, ertönte ihre zarte Stimme. Aiden hielt ihr die Hand hin, um ihr den Berg hinauf zu helfen. Noch waren sie umgeben von Bäumen und Sträuchern und kämpften sich gerade einen Weg den Abhang hinauf. Das dichte Blätterdach sorgte dafür, dass sie der Hitze etwas entkamen, und ihre Haut nicht verbrannte. Was bei Kirstens heller Haut sowieso immer nur eine Frage der Zeit war. Vermutlich würde sie schon hier im Schatten schneller rot werden, als ihr lieb war. Hilfsbereit wie Aiden war, hielt er die Äste immer so weit nach vorne, dass Kirsten ungehindert weiter geradeaus gehen konnte. „Ich glaube gegen deine Eltern hat die Medizin bereits auch was gefunden“, antwortete er und ging dann weiter voraus. Es dauerte einige Minuten, bis sie endlich oben ankamen und je mehr sie dem Ende entgegen kamen, desto weniger waren sie umzingelt von Sträuchern und Ästen, die ihnen den Weg versperrten. Aidens Beine hatten kleine Schürfwunden, weil er eine kurze Hose trug und einfach immer stur geradeaus gegangen war, egal ob dort nun ein Strauch mit Dornen gewesen war oder nicht. Kirsten hatte lediglich ein paar kleine Kratzer auf ihrer Haut, aus denen einen paar kleine rote Tropfen ab perlten, aufgrund ihrer Sommersprossen auf der Haut aber gar nicht weiter auffielen. Was Kirsten dann allerdings sah, ließ sie die Luft anhalten. Sie umfasste Aidens Arm, der angespannt war. Unter seiner warmen Haut, spürte sie seine wohl definierten Muskeln. Doch auch diese konnten sie diesmal nicht aus der Ruhe bringen. „Mein Gott“, hauchte sie und musste hoch zu Aiden sehen, der sie mit einem selbstsicheren Lächeln zu ihr herunter sah. „Dafür lohnt es sich allemal zu sterben“, gab er zurück, ohne den Blick von ihr ab zu wenden. Vor ihnen ging es ein Stück weiter Berg ab, in eine Art Tal. In mitten diesem erstreckte sich ein langer See, welcher durch die Sonnenstrahlen glitzerte, als sei er mit Diamanten besetzt. Ein kleiner modriger Steg führte hinein und alle paar Meter hingen lange Äste von Bäumen, genauer von Trauerweiden, im Wasser. Es kam selten vor, dass sie so weit in die Natur vordrangen. Eigentlich kam es so gut wie nie vor, denn es war verboten. Wenn ihnen etwas passieren würde, man würde sie hier draußen nicht finden können. Ein langes Leben brauchte eben einige Sicherheitsvorkehrungen. Einen See zum Schwimmen gab es in ihrer Stadt nicht. Es reichte ein Schwimmbad. An den Straßenrändern und in den Vorgärten befanden sich jeweils Bäume und manchmal machten sie einen Ausflug, wo sie dann einen Park besuchten. „Wie hast du diesen See nur gefunden?“, fragte sie und lief bereits während sie anfing zu sprechen den kleinen Berg herunter. Ihre blonden Haare wehten im Wind, und durch die Sonne stach der rötliche Schimmer besonders hindurch. Als sie sich während sie rannte, zu ihm umdrehte, funkelten ihre blauen Augen mindestens genauso hell wie der See hinter ihr. Keine Sekunde zögernd lief er mit ihr runter und hatte sie binnen weniger Sekunden auch schon eingeholt. Für Aiden war es eine Leichtigkeit gewesen. Immerhin betrieb er regelmäßig Schulsport und auch hier konnte er sich ungehindert austoben. „Was hast du vor?“, fragte er sie, während sie immer schneller wurde. Doch nur ein Lächeln brachte sie über ihre Lippen. Aiden sah verwirrt aus. „Kirsten“, fragte er ungeduldig, schon etwas lauter. Doch es brachte nichts. Denn schon wenige Sekunden später setzte ihr Fuß auf dem Steg auf, er wollte nach ihr greifen, verfehlte sie doch. Bevor sie in das Wasser sprang, hörte sie noch ihren Namen. Dann tauchte sie vollends in das kühle Wasser. Sie spürte, wie es sie umgab, ihren Körper einhüllte. Es war genau die richtige Erfrischung, die sie gebraucht hatte. Ihre Augen öffnete sie noch unter Wasser und stellte fest wie klar das Wasser war. Nach ein zwei Zügen mit den Armen, tauchte sie wieder auf, nahm einen kräftigen Atemzug und blinzelte ein paar Mal, damit sich ihre Augen wieder an die helle Sonne gewöhnen konnten. Um sie herum war alles still, einzig und allein Vögel waren zu hören. Von Aiden fehlte jede Spur. Mit ihren Füßen und Armen hielt sie sich über Wasser, drehte sich einmal, ehe sie seinen Namen rief. Sein Shirt lag am Steg, etwas zerrissen, aber das könnten auch die Sträucher schuld gewesen sein. Kirsten wurde leicht panisch. Etwas streifte sich. Sie schwamm zum Steg, rief wieder seinen Namen. Dann umfasste etwas ihre Füße, zog sie leicht nach unten. Ihr Herz schlug schneller und plötzlich fragte sie sich, wie ernst es Aiden gerade gemeint hatte, als er sagte, dafür lohne es sich zu sterben. Doch noch bevor sie den Steg erreich hatte, tauchte er vor ihr auf. Mit einem Grinsen, das sie ihm am liebsten zerkratzt hätte. Seine blau grauen Augen strahlten sie an. Mit einer Hand fuhr er sich durch sein blondes, etwas längeres Haar. Über sein Gesicht perlten die einzelnen Tropfen ab, liefen am Rand seiner Wange hinunter zu seinen Lippen und Kinn… Kirsten hielt ihre Hände an seinen Schultern fest, sofort umfasste er ihre Hüften und stellte wieder mal fest, wie schmal sie doch im Gegensatz ihm war. Doch bevor ihm noch ein anderer Gedanke in den Sinn kam, stützte sie sich schon an seinen Schultern ab, schnellte nach oben und küsste ihn. Aiden legte seine Hand in ihren Nacken, zog sie enger an sich, spürte ihre Füße an seinem Körper, wie sie sich hin und her bewegten, nur damit sie nicht unterging. Zaghaft lösten sie sich voneinander. Aiden strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Woher kennst du diesen Ort?“, hauchte sie gegen seine Wange, küsste sie immer wieder. Dabei perlte das Wasser in ihren Mund, was angenehm erfrischend war. „Mein Großvater zeigte ihn mir vor seinem Sturz. Er sagte, wenn wir nicht gut genug hinsehen, entgeht uns zu viel, für das es sich zum Leben lohnt.“
 

Ich glaube seit diesem Tag wollte ich je denn mehr weg von hier. Irgendwo hin, wo man mir nicht vor schrieb, wann ich Zuhause sein sollte oder aber wo ich hin gehen würde. Was ich alles sehen durfte. Es passte mir nicht, dass so schöne Orte für uns verborgen blieben. Erst Recht passte es mir seitdem nicht mehr, als ich Kirstens Gesicht gesehen hatte. Ihre Augen waren so am Strahlen gewesen, das Lächeln hatte gar nicht mehr verschwinden wollen. Ihr feuchtes Haar hatte ihr im Gesicht geklebt, das Wasser war von ihrer hellen Haut abgeperlt, an diesem Tag war sie mir unendlich nah gewesen. Mein Herz verkrampfte sich bei dieser Erinnerung. Kirsten war Tod. Sie hatte den Autounfall nicht überlebt. Immer wieder träumte ich davon, wie die Männer den Reißverschluss zu zogen, sodass man ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Manchmal träumte ich auch, dass sie doch noch am Leben war, und unter dieser Plane keine Luft mehr bekam. Als hätte man ihr eine Plastiktüte aufgesetzt, die sich bei jedem Atemzug mehr an die Haut zog, bis man erstickte. Keiner dieser Träume war angenehm, nicht mal wenn sie im Frieden starb, denn immer wieder musste ich ihr totes Gesicht sehen. Sie war blasser als je zuvor, aus ihren Augen war jegliches Leben gewichen, ihr Gesicht wirkte fahl und Ausdruckslos. Als hätte sie in ihrem Leben noch nie gelacht. Der erste Tag nach ihrem Tod war der schlimmste. Hatte ich mich am Unfallort doch unter Kontrolle gehabt, schien ich plötzlich vor Schmerz durch zu drehen. Zwar hatte ich im Auto schon registriert, dass irgendetwas nicht stimmte, so schien mich aber etwas gesteuert zu haben. Mein Bewusstsein war einfach in den Hintergrund gerückt worden, ohne dass ich mich hätte wehren können. Der Schmerz war nur zweitrangig gewesen. Wahrscheinlich hat mein Körper einfach nur überleben wollen und deswegen das Ruder an sich gerissen. Ich fragte mich nur, wieso er Gott verdammt nicht auch ihr Leben hatte retten können? Obwohl ich nicht allzu starke Verletzungen davon getragen hatte, wurden mir doch jede Menge Beruhigungsmittel gespritzt. Was nicht zuletzt daran lag, dass ich immer wieder versuchte auf zu stehen. Ich wollte von jemandem wissen, was nun mit Kirsten passiert war. In meinem Kopf schwirrte einfach zu viel herum. Auf der einen Seite wusste ich, dass sie nicht tot sein konnte, immerhin starb hier niemand. Es war schon ewig her, dass jemand in ihrem alter gestorben war. Sie war jung, sie war stark, die Medizin hatte bisher jeden gerettet. Wieso nicht auch sie? Doch dieser lebloser Blick, diese eisige Leere, das Kopfschütteln der Männer, ich spürte es tief in mir drin, sie konnte es nicht geschafft haben. Nicht zum ersten Mal kamen mir Zweifel an der Regierung, wohl aber an dem Versprechen alt werden zu können. Aber niemand gab mir Auskunft. Nicht einmal meine Eltern besuchten mich. Oder ich war einfach zu müde gewesen, und hatte sie somit nie bemerkt. Die Beruhigungsmittel waren so stark, dass sie sogar meinen Schmerz verhinderten, obwohl ich unbedingt trauern wollte. Doch ich war zu schwach. Ich schlief tagelang und gab mich Erinnerungen hin, die ich mir wieder hervor rief, um sie niemals zu vergessen. Auch wenn ich betäubt war, mein ganzer Körper war angespannt vor Panik, auch nur ein Detail vergessen zu können. Ich glaube, es war der dritte Tag, an dem ich weniger versuchte zu reden, und einfach warten würde, bis man mich zu Kirsten gehen lassen würde. Ein Teil hoffte immer noch, dass sie es überlebt hatte. Wenn ich nur etwas guten Willen zeigen würde, und nicht komplett ausrasten würde, vielleicht würde man dann mit der Dosis runter gehen. An diesem Tag besuchten mich auch meine Eltern, vielleicht zum ersten Mal. Sie sahen ganz schön gealtert aus. Meine Mom hatte ihr blondes dickes Haar zu einem Zopf zurück geknotet, aber vereinzelt fielen ihr graue Strähnchen heraus. Wie immer trug sie neben meinem Vater eher hellere Farben. Sie stand neben dem Bett in einem gelben Sommerkleid, welches deutlich zeigte, dass sie wieder etwas abgenommen hatte. Das erinnerte mich an ein Bild aus frühster Kindheit, welches ich schnell verdrängte. „Geht es dir gut Mom?“, fragte ich direkt, und hörte wie kratzig sich meine Stimme anhörte. In den letzten Tagen hatte ich nur das Personal angeschrien und nach einer Antwort verlangt. Zum ersten Mal hörte ich in meiner Stimme einen unsicheren, zittrigen Ton mit schwingen, der so gar nicht zu mir passte. Meine Mom rang sich ein Lächeln ab, ihr quälendes Gesicht brachte mich fast um. „Das fragst du mich, wo du doch hier liegst?“, flüsterte sie. Ich konnte sie nicht ansehen. Mein Vater blieb stumm. Er war kein Mann der vielen Worte. Irgendetwas schien ihn verändert zu haben, aber ich wusste nicht was. Oft war er sehr abwesend, er schien sich nicht mehr richtig zu freuen, er schien nur noch wie eine leere Hülle, die morgens zur Arbeit ging, abends wieder kam und zwischen durch mal etwas sagte. Früher war das einmal anders gewesen. Ich kann mich dran erinnern, dass wir oft mit Großvater unterwegs waren, er hat mir auch viele Orte gezeigt, allerdings alle, die erlaubt waren. Vielleicht kam er nur nicht damit zurecht, dass sein eigener Vater nicht mehr bei ihm sein konnte. Müde fuhr ich mir dem den Händen durch das Gesicht. Kaum zu glauben, dass man nach zehn Stunden Schlaf immer noch so etwas wie Müdigkeit empfingen konnte. „Dein Vater und ich haben uns große Sorgen gemacht“, erklärte mir meine Mutter, worüber ich nur den Kopf schütteln konnte. Auf so eine Diskussion hatte ich nun gerade wirklich keine Lust. „Wir haben…wir haben“, stotterte sie und ich konnte schon die dicken Tränen in ihren sonst so hellen grünen Augen sehen. Jetzt wirkten sie eher trüb. Ihre Haut schien Aschfahl zu sein, überhaupt unter ihren Augen zierten sich dicke Augenränder, die sie noch älter wirken ließen, zudem wirkten ihre Augen rot, als wäre es nicht das erste Mal, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte manchmal wirklich ziemlich emotional sein. Mein Vater musste sich beherrschen nicht die Augen zu verdrehen, das sah ich ihm an. Ich fragte mich, ob nur sie sich die Sorgen gemacht hatte? „Du siehst doch ich liege hier und alles ist gut“, kam es von mir leicht her, als würde ich jeden zweiten Tag irgendetwas ab gedrehtes über leben. „Und genau das ist es Aiden!“, ertönte die barsche Stimme meines Vaters. Sein Tonfall ließ mich zusammen fahren. Er hörte sich kühl an, noch kühler als sonst und in seiner Stimme schwang eine Stimme mit, die mich fast aufsitzen ließ. „Du bist einfach viel zu fahrlässig. Nie, wirklich nie machst du dir auch einmal Gedanken was passieren könnte!“, er schrie fast. Unter Schmerzen versuchte ich mich auf zu setzen, um wenigstens etwas in Augenhöhe zu sein. „Was soll das denn heißen, du siehst doch, dass es mir gut geht!“, ich versuchte ebenfalls hart zu klingen, musste mich aber räuspern. „Siehst du, alles ist gut, ich bin zwischen durch etwas blau, und mir tun die Rippen weh aber mir fehlt nichts. Wieso musst du immer, wenn du was sagst, ausgerechnet damit anfangen?!“ „Weil-“ „Weil WAS?“, diesmal schrie ich wirklich. Ich spürte wie mein Gesicht leicht rot wurde, was es sonst eigentlich nie tat. Ich spürte wie Adrenalin durch die Adern floss, wie in meinem Bauch sich die Wut anbahnte, wie eine Wolke bei einem Gewitter. Dann plötzlich schien ich zu wissen was er meinte. Ich ließ mich zusammen sacken, erst konnte ich gar nichts sagen, doch dann, dann wurde mir bewusst, wieso er so reagierte. Er meinte nicht mich. In seinen Augen sah ich, wie verletzt er war. Normalerweise sah ich aus wie mein Vater. An dem Tag aber nicht. Seine Wangen wirkten eingefallen, als hätte er viel Gewicht verloren. Seine Augen wirkten müde, und mindestens genauso rot wie die meiner Mutter. Das blonde dichte Haar, begann an den Schläfen langsam grau zu werden. Als hätten sie sich spontan heute Nacht dazu entschieden, so kam es mir jedenfalls vor. Sein sonst so kantiges Gesicht, zeigte keinerlei Stärke im Ausdruck, sondern eher einen wehmütigen Blick. Auch seine Statur ließ zu wünschen übrig. Wir beide waren kräftig und muskulös, die Schultern immer straff, der Rücken immer gerade. Seine Schultern hingen tief durch, an Muskeln schien er abgebaut zu haben. War sein Zustand die letzten Wochen auch schon so gewesen oder ließ die Tatsache, dass er in einem Krankenhaus stand, ihn erst so alt wirken? So kränklich? Wie gesagt normalerweise glich ich sonst immer meinem Vater, damals fühlte ich mich wie adoptiert. „Ist… Dad was ist mit Kirsten?“, fragte ich sofort, als mir klar wurde, worauf er hinaus wollte. Ich schnellte hoch, ignorierte diesmal gänzlich den Schmerz in meinen Armen und Beinen, in meinem Kopf, in meinen Knochen, denn es zählte gerade einfach nur der eine in meiner Brust, der mich nahezu zerbersten ließ. Gerade als mein Vater etwas sagen wollte, hielt meine Mutter ihm die Hand hin und dann kam auch schon der Arzt herein gestürmt. „Mr. Parker wie ich sehe sind sie wieder wach“, kam es ganz sachlich über seine Lippen. Genauso gut hätte er mich auch über das Wetter oder Golfen aufklären können. „Sie sind der Arzt, sie müssen es ja am besten wissen, und jetzt sagt mir endlich mal jemand, was mit meiner Freundin los ist?“ „Wir müssen ihren Sohn jetzt leider erst einmal untersuchen“, kam es ganz ungerührt vom Arzt. Er sah meinen Vater an, der dann zu mir blickte. Sein Blick hielt meinen nicht lange stand. „Dad“, wiederholte ich eindringlich, doch er sah mich nur verzeihend an, oder flehentlich? Ich weiß es nicht mehr, heute könnte ich darin keinen Unterschied mehr erkennen. Zusammen mit meiner Mutter verließ er das Zimmer. Dafür wurde der Raum mit zwei anderen Ärzten gefüllt, die Spritzen aufzogen, und ein bisschen an meinen Geräten herum fummelten, die um mein Bett herum standen. Ich fühlte mich ein wenig verarscht. Auf der einen Seite taten sie ziemlich beschäftigt, auf der anderen schien ich ihnen mehr als egal zu sein. „Würden sie mir jetzt gefälligst antworten?“ Ich war mit so viel Zorn und Wut gefüllt, dass ich schon aus dem Bett gehen wollte, doch auch da wurde ich zurück gehalten. Die beiden Männer, die kaum älter waren als ich, drückten meine Schultern wieder runter in das Bett. Es wurde mir unmöglich gemacht auf zu stehen. Meine Hände ballte ich zu Fäusten, natürlich wehrte ich mich weiter, doch durch den heftigen Ruck, der mich tiefer ins Bett zog wurde ich gedrosselt. Der Schmerz fuhr mir durch Mark und Bein, ich glaubte fast ohnmächtig zu werden. Im selben Augenblick versuchte ich mir ihre Gesichter ein zu prägen, um mich revanchieren zu können. Dabei wusste ich nicht einmal selbst, was ich getan hätte, wenn ich aufgestanden wäre. Laut den Eltern von Kirsten war ich nicht gut erzogen, doch bisher hatte ich nur eine einzige Schlägerei in einem Leben gehabt und die war nicht mit einem Arzt gewesen. Hätte ich wirklich jemanden angegriffen, nur um eine Antwort zu bekommen? Damals vermutlich nicht. Heute wäre ich mir da nicht mehr so sicher. Der Mann, welcher als erstes herein gekommen war, war mir von Anfang an unsympathisch. Sein Gesicht war lang und schmal und wurde von einer harken Nase geziert, das ließ ihn irgendwie einem Geier ähneln. Seine Haare waren dunkel blond, vermutlich waren sie früher einmal wesentlich heller gewesen. So wie es bei meinem Vater auch der Fall gewesen war und auch meine würden irgendwann dunkler werden. In seinen Augen lag etwas Kaltes, Undurchdringliches. In diesem Augenblick war es mir egal, es musste ja nicht jeder so ein offenes Buch wie meine Eltern sein. Was interessierte es mich, was er dachte oder wer er war. Ich würde bald hier raus sein und das hoffentlich noch mit einer Antwort. Es gab für mich wohl nichts schlimmeres, als das man mich warten ließ. Vor allem bei so wichtigen Angelegenheiten. Ich weiß bis heute nicht die Bedeutung des Wortes Geduld. Der Arzt, der sich mir nicht einmal vorgestellt hatte, machte eine Spritze fertig. Als er die goldene Flüssigkeit aufgezogen hatte, tippte er mit seinem Finger gegen die Spitze, ein zwei Tropfen perlten ab. „Brauchen sie mein Gesäß dafür“, fragte ich noch guter Dinge, einer musste hier ja die Stimmung auflockern und wenn sonst niemand sprach. Die beiden Kerle hinter mir hatten nicht das Bedürfnis mit mir zu reden. Doch auch auf diese Aussage erhielt ich keine Antwort. In was für einem Krankenhaus war ich nur gelandet? Wenn ich nicht gewusst hätte, dass dieses Krankenhaus von allen lebend verlassen wurde, wäre ich in diesem Augenblick wirklich skeptisch geworden. Mit einem eigenartigen Grinsen wandte er sich nun zu mir und schien mich zum ersten Mal richtig wahr zu nehmen. Plötzlich wusste ich nicht, ob mir diese Tatsache besser gefiel. Am liebsten hätte ich nach meinen Eltern geschrien, denn irgendetwas sagte mir nun, dass das hier nicht normal war, und es war nicht seine über aus große Nase, die mich zu diesem Denken veranlasste. Es war viel mehr jener Satz: „Aiden, nach dieser Spritze wirst du dir diese Frage nicht mehr stellen.“ Ich weiß noch, dass ich mich fürchterlich gewehrt habe, allerdings waren die beiden Männer hinter mir einfach besser in Form als. Der Arzt kam auf mich zu, und ohne dass ich auch nur die Chance gehabt hätte zu entkommen, war die Nadel in meinem Arm gelandet. Ich wollte etwas sagen, da gab es Worte, die mir auf der Zunge langen, doch sie war taub und schwer. In meinem Kopf kreiste es, bis ich spürte wie müde ich war. Mein Körper entzog sich mal wieder vollständig meiner geistigen Macht und gab klein bei. Mein letzter Gedanke war, wenigstens kannte er meinen Namen, dann fiel ich einen tiefen Schlaf.
 

Aus heutiger Sicht kann ich nicht mehr sagen, wie lange ich in diesem Bett lag und schlief. Manchmal glaubte ich wach zu sein, etwas zu sehen, aber ich könnte es mir auch eingebildet haben. Ich hatte schon immer einen sehr gesunden Schlaf gehabt, um den mich oft jemand beneidete. Aber das hier war glaube ich, auch für mich, ungesund gewesen. Der Schlaf sollte jedoch nicht das schlimmste für mich werden. Wenn ich geglaubt habe, dass mein Leben durch den Autounfall vollkommen aus den Bahnen geraten würde, war ich noch lange nicht auf das nächste Ereignis gefasst. Ich frage mich, ob ich das jemals hätte werden können. Ob das überhaupt jemand hätte werden können? Ich würde nicht der erste Mensch sein, der sich diese Frage stellte, wie ich wesentlich später erfuhr. Es gab schon einige Menschen, die deswegen fast den Verstand verloren haben. In einer guten Gesellschaft wie unsere es war, war dafür aber kein Platz. Sie hatten nie die Chance gehabt mit jemanden zu reden, ihre Fragen offen zu stellen. Wie viele haben auch solche Gedanken gehabt, wie ich sie später entwickelte? Herausfinden werde ich es nicht mehr und es gibt immer noch Menschen, die durch den Schleier nicht hindurch schauen wollen. Warum auch immer. Doch wenn ich ehrlich bin, ich war ja vorher genauso gewesen. Natürlich gefielen mir einige Dinge nicht. Ich wollte reisen wann und wohin ich wollte, das ging nicht. Ich wollte selbst entscheiden was ich später werden wollte, auch dies wurde mir verwehrt. Ich wollte später mein Haus etwas Abseits haben, umgeben von Bäumen und einem See, ich wollte ein wunderschönes großes Wohnzimmer und viel Platz, damit meine Kinder später einmal draußen spielen konnten, sich austoben konnten, es lag nicht in meiner Macht zu entscheiden wo ich wohnte oder wie mein Haus später einmal aussah. Dann aber kam mir immer wieder ein anderer Gedanke. Was war das alles schon, wenn man uns versprach alt zu werden? Wir mussten keine Schicksalsschläge mehr durchleben. Jeder wuchs mit seinen Eltern auf, niemand musste sein Kind verlieren. In der Schule haben wir ein Fach, welches sich Geschichte der Regierung nennt. Hin und wieder bekamen wir dort einen Film gezeigt. Ich erinnere mich noch ganz genau an einen. Wir waren in einem dunklen Raum und die Leinwand vor uns war riesig groß, sie nahm die ganze Wand ein. Egal, um welche Art von Film es sich handelte, wir liebten Filme. Was gab es besseres als auf eine Wand zu starren, einfach nur zu sehen, wie andere redeten, ohne sich selbst beteiligen zu müssen. Doch dieser Film war irgendwie anders gewesen. Sie zeigten uns Bilder von Menschen, die verhungerten. Sie saßen halb nackt an Straßenrändern, sie streckten ihre knochigen Hände aus, um zu betteln. Doch die meisten Menschen liefen an ihnen vorbei, ignorierten sie. Als Begründung hatten sie gesagt, dass diese Menschen selbst nicht genug für sich hatten. Lebensmittel wurden immer teurer, die Arbeitslosenrate stieg immens, es gab nicht genug Plätze um Kranke Menschen pflegen zu können. In einigen Ländern soll es sogar so gewesen sein, dass es nicht mal Krankenhäuser gab. Sie starben irgendwo in der Wildnis zwischen Schmutz und Dreck wie Vieh, während einige Nationen sich im Wohlstand nährten. Sicher, niemand kann etwas dafür in welches Land er hinein geboren wurde, aber das die Unterschiede so groß waren. Es gab ein Missverhältnis zwischen Essen und Trinkwasser. Während die einen zu viel hatten, besaßen die anderen kaum etwas, sogar weniger als das. Es wurde ihnen genommen und ungerecht verteilt. Wir saßen ziemlich lange still da, als wir ein kleines Kind sahen, die Knochen nur bedeckt mit Haut, die Lippen rissig, der Bauch groß und weit, und in seinen traurigen Augen saßen Fliegen. Wir sahen all den Schmutz, all den Müll in Seen und Meeren, am Straßenrand, in Wäldern, wie er den Erdboden überwucherte wie eine Krankheit, die sich immer weiter ausbreitete, keinen Halt kannte. Ich weiß, die Regierung hatte all diese Dinge im Griff. Wir mussten keine Angst mehr haben, vor Hunger, vor Dreck, vor dem frühen Tod, vor Naturkatastrophen. Wir konnten leben und dafür sollten wir dankbar sein. Wir sollten dem System trauen. Es würde uns führen. In den letzten Monaten stellte ich mir trotzdem Rückblickend auf alles, die eine Frage:

Welcher Preis war für dieses Leben gerechtfertigt?
 

Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, glaubte ich noch immer zu träumen. Anders konnte ich mir diese Situation nicht erklären. Das Zimmer wirkte ziemlich steril, ein großes Fenster zu meiner rechten Seite. Eine gläserne Tür führte heraus zu einem Balkon, von ihm aus konnte man über die halbe Stadt blicken. Neben mir stand eine kleine Kommode mit kleinen Briefen und Blumen, die vermutlich alle von meiner Mom waren. Ich konnte mir auch gut vorstellen, dass in jedem Brief dasselbe stand. Nicht nur, das sie sehr emotional war, nein sie wiederholte sich auch noch tausend Mal. Sonst wirkte alles, wie man es sich in einem Krankenhaus vorstellte, im hellen weiß gestrichene Wände, helle Bettwäsche, ein komisches Patientenkleidchen, was mir natürlich trotzdem schmeichelte. (Ich war der Ansicht einen schönen Menschen kann nichts entstellen) Und zu guter Letzt gab es noch einen Fernseher, der die abendlichen Nachrichten der Regierung vermitteln sollte, welche mir allerdings die letzten Tage entgangen waren. Nicht gerade etwas, was ich bedauerte. Ich hasste es sowieso täglich um neunzehn Uhr zuhause sitzen zu müssen, nur damit mir Elisabeth mitteilte, was es neues in der Welt gab und an was ich mich nun auch noch zu halten hatte. Es war der Regierung äußerst wichtig, dass wir als Familie zu bestimmten Zeiten zusammen waren, so wählten sie zum einen den Abend. Man musste zusammen essen, anschließend sah man sich zusammen die Nachrichten an. Es soll mal eine Zeit gegeben haben, da wurde das Wort Familienleben nicht ganz so groß geschrieben. Doch die Regierung hatte früh erkannt, wie wichtig soziale Strukturen und Regelungen waren. Es sollte uns helfen unsere Sozialen Kontakte später besser zu pflegen. Außerdem sollten wir auch später unseren Nachwuchs die wichtigen Werte und Normen vermitteln, sie durften nicht verloren gehen. Die neuen Regelungen und Gesetze wurden also in den Nachrichten erläutert und in Kraft gesetzt, so konnte einem nichts entgehen. Wenn man allerdings mit Schmerzmitteln nach einem Unfall zugedröhnt wurde, und somit zum ewigen Schlaf verdammt war, schien das Gesetz nicht zu greifen. Jedenfalls hat man mich für Elisabeths fürchterlicherer Topfschnittfrisur und pieps Stimme nicht geweckt. Zu ihrem Äußeren passte ihre Stimme gar nicht. Wenn ich genauer darüber nach dachte, wusste ich eigentlich gar nicht, was zu ihr passte. Ihre Lippen waren schmal und immer von einem leuchtenden rot. Ihre Haut war nicht zu hell, nicht zu dunkel, der Visagist leistete also ganze Arbeit, wenigstens einer. Die Falten an ihrem Auge und an den Lippen konnte aber auch er nicht verschwinden lassen. Ihr Blick war immer starr nach vorne gerichtet, ich würde nicht schwören, dass sie einen nicht wirklich sehen konnte. Denn es sah immer so aus, als würde sie genau dich ansprechen. Als hätte sie niemand anderes vor sich als dich persönlich und nur für dich würden diese neuen Reglungen und Gesetze gelten. Früher einmal hatte sie längere Haare gehabt, zwar auch streng zum Zopf zurück gebunden, aber ihr Blick war nicht so durchdringend gewesen. Vielleicht wollte die Regierung einfach nur, dass sich auch wirklich jeder angesprochen fühlte. Mit Erfolg, würde ich meinen. Aber das alles, war es nicht, was mich so beunruhigte und mich glauben ließ zu träumen. An meinem Bett saß Kirsten.

Ich blinzelte, fuhr mir durch mein Haar, was ich sehr häufig tat, wenn mich irgendetwas überraschte. Mit all meiner Kraft, die sich da allerdings auf ein Minimum reduzierte, versuchte ich mich auf zu setzen. Ich muss mein Gesicht vor Schmerzen verzogen haben, denn Kirsten legte ihre zarte Hand auf meine. „Nicht“, hauchte sie nur. Ihre Stimme hörte sich an wie immer. Weich und sanft, voller wärmer und unglaublich beruhigend. Wenn ich sauer auf meine Eltern oder viel mehr auf ihre war, wenn ich wütend auf die Regierung war, was sie uns alles vorenthielten, dann war es meistens ihre Stimme, die mich wieder zurück gebracht hatte. Ich weiß nicht wie sie das machte. Immerhin hörte sie sich, wenn sie sang, an wie eine getretene Katze. Mit einem verwirrten Gesichtsausdruck sah ich sie an. Ich traute mich irgendwie nichts zu sagen, weil ich Angst hatte, sie würde sich danach in Luft auflösen. Ich hatte Angst, dass sie verschwinden würde, dass sie sterben würde, dass ihr irgendetwas passierte, so wie in meinen Alpträumen. Wenn das hier ein Scherz sein würde, oder es an meinen Schmerzmitteln liegen würde, ich wäre nicht noch einmal mit diesem Schmerz fertig geworden. Er war aus meiner Brust geströmt, als hätte er einen Damm durchbrochen. Dabei weiß ich nicht einmal warum oder woher er gekommen war. Mit meiner letzten Kraft setzte ich mich aufrecht hin. Die Bettdecke entblößte mich und mein schickes Outfit. Kirsten zog die Augenbrauen hoch. „Wie hübsch du gekleidet bist“, kam es ihr voller Ironie über die Lippen. „Ich hab dir ja gesagt, ich kann eben alles tragen.“ Sie schüttelte nur den Kopf. Ihr Haar, immer noch dasselbe Haar, hatte sich nicht geändert. Es war nicht kürzer, nicht länger, nicht heller nicht dunkler. Sie beobachtete mich sogar mit demselben Blick, den sie immer aufsetzte, wenn sie sich fragte, was mich wohl beschäftigte. Bevor sie fragen konnte, konnte ich mich schon nicht mehr zurück halten. „Der Unfall“, kam es von mir, mehr brachte ich nicht heraus. Los, gleich verschwindet sie, halt sie fest, sprach eine innerliche Stimme, die mich fast dazu veranlasste sie über das Bett an meine Brust zu ziehen. Quälend nickte sie. „Es war schrecklich. Deine Eltern haben mich sofort angerufen, als sie davon hörten“, fing sie an und in ihrer Stimme schwang eine Traurigkeit mit, welche mir fast das Herz brach. Allerdings kam mir etwas komisch daran vor. Musste ihr nicht auch etwas passiert sein? Weswegen hatte ich sonst diese panischen Gedanken? Dieses Gefühl, hier stimmte etwas nicht, breitete sich immer weiter aus. Hatte ich nicht Angst, dass sie verschwindet? Ich brachte sie unweigerlich mit diesem Unfall in Erinnerung. An dem ich mich allerdings nicht mehr richtig erinnerte. Jetzt, wo ich genauer drüber nachdachte, schaffte ich es nicht mehr, ihn zusammen zu stellen. Woher kam diese Angst und wieso war ich so überrascht gewesen, sie hier zu sehen? Aiden, ermahnte ich mich, streng dich an. Ich war auf dem Weg zur Party gewesen, ich sollte sie abholen, weil sie etwas trinken wollte. Das tat sie sonst recht selten. Doch es war der Geburtstag eines guten Freundes gewesen. Ich weiß, dass die Straßen glatt waren, denn es hatte geregnet. Danach erinnere ich mich nur schwach an etwas, ich hatte Alpträume gehabt, dass ich sie verloren hätte. Ich war sehr lange sehr müde gewesen. Wieder rieb ich mir durch mein Gesicht. Eine Hand fuhr weiter hoch zu meinen blonden Haaren, ich ergriff einen Buschel und zog etwas dran, dann ließ ich diese Hand auch sinken, auf ihre. Ihre Hand fühlte sich etwas kühl an, aber es konnte draußen an die vierzig Grad im Schatten sein, irgendetwas an ihr war immer kalt. „Du meinst… nur ich war in dem Wagen?“ Fragend sah sie mich an. Wieder hob sie eine ihrer schmalen Augenbrauen fragend hoch. „Wer sollte denn bei dir gewesen sein?“, fragte sie vorsichtig, fast so als sei ich verrückt. Vielleicht bin ich das auch, dachte ich. „Du?“, kam es zögernd. Das Unbehagen in meiner Brust dehnte sich aus. Was stimmte hier nicht? Wenn es eines gab, was ich hasste, dann das ich eine Situation nicht beherrschen konnte, da war ich der Regierung sicherlich ähnlicher, als ich mir eingestand. Doch Kirsten lächelte, schüttelte dann wieder den Kopf. Es zog ein süßlicher Geruch von ihr herüber. Nicht so wie der übliche. Normalerweise roch sie nach Vanille und ihrem Mango Shampoo. Ich liebte den Geruch ihrer frisch gewaschenen Haare, wenn sie ihr Haar öffnete und sich dann an meine Schulter lehnte, sodass ich ihren Scheitel küssen konnte. Diesmal war es anders. Sie roch nicht schlecht, aber irgendwie nach Zitrone. Dieses schlechte Bauchgefühl musste aufhören. Ich besaß so etwas normalerweise nicht. Kirsten war immer die mit der weiblichen Intuition gewesen, die ich meistens mehr als fragwürdig fand. Mein Bauch hatte immer nur die Intention satt zu werden und das wars. In diesem Augenblick aber, glaubte ich zu wissen, was Kirsten damit meinte, wenn sie mal wieder ein schlechtes Gefühl bei einer Sache hatte. Jetzt da ich dieses Bauchgefühl verspürte, bekam ich gleichzeitig Angst im nächsten Augenblick meine Tage zu bekommen oder mir Brüste wuchsen „Hast du ein neues Shampoo?“, ich versuche so beiläufig wie möglich zu klingen. „Gefällt es dir?“, fragte sie und plötzlich fing sie an zu strahlen. Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Wieso hatte ich eigentlich fragen müssen? „Du bist immer noch müde, oder?“ Sie nahm mir die Antwort ab. Ich nickte. „Du hast ziemlich was abbekommen Aiden. Dein Auto ist total hinüber. Wir glauben, dass du von der Bahn abgekommen bist wegen einem Hirsch oder ähnliches. Es war sehr glatt und hat geregnet. Erinnerst du dich denn an überhaupt nichts mehr?“ Mit einem besorgten Blick musterte sie mich. Ihre Hand versuchte meine aufmunternd zu drücken. Ich war so schwach, in dieser Lage hätte sie mich sogar im Arm drücken besiegen können. Im Normalfall war dies nicht möglich. Kirsten hatte dünne Arme, ich traute ihr manchmal nicht einmal zu einen Bleistift zu halten. Dabei sah sie aber keinesfalls mager oder ausgehungert aus. Vor meinem inneren Auge sah ich etwas aufblitzen, konnte es aber nicht einordnen. Vielleicht war es auch nur ein Sonnenstrahl gewesen, der mich getroffen hatte. „Kirsten“, begann ich und wusste nicht so recht, wie der Rest weiter gehen würde, obwohl es mir nie an Worten fehlte. „Ich dachte, also irgendwie hatte ich das Gefühl du wärst dabei gewesen. Ich hatte sagenhafte Angst um dich, aber-“ „Alles ist gut, Aiden“, fiel sie mir ins Wort. „Die Sanitäter meinten du hättest am Unfallort meinen Namen gerufen. Vermutlich wolltest du ihnen einfach sagen, dass du auf dem Weg zu mir warst. Kann ja sein, dass du mich deswegen mit dem Unfall in Verbindung gebracht hast? Du warst immerhin auf dem Weg zu mir“, erklärte sie mir wie immer ganz sachlich. Aber ich schenkte ihren Worten glauben. Es hörte sich gut und richtig an. Sie saß vor mir in menschlicher Gestalt und sofern ich das beurteilen konnte, war sie auch aus Fleisch und Blut. Ich muss mich also geirrt haben, anders war das nicht zu erklären. Plötzlich fiel mir ein Stein vom Herzen. Sie hatte Recht, alles war gut. Diesmal schaffte ich es, mich ganz nach vorne zu beugen und ohne, dass sie sich wehren konnte, zog ich sie sanft in mein Bett. Mit einem Ruck, der mir zwar immer noch durch die Glieder fuhr, schob ich sie so weit nach oben, dass ihr Gesicht nah bei meinem war. Ihre Haare waren wie ein Vorhang, der uns beide verhüllte, vom Rest der Welt einfach abgeschottete. Wieder stieg mir der Duft von Zitrone in die Nase. „Ich liebe dein neues Shampoo“, war meine späte Antwort und dann küsste ich sie. Erst zaghaft, dann stürmischer. Meine Hand legte ich in ihren Nacken, damit ich sie noch mehr an mich drücken konnte. Ich spürte ihre weichen Lippen an meinen, schmeckte den leichten Hauch von Minze in ihrem Mund. Kirsten überlebte keine zwei Stunden ohne ein Kaugummi oder ein Bonbon. Sonst begann sie an ihren Fingernägeln zu kauen. Sie war oft viel zu nervös, und unsicher, obwohl es dazu keinen Grund gab. Jedenfalls war das früher einmal der Fall gewesen, als sie dreizehn gewesen war. Vielleicht hatte sie das mit dem Kaugummi einfach nur beibehalten. Sie löste den Kuss, drückte mir trotzdem noch einen leichten auf meine Lippen. Anschließend küsste sie meinen Hals, hinab zu meinem Schlüsselbein. Dort lehnte sie sich dann in diese eine Grube, die wie für ihr Gesicht gemacht war. „Hast du unter deinem Kleid eigentlich noch etwas an?“ „Ich halte dich nicht davon ab, wenn du nach sehen möchtest.“ „Vielleicht sollten wir damit warten, bis du wieder in Betrieb bist. Bevor du den nächsten Verkehrsunfall begehst.“ Sie lachte gegen mein Schlüsselbein, als ich sie an den Seiten festhielt. Ihre empfindlichste Stelle. Also fing ich an sie zu kitzeln, bis sie fast meinen Namen schrie. Mit einem gekonnten Griff, hielt ich sie fest, drehte sie so, dass ich nun über ihr lag und sie unter mir. Dabei verursachte ich mehr Krach als gedacht. Meine Hände stützte ich neben ihrem Gesicht ab. Ich hoffte nur, dass nun keine Schwester rein kommen würde. Denn sie würde in den wundervollen Genuss meines nackten Hinterteils kommen. Ich hatte tatsächlich nichts drunter. So schnell konnten Geheimnisse gelüftet werden. Es wäre besser gewesen, wenn es mit anderen Geheimnissen und Fragen genauso schnell gegangen wäre. Mit einer Hand fuhr sie mir diesmal über die Wange. Sie spürte, dass ich am Kinn etwas kratzig wurde, und zog leicht an einem kleinen blonden Barthaar. Ich kannte dieses Mädchen schon mein halbes Leben lang, sie wurde mit jedem Tag schöner. Warum auch immer ich diese Angst gehabt hatte, in diesem Moment löste sie sich in Luft auf. Was immer auch Schuld daran gewesen war, dass ich solche Gedanken gehabt hatte, sie hörten auf, als ich ihr in die Augen sah. In dieses wunderschöne blau, ich konnte darin versinken, wie ich in dem See versinken konnte, den ich ihr gezeigt hatte. Ich hörte auf mich zu fragen, was an diesem Abend wirklich passiert war. Es gab keinen Grund mehr, darüber nach zu denken. Kirsten hatte mir alles Wichtige erzählt und ich glaubte ihr jedes Wort. Ich hätte ihr auch jede andere Geschichte geglaubt. Denn Fakt war, sie lag hier, bei mir und ich sah ihr in die Augen, konnte ihr Herz schlagen hören. Wenn ihre Haare nicht echt waren, wenn ich mir ihr Lachen nur einbildete, wenn ihre Augen lügen würden, wenn alles von ihr nur eine Einbildung gewesen wäre?

Aber was bitte wäre ehrlicher als ein Herzschlag gewesen?

Es dauerte nicht lange, da hieß es, ich sei vollständig Genesen und könne nun mit dem besten Gewissen entlassen werden. Wir haben uns alle gefreut. Ich war nämlich kurz davor durch zu drehen, weil mir so langweilig war und die Schwestern waren überfordert gewesen, weil sie mich andauernd beschäftigen sollten. Meine Mutter war froh, mich wieder zu haben, weil mein Vater daheim immer noch ein langes Gesicht zog. Außerdem war ich zusätzlich froh wieder draußen zu sein, damit ich wieder mehr Zeit mit Kirsten verbringen konnte. Dieser Unfall hatte mir wirklich den Boden unter den Füßen weg gezogen. Ich wusste nicht einmal, wieso ich geglaubt hatte, dass Kirsten tot sein könnte. Die ganze Aufregung umsonst und dafür war ich eigentlich nicht bekannt. Natürlich ich widersetzte mich oft und musste natürlich immer das letzte Wort haben, aber ich dachte niemals darüber nach, ob jemanden sterben würde, der mir nahestand. Ich hatte keine Alpträume und schon gar keine Panikattacken. Ich war wie ausgewechselt gewesen, voller Furcht und Angst, nicht mehr bereit klar zu denken, nur weil ich glaubte aus einem Wahnsinn heraus, Kirsten sei tot. War vielleicht deswegen mein Vater nicht gekommen? Weil er keine Lust hatte mich zu beruhigen? Oder weil er einfach in den letzten Jahren lieber für sich war? Er hatte genug mit meiner Mutter zu tun gehabt.
 

Die letzten Tage war immer nur Mom dagewesen, die mich mit Süßigkeiten versorgte, mit denen ich bis ins hohe Alter hätte ausgesorgt haben können. Ich aß sie trotzdem alle, zugleich hoffte ich, dass ich so schnell wie möglich wieder mit dem Training anfangen konnte.

Am ersten Abend war es Zuhause ziemlich still gewesen. Anders als erwartet hatte mich mein Vater aus dem Krankenhaus abgeholt. Gesprochen hatten wir allerdings trotzdem sehr wenig. Es war wie immer dasselbe. Typische Standard Fragen, die er mich seit jeher fragte, ohne wirklich Interesse an meinen Antworten zu haben. Manchmal, da gab es noch Situationen, Momente, in denen er mich an damals erinnerte. An einen jungen Mann, der voller Leben und Energie steckte, der vermutlich mit bloßen Händen einen Baum ausgerissen hätte, wenn man es ihm denn erlaubt hätte. Damals hat er mir so viele Geschichten erzählt, so viele Märchen und Mythen, von denen meine Klassenkameraden kein einziges kannten, weil sie irgendwann in Vergessenheit geraten waren. Mein Vater teilte somit alte Erinnerungen mit mir, die wahrscheinlich einst Großvater gehört hatten, von denen er die Geschichten haben musste. Ich weiß noch, dass er früher immer an meinem Bett saß. Die Nachttischlampe erhellte das Zimmer nur schwach, manchmal flimmerte sie sogar. Aber weil sie ein Geschenk meines Opas war, behielt ich sie. Irgendwann musste ich sie allerdings verstecken. Denn die Regierung setzte auf Gleichheit, überall, nach einiger Zeit eben auch in Privaten Zimmern. Das Rollo haben wir immer runter gemacht, weil ich nicht wollte, dass jemand von gegenüber rein schauen konnte. Falls es überhaupt jemand getan hätte. Sicher war eben sicher. Vielleicht habe ich mich als Kind schon ständig beobachtet gefühlt, ich weiß es nicht mehr. Aber als Kind hat man ja vor so vielem Angst und gleichzeitig ist man unglaublich mutig. Ich fürchte mich nicht mehr vor der Dunkelheit, oder dass jemand in mein Zimmer schauen könnte. Gleichzeitig würde ich aber nicht sagen, dass ich wirklich mutiger geworden bin. Denn ein Rad oder Handschlag würde ich nicht mehr wagen, aus Angst auf den Rücken und mit voller Wucht auf dem Boden auf zu prallen. Außerdem habe ich es zu lange nicht mehr gemacht. Ich würde nicht mehr so hoch hinaus auf Bäume klettern, weil ich plötzlich weiß, was Schwerkraft ist und das es, egal was passiert, auf sie immer Verlass ist. Ich würde die Herdplatten nicht mehr mit bloßer Hand anfassen um zu schauen, ob sie an sind, weil ich weiß, dass ich mich stark verbrennen könnte. Das ist zwar eher dumm als mutig gewesen, doch heute weiß ich es besser. Es scheint mir sogar so, als sei Mut mit Unwissen gekoppelt. Je weniger ich weiß, desto mutiger bin ich. Denn vor welchen Konsequenzen fürchtet man sich, die man nicht kennt?
 

Ich erinnere mich gerne an die Helden zurück, von denen mein Vater mir erzählte. Von Menschen, die sich in den schlimmsten Zeiten gegen etwas aufgelehnt hatten, weil sie wussten, dass die Mehrheit falsch lag. Sie glaubten nicht an das, was man ihnen sagte, sondern an das, was sie als Gerecht empfanden. Sie hinterfragten. Je älter ich wurde, desto schlimmer wurden die Geschichten. Mit neun erzählte mir mein Vater von einem Krieg, der schrecklich gewesen war.

Dort hatte ein einziger Mann einem Volk den Krieg erklärt und es mit Worten geschafft, den Verstand der Menschen komplett zu vernebelten. Seine Worte entsprachen plötzlich der Wahrheit, obwohl sie umhüllt waren vom schwarzen Nebel der Lügen, welcher sich sogleich in die Gedanken der Menschen einnistete. Mein Vater hatte immer geseufzt, wenn er diese Geschichte erzählte.

Du darfst die Mehrheit nicht mit der Wahrheit verwechseln , hatte er immer wieder gesagt, jedes Mal wenn eine seiner Geschichten endete. Von wem hast du den Spruch?, fragte ich immer wieder und jedes Mal war seine Antwort: Jean Cocteau, ein Schriftsteller aus einer längst vergessenen Zeit. Danach fragte ich mich oft, ob es wirklich eine Zeit geben konnte, die man vergaß.

Ich kannte diese Geschichten weder aus der Schule, noch aus unseren Büchern. Wir bekamen immer wieder Bücher gestellt von der Schule, die uns helfen sollten unsere Meinungen und Verstand zu formen. Vermutlich, damit so etwas nicht wieder vorkam. Aber warum erzählte man uns dann nicht die alten Geschichten?

Mein Vater hatte in der ersten Zeit meiner Kindheit kein einziges Mal das Kinderbuch unserer Regierung angefasst, jedenfalls nicht bis zu meinem zehnten Geburtstag.
 

Erinnerung

Das Licht flackerte in dem kleinen Zimmer, welches gestern noch in einem saftigen Grün gestrichen war. Am heutigen Tag war es in einem Himmel Blau gehaucht, weil die Regierung entschied, dass es die typische vorgezogene Farbe für kleine Jungen war. Es kam selten vor, dass ein Junge im Alter zwischen drei und zehn die Farbe Blau als störend empfand, das hatte die Regierung durch einzelne Stichproben durch Statistiken herausgefunden. Nur der kleine Junge in dem Bett schien sich nicht so richtig zu freuen. Rot vor Wut glühten seine Wangen, die Stirn hätte er gerne in Falten gelegt, doch die hatte er noch nicht, dafür war seine Haut einfach noch zu straff. Seine kleinen Arme verschränkte er zornig vor der Brust, seinen Vater würdigte er keines Blickes. Warum hatte er sich bitte doch noch dazu entschieden seine schöne grüne Wandseite in diesem hässlichen Blau zu überstreichen? Jetzt konnte er sich nicht mehr vorstellen, wie es wäre einfach irgendwo auf einer Wiese im freien zu liegen. Stattdessen musste er nun an Wasser denken, blödes langweiliges Wasser, an seiner eigenen Wandseite. Er hatte auch sein Bett abgeben müssen, einen neuen Schrank bekommen und einen neuen Schreibtisch. Eigentlich war es, als sei er in einem komplett neuen Zimmer und wenn er vielleicht etwas mit Bestimmen hätte können, wäre er vielleicht auch erfreut gewesen. Seine Mutter hatte ihn immer wieder aufgebaut und gesagt, dass die anderen Möbel eben schon sehr alt gewesen waren und es sehr nett von der Regierung sei, allen Kindern neue Möbel zu schenken. Wenn er vierzehn war durfte er sie ja wieder weiß streichen. Weiß, dachte sich Aiden, woraufhin seine Wangen noch roter wurden. Ging es denn noch langweiliger? Selbst Großvaters Lampe hatte er weg stecken müssen, als die Aufseher kamen. Mit genommen hatten sie jene nicht, also hatte er von seinem Vater verlangt, sie wieder an zu machen. Nun flimmerte das schwache Licht im Zimmer. Die Rollläden waren herunter gezogen und einzig und allein waren die Schatten von Vater und Sohn auf der neu gestrichenen Wand zu sehen. Aiden hörte seinen Vater laut ausatmen. Die Hände hinter den Kopf verschränkt, starrte er die Wand an, die seinem zehnjährigen Sohn so missfiel. Seiner Meinung nach war es keine schlechte Farbe. Es sah freundlich aus, deckte gut ab und ließ das Zimmer nicht unbedingt kleiner wirken. Außerdem waren die neuen Möbel auch sehr schön, sahen teuer und qualitativ hochwertig aus, sie passten zueinander, als wären sie extra alle für diesen Raum geschaffen worden. Sicherlich war es genauso, dachte er sich. Dann drehte er sich zu seinem Sohn um, der immer noch trotzig vor ihm saß. Vorsichtig ließ er sich auf die Bettkante fallen. „Ist doch gemütlich oder nicht?“ „Mmmpf.“ „Das ist alles eine Sache der Gewöhnung. Du wirst merken, in ein paar Tagen wirst du es ganz toll finden“, versuchte der Mann seinen Sohn auf zu heitern. „Ja, kann schon sein. Aber es ist nicht mehr mein grün. Meine Wiese“, versuchte der kleine Junge zu erklären. „Weißt du Aiden“, begann sein Vater, krabbelte das Bett hoch, bis er die Wand und seinen Sohn erreichte. Dann lehnte er sich an, zog seinen Sohn dabei fest an sich. „Manchmal treffen andere Menschen für dich eine Entscheidung und die kann dir erst einmal schlecht erscheinen, doch später, wenn du etwas älter bist, wirst du vielleicht erkennen, dass es dabei nicht immer um dich geht, sondern um mehr.“ Fragend sah er zu seinem Vater hoch. „Wie um mehr?“, fragte er sogleich. Er legte seinen Kopf in den Nacken, damit er hoch zu seinem Vater sehen konnte. In dem Licht wirkte er müde und alt. Ganz anders als er seinen Vater kannte, aber in den letzten Tagen schien er nicht gut zu schlafen und das obwohl es seiner Mutter mit jedem Tag besser ging. Da sollte es seinem Vater doch auch endlich wieder gut gehen, oder etwa nicht?

„Nun, denk doch einmal an die Kinder, die sich vielleicht auch tolle Möbel gewünscht haben und nicht so ein Glück hatten wie du. Nun habt ihr alle das Gleiche und niemand ist benachteiligt. Und was sind schon ein paar Möbel oder eine grüne Wand?“ Für seinen Vater anscheinend nichts, dachte er sich insgeheim, seufzte aber wieder aus. Dabei klang er fast wie ein Erwachsener.

„Erzählst du mir dann wenigstens wieder eine Geschichte?“, kam es klagend von ihm. Seine kleinen Hände gruben sich in den Pullover seines Vaters. So als würde er ihn nie wieder los lassen wollen, und schon gar nicht, wenn er sich weigern sollte. Diesmal war es der Vater, der zum ersten Mal an diesem Abend seufzte. Er griff über seinen Sohn, zu dem Buch, was auf seiner Nachtischkommode lag. Es war gebunden und stark laminiert, Aiden hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, es einfach aus dem Fenster zu werfen, sodass sein Fenster in tausend Teile zerspringen würde.

Es würde alles klirren und einen lauten Knall geben. Wahrscheinlich war hier noch nie ein Fenster kaputt gegangen, weil jemand etwas raus geworfen hatte. Auf dem Cover vorne war ein Baum abgebildet unter dem Kinder saßen. Es sah aus wie einer der Bäume, die sie auch in ihrem Park hatten. Groß und mächtig, im Sommer spendete er jede Menge Schatten und im Winter sahen seine Äste aus wie knorrige dünne Arme aus, die sich weit, flehend in den Himmel erstreckten. Als würden sie auf etwas warten. Oder hoffen. Unter dem Baum saßen drei Jugendliche, vielleicht vierzehn Jahre alt. Das eine Mädchen warf den Kopf lachend zurück, der einzige Junge unter ihnen hielt ein Buch in der Hand, in dem er gespannt drein blickte. Das zweite Mädchen sah zu dem Jungen herüber, dabei hielt sie den Kopf schräg und ihr langes blondes Haar erreichte fast die grüne Wiese, auf der sie saßen und spaß hatten. Grün. Sein Vater schien denselben Gedanken zu haben, weswegen er schnell das Buch aufschlug. Für ein Kind war das Buch ziemlich übersichtlich geschrieben und an den Rändern oder Textenden gab es immer ein buntes Bild. Eigentlich wollte Aiden lieber eine Geschichte von seinem Vater hören, von der Regierung hatte er heute erst einmal genug. Dennoch reizte es ihm gleichzeitig endlich mal etwas aus dem Buch zu lesen, oder viel mehr sein Vater würde das tun. Natürlich kannte er flüchtig ein paar Geschichten, richtig gemerkt hatte er sie sich aber nicht. Dafür interessierten ihn einfach andere Dinge mehr. Sein Vater blätterte etwas umher, bis er auf eine Seite stieß, die ihn irgendwie anders rein Blicken ließ. Es war ein verdutzter Blick, oder geschockt? Er zog jedenfalls lange die Luft ein, zögerte nicht vielleicht doch weiter zu blättern, doch da kam schon Aidens Hand an geschnellt, die auf die Überschrift deutete. Sein Vater räusperte sich, nickte dann aber. Er würde zum ersten Mal aus diesem Buch vorlesen.

In Aidens Körper kribbelte es nun vor Erwartungen. Seine Wut war erst mal verraucht, als wäre sie nie dagewesen. Denn anstatt auf die Wand, konzentrierte er sich nun voll und ganz auf die Lippen von seinem Vater. Das Gesicht seines Vaters war immer schon ein offenes Buch für ihn gewesen. Er passte seine Gesichtszüge oftmals nicht seinen Worten an. Wenn er also versuchte ruhig zu bleiben, sah man meistens schon sein Gesicht, welches rot wurde, weil er so wütend war. Er konnte auch nicht gut lügen. Lieber schaute er weg, wechselte das Thema oder suchte nach einer Antwort, aus der nie jemand schlau werden würde. Egal, wie lange man darüber eben nachdachte. „Die Geschichte trägt den Titel `Die Geburt der Regierung´“, begann er, fuhr sich noch einmal kurz durch sein dichtes blondes Haar. War es ihm unangenehm daraus vor zu lesen? „Vor vielen, vielen Jahren, lange bevor es die Regierung und unsere kleine Welt gab, herrschte auf der Erde eine immer größere werdende Anspannung. Es gab viele Menschen, die in Reichtum lebten und wiederrum gab es Menschen, die in Armut lebten. Armut, das bedeutet, dass ein Mensch zum Leben zu wenig hatte. Hätten diese Menschen sich jedoch angestrengt, wäre auch aus ihnen etwas geworden. Manche Kinder zum Beispiel wollten nicht in die Schule gehen, sie wollten nicht lernen und andere Menschen wollten nicht arbeiten gehen, verlangten aber trotzdem Geld. Natürlich gab es unter ihnen auch jene, die nichts für ihre Situation konnten, doch sie schafften es ebenso wenig aus ihrem Leben etwas zu machen, wie die, die sich weigerten. Zwischen den Armen und Reichen entwickelte sich eine große Kluft, die unüberwindbar schien. Die Reichen Menschen hätten gerne bis zu einem gewissen Grad geteilt, aber alles wollten sie auch nicht geben. Sie spendeten immer Lebensmittel, Kleider, Schulsachen, Medikamente, sogar Ärzte gingen zu den Ärmeren Menschen, um ihnen zu helfen. Doch die armen Menschen wollten immer mehr. Sie wollten genau das gleiche wie die Reichen Menschen, ein Leben in ihren Häusern, mit ihren Autos fahren. In einigen Teilen des Landes gab es Aufstände. Die ärmeren Menschen wollten die Häuser der reichen haben, sie wollten noch mehr essen, obwohl man ihnen genug gab. Sie wollten die reichen verdrängen, sie überfallen und sich an ihrem Hab und Gut zu Unrecht bereichern. In den Siedlungen entbrachen Feuer, Menschen stürmten die Straßen. Stiegen über Autos, schlugen ihre Fenster und die der Häuser ein. Sie raubten den reichen ihr Geld, ihren Schmuck, alles für das sie hart gearbeitet hatten-“
 

An dieser Stelle machte sein Vater eine Pause. Seine Augen huschten über die Zeilen, als würde er alles noch einmal lesen, weil er es selbst nicht bekommen hatte. Aiden kannte das Problem. In der Schule mussten sie manchmal etwas für sich lesen, still. Und manchmal wenn er am Ende einer Seite angekommen war, hatte er gar nicht mitbekommen, was er dort eigentlich gelesen hatte. Denn schon in der zweiten Zeile, waren seine Gedanken abgedriftet, um sich etwas Spannenderen zu widmen. Aiden verfolgte die Ungläubigen Augen seines Vaters, wie sie schnell über die Zeilen huschten. So schnell wie man mit seinen Zähnen einen Maiskolben abknabberte, um dann wieder auf der anderen Seite neu anfangen zu können. An einer Stelle jedoch, blieben seine Augen jedes Mal wieder hängen. Aiden zupfte an seinem Ärmel, wollte ihn aus seinen Gedanken wieder heraus reißen. Er schaffte es auch. Sein Vater räusperte sich wieder einmal, um dann wieder an zu setzen: „Für die Einwohner mancher Städte war dies die schlimmste Nacht aller Zeiten. Die damaligen Aufseher gab es noch nicht und so kam fast jede Hilfe zu spät. Denn es blieb nicht nur bei Geld und Schmuck, es floss auch das Blut von Unschuldigen. Sogar vor Kindern hatten sie keinen Halt gemacht. Viele Eltern verloren ihre Kinder und anders herum war es genauso Kinder mussten ohne ihre Eltern weiter laufen, mussten fliehen, ohne zu wissen wohin, ohne Essen, ohne warme Kleidung. Viele Straßen brannten lichterloh, brannten alles nieder. Sie zerstörten Erinnerungen, kleine Schätze, die sich über Jahre angesammelt hatten. Doch all das konnten sie nicht mehr retten. Alles mussten sie flohen. Es dauerte einige Tage, vermutlich auch Wochen, bis die aufstände aufgehört hatten. Die reichen Menschen flohen sehr, sehr weit vor ihren Angreifern. Irgendwann ließen sie sich nieder, als sie die Gefahr weit hinter sich gelassen hatten. Natürlich konnten sie nicht für immer Ruhen, ihnen war bewusst, dass die Gefahr nicht lange auf sich warten lassen würde. Es war ein junger Mann, der sich schließlich Verhör verschaffte, und die anderen bat zuzuhören. Er sprach den Menschen Mut zu, gab ihnen wieder Hoffnung. Er versuchte ihnen nicht ihre Erinnerungen zu nehmen, denn sie würden nun ein Teil von ihnen sein, aber er versuchte sie auf eine bessere Zukunft vor zu bereiten. Er wollte ihnen zeigen, dass nach jedem Tiefschlag auch wieder etwas kam, wozu es sich lohnte zu kämpfen.-“ „Ist damit Dave Mecury gemeint?“, fragte Aiden sogleich, da hatte der Vater noch nicht ganz aufgehört zu sprechen. Zuerst sah er seinen Sohn an, ohne eine Regung zu zeigen, doch dann gab er auf und nickte. Als würde er nicht längst von ihm wissen, wo er doch schon zehn war. Außerdem gab es im Park eine Statue von ihm als Gedenken an ihm und was er erreicht hatte. Als Gründer dieser Regierung, mit dem Grundgedanken, die Welt besser und lebenswerter zu machen.

„Ja, laut dem Buch war es Dave Mecury, der die Menschen damals rettete. Er führte sie an einen wunderschönen Ort, den wir heute immer noch bewohnen. Es ist ihm zu verdanken, dass wir nun so eine Regierung haben, wie sie heute existiert. Das wir Aufseher haben, die uns beschützen, dass wir ein geordnetes Leben haben. Das jeder Arbeit hat, Arbeit die einem Spaß macht. Es ist ihm zu verdanken, wenn man so will, dass die Medizin die Chance hatte sich weiter zu entwickeln. Mecury war jemand mit Visionen, die unsere weit überschreiten. Manche erzählen, dass er nicht nur das perfekte Leben wollte, sondern vor allem ein ganz besonders langes. Er wollte noch so viel verändern und erleben, dass es ihm nicht gerecht erschien, nur so kurz zu Leben. Außerdem wollte er eine Verbesserung finden, für Vorfälle wie die Überfälle es waren. Großvater hat oft erzählt, dass er den Kummer, den ihm widerfahren ist, nie richtig verkraftet hat. Denn auch er hatte einen großen Verlust zu erleiden. Es erschien ihm noch weniger gerecht, dass ausgerechnet er nun alleine weiter leben musste, ohne Frau und Kind. Nachdem unsere Regierung nun erbaut war, widmete er sich der Medizin, aber nur noch halbherzig. Die Menschen wollten, dass er sie regierte. Sie führte und auf dem Fundament, welches er errichtete, stetig weiter bauen sollte. Bis wir das perfekte Leben führen konnten. “

Am Ende hörte Aiden deutlich heraus, dass es nicht mehr die Worte des Buches, sondern die seines Vaters waren. Es lag mehr ernst in der Stimme, und eine Note, die er selbst noch nicht zu ordnen konnte. War es Wehmut? Oder doch Zweifel? Wieso aber Zweifel, wenn es ihnen allen gut ging? Aiden fand die Vorstellung schrecklich, dass Kinder ihre Eltern verloren hatten, dass es Menschen gab die aus Neid töteten. Die Geschichte prägte ihn, lehrte ihn gleichzeitig Vertrauen in die Regierung zu setzen. In eine Institution, die für ihn sorgte und ihm Sicherheit gab. Er konnte diesmal die Gedanken seines Vaters nicht lesen. Stattdessen lag er schon mit halb geschlossenen Lidern in seinem Kopf Kissen versunken. „Also ist er auch Schuld an meiner grünen Wand“, kam es schläfrig über seine Lippen, obwohl er lieber wieder wütend klingen wollte, was ihm deutlich misslang. Mit seiner Hand fuhr Aidens Vater diesmal Aiden durch die Haare anstatt durch seine eigenen. Sie waren noch weicher, noch nicht ganz so voll und doch ließ sich erahnen, dass er einmal wie sein Vater aussehen würde. Als würde das Gen der Parkers sich um jeden Willen durchsetzen wollen.

„Ja, Decury war damals schon sehr für Gleichheit. Er wollte nicht, dass sich so etwas wie damals noch einmal wiederholen sollte. Es war früher noch nicht ganz so wie heute, mittlerweile scheinen sie es etwas strenger zu sehen und es wird sicherlich nicht die letzte Veränderung werden“, murmelte er. Er war sich nicht sicher, ob Aiden dies noch hörte oder nicht. „Dürfen wir deswegen nicht weg?“, nun klang er, als wäre er schon mit einem Fuß im Traumland. Aidens Vater nickte, obwohl er wusste, dass sein Sohn es nicht sehen würde.

„Ja, das wird der Grund sein. Nicht alle Menschen waren ihnen gefolgt. Die, welche für die Aufstände gesorgt hatten, haben sich uns nicht angeschlossen. Du weißt doch, was Großvater damals immer gesagt hat. Sie sind immer noch irgendwo dort draußen.“ Und manchmal weiß ich nicht, welchen seiner Worte man glauben schenken darf, dachte er sich, bevor er seinem Sohn die Strähne von der Stirn strich, um ihm dort einen gute Nachtkuss geben zu können. Lange schaute er auf die Wand. Grün hatte ihm auch besser gefallen.
 

Es war vermutliche diese Geschichte, die mich unter anderem auch dazu veranlasste, unbedingt von hier weg zu wollen. Da draußen müssen noch Menschen gelebt haben, die anders lebten als wir. Doch die Regierung warnte uns immer vor ihnen. Deswegen hatten wir eine Ausgangssperre, deswegen sollten wir nicht reisen und deswegen waren meine Wände blau gestrichen worden. Es machte mir mit der Wand tatsächlich später nichts mehr aus.
 

Obwohl ich es im Krankenhaus nicht lange ausgehalten hatte, wünschte ich mich doch sogleich wieder dahin. Der Unterricht langweilte mich. Ich konnte nichts anderes tun, als aus dem Fenster schauen. Aber auch da tat sich nicht viel. Die Bäume waren perfekt gestutzt, alle auf eine Größe, waren sie auch im gleichen Abstand nach hinten versetzt. Es wunderte mich, dass sie nicht alle synchron im Wind wehten. Mein Blick blieb an einem der ersten Bäume hängen. Zwar schien die Sonne und es war recht warm für den Mai, dennoch zog immer mal wieder ein kühler Wind hinauf. Fast sah es so aus als würde der Baum mich zu sich her winken. Die Äste bewegten sich so geschmeidig, wie eine leichte einladende Handbewegung. Ich musste zwei Mal blinzeln, um mich von diesem Anblick lösen zu können, auch wenn er mir wesentlich besser gefiel, als der Anblick meiner Lehrerin. Sie trug dieselbe langweilige Uniform wie sonst auch. Wie alle Lehrer hier.

Auch sonst war der Unterricht wenig anspruchsvoll. Es ging wie immer darum, wie toll unsere Regierung war, was für Möglichkeiten sie uns gab, und wie viel wir ihr zu verdanken hatten. Damals glaubte ich das auch noch. Vielleicht hatte Kirsten Recht. Vielleicht war es doch nicht so wichtig von hier fort zu gehen. Uns ging es hier gut, wir litten keinen Hunger, wir konnten zur Schule gehen, es gab feste Regeln, die uns halfen ein geordnetes Leben zu führen. Wenn man mir versprach, dafür für immer mit Kirsten zusammen leben zu können, oder eben so lange wie wir es miteinander aushielten, dann konnte ich auf vieles verzichten. Es schien als hätte jemand meine Gebete gehört, meinetwegen könnte es auch Dave Mecury gewesen sein, der hier sowieso von jedem vergöttert wurde. Miss Shaw hatte den Unterricht beendet. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis ich meine Sachen beisammen hatte und gehen wollte, als jemand vor mir stehen blieb. Ich sah noch wie ihr rot blondes Haar, gerade den Raum verließ, ich war zu langsam gewesen und nun musste ich mich hier auch noch mit Miss Shaw rumschlagen. Hoffentlich wartete Kirsten draußen auf mich, ich hatte unbedingt noch mit ihr reden wollen. „Ich habe das mit dem Unfall gehört“, fing sie an zu reden und ihre Stimme klang leise. So als sollte uns niemand hören, dabei waren wir die einzigen in diesem Klassenraum. Anstatt etwas zu sagen, sah ich sie lange an. Ja, was wollte sie denn von mir hören? Ich auch, stellen sie sich vor, ich bin sogar Schuld – oder Ja, ich hab einfach Mal eine Auszeit gebraucht und die Winterferien erschienen mir noch so weit weg?

„Wer hat das nicht“, war meine tonlose Antwort. Also wenn sie jetzt von mir hören wollte, wie ich mich dabei gefühlt hatte, oder sonstiges, für so etwas war ich gerade wirklich nicht in Stimmung.

Zumal je länger ich darüber nachdachte, desto weniger erinnerte ich mich. Es war eher, als handle es sich dabei um einen Film, den ich irgendwann mal gesehen hatte, aber schon zu lange für wichtige Details zurück lag. Außerdem schmerzte mir bei diesem Gedanken immer mein Kopf, ein aufflackernder Schmerz, so schnell und so plötzlich wie ein Blitz schlug er ein, ging durch den Kopf und zwang mich manchmal sogar dazu, mein Auge zu schließen.

„Es muss schlimm für dich gewesen sein. Dein Auto sah nicht gerade gut aus.“ Machte sie das eigentlich mit Absicht? Ich hatte dieses Auto geliebt.

„Miss Shaw“, begann ich möglichst höflich, ich wollte sie ja nicht verärgern, obwohl sie das mit mir ganz gut hinbekam. Ich hob sogar entschuldigend die Hand, um ihr zu zeigen, dass ich es nicht einmal böse meinte, doch sie ignorierte meine Geste vollkommen. Vor mir ließ sie sich in einem Stuhl nieder. Na klasse. Mein Blick ging wieder aus dem Fenster. Adieu Freizeit. Miss Shaw war, wenn sie mich nicht gerade langweilte, eigentlich eine nette Person. Sie war vielleicht fünfzehn Jahre älter als ich, sah aber dennoch so aus als hätte sie erst vor drei Jahren ihren Abschluss gemacht. Lediglich ihre Augen wirkten manchmal alt, so wie in diesem Moment, als sie vor mir saß. Das braune Haar war immer zurück gesteckt, mit schönen Spangen, mal waren es Schmetterlinge, mal Blumen. Sie war dezent geschminkt, sofern ich das jedenfalls beurteilen konnte. Ihre Nägel waren rot lackiert und klimperten nervös auf dem Tisch herum, so als würde sie noch etwas sagen wollen, oder auf etwas warten.

„Es war vor genau zehn Jahren“, begann sie, verträumt und so wie ich es die ganze Zeit getan hatte, schaute sie nun verträumt und abwesend aus dem Fenster. Wer so anfing, würde in den nächsten zwei Minuten nicht fertig werden, weswegen ich meine Tasche auf den Boden sinken ließ und meinen Arsch auf meinen Stuhl hinter her. Ich unterdrückte das Seufzen, entschied mich kurzerhand dafür ihr wenigstens jetzt zuzuhören. Obwohl ich mich ernsthaft fragte, wieso sie es mir als Schüler erzählen musste. „Es war ein Wintertag, überall lag Schnell, die Straßen waren eisig, aber wir mussten unbedingt zu seinen Eltern. Gott, ich hab ihm tausend Mal gesagt, wir können auch noch morgen fahren oder aber eben laufen. Nein, hatte er gesagt, wir würden viel zu lange brauchen. Er war ja manchmal so bequem.“ Ich nahm an, dass sie von ihrem Freund, Ehemann oder Verlobten sprach. Allein schon deswegen, weil ihr Hund nicht hätte antworten können. Ohne die Geschichte zu kennen, wusste sich sehr wohl, in welche Richtung sie gehen würde. Mir war nicht wohl dabei, so etwas von meiner Lehrerin zu hören. Aus dem Fenster zu schauen erschien mir jetzt auch etwas blöd, weswegen ich sie einfach ansah. Wenn ich sie vielleicht nicht unterbrach, würde das hier alles schneller vorbei gehen. Sogleich fing sie auch schon wieder an:

„Wir saßen im Auto, fuhren die Straße entlang. Im Radio ertönten wie jedes Jahr die besten Weihnachtslieder, erst weigerte ich mich, letzten endes sang ich dann doch mit. Wie zwei Kinder saßen wir in diesem Auto und sangen irgendwelche Lieder, die uns das Regierungsradio jedes Jahr abspielte. Aber irgendwie ließ es uns übermutig werden. Wir fuhren schneller, weil die Musik schneller wurde und bevor er reagieren konnte, fuhren wir schon in dieses riesige Tier rein, wir kamen von der Straße ab, hatten keine Chance, denn es war einfach viel zu glatt. Alles drehte sich so schnell, ich glaube ich habe geschrien, doch genauso gut, könnte ich es mir auch einbilden. Noch nie ist in meinem Leben Zeit so schnell vergangen, wie in diesem Augenblick.“ Ihre Stimme klang plötzlich so zart und zerbrechlich, dass es mir mein Herz beinahe zu schnürte.

Ich kannte sie immer nur als Lehrerin, sachlich, eher verschlossen. Jetzt ließ sie mich an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben teilhaben, den wohl kaum jemand so kannte, wie sie ihn schilderte. Außer sie selbst. Alles was sich hier verbreitet hatte, waren Gerüchte. Teilweise waren sie so bescheuert gewesen, dass ich mir nicht einmal die Mühe gemacht hatte sie mir zu merken. Was wir hier allerdings alle wussten war, dass Miss Shaw nicht immer alleine gewesen war und dass sie sich von ihren Mann getrennt hatte, der daraufhin verschwand. Wahrscheinlich an dem Ort, an denen alle hinkamen, die eben eine längere Heilung brauchten. Ob sie ihn zwischendurch besuchte? Ich konnte es mir schlecht vorstellen, immerhin durften wir Großvater auch nicht besuchen. Ich verwarf den Gedanken also recht schnell wieder.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass mit ihm etwas nicht stimmte, denn sein ganzes Gesicht war voller Blut gewesen, alles war mit Blut befleckt gewesen. Als ich ausstieg, um ihn aus dem Wagen zu ziehen, konnte ich nicht einmal mehr sagen, wem das Blut im Schnee gehörte. Es war auf einmal überall gewesen. Hatte er so viel verloren, war es noch mein Blut? Das Blut des Tieres? Egal, wo ich hinsah, es war rot weiß gefärbt und wenn es kein Blut gewesen wäre, hätte es fast schon schön ausgesehen, dieses tiefe Rot auf dem hellen Schnee…“, nun wirkte sie komplett in ihrer Erinnerung versunken. Ohne es zu wollen, musste ich es mir bildlich vorstellen. Ich sah, wie beiden glücklich im Auto sangen, so wie es Kirsten und ich immer taten. Ich wusste, wie schwer es war bei Schnee zu fahren, allein wenn der Schnee die Sonnenstrahlen reflektierte. Miss Shaw stellte ich mir ausgelassen und fröhlich vor, wie sie zum Takt klatschte, lachend ihren Kopf in den Nacken war. Für ihren Mann stellte ich mir irgendwen vor, der ebenfalls lachend fuhr, nicht darauf achtend, dass etwas passieren könnte. Mich durchfuhr bei der Vorstellung ein heftiger Schmerz, ich sah mich plötzlich in meinem Auto sitzen wie ich sang, ausgelassen war und wie ich ohne eine Vorwarnung das Lenkrad versuchte rum zu reißen, dann war es wieder weg. Mein Kopf explodierte förmlich vor Schmerz.

Miss Shaw schien soweit von mir weg zu sein, dass sie es nicht mit bekam. Zum Glück, welche Geschichte hätte mich dann wohl erwartet, wenn ich ihr von meinen Migräneattacken erzählt hätte? Ihre erste Menstruation? Wie sie zur Frau wurde? Ich weiß, dass war nicht fair von mir. Aber warum erzählte sie mir das? Das ging mich nichts an. Etwas überfordert fuhr ich mir also durch die Haare, starrte sie weiterhin an, versuchte nicht auf die Uhr hinter ihr zu schauen.

„Miss Shaw, ich will ihnen nicht zu nahe treten, aber wieso erzählen sie mir das? Es tut mir Leid für sie ehrlich, aber-“ „Die Rettung kam und wir wurden ins Krankenhaus gebracht. Ich schrie die ganze Zeit nach seinem Namen und niemand wollte mir sagen, was mit ihm passiert war. Die Ärzte kümmerten sich um mich, setzten mich auf Schmerzmittel und irgendwann beruhigte ich mich. Ich hatte keine andere Wahl. Ein paar Tage später saß er an meinem Bett. Er sagte, er hätte nicht kommen dürfen, weil ich so hysterisch gewesen war. Ich glaubte ihm.“ Wieder entstand eine Pause und ich gab es auf mich zu fragen, wieso sie es mir mitteilte. Sie wollte mir ja doch nicht antworten. Insgeheim hoffte ich natürlich, dass es mir ein paar Bonuspunkte einbringen würde, obwohl ich natürlich gar nichts zu ihrem Zustand beitragen würde. Falls sie hier bei mir ihren Kummer loswerden wollte.

Doch dann wandte sie sich zu mir. Mit einem Blick, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Flehentlich, und noch etwas anderes lag darin, als würde sie sich selbst für verrückt halten. Als wüsste sie, dass hier etwas nicht stimmte, sie vermochte nur nicht sagen zu können, was es war, oder wieso sie so dachte und dieser Gedanke ließ mein Herz noch enger zu schnüren. Denn ich hatte denselben Gedanken.

„Er war danach nie wieder er selbst. Es ging vielleicht zwei Wochen gut und danach entdeckte ich so vieles, was vorher nicht da gewesen war. Er schien wie ausgewechselt, manchmal stritten wir tagelang, und irgendwann hatte er eine Spur Wahnsinn in sich. Er war kaum mehr zu bändigen gewesen. Er hat fast die ganze Einrichtung zerstört, dann wollte er mich angreifen und dabei wollte er mir immer wieder etwas sagen, doch ich hab ihn nicht verstanden. Ich muss unheimlich geschrien haben. Noch bevor etwas passieren konnte, trafen bereits die Aufseher ein und führten ihn ab. Sie versprachen sich um ihn zu kümmern.“

Schwer atmete sie aus, ihre Hände zitterten, und so sehr ich mit ihr fühlte, wünschte ich mir, sie würde nicht anfangen zu heulen. Da alle guten Dinge drei waren, versuchte ich es noch einmal: „Miss Shaw, wieso erzählen sie mir das?“ Eine lange Stille trat ein und plötzlich kam endlich die lang ersehnte Antwort: „Weil ich mich ziemlich lange nicht an den Unfall erinnern konnte.“
 

Dieser Satz traf mich doch mehr, als ich zugeben wollte. Wie meinte sie das, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern? Natürlich meinte sie es sicher zum größten Teil so, wie sie es gesagt hatte. Doch woran lag es? Es war doch einfach nur eine Folge des Unfalls gewesen, oder nicht? Der Körper verdrängte einfach manchmal Dinge, an die es sich nicht lohnt erinnert zu werden. Was manchmal mehr oder weniger viel war. Unwillkürlich rückte ich mit meinem Stuhl ein Stück weiter von ihr weg. Ich hatte das Gefühl, als bräuchte ich plötzlich alle Luft in diesem Raum, die er zu bieten hatte.

„Wie meinen sie das?“, fragte ich, als ich glaubte mich wieder gefangen zu haben, doch Miss Shaw stand bereits auf. Sie strich sich ihre Uniform glatt, blinzelte ein paar Mal und lächelte mich dann an. Als sei nie etwas gewesen und trotzdem sah sie etwas gestresst aus, von jetzt auf gleich. Oder war sie etwa nervös? Ich musterte sie, versuchte schlau aus ihr zu werden. Also tat ich es ihr gleich, stand auf, und blickte auf sie herab. Sie war nicht gerade sehr groß, wie ich feststellte, als hätte ich sie zum ersten Mal gesehen. „Es ist besser, wenn du jetzt gehst Aiden, du hast schon seit zehn Minuten Schule aus.“

Vollkommen perplex sah ich sie an. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal das Gefühl entwickeln würde, doch länger bleiben zu wollen, auch über die Stunde hinaus. Aber irgendetwas war in der Art ihrer Wörter gewesen, dass mich erstarren ließ, es verwirrte mich. Sah sie etwa einen Zusammenhang zwischen den beiden Unfällen? Würde Kirsten auch durch drehen? Versuchte man uns um zu bringen? War jemand hinter uns her? Warum um Himmels Willen hatte sie es mir erzählt? Bevor ich was sagen konnte, schob sie mich bereits raus. Nur widerwillig ließ ich es mit mir machen, immerhin hätte sie keine Chance gehabt, wenn ich mich geweigert hätte, doch ich dachte mir, dass ich sie morgen auch noch würde fragen können.

Vielleicht würde es uns beiden dann besser gehen. Ich würde mich beruhigen und sie wäre nicht mehr so nervös und aufgewühlt Dazwischen würde lediglich nur eine Nacht liegen. Eine Nacht, in der ich mir noch weitere Fragen überlegen könnte. Waren wir beide vielleicht das gleiche Automodell gefahren? War es dieselbe Strecke gewesen? Ich verließ das Klassenzimmer. Fast hatte ich die Ecke erreicht, als ich sah, wie zwei Aufseher in das Zimmer gingen, zusammen mit Miss Shaw verließen sie es. Sie winkte mir zum Abschied.
 

Ich sah sie nie wieder.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von: abgemeldet
2013-12-01T11:04:43+00:00 01.12.2013 12:04
So kann man sich auch täuschen. Ich begreife allmählich, dass Aiden den Eintrag erstellt hat und nicht sein Großvater. Ein Fauxpas oder ein Zeichen dafür, dass du mir als Leserin viel Freiraum für Fantasie und Interpretationen gelassen hast.
Außerdem ist die Überraschung des zweiten Kapitels umso größer.
Die Ausgangssituation dieses Kapitels ist beengend. Autofahrten habe ich negativ in Erinnerung. Vor allem, wenn es um ernste Gesprächsthemen geht. Ich bemerke eine gewisse Spannung, die von Aiden ausgeht. Etwas beschäftigt ihn und es überträgt sich auf die gesamte Situation. Er ist nicht zufrieden mit dem, was er hat und das beschreibst du sehr gut: „Wenn ich genauer darüber nachdachte, schien mir das ganze schon etwas stumpf und langweilig. Aber wegen demselben Herd wollte ich noch lange keine Rebellion anfangen.“ (Zeile 13-15).
Ich habe das Kapitel gerne gelesen und mich darauf eingelassen. Ich kann dir also sagen, dass die letzten beiden Seiten für mich sehr überwältigend waren. Du verlierst dich mit deiner Schreibweise nicht zu sehr in Details. Das gefällt mir gut, da ich mich schnell langweile. Ich war bis zum letzten Satz gefesselt und hoffe, dass du die Geschichte so bald nichts aufgibst.
Von: abgemeldet
2013-12-01T10:23:44+00:00 01.12.2013 11:23
Das erste Kapitel wirkt wie ein Tagebucheintrag von einem Großvater an seinen Enkelsohn.

Es scheinen Worte zu sein, die er nicht auszusprechen wagt („wenn du alt und bereit bist“, Zeile 14) und das macht die Geschichte spannend. Ich als Leserin frage mich „Was ist denn da los?“ und möchte so schnell wie möglich wissen, was auf dieser Welt/ in dem Zeitalter passiert ist.

Auf der anderen Seite kommt mir der Eintrag wie ein Abschiedsbrief vor. Großvater (ich wage ihn jetzt so zu nennen) hat die Hoffnung verloren. Er ist vielleicht in einer anderen Zeit aufgewachsen und kann sich nicht mit der Realität anfreunden. Etwas in die Richtung. Was es auch ist, es kommt mir als Leserin dramatisch vor. Natürlich möchte ich auch wissen, wer denn nun dieser Erzähler ist. Es wird nicht ausdrücklich klar, um wen es sich handelt. Deswegen die Spekulation „Ist es vielleicht der Großvater? Oder doch die Großmutter?“ – ich werde weiterlesen und das Mysterium für mich klären. Und du schreibst derweil weiterhin so spannende Geschichten! Einverstanden?

Von:  Zimtphilosophie
2013-10-22T16:24:01+00:00 22.10.2013 18:24
Ein derart tiefschürfendes Thema; in einer so gekonnten Art und Weise aufzugreifen; es trotz seiner Gewichtigkeit mit einer sehr angenehmen Leichtigkeit zu versehen; äußerst interessant. Sehr lebenskritisch & zutiefst philosophisch; sicherlich war dem auch so angedacht. Mit dir würde ich mich gerne einmal zusammensetzten & über Gott und die Welt philosophieren~ Ferner fand ich auch die zweischneidigen Haltung gegenüber dem Tod sehr gut gewählt bzw. dargelegt.

MfG
GrimmesqueFabulist
✖✐✖
Von:  Miasma
2013-09-11T20:20:02+00:00 11.09.2013 22:20
Hach, dein Schreibstil ist echt toll. <3 Außerdem finde ich es unheimlich interessant, mal eine solche Geschichte von dir zu lesen. Also eine, die in einem moderneren Setting spielt, ich kenne ja im Grunde bisher nur deine Postings aus dem RPG. Ist mal was anderes, aber ich muss sagen, es gefällt mir. :)
Wie gesagt, zur Rechtschreibung und Co. hatte ich mich ja schon geäußert. Und auch ansonsten finde ich es echt klasse, werde die Geschichte auf alle Fälle weiter verfolgen und hoffe sehr, dass auch noch ein paar andere darauf aufmerksam werden. :3


Von:  Miasma
2013-09-11T16:45:19+00:00 11.09.2013 18:45
Also gut, dann versuche ich mich mal an einem Kommentar (Gott, ich hab lange keine Stories mehr auf Animexx gelesen, MSTings mal ausgenommen...).
Also...Ich find's gut. :D Die Story, auch, wenn man hier noch nicht sonderlich viel drüber erfährt, klingt durchaus interessant und was die Charaktere betrifft, werd ich vielleicht im nächsten Kapi sagen können, was ich von denen halte. ;-)
Deinen Schreibstil mag ich sowieso und spontan hab ich auch nicht wirklich Fehler bezüglich der Rechtschreibung oder Grammatik entdeckt (hin und wieder hatte ich das Gefühl, dass hier und dort noch ein Komma mehr gepasst hätte, das war aber auch wirklich selten der Fall und ich kann mich auch irren).
Also, mach weiter so, ich werd mir jetzt noch das nächste Kapi zu Gemüte führen und schauen, was ich dann dazu sagen kann, aber ich bin mir relativ sicher, dass es mir gefallen wird. :D


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