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Seelensplitter

von

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Prolog

Hätte der Mann gewusst, welche Konsequenzen sein Handeln haben würde, er hätte sich die ganze Sache wohl zweimal überlegt.

Oder er wäre am Morgen dieses schicksalhaften Tages gar nicht erst aufgestanden.

Oder er hätte in der Schule besser aufgepasst und etwas Anständiges gelernt.

Oder, oder, oder…

So viele Möglichkeiten, wie man etwas anders hätte machen können und doch ist es zu spät.

Denn genauso wie niemand die Zukunft kennt, so kann niemand die Vergangenheit ändern.

Und die Vergangenheit ist mächtig. Sie kann über schwere Zeiten hinweghelfen, sie kann einen Menschen aber auch in den Wahnsinn treiben.

Denn im Gegensatz zur Zukunft, die noch in weiter Ferne liegt und der Gegenwart, die zwar im Moment passiert aber in einem Wimpernschlag vergeht, ist die Vergangenheit allgegenwärtig und nimmt somit stets Einfluss auf Gegenwart und Zukunft.

Das alles war dem Mann in diesem Moment einfach nur egal.

Er wühlte durch die Fächer des Portemonnaies und steckte sich Geldscheine und Münzen einfach in die Taschen seiner dreckigen Hose, nur um die Geldbörse mit einer unachtsamen Bewegung von sich zu schleudern, sodass sie in einem mit dreckigem Wasser gefülltem Schlagloch liegen blieb.

Keinen Gedanken verschwendete er mehr an die Frau und das Mädchen, die er zwei Straßen weiter zurückgelassen hatte und deren Leben seinetwegen eine schlimme Wendung nehmen sollte.

Das erste Mal

Mein erstes Opfer? Ich bin sicher das kennen Sie. Schließlich gab es bei allen ähnliche Vorgehensweisen.

Wie? Sie wollen es noch einmal von mir hören? Na gut, aber Sie sind selbst schuld, wenn ich Sie langweile!

Sicher nicht? Okay. Wie Sie wissen hatten meine Opfer offenbar keinen Zusammenhang, folgten keinem Muster.

Ach, dass glauben Sie nicht? Jeder Mörder folgt einem Muster? Naja, ich denke Sie haben Recht!

Was mein Muster war? Ich denke, das werden Sie im Laufe unserer Unterhaltung selbst herausfinden. Aber jetzt hören Sie zu!
 

***

Der Mann schleifte die Leiche hinter einen Müllcontainer, ohne zu bemerken dass er fotografiert wurde.

Die hochauflösende Kamera machte selbst im Dunkeln gute Bilder und auch ohne Blitz konnte man zweifelsfrei alles erkennen.

Monate lang war sie ihm gefolgt, hatte beobachtet, fotografiert, dokumentiert.

Hatte sich gezwungen zuzusehen wie er ein Mädchen missbrauchte und ermordete, während die Welt weg- und die Polizei Hinweise übersah.

Himmel, Tom Marshall hätte seine Visitenkarte neben dem Opfer liegen lassen können ohne auch nur befragt zu werden.

Der einzige Polizist der je einen juristischen Schritt gegen den jüngsten Sohn der Marshallfamilie gewagt hatte war drei Tage später vom Dienst suspendiert worden, hatte eine gefälschte Anzeige wegen Bestechlichkeit am Hals und es außerdem plötzlich sehr eilig, aus der Stadt wegzuziehen.

Nicht das er Drohbriefe oder so etwas erhalten hätte… Nicht doch!

Da Tom inzwischen verschwunden war richtete sie sich auf und streckte ihre steifen Glieder.

Bei dieser Kälte war ein Dach zwar der beste aber nicht der angenehmste Aufenthaltsort, wenn man heimlich jemanden beobachten wollte.

Aber egal, in kürze wäre das ganze sowieso erledigt. In drei Tagen wollte sie zuschlagen.
 

Mit den Händen strich sie über das rote Spitzenoberteil und den engen Lederminirock, die jede einzelne Kurve ihres Körpers extra betonten.

Ihr Haar hatte sie zu zwei hohen Rattenschwänzen zusammengefasst.

Das Gesicht wirkte durch den gekonnten Einsatz von Make-up wesentlich jünger und leicht verändert.

Lippen etwas voller, Augen etwas größer, ein paar Sommersprossen… und schon erkannte einen die eigene Mutter nicht wieder. Wenn man denn eine hatte.

Wie auch immer, sie entsprach genau Toms üblichem Beuteschema.

Kindfrauen. Sogenannte Lolitas. Perverses Schwein!

Ihre mittelhohen Absätze klackten über den Steinboden, aber das störte weder sie noch sonst jemanden.

Die Geheimgänge des alten Herrenhauses, das seit Generationen der Familie ihres Adoptivvaters gehörte, waren zwar nicht in Vergessenheit geraten, wurden aber nicht mehr genutzt, seit Damian und sie nicht mehr darin verstecken spielten.

Wie auch immer, es war ein guter Weg um ungesehen irgendwohin zu gelangen und die Wege die sie wählte führten sie in die Nähe der Stadt, nur einen Katzensprung von ihrem Ziel entfernt.

Die Luft im Club war ekelig. Das Gemisch aus Schweiß, Alkohol und Parfüm löste beinahe Brechreiz aus, aber es war ja schließlich noch niemand erstunken.

Also saß sie tapfer auf einem Barhocker mit Sicht auf die Tür und nippte an ihrer Cola.

Das Getränk wurde langsam warm, was den Geschmack nicht gerade verbesserte und so war sie heilfroh, als Tom endlich im Türrahmen erschien.

So unglaublich berechenbar…

Der nächste Teil war denkbar einfach: nachdem sie einige Zeit lang gewartet hatte glitt sie vom Hocker, zupfte kurz ihre Kleidung zu recht und bahnte sich ihren Weg durch die Menge.

Am Ziel angekommen stolperte sie absichtlich über ihre eigenen Füße, geriet ins straucheln und stieß mit jemandem zusammen.

„Hoppla, tut mir leid!“ stammelte sie und blickte schüchtern in das gutaussehende Gesicht von Tom Marshall Junior, benannt nach seinem Großvater mütterlicherseits.

Mit dem breiten Schultern, den karamellfarbenen Augen und den goldblonden Haaren sah er wirklich super aus und so viel es ihr nicht schwer rot zu werden, als er ihr ein charmantes Lächeln schenkte.

„Aber nicht doch! So ein kleines Missgeschick kann doch jedem Mal passieren.“

Sie schaffte es irgendwie noch ein bisschen röter zu werden und begann, die Haarspitzen ihres rechten Zopfs um ihren Zeigefinger zu zwirbeln.

„Ich bin die Absätze nicht gewöhnt!“ mit diesen Worten drehte sie sich und winkelte ihr linkes Bein an, sodass ihr Fuß nach oben zeigte und man ihre Schnallenstiefel mit den fünf Zentimeterabsätzen sehen konnte ohne sich zu bücken.

Dabei verlor sie wieder das Gleichgewicht und griff nach Toms Arm um nicht umzufallen.

„Sorry, ich habe wohl etwas zu viel getrunken…“ ein scheues Lächeln und ein erneutes zwirbeln, diesmal an ihrem linken Zopf.

„Kein Problem!“ ein erneutes Zahnpastalächeln.

„Komm, ich spendiere dir noch etwas zu trinken und wir unterhalten uns ein bisschen!“

„Gerne! Eine Cola wäre nicht schlecht, von Alkohol lasse ich besser für den Rest des Abends die Finger.“

Ein attraktives Lachen, dann ging er zur Bar und redete auf den Barkeeper ein.

Kurze Zeit später kam er mit zwei Gläser zurück und steuerte auf eine der Sitzgelegenheiten im hinteren Teil des Clubs zu.

Sie folgte ihm leicht schwankend, sie wollte den Eindruck erwecken schon recht angetrunken zu sein.

Das Opfer das sie mit ihm gesehen hatte wirkte betrunken oder betäubt und so war sie auf alles gefasst.

Daher entging ihr auch die unauffällige Handbewegung nicht die Tom über ihrem Glas machte.

Es sah aus, als ob er etwas hineingeschüttet hätte und als er sich jetzt setzte wanderte seine Hand unauffällig zur Tasche seines Hemdes.

Alle Bewegungen waren ihr nur aufgefallen, weil sie darauf geachtet hatte und jetzt verstand sie auch, warum er so viele Mädchen hatte töten können.

Er war zwar ein mordender Perversling, aber er war auch geschickt darin Menschen zu manipulieren.

Die Mädchen waren ganz offensichtlich nicht betrunken sondern betäubt gewesen und dieses Mittel hatte es offenbar in sich, was sich an dem kurzem Aufflackern in seinem Blick zeigte, als sie noch im stehen das Glas nahm und so tat, als würde sie einen großen Schluck trinken, während sie sich auf die gepolsterte Bank sinken ließ.

Nun blieb noch ein Problem: wie wurde sie das verdammte Glas los? Oder eigentlich eher den Inhalt.

Das Problem löste sich von selbst: Eine attraktive Brünette stöckelte auf ihren vierzehn Zentimeter High Heels zu ihnen herüber und zog eine fantastische Show ab, bei der nur noch fehlte, dass sie sich auf dem Tisch räkelte.

Ihr Plan Toms Augenmerk auf sich zu lenken geklappte zwar nicht, aber bis der Mitte zwanzigjährige sie abgewimmelt hatte war der Großteil ihres Getränks einer hilfsbedürftigen Pflanze gespendet worden und als Marshall Junior sich wieder ihr zuwandte setzte sie gerade das Glas auf der Tischplatte ab.

„Himmel hatte ich Durst!“ Mit einem koketten Lächeln schlug sie die Beine übereinander, jetzt musste sie nur noch abwarten.

„Ist alles in Ordnung, du siehst blass aus“ meinte Tom keine zehn Minuten später.

„Alles klar, ich bin nur ein bisschen müde!“ sie ließ den Worten ein herzhaftes Gähnen folgen, das sie hinter vorgehaltener Hand verbarg.

Wobei, machte das Mittel eigentlich wirklich nur müde?

Verdammt, warum hatte sie das vorher nicht bedacht? Wie sollte sie sich nun verhalten?

„Komm, ich bringe dich nachhause!“

Tja, da konnte sie wohl nur mitspielen und hoffen, dass er ihr nicht auf die Schliche kam.

„Nicht nötig!“ ein erneutes Gähnen während sie aufstand.

„Ich kann laufen!“

„Aber, aber! Ich kann doch ein so junges, hübsches Ding nicht alleine bei Nacht durch die Gegend laufen lassen! Was da alles passieren könnte!“

Vermutlich weniger als bei ihm, aber diesen Gedanken behielt sie für sich und nannte eine Adresse, die in einem Wohnviertel in der Nähe lag, zu Fuß etwa eine halbe Stunde entfernt.

Eine Hand auf ihrem unteren Rücken bugsierte er sie durch den Club, wobei seine Hand ihrem Hintern etwas zu nahe für ihren Geschmack kam.

An der Garderobe legte sie ihre Handtasche kurz beiseite um ihre Jacke überzuziehen und hängte sie sich wieder um, sodass sie über ihrer rechten Schulter hing.

Das Messer darin schien plötzlich unglaublich schwer und durch das Material hindurch zu scheinen.

Oh Gott, was wenn er sie durchschaut hatte?

Wenn er sie irgendwann in den letzten Monaten bemerkt hatte?

Warum hatte sie sich das Ganze nicht besser überlegt?

In diesem Moment legte sich die Hand wieder auf ihren Rücken und schob sie zur Tür hinaus.

Tja, Augen zu und durch!

„Liegt mein zuhause nicht in der anderen Richtung?“ sie gähnte wieder und begann mit Absicht stärker zu schwanken.

Der Arm schlang sich weiter um ihre Hüfte und unvermittelt wurde sie in eine Seitenstraße gezerrt.

„Mein Auto steht hier!“

Sein Auto? Na klar! Hielt der Kerl sie etwa für dämlich?

Wer stellte denn bitte einen Mercedes CLA in einer schlecht beleuchteten Seitengasse ab?

Im nächsten Moment fand sie sich an einer Wand wieder und Tom drückte ihre Handrücken dagegen, während er sein Knie zwischen ihre Beine schob.

„So meine schöne, jetzt haben wir beide noch ein bisschen Spaß!“

Sein Grinsen hatte jetzt absolut nichts Charmantes mehr an sich und urplötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich in irgendeinem Loch zu verkriechen.

Sie versuchte die Arme frei zu bekommen um an ihr Messer zu gelangen, aber der Griff an ihren Handgelenken war zu stark.

Und am Treten hinderte sie sein Bein.

Na toll! Wirklich super!

Warum zur Hölle hatte sie nicht weiter gedacht?

Immerhin hätte ihr klar sein müssen, dass er nicht einfach stillhalten würde.

Aber irgendwie hatte sie gedacht, dass sich alles von selbst ergeben würde, wenn sie erst mal seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Sie war eben doch eine sechzehnjährige Witzfigur!

Verwöhnt und in der Kindheit traumatisiert. Keine gute Kombination!

Dass sie während ihres Gedankengangs aufgehört hatte sich zu wehren sah Tom offenbar als Zeichen der Zustimmung oder Aufgabe und so ließ er ihre Hände los, um seine über ihren Körper wandern zu lassen.

‚Okay Mädchen! Konzentrier sich! Erinnere sich an das, was Lucas dir über Selbstverteidigung beigebracht hat!‘

Inzwischen schob der Mann ihr die Jacke von den Schultern, und als er wieder näher kommen wollte schob sie ihn von sich weg, was den jüngsten Marshallsohn allerdings nur zum Lachen brachte.

Wieder ergriff er ihre Handgelenke, aber diesmal war sie vorbereitet.

Mit voller Wucht traf ihr Absatz auf seinen Fuß, wodurch sich sein Griff lockerte.

Mit einer Bewegung, die Lucas mit ihr bis zu Perfektion geübt hatte, befreite sie ihre rechte Hand und rammte ihm den Ellenbogen mitten ins Gesicht, genau auf die Nase.

Blut durchtränkte den Spitzenstoff ihres Ärmels, aber das ignorierte sie und rammte ihrem Gegenüber das Knie in die Weichteile.

Stöhnend sank Tom Junior auf die Knie und sie lies ihren Ellenbogen mit aller Kraft auf seinen Solarplexus knallen.

Der Mann kippte um wie der sprichwörtliche Sack Reis in China.

Wirklich ein guter Punkt, da hatte der Butler ihrer Adoptivfamilie Recht gehabt.

Sie bückte sich nach ihrer Handtasche und holte das lange, scharfe Messer heraus, das sie aus der Küche hatte mitgehen lassen.

‚Ein Glück hält die Köchin auch ihre Ersatzmesser schön scharf‘ dachte sie während sie es aus dem Tuch wickelte.

Kurz überlegte sie was sie jetzt tun sollte.

„Na wie fühlt sich das an?“ fragte sie das röchelnde Bündel unter sich.

Ihr Schlag war nicht stark genug gewesen um ihn bewusstlos zu schlagen, aber er hatte ihm immerhin alle Luft aus den Lungen getrieben.

Die hübschen, karamellfarbenen Augen hatte er panisch aufgerissen.

„Wie fühlt es sich an ein Opfer zu sein? Wie ist es, wenn man für die eigenen Taten gerade stehen muss, ohne die Hilfe von Mummy und Daddy?“ ihre Stimme war nur noch ein höhnisches Zischen, während sie sich auf seine Brust setzte.

„Du hast den Mädchen die Pulsadern aufgeschnitten und zugesehen wie sie verbluten, während du sie wieder und wieder vergewaltigt hast! Soll ich das gleiche mit dir machen? Getreu dem Motto: Auge um Auge, Zahn um Zahn?“

Ein verängstigtes Kopfschütteln.

„Keine Sorge! Ich bin vielleicht verrückt, aber so tief bin ich noch nicht gesunken! Die Schläge waren für all die Mädchen, die deinetwegen sterben mussten!“

Mit zitternden Händen hob sie das Messer.

‚Mama, Papa, gebt mir Kraft!‘

„Und das, das ist für Lucia Edvans!“

Mit diesen Worten rammte sie ihm das Messer in den Hals.

Danach geschah alles wie in Trance.

Blut spritze auf ihr Oberteil und ihren Rock, aber sie bemerkte es kaum.

Mechanisch stand sie auf, zog die Klinge wieder aus Toms Hals und wischte sie an seinem Hemd ab, um sie anschließend wieder einzuwickeln und in ihrer Tasche zu verstauen, nachdem sie ihm damit eine altmodische Balkenwaage in die Stirn geritzt hatte.

Während sie wieder in ihre Jacke schlüpfte sah sie sich um, konnte aber nichts entdecken, was auf sie hingewiesen hätte.

Das ganze Blut würde hoffentlich sämtliche DNA-Spuren unbrauchbar machen.

Jetzt musste sie nur noch nach Hause!

Sorgen ob sie jemand gesehen hatte machte sie sich nicht, in dieser Gegend sicherten die Leute ihre Türen mit drei zusätzlichen Schlössern und verrammelten nachts ihre Fensterläden.

Auf dem Weg zurück zum Geheimgang machte sie einen Abstecher zum Polizeipräsidium, wo sie einen Umschlag unter der Tür durchschob, darauf bedacht, das Papier nicht mit der bloßen Hand zu berühren.

Danach

Danach? Sie wollen wissen, was direkt danach passiert ist?

Ach so, Sie wollen also herausfinden, warum ich es tat und wie es mir danach ging!

Also, Leid tat es mir nicht. Er war ein Monster und er hätte schlimmeres verdient.

Darüber zu urteilen steht mir nicht zu? Warum nicht? Wenn korrupte Richter und bestechliche Polizisten darüber entscheiden können, warum dann nicht auch ich? Mir hat wenigstens keiner ein Bündel Geldscheine in die Hand gedrückt!

Hmpf! Überhalten wir uns lieber wieder über unser ursprüngliches Thema!
 

***
 

Zuhause angekommen duschte sie erst mal.

Während das warme Wasser über ihren Körper lief begann der Schleier sich langsam zu lüften und die Wahrheit sank in ihr Bewusstsein.

Sie hatte einen Menschen getötet!

Einen mordenden Perversling zwar, aber doch einen Menschen.

Sie stieß die Tür der Duschkabine auf und schaffte es gerade noch bis zum Klo, wo sie sich erst übergab und anschließend weinend zusammenklappte.

Wie lange sie schluchzend und zitternd auf den kalten Fliesen gesessen hatte konnte sie hinterher nicht sagen, aber irgendwann beruhigte sie sich wieder.

Die Tränen trockneten, die Schluchzer ließen nach und sie griff nach ihrem Zahnputzbecher um sich den Mund auszuspülen.

Ein paar Spritzer kaltes Wasser ins Gesicht, dann nahm sie das Handtuch und rubbelte über ihre Haut, bis sie sich nicht mehr eiskalt anfühlte.

Es war vier Uhr morgens und sie war todmüde, aber Schlaf würde sie keinen finden.

Ihr Lieblingsschlafanzug, ein verwaschenes T-Shirt Größe XL, gab ihr ein herrliches Gefühl von Normalität und sie öffnete ihren Schrank um ein altes, abgenutztes Stofftier in Form eines blauen Elefanten herauszuholen.

Wenn sie die Augen schloss und tief einatmete glaubte sie oft, das Parfüm ihrer Mutter zu riechen, auch wenn das nach acht Jahren vermutlich Wunschdenken war.

Trotzdem war der Gedanke tröstlich und so drückte sie das Plüschtier gegen ihre Brust, während sie die Treppe hinunter in die Küche ging um sich einen Kakao zu machen.

Im Wohnzimmerkamin glomm noch ein Rest Glut und so setzte sie sich auf ein bequemes Sofa in der Nähe, wickelte sich in einen flauschigen Teppich und nippte an ihrem Getränk, einen Arm fest um ihren Elefanten geschlungen, den sie als Kind ‚Mogli‘ getauft hatte.

In dieser Position musste sie irgendwann eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen um exakt sechs Uhr dreiundvierzig weckte sie das ganze Haus, als sie kreischend aus einem Albtraum erwachte.

Die Tasse, die sie im Schlaf offenbar fest umklammert hatte, flog im hohen Bogen durch die Luft, drehte sich mehrmals um die eigene Achse und zersprang mit lautem Klirren auf den Marmorfliesen.

Der Rest Schokomilch, der sich noch in der Tasse befunden hatte, hinterließ hässliche Flecken auf dem kuschelig weichen Läufer vor der Couch.

Lucas Edvans, der Butler der Familie, kam als erstes ins Wohnzimmer gerannt, dicht gefolgt von Damian.

Hinter ihnen folgten gemesseneren Schrittes Richard und Beatrice von Siegel, ihre Adoptiv- und Damians leibliche Eltern.

„Alera? Was ist denn los meine Kleine?“

Vorsichtig, als würde er sich einem verwundeten Tier nähern, ging Lucas auf sie zu und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Blut! Blut!“ sie stieß seine Hand weg, als ob sie sich daran verbrannt hätte.

„Überall! Es geht nicht ab!“

Sie starrte mit einem absolut fassungslosen Gesichtsausdruck auf ihre Hände, als ob sie vor Blut nur so trieften, obwohl das natürlich absoluter Blödsinn war.

„Ruhig! Ganz ruhig! Es ist alles in Ordnung, du bist zuhause! Hier tut dir niemand etwas!“

Vorsichtig nahm er ihre Hände in seine, betrachtete die Handflächen und sah dort nicht mehr als die halbmondförmigen Abdrücke ihrer langen Fingernägel.

„Siehst du, deine Hände sind sauber!“

Misstrauisch inspizierte sie ihre Finger noch einmal, hob dann den Blick und Lucas stellte er leichtert fest, dass sie ihn wahrnahm und der Nachhall des Albtraums langsam von ihr wich.

„Ich habe mal wieder alle aufgeweckt, oder?“

Schuldbewusst senkte sie den Kopf und zog den Teppich enger um sich.

„Das ist doch halb so schlimm, dann kommen wir wenigstens nicht zu spät zur Schule!“

Typisch Damian! Ihr Bruder würde sogar im Weltuntergang noch einen Vorteil sehen.

„Damian mein Liebling, es ist Sonntag, ihr müsst nicht in die Schule!“ die warme, weiche Stimme seiner Mutter, die früher Sängerin gewesen war, löste das restliche bisschen Spannung auf, das noch im Raum gehangen hatte.

Ein leises Kichern stahl sich über ihre Lippen, auch wenn es gefälscht klang.

„Sonntag? Dann hast du heute nicht eine Verabredung mi diesem Idioten?“

„Dieser Idiot heißt Ed!“

„Ändert nichts daran, dass er ein Idiot ist!“

Okay, das stimmte zwar, aber trotzdem!

„Hey, immerhin sieht er süß aus!“

„Klar und das gleicht seine übrigen Fehler wieder aus!“ Damian brach in schallendes Gelächter aus.

Sie ließ ein gespielt beleidigtes Schnauben hören und stolzierte aus dem Raum.

„Ich gebe dem Kerl ne Woche!“ meinte Lucas trocken.

„Wir beide sind vorsichtig optimistisch und geben ihm drei Tage!“ Richard legte seiner Frau den Arm um die Schultern, als diese hinter ihrer Adoptivtochter her sah.

„Hey, ich kann euch hören!“ lautes Gelächter aus dem Treppenhaus, auch wenn es etwas gekünstelt klang.
 

Der Bericht kam am Nachmittag.

„Lucas! Mum! Dad! Alera! Das müsst ihr euch ansehen!“

Damians Schrei lockte sogar Betty aus der Küche.

Über den Fernseher im Wohnzimmer flimmerte gerade eine Nahaufnahme von Tom Marshalls Leiche, bei deren Anblick sie beinahe wieder ihren Mageninhalt von sich gegeben hätte.

„…wurde heute Morgen von einem Hundebesitzer entdeckt. Wir haben zwar noch keine Bestätigung von der Polizei erhalten, aber ich denke die Todesursache war ein Schnitt in die Kehle. Der genaue Tathergang sowie das Motiv sind noch unklar.“

Unklar?

Jeder wusste, dass der Kerl Dreck am Stecken hatte!

Es wurden einfach nur die richtigen Leute bestochen!

Was war daran bitteschön unklar?

„Hauptkommissar Swan? Gibt es schon irgendwelche Hinweise auf ein Motiv oder den Täter?“

Der Hauptkommissar war ein kleiner, dicker Mann mit fettiger Haut und Senfflecken auf seiner Uniform.

Er war mit einem Wort zu beschreiben: eklig!

Wenn die Schwäne im Park wüssten, was für einen Namensvetter sie hatten würden sie vermutlich aus Scham die Köpfe in den Sand stecken.

„Nein, bis jetzt konnten wir keinerlei Hinweise finden. Weder auf eine Person noch auf ein Motiv.“

„Was ist mit den Gerüchten, Tom Marshall sei in kriminelle Machenschaften verwickelt?“

„Für diese Behauptungen gibt es keinerlei Beweise, daher halte ich sie zu Recht für Unfug!“

Hätte sie in diesem Moment etwas in der Hand gehalten, sie hätte es fallenlassen.

Keinerlei Beweise?

Sie hatte gestern einen Umschlag mit genügend Beweisen um ihn in zehn Ländern lebenslänglich einzusperren unter seiner Tür durchgeschoben und der Kerl hatte keinerlei Beweise?

Waren ein Zettel mit der Aufschrift „darum musste er sterben!“ und Fotos auf denen er ein Mädchen vergewaltigte und tötete nicht genug?

Ihre Nägel gruben sich in den Lederbezug des Sessels.

Toll!

Die Polizei, dein Freund und Helfer.

Zumindest wenn man genug zahlte.

Da hätte sie ihn gleich beim ersten Mal umbringen können!

Dann würden das letzte Opfer von Tomas Marshall, alias „bloody Lolita“ wie die Presse ihn nannte, jetzt noch leben.

Warum hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht, Beweise zu sammeln?

Hätte sie sich eigentlich schenken können.

‚Weil es sonst keinen Unterschied zwischen dir und ihm geben würde! Ohne Beweise wäre es einfach nur Mord gewesen!‘

Dieser Gedanke war zwar wahr, aber leider wenig tröstlich.

„Hat dieser Mistkerl endlich bekommen was der verdient!“ Beatrices Stimme durchschnitt die Stille, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

„Es gibt also doch einen Gott!“

Alle Blicke wanderten zu Lucas, der mit totenbleichem Gesicht auf den Plasmabildschirm starrte.

„Wer auch immer das war, ich bin ihm zu ewigem Dank verpflichtet. Nun kann meine Tochter in Frieden ruhen!“

Sie biss sich auf die Lippe und schloss die Augen, in der Hoffnung, die Tränen am fliesen zu hindern.

Lucas.

Der Grund für ihre Taten.

Lucia Edvans war vor etwa drei Monaten nicht mehr nach Hause gekommen.

Zwei Tage später hatte man sie vergewaltigt mit aufgeschnittenen Pulsadern in einer Seitenstraße gefunden.

Mehrere Zeugen hatten ausgesagt, sie hätten Lucia zusammen mit Tom Marshall gesehen, aber in diese Richtung war nicht weiter ermittelt worden, besonders nachdem die Männer zwei Tage später urplötzlich unter Gedächtnisschwund litten und, ihren blauen Flecken nach zu schließen, am Tag vorher offenbar Bekanntschaft mit Türen, Hauswänden oder Laternenpfählen gemacht hatten.

Da hatte sie beschlossen, die Gerechtigkeit in die eigenen Hände zu nehmen.

Oder eben ein Messer, da es mit der Gerechtigkeit offenbar nicht weit reichte.

Lucia, mit ihren dunkelbraunen Haaren und den großen braunen Augen.

Lucia, die nie jemanden etwas getan hatte.

Lucia, die es nicht verdient hatte etwas so grauenhaftes zu erleben.

Und grauenhaft musste es gewesen sein, denn ihr noch kindliches Gesicht war zu einer Maske des Grauens, der Angst und des Schmerzes erstarrt gewesen, während ihre leeren Augen ausdruckslos in den Himmel starrten.

Genau wie die übrigen der insgesamt zwölf Mädchen, die auf diese Weise umgebracht worden waren.

Sie schüttelte die schrecklichen Bilder ab, öffnete ihre Augen wieder und richtete den Blick auf Lucas.

„Es ist vorbei!“

Halbgott in Weiß

Halbgott in Weiß
 

Und dann? Ich lebte ganz normal weiter, was sonst? Ich hatte mein Ziel ja schließlich erreicht!

Warum ich dann mehr als einen Mord begangen habe? Was glauben Sie denn?

Wie bitte? Sie glauben Roman Petricov war ein guter Mensch? Er war ein Monster, das seine Macht skrupellos ausnutzte! Und damit meine ich nicht, dass er sich hinter Mamis und Papis Geld und Einfluss versteckte!
 

***
 

Zwei Monate nach Tom Marshalls Tod hatte sich ihr Leben wieder normalisiert.

Wenn man mal von den Albträumen absah.

Aber die hatte sie schon seit sie ein Kind war, daher wunderte das sowieso niemanden.

Alle dachten, der Tod von Lucias Mörder habe den alten seelischen Müll wieder aufgewirbelt und zum Teil stimmte das auch.

Wie auch immer, nach etwa zwei Monaten fiel ihr auf, dass Rose, eine ihrer Klassenkameradinnen, sich seltsam verhielt.

Sie war noch ruhiger als sonst und zuckte bei jeder Berührung zusammen.

Einmal, als der Mathelehrer sich von hinten über sie beugte um zu sehen ob er ihr helfen konnte, schrie sie so laut, dass die Lehrer von neben an kamen um nach dem Rechten zu sehen.

Das war doch wirklich zu seltsam.

In der Mittagspause saß sie alleine an einem Ecktisch, stocherte in ihrem Essen herum und starrte dabei ein Loch in die Wand.

Das war doch mal eine Gelegenheit!

Mit einem Tablett in der Hand schlenderte sie lässig zu Roses Tisch hinüber und setzte sich einfach auf den Stuhl gegenüber.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Der Blick ihrer Mitschülerin fokussierte sich auf ihr Gegenüber.

„Du sitzt doch schon!“

„Danke!“ ein zuckersüßes Lächeln, mit dem sie einen Großteil der Welt täuschen konnte.

Rose bildete da keine Ausnahme.

Ihr Blick sagte ganz eindeutig: ‚lass mich bloß in Ruhe, du eingebildete Ziege!‘

Ein Image, das sie kultivierte seit sie vierzehn war.

Sie spießte ein Stück Tomate auf und schob es in den Mund.

„Du bist in letzter Zeit so komisch!“ meinte sie nachdem sie geschluckt hatte.

Die grüngesprenkelten Augen verengten sich misstrauisch.

„Was meinst du damit?“

„Was wohl? Du zuckst andauernd zusammen und sprichst kaum noch!“

Sie zeigte mit einem Stück aufgespießter Gurke auf Rose.

„Ich wüsste nicht, was dich mein Leben angeht! Wenn ich ständig zusammenzucke ist das ja wohl meine Sache! Und selbst wenn nicht: Was könntest du schon tun?“

Mit diesen wenig schmeichelnden Worten erhob sich die Rothaarige, schnappte sich ihr Tablett mit dem immer noch vollem Teller Spaghetti und verließ den Speisesaal, als wäre jemand hinter ihr her.

‚Getroffener Hund jault!‘ mit diesem Gedanken schob sie sich ein weiteres Salatblatt in den Mund.

Rose Müller war irgendetwas passiert.

Etwas Schlimmes.

Das wusste sie deswegen, weil sie sich genauso verhalten hatte, nachdem man sie als verängstigte achtjährige blutverschmiert in einer dunklen Seitengasse gefunden hatte.

Allerdings war Alera Benett von Siegel wohl nicht die richtige Person um herauszufinden was.
 

‚Das ist fast zu einfach!‘ dachte sie sich, als sie eine Woche später um das Haus der Familie Müller herumschlich.

Rose verabschiedete sich gerade an der Haustür von ihren Eltern und so konnte sie einfach über die offene Terrassentüre ins Wohnzimmer spazieren und sich in einen Sessel beim Fenster setzten.

Dieses Mal hatte sie sich komplett anders gekleidet: eine bequeme Stoffhose, einen dünnen Rollkragenpulli und Handschuhe, alles in schwarz.

Damit ihre Mitschülerin sie nicht erkannte, hatte sie sich einen Schal in der gleichen Farbe um den Kopf geschlungen, dessen Sitz sie noch einmal überprüfte.

Das Ende das ihr ins Gesicht hing überschattete immer noch ihre Gesichtszüge, ohne ihre Sicht zu behindern.

Perfekt!

Elegant schlug sie die Beine übereinander und lehnte sich im Sessel zurück.

Beim hereinkommen übersah Rose ihren schwarzen Besucher erst mal.

„Guten Tag!“ sie ließ ihre Stimme möglichst sanft klingen, sprach ein bisschen höher als sonst.

„Waah!“ mit einem erschrockenen Aufschrei fuhr die junge Frau herum und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Gestalt in ihrem Wohnzimmer.

„W..was wo..wollen Sie?“

Die kleinen Hände verkrampften sich, ihr ganzes Gesicht drückte Panik aus.

Aber wen wunderte das?

Sie sah im Moment nicht wirklich vertrauenswürdig aus.

„Informationen! Was hat man Ihnen angetan und warum?“

„I..ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!“

„Plötzlicher Rückzug, verängstigtes zusammenzucken, panischer Blick, Ausflüchte… Alles Verhaltensweisen von Opfern. Und zwar Opfern von extremen Gewalttaten!“

Rose griff nach ihrem Zopf, dessen Farbe sie ihren Namen verdankte.

Die Köchel traten weiß hervor, das Gesicht eine gekünstelt ausdruckslose Maske, wodurch es mehr verriet als versteckte.

„Sie müssen mir nicht antworten. Aber dann kann ich Ihnen auch nicht helfen. Wer auch immer Ihnen was auch immer angetan hat, er wird unbescholten davonkommen und im schlimmsten Fall sogar weiter machen, wenn Sie nicht mit jemanden sprechen!“

Dieses Argument klang logisch und so lies Rose ihr dunkelrotes Haar los und setzte sich auf das Sofa.

„Wollen Sie etwas trinken?“

Offenbar ein letzter Versuch, die Sache hinauszuzögern.

„Nein Danke!“

Auf keinen Fall würde sie hier DNA zurücklassen.

„Aber vielleicht sollten Sie sich selber eine heiße Schokolade machen!“

Zumindest ihr selbst hatte das immer geholfen.

„Ich mag keine Schokolade!“

„Dann eben nicht!“

Sie zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück.

Jetzt hieß es warten bis Rose anfing zu reden.

Und wie sie aus eigener Erfahrung wusste: das konnte dauern!

Nach etwa einer halben Stunde stand sie auf.

„Es muss nicht jetzt sein. Kennen Sie den See im Park?“

Rose nickte.

„Am Ufer steht eine Trauerweide, in deren Stamm sich ein großes Astloch befindet. Legen Sie einen Zettel mit Ort und Zeit hinein, wenn Sie soweit sind! Ich werde kommen!“

Länger konnte sie nicht bleiben da sie keine Ahnung hatte, wann das Ehepaar Müller wieder zurück kam.
 

Zwei Wochen später fand sie einen Zettel an der beschriebenen Stelle.

Oder besser gesagt: unter der beschriebenen Stelle.

Da der Erbauer des Hauses von Familie Siegel sehr… paranoid gewesen war führten die Geheimgänge des Anwesens nicht nur von einem Zimmer ins andere, sondern auch aus dem Haus zu verschiedenen Orten innerhalb und außerhalb der Stadt.

Einer dieser Tunnel verlief unter dem Park und unterhalb der Trauerweide war ein Lüftungsloch, verborgen durch den von Natur aus hohlen Stamm.

Wurzeln und herausstehende Steine dienten als Fußtritte, während sie innen nach oben kletterte, bis sie auf Höhe des Astlochs war und nach dem Zettel greifen konnte.

Wieder in ihrem Zimmer fischte sie das Papier aus der Tasche ihrer Sporthose und faltete es auseinander.

Dienstag, einundzwanzig Uhr, Grillplatz im Wald.

Mehr stand da nicht.

War allerdings auch nicht nötig.

Sie würde da sein.
 

Um diese Jahreszeit wurden Grillplätze selten benutzt.

Zumindest abends.

Auch wenn es Ende April tagsüber schon recht warm war, nachts war es noch verdammt kalt und so kuschelte sie sich tiefer in das weite Sweatshirt, das sie Damian geklaut hatte.

„Hallo!“

Wieder zuckte Rose erschrocken zusammen.

„Ha…hallo!“

Im Schatten des Baumes war sie kaum zu sehen, ein weiterer Grund für die schwarze Kleidung.

Außerdem fiel so das Verstecken im Dunkeln wesentlich leichter.

Nur für den Fall, dass Rose irgendetwas plante.

„Ich… ich weiß nicht wo ich anfangen soll.“

„Wie wäre es mit dem Anfang? Etwas Einfaches?“

„Einfach? Nichts daran ist einfach!“

Rose schnaubte und kaute auf ihrem Daumennagel herum.

„Sie werden es kaum glauben, aber das weiß ich. Besser als Sie sich vorstellen können!“

Die Rothaarige kaute noch einige Minuten schweigend weiter, dann holte sie tief Luft und stieß einen schweren Seufzer aus.

„Es… ich…vor anderthalb Monaten kam ich ins Krankenhaus. Nichts Ernstes, nur der Blinddarm, die Operation habe ich gut überstanden.“

Sie schwieg einfach, lies Rose reden.

Ihr selbst war das Erzählen immer am leichtesten gefallen, wenn man ihr einfach nur zuhörte.

„Ein paar Tage nach der OP kam dieser Arzt in mein Zimmer. Er fragte, wie es mir ginge und so weiter, las ein bisschen in meiner Krankenakte… Was Ärzte halt so tun!“

Sie holte tief Luft und schlang die Arme um den Körper, offenbar bereitete sie sich auf den schwersten Teil ihrer Erzählung vor.

„Dann gab er mir eine Spritze, redete irgendwas von Thrombose und Schmerzmittel, aber ich merkte sofort, dass etwas nicht stimmte! Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht mehr sprechen! Mein Körper wurde taub, ich konnte mich nicht mehr bewegen!“

Inzwischen redete sie so schnell, dass es schwierig war zu verstehen was sie sagte.

Und je mehr sie erzählte, desto mehr wünschte Alera sich, sie hätte nie gefragt.

„Ich konnte die Augen nicht öffnen, aber er muss mein Oberteil aufgeknöpft haben, ich spürte seine Hände auf meiner Haut… Er… er…“

„Sie müssen nicht weiterreden! Den Rest kann ich mir denken!“

Sie ließ ihre Stimme so sanft wie möglich klingen, aber Rose brach trotzdem in Tränen aus.

Mit dem Handrücken versuchte sie sie wegzuwischen, während sie sich auf den glücklicherweise trockenen Waldboden sinken ließ und hemmungslos schluchzte.

„Ich konnte es niemandem sagen! Ich… ich habe mich so geschämt! U..u..nd er m..meinte, es würde mir j..a sowieso n..niem..and glauben.“

Bevor sie wusste was sie da eigentlich tat, hatte sie die junge Frau in die Arme genommen und strich ihr beruhigend über den Rücken.

„Ganz ruhig! Es ist nicht Ihre schuld! Wenn sich jemand schämen muss, dann er! Ruhig! Ruhig!“

Sie wusste nicht, wie lange sie diesen tröstenden Unsinn von sich gab, aber die Floskeln, die Lucas ihr in so vielen Nächten ins Ohr geflüstert hatte, zeigten offenbar Wirkung, denn irgendwann beruhigte Rose sich.

„Hören Sie! Sie müssen mir nicht mehr erzählen! Ich muss nur noch eines wissen: den Namen! Und wenn Sie jemals jemanden zum reden brauchen, Sie wissen, wie Sie mich erreichen können!“

Lange Zeit sagte die rothaarige gar nichts, sondern schluchzte nur leise vor sich hin.

Dann sah sie auf und urplötzlich lag wilde Entschlossenheit in ihren grüngelben Augen.

„Roman Petricov!“

‚Ach du Scheiße!‘ war alles, was ihr dazu einfiel.
 

Roman Petricov.

Ausgerechnet der bekannteste Arzt der Stadt und sogar darüber hinaus, seit ihm die spektakuläre Heilung eines hoffnungslosen Falles gelungen war.

Die totkranke Tochter eines reichen Kerls war auf wundersame Weise gerettet worden.

Tony Green hatte sich überaus erkenntlich gezeigt und auch Valeria lies nur Gutes über ihren Retter verlauten.

Die Folge: der junge, talentierte Arzt schwamm nun förmlich in Geld und war praktisch über Nacht zum Star der Ärztezunft avanciert.

Gut für ihn, schlecht für seine Opfer.

Es musste mehrere Opfer geben!

Was Rose erzählt hatte klang nach Routine, also weinten vermutlich viele Mädchen und Frauen nachts in ihre Kissen, während sie tagsüber bei jeder fremden Bewegung zusammenzuckten.

Schrecklich!

Petricov musste aufgehalten werden, soviel stand fest.

Nur benötigte sie dafür Beweise, schließlich sollte ihr niemals jemand vorwerfen, sie hätte wahllos gemordet!

Sonst würde sie ihren Eltern niemals ins Gesicht sehen können, wenn sie ihnen im Jenseits begegnete.

Obwohl, vielleicht konnte sie das schon jetzt nicht.

Sie wären bestimmt entsetzt über das tun ihrer einzigen Tochter.

Das klopfen an der Tür riss sie aus ihren unangenehmen Gedanken.

Beatrice steckte ihren rotbraunen Kopf zur Tür herein.

„Willst du nicht zum Abendessen kommen?“

Verwirrt blickte sie auf die Uhr, es war tatsächlich schon halb sieben.

So was aber auch!

„Tut mir leid, ich habe die Zeit vergessen!“

Sie rutschte vom Bett, strich sich die Kleidung glatt und drehte sich genau in dem Moment um, in dem ihre Adoptivmutter schuldbewusst den Kopf senkte.

Ihr kurzer Rock und das T-Shirt mit V-Ausschnitt waren nicht gerade Ladylike und Beatrice kannte den Grund für diese Kleiderwahl ebenso gut wie sie selbst.

Wozu ein unachtsam dahingeworfenes Wort doch fähig war!
 

Die Lösung für ihr Beweisproblem kam ihr ein paar Tage später.

Sie konnte zwar nicht einfach ins Krankenhaus gehen und ihn bei seinen Taten fotografieren, aber wenn sie ihn zu einem Geständnis zwingen könnte…

Sie dachte zurück an Tom Marshall, wie sie ihn drei Monate lang verfolgt hatte und an die Vergewaltigung, die sie beobachtet hatte.

Sie wusste immer noch nicht, wie sie es dabei geschafft hatte auf ihrem Beobachtungsposten zu bleiben, obwohl sie einfach nur dazwischen hatte gehen wollen.

Es war so… unmenschlich gewesen.

Sie ekelte sich vor sich selbst!

Der Zweck heiligte wohl doch nicht immer die Mittel.

Und gebracht hatte es eigentlich nichts.

Aber egal, jetzt brauchte sie Papier, eine Zeitung, Klebstoff und ein Diktiergerät.

Es wurde Zeit für eine weitere Bastelstunde!
 

Eine Woche später stand sie in einem dunklen Durchgang und wartete.

Hoffentlich tauchte der Kerl bald auf, sie war müde!

Nach einer halben Ewigkeit hörte sie Schritte und kurze Zeit später tauchte eine Gestalt auf.

Roman Petricov war nur knapp eins fünfundsechzig und damit nicht viel größer als sie selbst.

Die schmalen Schultern, die Brille und der eher kümmerliche Körperbau täuschten beinahe über die verschlagene Intelligenz hinweg die in seinen Augen funkelte.

„Hallo? Ich bin hier, also wo sind Sie?“ seine überraschend tiefe Stimme klang leicht beunruhigt.

Im Licht der einzigen funktionierenden Straßenlaterne blickte er gehetzt nach links und rechts.

Leider machte er in seiner Anspannung einen Fehler: er stand mitten im Lichtkegel.

Ein Wunderbar beleuchtetes Ziel, während um ihn herum alles dunkel war.

Außerdem kam das Licht von vorne, sodass sie sich anschleichen konnte, ohne dass ihr Schatten sie verriet.

Komisch, auf was man so alles achten musste!

Im Fernsehen sah das alles so einfach aus, wenn der Held mal eben schnell ein Geständnis aus dem Bösewichts Gehilfen herausprügelte.

‚Mann Alera, das hier ist kein Film und du bist weder James Bond noch sonst jemand!‘

Mit diesem Gedanken rief sie sich selbst zur Ordnung, während sie sich von hinten anschlich und dem Arzt eine alte Spielzeugpistole ins Kreuz drückte.

„Wenn sie einmal auch nur falsch Atmen jage ich ihnen eine Kugel durch den Rücken und lasse sie in dieser dunklen Gasse elendig verbluten! Ist das klar?“

„J..ja!“

Offenbar wurde Leute erschrecken zu ihrem neuen Hobby!

„Machen wir einen kleinen Spaziergang!“

Mit diesen Worten schob Alera den Mann vor sich her, durch verwinkelte Straßen, bis sie in eine kleine Gasse kamen, die perfekt für ein kleines Verhör geeignet war.

Dunkel, keine Fenster, die auf die Straße hinausgingen, keine neugierigen Leute…

„Hände hinter den Rücken!“

Als er gehorchte fesselte sie ihn mit Kabelbinder und verpasste ihm einen Stoß, sodass er stolperte.

Während er abgelenkt war steckte sie die Pistole weg und holte stattdessen das Küchenmesser und das Aufnahmegerät heraus.

„So und jetzt erzählen Sie mir mal schön, mit was Sie sich im Krankenhaus die Zeit vertreiben!“
 

Etwa eine Stunde später schaltete sie das Aufnahmegerät ab.

Petricov hatte in allen Einzelheiten gestanden.

Sie hatte ihm zwar gesagt, er solle keine Namen nennen, aber ihr war trotzdem schlecht geworden.

Keinerlei Zeichen von Reue, im Gegenteil!

Seine Prominenz als Arzt und der Schutz von Tony Green waren der perfekte Deckmantel für seinen perversen Racheplan gewesen.

Sein erstes Opfer war seine ehemalige Mitschülerin und erste große Liebe gewesen, die ihn offenbar damals eiskalt hatte abblitzen lassen und so vor der ganzen Schule blamiert hatte.

Über zwanzig Jahre später war seine Gelegenheit gekommen, er hatte sich gerächt und Gefallen an der Sache gefunden.

Also hatte er weiter gemacht, sich an der Macht über seine Patienten berauscht, bis er nicht mehr hatte aufhören können.

Vor Wut und Abscheu zitternd hätte Alera beinahe das Messer fallen gelassen.

„Du Schwein!“ ihre verstellte Stimme klang schriller als sonst.

„Wieso? Sie wollten es! Keine hat sich gewehrt!“

Seine dunkelblauen Augen blitzen und sein Mund verzog sich zu einem grotesken Lächeln, wodurch er ein wenig wie ein verrückter Wissenschaftler wirkte.

„Ich habe nur getan, was sie sich insgeheim wünschten!“

Er begann zu lachen, ein grauenhaftes Geräusch, bei dem es ihr kalt den Rücken runterlief.

Es klang nicht fröhlich, erheiternd oder gar ausgelassen, sondern einfach nur grässlich, wahnsinnig.

„HALT DIE KLAPPE!“ sie schrie so laut, dass ihre Stimme kippte und die Kehle schmerzte, doch Roman Petricov lachte einfach weiter.

„Es hat ihnen gefallen!“

Er saß gegen eine Wand mit bröckelndem Putz gelehnt und stieß immer wieder mit dem Kopf daran, wenn er ihn beim Lachen nach hinten warf, was ihn aber nicht zu stören schien.

„ES REICHT!“

Hinterher konnte sie nicht mehr genau sagen, was passierte.

Die Erinnerung war hinter einem trüben Schleier aus Wut und Hass verborgen.

Wie von Sinnen war sie auf ihn losgegangen, das Messer in der Hand, welches sie ihm offenbar in die Kehle gerammt hatte, denn als sie wieder klar denken konnte saß sie auf dem Boden und war zum dritten Mal in ihrem Leben mit Blut bespritzt.

Handschuhe, Oberteil und Hose wiesen jetzt vermutlich ein rotgesprenkeltes Muster auf, was aber in der Dunkelheit nicht zu sehen war, außerdem waren die Klamotten schwarz.

Wie klischeehaft.

Während sie die Kabelbinder abschnitt kämpfte sich ein Schluchzer durch ihre Kehle, gefolgt von einem zweiten und einem dritten.

Die Tränen folgten kurz darauf.

Beim Versuch sie wegzuwischen schmierte sie sich Blut ins Gesicht, weswegen sie zu würgen anfing.

Es war so ekelhaft klebrig, warm und dieser Geruch nach Eisen machte die Sache nicht besser.

Sich hier zu übergeben wäre bestimmt keine gute Idee, weswegen sie es irgendwie schaffte, ihren Mageninhalt bei sich zu behalten, während sie eine Balkenwaage in seine Stirn ritze.

Sie wischte das Messer an Petricovs T-Shirt ab und wickelte es samt den Kabelbindern in ein Tuch, um es in ihrer Tasche zu verstauen.

Dann verschwand sie leise schluchzend in der Dunkelheit.

Diesmal schaffte sie es nicht nach Hause, stattdessen erbrach sie sich in eine ziemlich verwilderte Hecke.
 

***
 

Und? Immer noch so ein gutes Bild von Petricov?

Wie? Sie sind erschüttert? Das hätten Sie nie gedacht? Tja, da ging es nicht nur ihnen so. Haben das nicht auch die meisten bei mir gesagt?

Warum darüber nichts in den Medien kam? Das ist ganz einfach: die Marshalls, die übrigens bis zum Hals im Drogensumpf stecken, sind die… wie soll ich sagen? „Hauptsponsoren“ der Polizei. Kommissar Swan hat ihnen mit Freuden Einblick in alle Akten gegeben und als sie das von mir aufgenommene Fotos sahen… tja, da wollten sie nicht riskieren dass ich in den Augen der nichtkriminellen Menschen zur Heldin wurde. Und bei Petricov sah man das wohl ähnlich.

Ob ich mich selbst als Heldin sehe? Nein! Ich habe gemordet, Selbstjustiz geübt. Ganz ehrlich: ich bin mir selbst nicht sicher was ich bin und ob ich geistig überhaupt gesund bin, aber hey, die meisten Psychopaten bezeichnen sich selbst als gesund. Ich denke die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters.

Ein freier Tag

Meine Hobbys? Warum wollen Sie die denn wissen? Ich dachte es ginge hier um meine Taten!

Ach so, Sie wollen ein Gesamtbild von mir erstellen!

Nun gut… Ich werde Ihnen von einem Tag berichten, der mir besonders am Herzen liegt!
 

***
 

Als sie an diesem Morgen aufwachte war die Welt wunderbarerweise in Ordnung.

Keine Schule, keine Termine, nur sie, ihre Blumen und die Kinder des städtischen Waisenhauses, die sie mindestens einmal Wöchentlich besuchte.

Die meisten Erwachsenen dort glaubten zwar, dass diese Besuche nur dazu dienten ihren Ruf ein wenig aufzupolieren, aber sie wusste es besser.

Sie und die Kinder.

Alera selbst hatte zwei Wochen in diesem Heim verbracht und es gab nur zwei Ereignisse in ihrem Leben die sie als schlimmer eingestuft hatte.

Beschwingt setzte sie sich auf, schwang die Beine aus dem Bett, riss ihren Kleiderschrank auf um ein altes T-Shirt und eine weite Sporthose heraus zuziehen.

Bei dem Gedanken was ihre Mitschüler zu diesem Outfit sagen würden musste sie kichern.

Alera Benett von Siegel sah man in der Öffentlichkeit eher mit Minirock, Hotpants oder Röhrenjeans.

Es gab doch nichts über Samstage!

Mit diesem Gedanken stibitzte sie einen von Bettys frischgebackenen Muffins aus der Küche und setzte sich an den Frühstückstisch, wo Lucas gerade eine Tasse heiße Schokolade für sie abstellte.

Seine Tochter Lucia saß ihr gegenüber und biss gerade herzhaft in ein Käsebrötchen, bei dessen Anblick Alera am liebsten davongelaufen wäre.

Käse, eines der ekligsten Lebensmittel überhaupt!

„Na, schon wach?“ neckte er sie.

„Ich hatte heute Nacht mal keinen Albtraum und wenn ich durchschlafe, dann stehe ich auch früher auf, das weißt du doch!“

„Natürlich weiß ich das!“ er strich mit einer Hand über ihr Haar und sie kämpfte gegen das Verlangen an, ihn darum zu bitten weiter zu machen.

Der Butler hatte schließlich genug zu tun, besonders da in diesem Moment Beatrice und Richard das Esszimmer betraten.
 

Eine Stunde später öffnete sie schwungvoll die Tür zum Geräteschuppen und machte sich mit Haake, Schaufel und Gartenschere bewaffnet auf den Weg zu ihrem Blumenbeet, wo einige Setzlinge darauf warteten, eingepflanzt zu werden.

Leise vor sich hin summend lockerte sie die Erde, vergrub Blumenzwiebeln und pflanzte neue Blumen.

Als sie zwei Stunden später eine Gießkanne mit Wasser füllte waren sowohl ihre Hände wie auch ihre Kleider dreckig, aber das störte sie kein bisschen.

Sie mochte das Gefühl von Erde unter ihren Händen und liebte es mit anzusehen wie ihre Pflanzen wuchsen und gediehen wenn sie sich um sie kümmerte.

Nachdem sie die Pflanzen gegossen hatte räumte sie alles auf und winkte dem Gärtner, der für den restlichen Garten verantwortlich war, zu.

Emmett war ein netter, älterer Herr, mit von der Sonne gebräunter Haut und haselnussbraunen Augen, in denen es schelmisch blitzte.

„Alles eingepflanzt, Mädel?“ rief er ihr vom Rosenbeet aus zu.

„Ja! Wo soll ich die leeren Kisten hinbringen?“

„Lass stehen Mädel, ich mach das schon!“ winkte er ab.

Emmett hatte selbst keine Kinder und hatte es sich deswegen zur Aufgabe gemacht, Alera zu verhätscheln und zu verwöhnen, soweit er die Möglichkeit dazu hatte.

Die meisten Pflanzen in ihrem Blumenbeet und im Wintergarten waren Geschenke von ihm und er hatte ihr beigebracht, wie man sich am besten um sie kümmerte.

„Danke!“ mit diesen Worten lief sie leichtfüßig ins Haus zurück.

In ihrem Zimmer angekommen wusch sie sich erstmal im Bad den Dreck von den Händen, anschließend zog sie ihre Klamotten aus, beförderte sie in den Wäschekorb und zog stattdessen eine enge Jeans und ein T-Shirt mit V-Ausschnitt an.

Dann kämmte sie ihre schwarzen Locken aus und verbrachte fünf Minuten damit, sie hochzustecken, weitere zehn gingen fürs schminken drauf.

Eine völlig andere Person blickte ihr jetzt aus dem Spiegel entgegen.
 

„Alera! Seht mal, es ist Alera!“ schrie eines der Kinder, kaum dass sie den Aufenthaltsraum betreten hatte.

„Hallo Kids!“ sie musste lachen, als zwei der jüngeren Kinder sich an ihren Beinen festklammerten.

„Hast du uns was mitgebracht?“ die Frage war durchaus berechtigt, da sie des Öfteren kleine Geschenke wie Spielzeugautos und Puzzles mitbrachte.

„Ja, das könnte man so sagen!“ leuchtende Kinderaugen brachten ihr Herz zum Schmelzen.

„Was denn? Autos?“

„Nein Puppen!“

„Leckere Kekse?“ die Kinder überschlugen sich fast mit Vorschlägen.

„Nein!“ sie strich Susi, die sich immer noch an ihrem Bein festklammerte, über die goldene Haarpracht.

„Ihr wisst doch sicherlich, dass zurzeit ein Zirkus in der Stadt ist und ich habe es geschafft Frau Knoblich zu überreden, dass ihr alle eine Vorstellung besuchen dürft!“

Die Kinder jubelten so laut, dass sie sich die Ohren zuhalten musste.

„Zirkus? Das ist doch was für Kleinkinder!“ diese Worte kamen von einem pubertierenden Kotzbrocken, der gerade seine ‚Alles-ist-doof-Phase‘ hatte.

„Niemand zwingt dich mitzugehen, Jimmy!“ erinnerte ihn Lydia sanft.

„Wenn du lieber hier bleiben willst musst du es nur sagen!“ Lydia Berg war eine der jüngeren Sozialarbeiterinnen und eine der wenigen, die sich wirklich noch um das Wohl der Kinder sorgten, was man von der Heimleiterin und den meisten anderen Angestellten nicht gerade sagen konnte.

Das lag vor allem daran, dass hier viele Kinder aus Problemfamilien landeten.

Kinder und Jugendliche mit gewalttätigen oder drogenabhängigen Eltern, die auf jedes Zeichen der Führsorge mit äußerster Ablehnung reagierten.

Irgendwann stumpften die meisten Betreuer ab, was leider auf Kosten der ‚guten‘ Kinder ging.

„Hierbleiben? Nee!“ Jimmy holte ein Päckchen Zigaretten aus einer Hosentasche, steckte sich einen der Glimmstängel in den Mund und begann, seine übrigen Taschen nach einem Feuerzeug zu durchwühlen.

„Da schau ich mir lieber irgendwelche Clowns an!“ die Suche nach dem Feuerzeug war erfolgreich verlaufen, doch bevor der Junge es benutzen konnte, nahm Alera ihm die Zigarette wieder ab.

„Erstens bist du noch keine sechzehn und zweitens musst du uns doch nicht allen die Luft verpesten, oder?“

Der braunhaarige grummelte irgendwas, das verdächtig nach ‚Spaßbremse‘ klang, packte allerdings kommentarlos alles wieder weg.

Schließlich war die geheime Leidenschaft von James Witt das puzzeln und er wusste genau, dass es ohne Alera höchstens jedes dritte Schaltjahr mal ein neues geben würde.
 

„Alera?“ sie hob den Blick von dem Buch, aus dem sie den Kindern gerade vorlas und legte den Finger unter die Zeile, in der sie stehen geblieben war.

„Was ist denn?“ fragend blickte sie Lydia an, die mit ihrem Kollegen Holger neben ihr stand.

„Ja, ähm, wir haben einen Neuzugang, ein Mädchen. Elf Jahre alt, die Mutter ist eine Prostituierte, der Vater tot…“ Holger geriet ins Stocken.

„Sie kapselt sich total ab, kannst du versuchen, sie etwas aufzutauen?“ fuhr Lydia fort.

Die Bitte an sich war eigentlich nichts ungewöhnliches, es hatte sich relativ schnell herausgestellt, dass sie einen Draht zu diesen Kindern hatte, der sich nicht mit Geschenken allein erklären ließ.

Vermutlich lag es schlicht und ergreifend daran, dass misshandelte Kinder meist eine gute Menschenkenntnis entwickelten, einfach aus purer Notwendigkeit.

Wahrscheinlich spürten sie, dass ein ‚das tut mir Leid‘ oder ein ‚ich weiß wie du dich fühlst‘ bei ihr tatsächlich auf eigenen Erfahrungen beruhten und nicht nur antrainierte Floskeln waren.

Was sie viel mehr beunruhigte war die Tatsache, dass Holger überhaupt ins Stocken gekommen war.

Der schwarzhaarige Mann mit den verschiedenfarbigen Augen arbeitete schon seit über zehn Jahren hier und hatte folglich schon einiges gesehen, aber trotzdem hatte er Schwierigkeiten darüber zu sprechen?

Das arme Kind musste schreckliches durchgemacht haben.

„Ich werde sehen, was ich tun kann!“ mit diesen Worten legte sie das Buch beiseite und warf den Kindern einen entschuldigenden Blick zu.

Kurze Zeit später klopfte sie an eine Tür, neben der ein Schild mit der Aufschrift ‚Sato Yamasaki‘ hing.

Das darauffolgende „Herein!“ war so leise, dass die schwarzhaarige es fast nicht gehört hätte.

Das Mädchen auf dem Bett war entgegen ihrer Erwartungen keine Asiatin, sondern hatte eindeutig europäische Wurzeln und war außerdem so hübsch, dass ihre Klassenkameradinnen sie garantiert aus Neid hänselten.

Haut wie Porzellan, hohe Wangenknochen und große, rauchgraue Augen in einem zart geschnittenen Gesicht, das von glänzendem Haar in der Farbe von Weißgold umrahmt wurde.

Nach kurzen Zögern schloss sie die Tür, setzte sich auf das Bett gegenüber und blickte ebenfalls aus dem Fenster.

Die Bäume im nahegelegenen Park trugen saftig grüne Blätter und die Blumen in den Beeten blühten in allen Farben, wie es sich für Frühlingsende gehörte.

Wie sollte sie mit dem Mädchen ins Gespräch kommen?

Das war irgendwie immer der schwerste Teil, aber sie hatte im Laufe der Zeit verschiedene Techniken entwickelt.

Also zückte sie ihr Handy, schrieb eine SMS und ein paar Minuten später öffnete sich die Tür erneut.

Die Kinder hier mochten alle unterschiedlich sein, aber eines hatten fast alle gemeinsam: einen unglaublichen Beschützerinstinkt gegenüber den jüngeren.

Sato bildete da ganz offensichtlich keine Ausnahme.

Sobald Susi den Raum betreten hatte veränderte sich ihre Haltung.

Sie saß jetzt näher am Bettrand, ihre Rücken war gerade und jeder Muskel angespannt.

Sollte sie auch nur den Verdacht haben das Alera dem Mädchen etwas antun wollte, würde sie sofort dazwischen gehen.

Das war natürlich völlig unnötig, die schwarzhaarige hatte noch nie einen Menschen willentlich verletzt und hatte auch nicht vor, in näherer Zukunft damit anzufangen.

Und den Kindern würde sie gleich dreimal nicht wehtun!

Obwohl… ein paar hätten schon eine Abreibung verdient, aber das war nicht ihr Job.

Der kleine Blondschopf kletterte auf Aleras Schoß, blickte deren gegenüber aufmerksam an und meine schließlich mit der unverfälschten Ehrlichkeit die allen kleinen Kindern zu eigen war:

„Warum guckst du denn so böse?“ Sato blinzelte überrascht.

„Ich gucke doch nicht böse!“

„Doch tust du! Du guckst, als ob du Alera hauen möchtest und das mag ich nicht! Ich hab sie nämlich ganz doll lieb!“

Um ihre Aussage zu untermauern schlang sie die Arme fest um ihren Oberkörper und kuschelte sich an sie.

Das schien dem weißblonden Mädchen zu genügen, sie entspannte sich etwas.

„Freust du dich auch auf den Zirkus?“

Himmel, die Kleine war wirklich Gold wert!

Man konnte förmlich sehen, wie Sato in der Gegenwart dieses mini Rauschgoldengels dahin zu schmelzen begann.

Ein Gefühl, das Alera nur zu gut kannte.

„Zirkus?“

„Ja! Alera sagt, wir dürfen alle in den Zirkus! Sie darf doch mit, oder?“

„Aber natürlich Engelchen!“ die schwarzhaarige lächelte das Mädchen auf ihrem Schoss strahlend an.

Irgendetwas an diesem Gesichtsausdruck erregte die Aufmerksamkeit der elfjährigen, aber sie konnte den Finger nicht darauf legen.

Das Lächeln schien echt zu sein und es erreichte auch die Augen, die eine eigentümlich grüngraue Färbung aufwiesen.

Bei den meisten Leuten vermischten sich die Farben, doch bei Alera waren grau und grün klar voneinander getrennt, selbst die Ränder schienen mit einem Lineal gezogen worden zu sein.

„Es sei denn natürlich, du willst nicht mit!“ das hübsche Gesicht wandte sich ihr zu, sie lächelte immer noch.

Irgendetwas war mit diesen Augen, da war Sato sich sicher.

Hinter diesem funkeln lag etwas, dass man auf den ersten Blick übersah.

Einsamkeit und tiefe Trauer, sorgfältig versteckt.

Wer war sie?

„Ich würde gerne mitkommen!“ sie war lange nicht mehr im Zirkus gewesen, nicht seitdem ihr Vater gestorben war.

„Das ist schön!“ Alera stellte Susi auf den Boden, stand auf und strich sich das T-Shirt glatt.

„Kommst du mit nach unten? Die Kleinen freuen sich über jeden Spielkammeraden!“

„Ja! Alera liest uns ‚Sophie im Schloss den Zauberers’ vor, das ist total lustig!“

Susi griff nach der rechten Hand der sechzehnjährigen und hielt Sato die andere Hand hin.

In dieser Geste lag so viel vertrauen, dass sie gar nicht anders konnte als zuzugreifen.

„Wer bist du?“ fragte sie als sie das kleine Zimmer verließen.

„Alera!“ eine Antwort, die absolut nichts aussagte.

„Und weiter?“ ein kurzer Blick aus heimlich gequälten Augen.

„Alera Benett von Siegel.“ Vor Schreck hätte die Platinblondine beinahe die erste Treppenstufe verpasst.

„Dieses stinkreiche Gör, das andauernd in der Zeitung steht?“ ohne es zu wollen benutzte sie dieselben Beleidigungen wie ihre Mutter.

Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt.

„Nein! Ich bin das Gör, das von einer stinkreichen Familie adoptiert wurde und andauernd in der Zeitung steht!“

Diese Antwort war überraschend.

„Wenn man es genau nimmt gehören mir ein altes Stofftier, ein bisschen Schmuck und ein paar Bücher. Selbst die Klamotten die ich trage verdanke ich glücklichen Umständen!“ mehr sagte sie zu diesem Thema nicht.
 

Alera brauchte etwa vier Monate, bis sie sich Satos Geschichte in etwa zusammenreimen konnte.

Ihr unbekannter Vater hatte ihre Mutter vergewaltigt, wodurch sie schwanger geworden war.

Anna Yamasaki hatte die Schwangerschaft bis kurz vor der Geburt verleugnet und das einzige, das sie davon abhielt den Säugling nach der Geburt zu töten war ihr Ehemann, der das kleine Mädchen vom ersten Moment an abgöttisch liebte.

Kiyoshi Yamasaki schütze sie so gut er konnte und war die einzige Person, die der kleinen Sato jemals Liebe und Zuwendung entgegen gebracht hatte.

Er war sogar so weit gegangen, sich von seiner Frau zu trennen und mit seiner Tochter in einen anderen Teil der Stadt zu ziehen.

Doch leider starb Kiyoshi bei einem Autounfall und die achtjährige Sato wurde gegen ihren Willen zurück zu Anna gebracht, der die nun schutzlos ausgeliefert war.

Die körperlichen und seelischen Misshandlungen brachten sie mehrmals dazu wegzulaufen, doch sie wurde immer wieder von der Polizei nach Hause gebracht, bis einem der wenigen engagierten Polizisten die vielen blauen Flecken auffielen und eine Untersuchung eingeleitet wurde.

Was genau in diesen drei Jahren geschehen war wusste niemand, denn das Mädchen blockte jedes Gespräch in diese Richtung sofort ab, aber es musste schrecklich gewesen sein.

Gedankenverloren schüttelte Alera den Kopf.

‚Kein Kind sollte etwas so schreckliches erleben müssen!‘ dachte sie, während die zusah wie Sato ein paar Kindern zeigte, wie man Kraniche aus Papier faltete.

‚Wenigstens macht Holger seinen Job gut! Wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich einen besseren Betreuer gehabt hätte?‘

Diese Frage würde wohl niemand je beantworten können.
 

***
 

Stimmt, das war mehr als ein Tag. Aber Sie wissen ja wie das ist, wenn man sich mal warmgeredet hat…

Eine Volkskrankheit bei Frauen? Na das nenne ich doch mal eine treffende Beschreibung!

Wie die Geschichte weiter ging? Sato wurde zu einem meiner Lieblinge und ich sorgte dafür, dass sie die beste Pflegefamilie bekam die ich finden konnte. Wir stehen heute noch in Kontakt. Sie hat eine süße Tochter, die sie abgöttisch liebt und die übrigens nach mir benannt wurde!

Natürlich hat mich das gefreut. Ich bin einen Monat lang auf Wolke sieben durch die Gegend geschwebt und bei der Taufe habe ich Rotz und Wasser geheult. Mein Patenkind war so ein goldiges Baby…

Seelensplitter Teil 1

Mein Vater? Ich bitte Sie, jeder weiß doch, was damals passiert ist!

Bitte nicht! Als ich von der von Siegel Familie adoptiert wurde hat man doch jedes bisschen meiner Vergangenheit öffentlich gemacht. Ich konnte nicht mal in die Schule, ohne fotografiert oder befragt zu werden!

Sie wollen es trotzdem von mir hören? Wie könnte es auch anders sein!
 

***
 

Alera hatte schon beim Aufwachen ein absolut mieses Gefühl gehabt, das sich im Laufe des Tages immer mehr verschlechtert hatte.

Als sie nach der letzten Stunde ihre Tasche packte hatte das Unbehagen ein riesiges Loch in ihren Magen gegraben und so waren die zwei Jungs und drei Mädchen, die sich vor ihrem Tisch aufbauten, dass letzte was sie im Moment brauchen konnte.

Also ignorierte sie die fünf einfach, als sie sie mit dämlichen Fragen löcherten.

Dass es nicht so einfach werden würde hätte sie sich ja eigentlich gleich denken können, aber die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt.

„Hey, ich habe dich was gefragt! Bist wohl zu fein um zu antworten?“ Tony war ein großer bulliger Typ, mit einem vermutlich nur zweistelligen IQ.

Shoshanna, die Anführerin dieses netten Gespanns, war die Schönheit der Klasse, mit wunderschönen, kastanienbraunen Locken, großen Reh Augen und schicken Klamotten.

Leider war ihr Charakter nicht mal halb so hübsch wie ihr Äußeres und Alera, mit ihren abgenutzten und schlecht sitzenden Kleidern, war ihr liebstes Opfer.

„Las doch das arme, kleine Ding!“ die falsche Freundlichkeit triefte ihr förmlich aus dem Mund.

„Sie hat wahrscheinlich einfach zu viel um die Ohren. Ich meine, sie muss sich um ihren verrückten Vater kümmern, den Haushalt schmeißen, da kann man schon mal mit den Gedanken abdriften!“

„Oh Shoshanna, du bist so verständnisvoll! Einfach toll!“ säuselte Paula los, kaum dass sie geendet hatte.

„Ja, einfach toll!“ beeilte sich Bella zu bestätigen.

Die beiden hatten im Grunde nur eine Aufgabe: sie fanden alles was ihre Anführerin tat einfach ‚wundervoll‘ ‚super‘ ‚toll‘ oder ‚überwältigend‘.

„Mein Vater ist nicht verrückt!“ sagte sie, obwohl sie wusste, dass sie damit in die Falle tappte.

Aber sie ertrug es einfach nicht, wenn jemand schlecht über ihren Vater sprach.

Okay, seit dem Tot ihrer Mutter vor fünf Jahren war er… anders, aber ihn deswegen als verrückt zu bezeichnen…

„Was hast du gesagt?“ die Stimme klang so süß wie Kandis, aber das machte das Gift darin nur noch gefährlicher.

„Nichts!“ in der Gewissheit dass sie einen Fehler gemacht hatte versuchte sie, sich an den anderen vorbeizuschieben, aber eine Hand griff in ihre schwarzen Locken, während sich lange Fingernägel in ihre Kopfhaut bohrten.

„Doch, du hast etwas gesagt und ich möchte wissen was!“ mit einem Ruck wurde ihr Kopf nach hinten gerissen, während sich die beiden ‚Toll-Finder‘ aufgeregt darüber ereiferten, wie unverschämt sie doch war.

„Mein Vater ist nicht verrückt!“ wiederholte sie etwas lauter, wohlwissend dass sie sich gerade ihr eigenes Grab schaufelte.

„Wie bitte? Du wagst es mir zu wiedersprechen? Und das, obwohl ich mich für dich eingesetzt habe?“ sie schubste Alera von sich, die beinahe über ihre Schultasche gestolpert wäre.

„Der kleine Bastard brauch eine Abreibung, meint ihr nicht auch?“

Tony und Ben waren die Schläger der Gruppe, dämlich aber kräftig und für Shoshanna hätten sie vermutlich auch Stöckchen geholt.

Im Moment ließen sie aber die Köchel knacken und bevor sie reagieren konnte traf der erste Schlag Alera in den Magen.

Ein zweiter folgte direkt darauf ins Gesicht und ehe sie sich versah lag sie zusammengekrümmt auf dem Boden und versuchte, sich irgendwie zu schützen.

Als die beiden mit ihr fertig waren hatte sie ein Veilchen, eine aufgeplatzte Lippe und keine Ahnung wie viele blaue Flecken am ganzen Körper.

Ihre Peinigerin marschierte mitsamt Fanclub aus dem Zimmer und sie rappelte sich auf um sich in Schadensbegrenzung zu versuchen, indem sie eines der Papiertücher aus dem Spender über dem Waschbecken nahm, es mit Wasser befeuchtete und auf die Verletzungen in ihrem Gesicht drückte.

Immerhin linderte die Kühle den Schmerz ein wenig.
 

„Alera Kind, warum kommst du denn so spät?“ begrüßte ihr Vater sie, kaum dass sie zur Tür herein war.

„Tut mir Leid Paps, ich bin aufgehalten worden!“ schuldbewusst senkte sie den Kopf, sie wusste sehr wohl, dass ihr Vater Abweichungen von Tagesverlauf nicht mochte.

Genaugenommen hasste er sie sogar.

„Was ist denn mit deinem Gesicht passiert? Hast du dich geschlägert?“ seine große Hand legte sich unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an.

„Nein, ich bin gegen eine Tür gelaufen!“ das war ihre Standartausrede und wie immer wurde sie mit einem Nicken quittiert.

Genauso gut hätte Alera behaupten können, der rosarote Panther wäre mit einem Wattebausch auf sie los oder das Sandmännchen hätte ihr seinen Sack mit Schlafsand an den Kopf geworfen, an der Reaktion von Maxime Benett hätte sich nichts geändert.

Jetzt strich die warme Hand sanft über ihre unverletzte Wange und die dreizehnjährige schmiegte sich dagegen wie eine Katze.

Schon immer war sie nahezu süchtig nach Berührungen gewesen, ihre Eltern hatten oft gescherzt, dass sie ihre Tochter operativ entfernen müssten um wenigstens ein bisschen Freiheit zu haben.

„Das wird deiner Mutter nicht gefallen! Hol dir ein Gelkissen aus dem Kühlschrank, vielleicht ist die Schwellung ja abgeklungen bis Nadja nach Hause kommt! Ich decke solange den Tisch.“

Das kühle Kissen fühlte sich angenehm an und so drückte sie es weiterhin auf ihr Auge, während sie ihrem Vater beim Tischdecken half.

Da sich Maximes Kochkünste in den letzten fünf Jahren kein Stück gebessert hatten waren die Ravioli wie immer entweder Matsch oder angebrannt.

Während das Mädchen eine gefüllte Teigtasche nach der anderen hinunter würgte fragte sie sich, wie ein Mensch es schaffen konnte, selbst Dosenessen so zu verderben.

Sie selbst kochte inzwischen sehr gut, aber da der schwarzhaarige Mann darauf bestand jeden Tag um halb zwei zu essen, kam sie nur am Wochenende dazu.

„Und Paps, wie war dein Tag?“ fragte sie um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen.

„Nichts Besonderes, ich habe die Wohnung aufgeräumt, schließlich soll alles sauber sein wenn deine Mutter nachhause kommt!“

‚Zähle bis drei meine Kleine! Zähle und schlucke deinen Zorn hinunter wie ein Stück Brot!‘

Diese Worte hatte Zenzele oft zu ihr gesagt als sie noch jünger gewesen war.

Und sie hatte damit Recht gehabt.

Dieser Trick half ihr des Öfteren, wenn die Wut sie zu überrennen drohte.

‚Eins, zwei, drei!‘ während sie in Gedanken zählte und dabei tief durchatmete verbarg sie ihre negativen Gefühle tief in ihrem Inneren, um sie bei Bedarf hell lodern zu lassen und zu ihrem Vorteil nutzen zu können.
 

Dieser Tag hatte schlecht begonnen und hatte sich in seinem Verlauf immer weiter verschlechtert, aber nun sollte er sich seinem absolutem Tiefpunkt nähern.

Sie saß gerade über ihrem Mathehausaufgaben als ihr Vater ohne zu klopfen zur Tür hereinstürmte.

„Alera, wir suchen deine Mutter! Sie ist immer noch nicht zu hause.“

Die schwarzhaarige wiederstand dem Drang, ihren Kopf auf ihren Schreibtisch zu knallen.

‚Zählen und schlucken!‘

„Aber Paps, ich schreibe morgen eine Arbeit…“ meinte sie zögerlich.

„Wie bitte? Die Schule ist dir wichtiger als deine Mutter?“

Maxime Benett hatte eigentlich eine eher sanfte Art an sich, aber in Momenten wie diesen machte er seiner Tochter Angst.

„Nein! Natürlich nicht!“ sie sprang so hastig auf, dass ihr Fuß am Schreibtischstuhl hängen blieb und sie beinahe gestürzt wäre.

Alera hatte sich nur ein einziges Mal geweigert und bei den Erinnerungen an die Folgen lief ihr immer noch der kalte Angstschweiß über den Rücken.

Damals hatte er sich einen ganzen Tag auf dem Dachboden eingeschlossen ohne auch nur ein Lebenszeichen von sich zu geben und die damals zehnjährige hatte stundenlang mit den Fäusten gegen die Tür gehämmert und gefleht, dass er doch bitte aufschließen solle.

Am nächsten Vormittag, sie hatte in einen Teppich gewickelt an der Wand gegenüber der Tür gelehnt und ein wenig gedöst, war er aus dem Zimmer gekommen, das glatte schwarze Haar ein wenig zerzaust, die Klamotten verknittert, aber ansonsten wie immer.

Offenbar wollte er diesen Zwischenfall totschweigen und Alera hatte nie das Bedürfnis gehabt, etwas daran zu ändern.
 

Keine halbe Stunde später war sie nass bis auf die Knochen.

Das Wetter hatte überraschend von sonnig auf sinnflutartigen Regen umgeschlagen, noch bevor sie überhaupt ein Drittel der ihr aufgetragenen Orte überprüft hatte.

‚Ganz ruhig, sieh es einfach als Konditionstraining! Lass einfach ein paar Orte aus und suche dir beim Treffpunkt einen Platz zum Unterstellen!‘

Es waren Momente wie diese, in denen sie überlegte warum sie nicht einfach beim Jugendschutz anrief.

Shoshanna hatte Recht, ihrem Vater ging es nicht gut und er brauchte bestimmt Hilfe.

Aber dann würde man ihn wahrscheinlich in eine dieser komischen weißen Zellen, die sie im Fernsehen gesehen hatte, stecken und ihm vielleicht sogar eine dieser Jacken anziehen, mit denen man die Hände um den Körper band.

Das konnte sie ihrem Vater nicht antun.

Nicht nachdem er verloren hatte, was ihm das liebste und teuerste auf der gesamten Welt gewesen war.

Nicht nachdem sie den Tod ihrer Mutter verschuldet hatte.

Mit allem wäre er klargekommen, aber nicht mit dem Tod von Nadja Benett.
 

Etwa eine dreiviertel Stunde später kam sie, noch nasser als vorher, am vereinbarten Treffpunkt an.

Im dürftigen Schutz einer Tanne musste sie noch etwa zwanzig Minuten warten, dann kam ein ebenfalls triefender Maxime mit hängenden Schultern und verzweifeltem Gesichtsausdruck um die Ecke.

„Hast du sie gefunden?“

Als ob er nicht sehen könnte dass sie alleine war.

„Nein Paps!“

Hinterher wusste sie nicht mehr, warum sie die folgenden Worte überhaupt gesagt hatte.

Vielleicht weil sie in ihren nassen Klamotten fror?

Oder weil ihr gesamter Körper immer noch wehtat?

Vielleicht war das Maß nach fünf Jahren auch einfach nur voll?

„Sie wird nie wieder nach Hause kommen! Sie ist tot, warum akzeptierst du das nicht endlich?“

Es gab Worte, die wollte man zurücknehmen direkt nachdem sie ausgesprochen wurden.

Leider war das nicht möglich, egal wie fest Alera sich die Hand auf den Mund schlug.

„Paps? Paps, es tut mir leid, ich wollte nicht…“

Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken, als Maxime die Hand hob.

Doch anstelle ihr wie erwartet eine Ohrfeige zu verpassen legte sich die große, warme Hand einfach auf ihren Kopf, was die dreizehnjährige aus irgendeinem Grund viel mehr ängstigte als wenn er geschrien hätte.

„Komm Kind, wir gehen nach Hause!“

Diese absolute Ruhe war unheimlich und weckte in ihr das Gefühl, dass das eigentliche Unheil erst noch bevorstand.
 

Am nächsten Morgen frühstückte sie alleine.

Ihren Vater hatte sie nirgends finden können, weder im Schlafzimmer, noch in der Küche oder im Bad.

Vielleicht hatte er sich noch einmal auf die Suche gemacht?

Würde das jemals aufhören?

Würde er sie jemals wieder hochheben und im Kreis wirbeln, wie er es früher getan hatte?

‚Hör auf damit Alera! Es nützt nichts der Vergangenheit hinterher zu trauern, sie ist vorbei! Konzentriere dich auf das hier und jetzt!‘

Mit diesem Gedanken schnappte sie sich ihre Schultasche, schloss die Haustür sorgfältig ab und machte sich auf den Weg zur Schule.
 

Als sie das kleine Reihenhaus ungefähr sieben Stunden später wieder betrat hatte sich absolut nichts geändert.

Kein Geruch nach verbranntem Essen, keine Geräusche, kein Vater.

Verdammt, das konnte nicht gut sein!

Sie musste die Polizei rufen!

Was wenn ihm etwas passiert war?

Mit zitternden Händen nahm sie das Telefon und wählte Eins Eins Null.

„Polizeidienststelle, was kann ich für Sie tun?“

„Hallo, mein Vater ist verschwunden!“

„Name und Adresse bitte!“

Alera gab die gewünschten Daten durch und erzählte, wann und wo sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte.

„Ist Ihr Vater geistig verwirrt oder suizidgefährdet?

„Zuziwas?“ jetzt war sie total verwirrt.

Diese Leute sollten ihren Vater finden und keine komischen Fragen stellen.

Der Mann am anderen Ende der Leitung ließ einen genervten Seufzer los und in genau diesem Moment fiel Alera etwas ein.

„Es gibt einen Ort im Haus an dem ich noch nicht gesucht habe!“

Schnell lief sie die Treppen zum Dachboden hinauf.

Diesen Ort mied sie normalerweise und deswegen war sie überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dort nachzusehen.

„Und das fällt Ihnen erst jetzt ein?“

Geräuschlos schwang die Türe auf und Alera betrat den Raum, aus dem Maxime einen Schrein für seine tote Frau gemacht hatte.

Ein riesiges Portrait, ihr Hochzeitskleid auf einem Ständer, ihr Lieblingsoutfit auf einem anderen, haufenweise Kerzen und dutzende protziger, roter Rosen, deren Duft ihr schier die Luft abschnürte.

Rote Rosen waren die Lieblingsblumen ihrer Mutter gewesen, doch Alera musste jedes Mal an Blut denken.

Blut, klebrig, warm…

Sie verbannte diese Erinnerung in den hintersten Winkel ihres Kopfes.

Der Dachboden sah aus wie immer, bis auf einen umgeworfenen Hocker und ein paar Beine, die etwa einen Meter über dem Boden schwebten.

Momentmal!

Beine?

Sie hob den Blick und dort hing er, um seinen Hals ein Seil, das an einem der Balken festgemacht war.

Die Augen fest zugekniffen, die Hände zu Fäusten geballt.

Alera schrie.

So gellend, dass dem Mann am Telefon sämtlich Haare zu Berge standen und er sofort Polizei und Krankenwaagen losschickte.

Sie schrie bis ihre Stimme versagte, ihre Kehle schmerzte und die Beine nachgaben.

Polizei und Notarzt fanden sie zusammengesunken auf dem Boden, wo sie mit leerem Blick eine Wand anstarrte.

„Mein Gott, bringt das Kind hier raus!“

Geübte Hände griffen ihr unter die Arme, zogen sie auf die Beine und bugsierten sie aus dem Zimmer.

Doch es war schon zu spät, das Bild ihres Vaters hatte sich für alle Zeiten in ihr Gedächtnis eingebrannt und auch Jahre später würde es immer diese Erinnerung sein, die ihr als erstes einfiel wenn sie an ihren Vater dachte.

Wie ein willenloses Püppchen setzte sie sich auf das alte Sofa und lies sich von dem Sanitäter eine Decke umlegen.

„Hey, geht es dir gut?“

Das schwarzhaarige Mädchen antwortete nicht und der Mann war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt hörte.

Sie weinte nicht, sprach nicht und es gab keinerlei Regung in ihrem Gesicht.

Weder Tränen noch Lächeln, oder irgendein anderes Zeichen von Gefühl.

Was dem Ende dreißigjährigen aber am meisten angst machte, waren die Augen.

Sie waren leer und tot, wie er es bei Menschen gesehen hatte, die alles verloren hatten.

Und genau diese Augen richteten sich jetzt auf ihn.

„Es ist meine Schuld! Ich habe ihn umgebracht! Wie kann es mir da gutgehen?“

Dann kamen die Tränen.

‚Kümmre dich um deinen Vater, Alera!‘

Bei der Erinnerung an diese Worte war ihr, als würde etwas Großes und Schweres mit aller Wucht auf ihren Körper einschlagen.

Sie konnte förmlich spüren, wie etwas in ihrem inneren splitterte.

Keine Ahnung was es war, aber in einem Punkt war sich das Mädchen sicher: Sie würde sich nie wieder davon erholen.

Denn sie hatte versagt.

Wieder einmal.

Ein anderer Weg

Ja, da haben Sie recht! Warum waren meine Taten besser als die von Marshall oder Petricov?

Das waren sie eigentlich nicht. Im Grunde war ich auch nicht besser als die beiden, auch wenn meine Motive es durchaus waren. Aber gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht, nicht wahr?
 

***
 

„Noch einmal!“

Alera blockte Lucas‘ Schwinger und schlug ihm die Handkante in den Magen, wobei sie darauf achtete die Bewegung kurz vorher zu stoppen.

Der nächste Schlag zielte auf den Brustkorb und ihr Trainingspartner sank zusammen, als hätte sie tatsächlich getroffen, woraufhin sie ihn an den Schultern packte, ihm die Beine wegkickte und so auf die Matte beförderte.

Die schwarzhaarige bückte sich, klemmte seinen rechten Arm hinter ihr rechtes Bein und täuschte erneut einen Schlag auf die Brust an, während ihr linker Arm seinen Kopf festhielt.

„Sehr gut!“

Alera ließ den Butler los und streckte ihm die Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen.

Beide trugen lockere Sportkleidung, die ihnen aber momentan verschwitzt am Körper klebte, weswegen beide ein wenig an ihren T-Shirts zupften während sie zu den bereitgestellten Getränken gingen.

„Du solltest dich in einer Kampfsportschule anmelden, dort könntest du viel mehr lernen als von mir!“ der etwa dreißigjährige Mann setzte sich auf einen weich gepolsterten Stuhl.

„Du weißt doch selbst, wie Richard und Beatrice zu dieser Idee stehen!“ meinte die junge Frau und trank einen Schluck Apfelsaftschorle.

„Und seit wann kümmert dich das? An deinen Klamotten änderst du ja schließlich auch nichts, obwohl Beatrice sie am liebsten allesamt verbrennen würde!“

Diese Aussage brachte Alera zum Kichern, weswegen sie sich fast an ihrem Getränk verschluckte.

„Und genau deswegen versuche ich, ihnen in diesem Punkt etwas entgegen zu kommen.“

Diesmal musste Lucas lachen.

„Wissen sie das?“

„Nein!“ Alera fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn um den Schweiß wegzuwischen, der ihr beinahe in die Augen gelaufen wäre.

Langsam regulierte sich ihr Herzschlag wieder und sie wurde ruhiger.

Lucas war wesentlich schwerer und stärker, weswegen sie sich beim Training ziemlich anstrengen musste.

„Du, Lucas?“ fragte sie nach einiger Zeit, den Blick konzentriert auf ihr Glas gerichtet.

„Wenn mich jemand angreift, oder ich jemandem helfen will, dann ist es doch okay wenn ich die die Technik von eben einsetzte, oder?“

Verwirrt runzelte der Mann die Stirn.

„Wenn Lebensgefahr besteht natürlich. Aber du musst immer darauf achten, dass dein Verhalten in einem bestimmten Verhältnis zu dem deines Gegners steht. Wenn er einfach nur ‚Buh!‘ schreit, kannst du nicht einfach Grüngurttechniken anwenden!“

„Und wer bestimmt dieses Verhältnis?“ das Mädchen legte den Kopf leicht schief, weswegen eine lose Locke in Bewegung kam und über ihre Wange strich.

„Ich meine, wenn ein Kerl ein Messer hat und ein Kind abmurksen will, dann hätte wohl niemand was dagegen, oder?“

„Nein, wohl eher nicht. Außer vielleicht er selber und sein Anwalt. Worauf willst du hinaus?“

Ohne auf die Frage einzugehen sprach Alera weiter.

„Und wenn ich weiß, dass er ein Messer hat und ein Kind töten will? Wenn ich es weiß, er aber noch nichts getan hat? Darf ich dann zuschlagen?“

Lucas stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Warum hatte er nur so eine Ahnung, worauf das hinauslaufen würde?

„Wie willst du denn bitteschön beweisen, dass er jemanden verletzten wollte? Und selbst wenn du Beweise hättest, wer sagt denn, dass er die Sache wirklich durchgezogen hätte? Er könnte es sich ja auch anders überlegen, etwas könnte ihm dazwischen kommen, oder was auch immer du als Beweis hast könnte ja auch gefälscht sein. Und glaub mir, darauf würde sich ein Anwalt vermutlich einschießen!“

Große grüngraue Augen blickten ihn fassungslos an.

„Dann muss also erst jemand verletzt werden, damit man eingreifen kann? Worin besteht dann der Sinn des Ganzen…“ sie machte eine ausholende Handbewegung in Richtung der Bodenmatten, die den Sturz abzufedern sollten.

„…wenn ich doch nichts tun kann? Werde ich immer gezwungen sein zuzusehen? Kann ich denn niemals helfen?“

Alera stellte das Glas auf das Tablett zurück und ballte die Hände auf ihrem Schoß zu Fäusten, den Kopf hatte sie gesenkt.

„Schau mich an, meine Kleine!“

Eine sanfte Hand legte sich unter ihr Kinn und zwang sie den Kopf zu heben.

„Schlimme Dinge passieren eben, dagegen kann niemand etwas tun! Du nicht, ich nicht und auch niemand anders.“

Vorsichtig strich er ihr die losen Locken hinters Ohr.

„Du hast ein großes Herz, das ziemlich verletzt worden ist. Was mit deinen Eltern passiert ist war nicht deine Schuld, es gibt also nichts, was du wieder gutmachen müsstest. Versuche gar nicht erst die Welt zu retten, du würdest nur unter gehen!“

„Aber wie soll etwas besser werden, wenn niemand etwas tut?“ Alera schüttelte heftig den Kopf, wodurch sich ihr Haar wieder selbstständig machte.

„Ich habe nicht gesagt dass du nichts tun sollst! Ich meinte das du dir lieber realistische Ziele setzten solltest! Erfolgreiche Kleinigkeiten nützen doch viel mehr als ein gescheitertes Großprojekt, meinst du nicht auch?“
 

Die Kirche war totenstill.

Nur das Klacken von Aleras hohen Absätzen war zu hören, während sie zwischen den Bänken hindurch nach vorne ging.

Eigentlich war sie nicht besonders gläubig, aber Gotteshäuser hatten immer eine beruhigende Wirkung auf sie und die schwarzhaarige wollte nachdenken.

Was sie getan hatte war nicht falsch, aber warum fühlte sie sich dann so?

Sie wollte sich gerade auf eine der Holzbänke sinken lassen als eine Stimme die Stille Durchschnitt.

„Wer auch immer hier noch ist, ich muss die Kirche gleich abschließen. Wenn Sie also nicht beichten wollen, würde ich Sie bitten zu gehen!“

Der Klang der Stimme war tief und sanft und kam offenbar aus einem der Beichtstühle.

Ohne wirklich zu wissen warum stand die siebzehnjährige auf, öffnete eine der Türen und trat in die schummrige Dunkelheit der Kabine.

Eigentlich war sie ja evangelisch, aber vielleicht hatte der Pfarrer ja eine Idee, wie sie aus ihrem Dilemma wieder heraus kam.

„Ähm… ich will zwar nicht direkt beichten, aber… ich könnte einen Rat gebrauchen.“

Sie konnte den Mann auf der anderen Seite zwar nicht sehen, aber höchstwahrscheinlich zog er gerade die Brauen hoch.

„Wenn ein Mensch böses tut, dann verdient er doch strafe, oder?“

„Nun ja… ich denke, dass kommt auf die Tat und die Strafe an und darauf, ob derjenige sein tun bereut.“

„Okay… nehmen wir mal an, jemand tut etwas absolut abscheuliches und bereut es kein bisschen…“

Alera lehnte sich zurück und wartete gespannt auf eine Antwort.

Um ihr Gesicht machte sie sich keine Sorgen, das würde er höchstens erkennen, wenn jemand plötzlich das Licht eingeschaltet hätte.

Was die Frage aufwarf ob es in Beichtstühlen überhaupt Beleuchtung gab…

„Und soll ich auch noch annehmen, dass Sie ihn bestraft haben?“

Der Mann klang nicht, als würde er sich Lügen auftischen lassen, also antwortete sie mit der Wahrheit.

„Ja!“

„Hmmm… und wie fühlen Sie sich jetzt?“

„Furchtbar, wie ein Stück Dreck!“

„Und warum?“

Himmel, gab das hier etwa ein Frage-Antwort-Spiel?

Dafür brauchte sie nun wirklich keinen Pfarrer!

„Weil sie es verdient hatten, meine Taten aber im Grunde keinen Deut besser waren?“

Alera konnte den leicht verärgerten Ton in ihrer Stimme kaum verbergen und eigentlich… wollte sie es auch nicht.

Manchmal tat es gut zu zeigen was man fühlte, denn zählen und schlucken half nicht immer.

„Nun, dann ist das doch Ihre Antwort, oder? Was Sie tun ist nicht besser und Sie fühlen sich mies. Das heißt doch, dass es falsch ist, oder?“

Seine Stimme klang freundlich, ohne einen erkennbaren Vorwurf, was Aleras schlechtes Gewissen noch weiter verschlimmerte.

„Dann soll ich nichts tun? Sie sollen davon kommen?“

Ihre Stimme überschlug sich fast, das Kind in ihr heulte laut auf, schlug verletzt um sich, doch der mehr oder weniger erwachsene Teil brachte es schnell und effizient zum Schweigen.

‚Tief durchatmen und bis drei zählen!‘

„So meinte ich das nicht, auch wenn es eine Möglichkeit ist!“

Jetzt klang der Pfarrer beschwichtigend.

„So? Und wie meinten Sie es dann?“

Jetzt schwieg der Mann einige Zeit, offenbar dachte er über eine Antwort nach.

Alera selbst begann an einem Fingernagel herum zu kauen, lies es aber sofort wieder bleiben, als sie es bemerkte.

„Vielleicht gibt es noch einen anderen Weg… einen Weg Gerechtigkeit zu üben, ohne mit Ihrem Gewissen in Konflikt zu kommen…“

Man konnte die Zahnräder im Kopf des Mannes förmlich rattern hören.

„Sie meinen also ich muss ihn nur finden?“

„Genau!“

Der Pfarrer klang irgendwie erleichtert und auch Alera fühlte sich irgendwie besser.

Was sie getan hatte war falsch und irgendwann würde sie vermutlich dafür bezahlen, aber dafür war sie bereit.

Und sollte sie jemals wieder Racheengel spielen, dann würde sie einen anderen Weg finden, da war sie sich sicher.

Vorsichtig öffnete Alera die Tür des Beichtstuhls und machte sich auf den Weg nach draußen, allerdings nicht ohne vorher eine Spende in die Kollekte am Ausgang zu stecken.

Frischer Wind wehte ihre Locken nach hinten und sie wirbelte schon fast übermütig einmal im Kreis.

Laut der katholischen Kirche war sie doch jetzt von ihren Sünden befreit, oder?

Auch wenn sie nicht gebeichtet sondern um Rat gefragt hatte?

Alera hielt inne und runzelte die Stirn.

Dann wohl doch eher nicht, aber was sollte es?

Die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder so eine ‚maskierter-Rächer-Nummer‘ abziehen würde lag so ziemlich bei null, also würde sie sich über irgendwelche alternativen Lösungswege wohl auch keine Gedanken machen müssen.

Von diesen Gedanken beschwingt wirbelte sie noch einmal herum und machte sich anschließend auf den Heimweg.
 

***
 

Naiv, oder?

Ich kam mir damals zwar schon ziemlich erwachsen vor, aber in Wirklichkeit war ich nur ein schrecklich naives Kind mit einem Helferkomplex!

Himmel, heute erschrecke ich mich sogar darüber, wie dumm ich war!

Erpressung

Warum ich weitergemacht habe? Das kann ich selbst nicht so genau sagen!

Weltenverbesserin? Hmmmm… ich glaube, das trifft es ganz gut!
 

***
 

Alera zog verwirrt eine Augenbraue hoch, als Rose sich zu ihr an den Tisch setzte.

Sie hatten seit ihrer letzten Unterhaltung hier in der Schulkantine nicht mehr miteinander gesprochen, also kam das hier ziemlich überraschend.

„Kann ich irgendetwas für dich tun?“

Mit diesen Worten schob sie sich eine weitere Gabel Pilz Risotto in den Mund, kaute und verschluckte sich beinahe daran, als sie die Antwort ihrer Klassenkameradin hörte.

„Du kennst diese schwarz gekleidete Frau, oder?“

Um Zeit zu gewinnen nahm sie einen Schluck Wasser, schluckte langsam und zog wieder eine Augenbraue hoch.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst!“

Rose warf ihr einen leicht entnervten Blick zu und verschränkte die Hände ineinander, die, wie Alera auffiel, leicht zitterten.

Offenbar war sie sehr nervös.

„Halte mich bitte nicht für dumm! Du sprichst mich auf mein Verhalten an, eine Woche später erscheint eine Frau in schwarz, die überraschend gut über mich Bescheid weiß und dann ist Petricov auf einmal tot? Was für ein Zufall, nicht wahr?“

Rose stützte ihre Ellenbogen auf der Tischplatte ab und legte ihr Kinn auf die immer noch verschränkten Finger.

„Und mal ganz unter uns: an Zufälle glaube ich genauso wie an die Zahnfee, das Christkind oder den Osterhasen, nämlich gar nicht! Also spuck es aus, bist du diese Dame in schwarz oder nicht?“

Am liebsten hätte Alera ihren Kopf gegen die Tischplatte geschlagen.

Wie hatte sie so dämlich sein und Roses Intelligenz unterschätzen können?

Sie hatte ja schließlich nicht umsonst ein Stipendium und Jahrgangsbeste war sie auch nicht durch ihre Blödheit geworden.

„Okay, nehmen wir mal an du hast Recht und ich habe tatsächlich etwas mit dieser mysteriösen schwarzen Gestalt zu tun… was dann? Willst du zur Polizei gehen? Mich erpressen?“

Alera lächelte arrogant und schüttelte leicht den Kopf.

Ihr Haar, heute zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, kam in Bewegung und die Spitzen kitzelten sie im Nacken.

„Du könntest mir einen Gefallen tun…“

Rose lehnte sich zurück und ließ sich ihren dunkelroten Zopf durch die Finger gleiten.

„Und was für ein Gefallen sollte das sein?“

„Billy White! Ich will, dass du dich um ihn kümmerst!“

Aleras Hand umklammerte die Gabel fester.

„Kümmern in welchem Sinne?“

„Das ist mir egal! Ich will nur, dass er niemanden mehr ins Unglück stürzt!“

„Und wenn ich mich weigere?“

„Dann erfährt jeder dein kleines Geheimnis!“

Für jemanden, der bei lauten Geräuschen zusammenzuckte war Rose eine echt erbarmungslose Verhandlungspartnerin.

„Ach wirklich? Dir ist aber schon klar, dass dann auch jeder dein kleines Geheimnis erfährt?“

Rose wurde leichenblass und schluckte.

„Das… das wäre es mir wert!“

„Ach wirklich? Was hat Herr White denn angestellt, dass man sich um ihn kümmern müsste? Dass du so etwas riskierst?“

In den Augen ihres Gegenübers sah Alera plötzlich solche Traurigkeit, dass sie die Frage am liebsten zurück genommen hätte.

„Er hat meinen Onkel in den Selbstmord getrieben!“

Alera schloss die Augen und lehnte ihren Kopf nach hinten.

Rose verstand sich offenbar auf Tiefschläge.
 

Roses Cousine hieß Christiane und sah ihr absolut nicht ähnlich.

Aleras Mitschülerin hatte den für rothaarige so typische Porzellan-teint, während Chris aussah wie ein braungebranntes, blondgebleichtes Strandhäschen.

In einem roten Badeanzug hätte sie glatt in einer Baywatch Neuverfilmung mitmachen können.

Was allerdings gegen die Theorie der hirntoten Strandnixe sprach war ihr intelligenter Blick aus grüngelben Augen (eine der wenigen Ähnlichkeiten zwischen den Cousinen) und der junge Mann, der den Arm um ihre Taille gelegt hatte.

Mit seinem schüchternem Lächeln und der Brille sah er nett aber gewöhnlich aus.

Eben der Typ Mensch, an den man sich am nächsten Tag beim besten Willen nicht mehr erinnern kann.

„Und? Was unternimmst du… Sie gegen White?“

„Was soll ich denn tun?“ leicht verstimmt runzelte Alera die Stirn, was man unter dem Schal natürlich nicht sah.

„Ja was weiß denn ich?“ in einer verzweifelten Geste warf Chris die Arme in die Luft.

„Zusammenschlagen, der Polizei ausliefern, umbringen… irgendwas!“

Mit zitternden Händen fuhr sie sich durchs kurze Haar und ihr Freund legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter.

„Beruhige dich!“ seine Stimme war überraschend tief und hatte, im Gegensatz zu seinem Gesicht, einen hohen Wiedererkennungswert.

„Beruhigen? Ich will mich nicht beruhigen Jack! Der Dreckskerl hat meinen Vater übers Ohr gehauen und jetzt will er uns das Haus wegnehmen!“

Chris hatte die Hände zu Fäusten geballt und hämmerte auf Jacks Oberkörper ein, bis sie schließlich in Tränen ausbrach, woraufhin er sie sanft an sich drückte.

Daneben stand peinlich berührt Alera und versuchte so zu tun als ob sie ein weiteres Möbelstück wäre.

Als Rose mit einem Ordner das Zimmer betrat stürzte sie sich auf die Ablenkung wie ein Verdurstender auf ein Wasserglas.

„Das sind die Unterlagen. Gibt es irgendetwas darin, was uns hilft?“

Alera überflog die Blätter und schüttelte den Kopf.

„Ich denke nicht… wir bräuchten eine Risikobewertung oder so etwas in der Art… irgendetwas, aus dem hervorgeht, dass er die Anlagen als sicher dargestellt hat…“

Christiane wischte sich die Tränen weg und warf ihr einen Blick zu der so voller Hoffnung war, dass es Alera die Kehle zuschnürte.

„Und wo kriegen wir die her?“

Seufzend zuckte sie mit den Schultern.

„Aus den Unterlagen der Bank?“

Da ran zu kommen war allerdings ein Ding der Unmöglichkeit, schließlich waren diese Unterlagen nicht frei zugänglich.

Allerdings hatte Jack offenbar eine Idee, denn auf sein Gesicht stahl sich ein Lächeln, dass zwei Reihen schneeweißer Zähne sichtbar machte.

„Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie wir an einen Computer der Bank gelangen?“
 

Alera lehnte sich in ihrem bequemen Stuhl zurück und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen, obwohl sie am liebsten wie eine Wilde an ihren Fingernägeln geknabbert hätte.

Ihr gegenüber saß freundlich lächelnd Tatjana Kayne, Mitarbeiterin derselben Bank wie Billy White und Aleras Anlageberaterin.

„Haben Sie schon eine Idee für einen Namen?“ fragte sie mit einem Blick auf den sanft gerundeten Bauch der Bänkerin.

Mit einem seligen Lächeln strich sie über ihren Bauch und schüttelte den Kopf.

„Nein, wir konnten uns noch nicht auf einen Namen einigen, aber für ein Mädchen würde mir Sally gut gefallen…“

Dann wandten sich die beiden wieder dem geschäftlichen zu.

Alera wartete auf eine günstige Gelegenheit, um den schwierigsten Teil ihrer Aufgabe zu erfüllen.

Als Frau Kayne sich bückte um aus der untersten Schublade ihres Schreibtisches ein paar Unterlagen zu holen griff sie in ihre Hosentasche und holte eine in ein Taschentuch gewickelte Kapsel heraus.

Schnell zog sie die beiden Enden auseinander und kippte den Inhalt in Tatjanas Kaffeetasse, wo sich das Pulver sofort auflöste.

Als die Frau sich wieder aufrichtete saß Alera da wie die Unschuld vom Lande und putzte sich die Nase.

Während die beiden sich weiter über Zinsen, Laufzeiten und Zinseszinsen unterhielten nippten sie beide an ihren Tassen, bis Frau Kayne plötzlich aufsprang und nach einer kurzen Entschuldigung fluchtartig den Raum verlies.

Besorgt blickte Alera ihr nach, schüttelte dann heftig den Kopf und machte sich an die eigentliche Arbeit.

Rose hatte ihr versichert, dass das Mittel nur leichte Übelkeit und Brechreiz auslösen und weder Mutter noch Kind schaden würde.

Da Rose ein absolutes Genie in Biologie und Chemie war hatte sie keinen Grund gesehen an ihrer Aussage zu zweifeln, aber jetzt krampfte sich ihr Magen vor Sorge zusammen.

Wenn dem Baby etwas passierte…

Entschlossen griff Alera nach ihrer Handtasche und drängte alle Gedanken die nichts mit Tatjana Kaynes Computer zu tun hatten in den Hintergrund.

Sie öffnete den Reisverschluss um den smartphone-großen Tablet-PC herauszuholen, den Jack ihr gegeben hatte.

Dabei purzelte ein Päckchen Taschentücher aus der Tasche unter den Schreibtisch, weswegen sie unter den Tisch kriechen musste, sie konnte ja schlecht einfach ihr Zeug hier liegen lassen, oder?

Sie hatte keine Ahnung, ob die Büros Videoüberwacht wurden, aber falls es so war wollte sie lieber kein Risiko eingehen.

Alera holte das USB-Kabel aus dem Päckchen und steckte es in einen freien Anschluss, dann setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl und schloss den Stecker an ihren PC an, wobei sie versuchte, das Kabel mit ihren Beinen zu verdecken.

Mit einer Ruhe die sie nicht empfand tippte sie auf die entsprechenden Symbole und seufzte erleichtert auf als auf dem Bildschirm die Worte ‚Upload wird ausgeführt‘ erschienen.

Jetzt hieß es warten, während das Programm das Jack geschrieben hatte (er hatte laut eigener Aussage ein Zertifikat im ‚kreativen Programmieren‘) auf den Computer geladen wurde.

Ein leises „Pling“ ertönte und Alera las die Worte ‚Upload abgeschlossen‘.

Da sie keine Lust hatte erneut unter den Tisch zu kriechen (noch eine Tempopackung wäre auch zu auffällig gewesen) zog sie den Stecker einfach am Kabel aus dem Anschluss.

Dann kippte sie den Rest Kaffee aus Tatjanas Tasse in einen Blumentopf auf dem Fensterbrett und ersetze ihn durch den aus ihrer eigenen Tasse.

Extra zu diesem Zweck hatte sie das bittere Getränk mit weniger Milch und Zucker als sonst getrunken, schließlich sollte die Dame ja nicht merken, dass der Inhalt ausgetauscht worden war.

Nach ein paar Minuten beschloss Alera, dass sie lieber mal nach Frau Kayne sehen sollte, denn sie war immer noch nicht zurück.

Sie stand auf, zupfte sich das Oberteil zurecht und ging zur Tür, die im selben Moment geöffnet wurde und Alera deswegen beinahe am Kopf traf.

„Oh Gott, ich habe Sie doch nicht etwa erwischt?“

Auf der Schwelle stand eben jene Frau, die sie gerade hatte suchen wollen.

Ein wenig blass um die Nasenspitze aber ansonsten in Ordnung.
 

Einen Monat später trug Alera mal wieder komplett schwarz.

Chris hatte es ihr ‚Black-Lady-Outfit‘ genannt und Alera hatte beschlossen, diesen Namen unter den Brief an Billy White zu schreiben.

Jetzt saß sie hinter einem Baum in einem abgelegenen Teil des Parks und wartete.

Hoffentlich hatte der Mann wie gefordert die Polizei nicht eingeschaltet.

Zwar hatte Jack es irgendwie geschafft das Telefon der Familie White abzuhören (so langsam wurde der Kerl echt unheimlich!) und nichts Verdächtiges mitbekommen, aber Rose und Chris waren dem Mann trotzdem gefolgt.

Ein leises Summen kündigte einen Anruf an.

„Hallo, ich bin es!“ Rose klang leicht nervös, aber das war ja auch kein Wunder schließlich hatten sie vor eine Straftat zu begehen.

„Wir haben niemanden gesehen, er war den ganzen Weg über alleine… Wir bleiben in der Nähe und klingeln dich an, falls wir etwas Verdächtiges sehen!“

Ein lauter Seufzer war zu hören.

„Gott, auf meinen Nerven könnte man Harfe spielen!“

Alera hingegen kam sich schon langsam wie ein alter Hase in Sachen Selbstjustiz vor.

Das hinderte ihren Magen allerdings nicht daran Saltos zu schlagen als Herr White auftauchte.

Sie hielt den Atem an und lies ihr Smartphone wieder in die Hosentasche gleiten, während er immer näher kam.

Billy White war etwa Mitte vierzig, durchschnittlich groß, weder zu dick noch zu dünn und hatte leicht schütteres Haar, das früher bestimmt üppig und kastanienbraun gewesen war.

Der Typ Mensch, den man im ersten Augenblick als ‚netter Nachbar’ abstempelte, der in einem Reihenhaus wohnte, jeden Tag zur Arbeit und sonntags mit den Kindern in den Zoo ging.

Tja, so konnte man sich irren.

Billy White war nämlich Single und lebte in einem Penthaus, das er sich von seinem Gehalt alleine eigentlich nicht leisten konnte.

Alera und die anderen hatten nur eins und eins zusammenzählen müssen um herauszufinden, woher das zusätzliche Geld kam.

Jack hatte seine Freundin nur mit Mühe davon abhalten können loszustürmen und einfach den gesamten Wohnblock in die Luft zu jagen.

Alera allerdings war der Meinung, dass nur die Tatsache dass sie keinen Sprengstoff besaßen (und Roses Weigerung welchen herzustellen) Chris aufgehalten hatte.

Als Herr White nah genug war nahm sie die Klopapierrolle die Rose mit einem Gemisch aus Hexachlorirgendwas und Magnesiumpulver gefüllt hatte, zündete die Lunte an und warf sie ihm vor die Füße.

Dichter Nebel stieg auf und Sekunden später sah man die Hand vor Augen nicht mehr.

Der Mann schrie entsetzt auf was allerdings keiner hörte, dazu lag dieser Teil des Parks viel zu weit abseits, außerdem war es bereits dunkel.

Alera nutzte die Verwirrung, verließ ihr Versteck und versuchte hinter ihn zu kommen, musste allerdings warten, bis sich der Nebel etwas lichtete bevor sie ihm ihre Spielzeugpistole in den Rücken drückte.

Warum hatte sie die eigentlich nie weggeworfen?

Alera zuckte mit den Schultern, eigentlich war es ja auch egal.

Sie dirigierte Billy in den Wald, fort vom Licht der Laternen und hinein in die diffuse Finsternis zwischen den Bäumen.

„Also…“ sagte sie nachdem sie weit genug gegangen waren.

„…ich habe hier einige nette Unterlagen die einige interessante Dinge beweisen!“

Sie setzte ihren Rucksack auf dem Boden ab, öffnete ihn und holte einige Blätter heraus, die sie ihm vor die Füße warf ohne ihn auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen.

„Offenbar verkauft hier irgendjemand falsche Anlagemöglichkeiten mit hohem Risiko als harmlos! Und nicht nur das, hier sind auch noch ein paar E-Mails, in denen derjenige ihre Kontaktdaten an einen Geldverleiher mit… zweifelhaftem Ruf weitergibt!“

Billy wurde mit jedem Wort etwas blasser und man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf zu rattern begann, wie er versuchte herauszufinden, wie jemand an die Daten auf seinem Geschäftsrechner gekommen war.

Es hatte Jack sowieso gewundert, dass White so blöd gewesen war, so wichtige Daten und Unterlagen über krumme Geschäfte auf dem zentralen Server der Bank zu speichern.

Offenbar war er sich seiner Sache zu sicher gewesen und hatte angenommen, dass niemand die Verbindung zwischen der durch ihn verursachten Pleite und dem plötzlichen Auftauchen eines Kreditangebotes kommen würde.

„U.. und was willst du tun? Die Unterlagen der Polizei geben? Das glaubt doch kein Mensch! Das könnte ja auch alles gefälscht sein!“

Er versuchte ein höhnisches Grinsen, was aber mehr wie eine Grimasse aussah.

„Die Polizei? Nein!“

Aleras Mund verzog sich im Schatten ihres Schals zu einem Grinsen.

„Ich dachte eher an die lokalen Klatschblätter, die drucken ja jeden Müll! Oder ich stelle es ins Internet! Was halten Sie von Flugblättern?“

„Ja und?“

Nervös knete er die Hände.

„Nichts davon beweist die Echtheit, ich werde einfach alles leugnen!“

Jetzt lachte Alera und wie zuvor die Nebelbombe diente das Geräusch dazu ihm Angst zu machen.

„Ob irgendjemand das glaubt ist mir egal! Aber die Leute die Sie übers Ohr gehauen haben, die werden den Zusammenhang erkennen! Und irgendwann MUSS die Polizei etwas tun und es wird eine Untersuchung geben! Und früher oder später…“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung

„… wird die Bank Sie rauswerfen um einen Imageschaden zu vermeiden! Und wer wird Sie danach noch einstellen? Ich muss nichts beweisen, der Schaden entsteht trotzdem!“

Und dann würde es heißen: Tschüss Penthaus, tschüss protziges Auto und tschüss ihr hübsche junge Mädchen die sich mit Geschenken kaufen lassen.

„Was… was willst du?“

Offenbar behagte ihm der Gedanke daran überhaupt nicht.

„Zwei Dinge:“

Alera streckte den Mittel- und den Zeigefinger in die Höhe.

„Erstens drehen Sie keine krummen Dinger mehr und zweitens sorgen Sie dafür, dass ihre Opfer einen guten Kredit mit niedrigen Zinsen bekommen!“

„WAS?“

Blankes Entsetzen stand dem Mann ins Gesicht geschrieben.

„Weißt du was die anderen mit mir machen werden?“

„Der Kredithai und die Herren mit den falschen Anlagemöglichkeiten? Das ist Ihr Problem!“

Da sie fand dass alles Wichtige gesagt worden war setzte sie ihren Rucksack auf und wandte ihre Aufmerksamkeit ein letztes Mal Billy White zu.

„Hier meine Karte!“ sie drückte ihm ein Stück schwarzen Bastelkarton in die Hand, auf dem mit weißem Stift eine Balkenwaage gezeichnet war.

Sie hatte dieses Zeichen bei Tom Marshall und Roman Petricov als Symbol für ausgleichende Gerechtigkeit zurückgelassen und hier passte es ihrer Meinung nach genauso gut.
 

Mehrere Wochen später machte die Gruppe Aleras Drohung wahr.

Anonyme Briefe, unterschrieben mit ‚Black Lady‘ und einer Balkenwaage (wenn schon dann denn schon!) gingen bei sämtlichen Zeitungen ein.

Jack nutze einen PC in einem Internetcafé um die Daten ins Netz zu stellen, er erstellt sogar einen neuen E-Mail-Account und verschickte die Daten aufs Geradewohl.

Bei Nacht schlichen die vier durch die Stadt und klemmten Zettel hinter jeden Scheibenwischer.

Die Lawine war in Bewegung geraten und Billy White wurde unter ihr begraben.

Wie Alera gesagt hatte erstatteten etliche geschädigte Personen, inklusive Christiane, Anzeige wodurch die Polizei auf den Plan trat.

Herr White war für seinen Arbeitgeber nicht mehr tragbar und musste seinen Arbeitsplatz räumen, noch bevor der Staatsanwalt den Durchsuchungsbefehl unterschrieben hatte.

Was die Entscheidung des Bankdirektors höchstwahrscheinlich noch beschleunigt hatte war, dass Alera das Thema bei einem Abendessen mit Freunden von Richard und Beatrice angesprochen hatte und da die Frau eine notorische Klatschtante war wusste zwei Tage später die gesamte Oberschicht über den Skandalbänker bei der Mercants Bank Bescheid.

Immerhin war Billy intelligent genug gewesen die Daten zu löschen und als die Techniker der Polizei sie wieder herstellten versuchte er seinen Hals zu retten indem er seine Komplizen verriet.

Die Namen stellten sich allerdings als falsch heraus, das Geld war verschwunden und die Kerle vermutlich über alle Berge.

Sie waren geflohen wie die Ratten vom sinkenden Schiff und hatten ihn als Sündenbock zurückgelassen.
 

***
 

Ja, das stimmt, ich habe Billy Whites Existenz zerstört. Er tat mir zwar leid, aber bereut habe ich es nicht wirklich.

Nein, die Komplizen sind bis heute spurlos verschwunden, auch wenn ich glaube, dass der Bankdirektor mit drinhing. Warum sonst ist niemandem aufgefallen, dass Whites Kunden überraschend oft überraschend viel Geld verloren haben? Aber ich habe nie genauer in diese Richtung ermittelt, da ihm der Boden offenbar zu heiß geworden war und er sich lieber bedeckt gehalten hat.

Warum Chris nicht darauf bestanden hat? Für sie war White der Schuldige. Er riet ihrem Vater irgendwelche Bäume auf irgendeiner Plantage weiß Gott wo zu kaufen, es gäbe Zinsen von bis zu zwanzig Prozent! Er sah es als Ausweg aus den Schulden und so verpfändete er sein Haus, der einzige Weg für ihn an Geld zu kommen.

Dann brannte die Plantage angeblich ab, das Geld war futsch und man wollte ihnen das Haus unter dem Hintern wegpfänden. Ihr Vater war wegen seines verlorenen Arbeitsplatzes sowieso schon verzweifelt und das gab ihm den Rest.

Er trank einen über den Durst, setzte sich ins Auto und fuhr gegen einen Baum, bevor sich der Kredithai bei ihm melden konnte.

Ob das gut oder schlecht war? Ist diese Frage Ihr Ernst? Fragen Sie doch mal Chris!

Hässliche Enten, Panikattacken und schöne Schwäne Teil 1

Danach? Danach begann meine Welt Kopf zu stehen!

Es fing eigentlich ganz harmlos an: Jack kannte jemanden, der jemanden kannte, der jemanden kannte und so weiter. Und dieser Jemand war in Schwierigkeiten, also beschlossen wir zu helfen.

Dieser Jemand kannte wieder jemanden und so weiter und so weiter, Sie wissen ja wie das ist! Und ehe wir und versahen steckten wir vier so tief in der ganzen Sache, dass wir keine Ahnung hatten wie wir wieder rauskommen sollten!

Jasmine? Wagen Sie es ja nicht, sie in diese Sache mit hinein zu ziehen! Sie wusste von nichts! Sie war und ist einfach nur eine Freundin!
 

***
 

Alera gähnte herzhaft hinter vorgehaltener Hand und nahm noch einen Schluck ihres Schokocappuccinos in den sie jede Menge Zucker gerührt hatte.

Nebenbei versuchte sie sich wenigstens halbwegs auf Rose zu konzentrieren, die versuchte, sie in die Geheimnisse der Chemie einzuweihen.

Bisher allerdings vergeblich, was Alera einfach darauf schob, dass zwischen ihr und den Naturwissenschaften die Chemie nicht stimmte.

„Also, habe ich das jetzt richtig verstanden? Bei einer Reduktion werden Elektronen aufgenommen und beim Oxidieren werden sie abgegeben?“

„Genau!“ Rose lies den Kopf nach hinten fallen und fuhr mit den Fingern durch die tiefrote Pracht ihrer Haare.

Sie erklärte jetzt schon geschlagene zehn Minuten an diesem Thema herum und bekam langsam aber sicher das Bedürfnis, ihrem Gegenüber das Chemiebuch an den Kopf zu schmeißen.

Bücher auf dem Hinterkopf sollten ja angeblich das Denkvermögen erhöhen und auf der Stirn erzielten sie bestimmt den gleichen Effekt!

Alera gähnte noch einmal und rieb sich die Augen, nur um daraufhin unterdrückt zu fluchen, weil der Mascara statt an ihren Wimpern jetzt an ihren Händen klebte.

Schnell zog sie einen kleinen Spiegel aus der Tasche und begutachtete den Schaden.

Mit etwas Augen-Make-up-entferner wischte sie die schwarzen Streifen von ihren Wangenknochen.

„Du solltest wirklich mehr schlafen, sonst fragen die Leute sich noch was du nachts anstellst!“

Rose nahm einen Schluck Milchkaffee und blätterte eine Seite im Buch um.

„Glaub mir, die Leute denken sich hunderte Möglichkeiten aus und keine kommt der Wirklichkeit besonders nahe. Aber wenn du willst kannst du gerne die nächste Beschattung übernehmen!“ meinte sie, während sie frische Wimperntusche auftrug.

„Nein Danke! Hier sind einige Reaktionsgleichungen…“ das Buch wurde über den Tisch geschoben „… kannst du…“

Was sie mit den Gleichungen tun sollte erfuhr Alera in dieser Pause nicht mehr, weil sich in diesem Moment jemand neben ihnen räusperte.

Beide Köpfe fuhren herum und blickten das Mädchen aus der Klasse unter ihnen an.

Jasmine Faraday hatte braune Augen, eine furchtbar hässliche Brille und einen langen dünnen Zopf, der über ihrer Schulter lag.

Ihre Kleidung war schlicht und unscheinbar, einfach eine Jeans und ein etwas zu weites, grünes T-Shirt.

Genau wie Rose hatte sie ein Stipendium und Alera konnte sich erinnern, dass Damian ihre ausgezeichnete Singstimme erwähnt hatte.

‚Ihre Stimme ist klar wie ein Kristall, man bekommt schon Gänsehaut, wenn sie nur alle meine Entchen singt!‘

„Alera? Ich möchte dich um etwas bitten!“

Tatsächlich ein sehr angenehmer Klang.

„Was denn?“

Der Mascara verschwand wieder in der Tasche, stattdessen holte sie einen Eyeliner heraus und umrandete ihre Augen mit einem grauen Strich.

Erst jetzt wandte sie ihre Aufmerksamkeit Jasmine zu, die etwas verunsichert wirkte.

Sie knabberte an einem ihrer Fingernägel herum und trat gleichzeitig unruhig von einem Fuß auf den anderen.

„Setz dich erstmal und dann erzähl! Was kann ich für dich tun?“

Rose räumte ihre Tasche vom Stuhl zwischen ihnen, dann rutschte sie so weit wie möglich von dem Mädchen weg.

Die Nähe von Fremden fiel ihr immer noch sehr schwer, auch wenn sie dank ihrer Therapeutin im letzten dreiviertel Jahr große Fortschritte gemacht hatte.

Mit einem tiefen Seufzer lies Jasmine sich auf den Sitzplatz sinken.

„Bring mir bei so zu sein wie du!“

Alera hielt das zunächst für einen Scherz, aber die rehbraunen Augen blickten völlig ernst.

„Du willst sein wie ich? Wieso denn bitte?“

„Ist das nicht offensichtlich?“ Jasmines Stirn legte sich in Falten.

„Du kommst in einen Raum und ziehst sofort Aufmerksamkeit auf dich. Die Leute nehmen dich wahr, sie beachten dich. Sie sehen dich! Er sieht dich!“

Nun das erklärte die Sache wohl.

Wenn ein Mädchen sich ändern wollte steckte doch meistens ein Kerl dahinter.

„Wer ist er?“

Rose zuckte kaum merklich zusammen.

Wenn jemand einen ‚er‘ erwähnte musste sie unweigerlich an Petricov denken und das Herz zog sich zu einem festen Klumpen in ihrer Brust zusammen.

‚Ganz ruhig, du bist nicht in einem Krankenhaus, niemand hat dich betäubt! Du kannst dich bewegen, du kannst sprechen! Gerate nicht in Panik!‘

Doch trotz all dieser Tatsachen, die Rose wie ein Mantra im Kopf immer wieder wiederholte spürte sie, wie ihr Atem immer schneller ging, sie kurz davor stand zu hyperventilieren.

Der stechende Geruch von Desinfektionsmittel brannte in ihrer Nase, nur mit Mühe konnte sie ein Würgen unterdrücken.

Oh Gott, wieso roch es plötzlich nach Desinfektionsmittel?

Eine warme Berührung riss sie aus dem Krankenhauszimmer zurück ins hier und jetzt.

Alera hatte unter dem Tisch ihre Hand ergriffen und drückte sie sanft.

Wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring klammerte Rose sich daran, während sie ihre Lunge mit gierigen Zügen mit Luft füllte.

Kein Desinfektionsmittel, nur der Geruch von Kaffee und den frischen Brötchen, die es in der Schulkantine zum Frühstück gab.

Als die feuchte Hand, die ihre eigene wie ein Schraubstock umklammert hielt, den Griff langsam löste wusste Alera, dass die Panikattacke abgewendet war.

Erleichtert griff sie mit der freien Hand nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck Cappuccino, nur um gleich eine Schnute zu ziehen, der Kaffee war inzwischen nämlich kalt.

Statt eine Antwort auf die ihr gestellte Frage zu geben senkte Jasmine den Kopf und starrte auf die Tischplatte, als gäbe es nichts interessanteres als die Krümel auf der Oberfläche, die vom Frühstück der beiden stammten.

„Hallo meine Schöne!“

Zwei Hände legten sich auf ihre Schultern und Alera wurde steif wie ein Brett.

„Was hältst du davon, wenn wir beide heute Abend schön zusammen ausgehen? Ich kenne ein nettes Restaurant oder wäre dir ein Club lieber?“

Die Hände, glatt und ohne Schwielen, wanderten über die bloße Haut und sie wünschte sich sehnlichst ein altes, labbriges Sweatshirt anstelle ihres schulterfreien Neckholderoberteils und den dazu passenden langen Armstulpen, an deren Rand der Junge gerade mit den Fingerspitzen entlangfuhr.

„Davon halte ich dasselbe wie letztes Mal, nämlich Garnichts!“

Mit einer raschen Bewegung schlug sie die Hand weg die gerade anfing mit ihren schwarzen Locken zu spielen und drehte sich um.

Henrik war ein Jahr über ihnen und sah mit seinen dunkelblauen Augen und dem aschblonden Wuschelkopf eigentlich sehr gut aus.

Die meisten Mädchen sagten auch, dass seine Augen einen verträumten Ausdruck hatten aber… irgendwas an ihm lies bei Alera die Alarmglocken schrillen.

Vielleicht weil er außer ihrem Äußeren nicht wirklich etwas wahrzunehmen schien?

Oder weil sie vermutete dass hinter diesem ‚verträumten Blick‘ etwas anderes steckte?

Wie auch immer, eine Haarsträhne wurde um einen manikürten Finger gewickelt, während ein laszives Lächeln seine Mundwinkel nach oben zog.

„Aber, aber meine Hübsche, wer wird denn gleich so heftig reagieren? Wir wären doch so ein hübsches Pärchen…“

Alera stand auf, stieß ihm mit dem Finger gegen die Brust und funkelte ihn wütend an.

„Egal wie hübsch wir beiden in deiner kranken Fantasie zusammen aussehen, ich würde eher den Rest meines Lebens im Kloster als auch nur einen Tag mit dir verbringen, merk dir das ein für alle Mal! Und jetzt verschwinde!“

Erstaunen huschte über sein Gesicht, wurde dann aber von Ärger abgelöst.

„Du wagst es…“

Offenbar wollte Henrik sie packen, aber ein Arm schoss hervor und hielt sein Handgelenk fest.

Rose war kreidebleich und in ihren Augen stand die nackte Panik, aber trotzdem schob sie sich zwischen ihn und Alera.

„Du…du hast sie gehört, lass sie in Ruhe!“

Mit zitternden Händen versuchte sie ihn wegzuschubsen, hatte damit aber nur wenig Erfolg.

Inzwischen war es im ganzen Raum merklich stiller geworden, alle starrten zu ihnen herüber.

Der Platzhirsch, das reiche Mädchen, zwei Außenseiter und das Knistern von Streit in der Luft, das war eine Kombination die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Henrik schien das ebenfalls zu bemerken, er strich noch einmal über Aleras Wange, drehte sich auf dem Absatz herum und ging.

„Danke!“

Sie fuhr sanft mit der Hand über Roses Haar, eine Berührung mit der die Rothaarige ohne größere Probleme klar kam.

Die Freundschaft zwischen ihnen aufzubauen war langwierig und schwierig gewesen, aber es lohnte sich, denn Rose war eigentlich eine sehr treue Seele die auch regelmäßig über ihren eigenen Schatten sprang um anderen zu helfen.

„Sag mir bitte, dass du nicht in diesen Idioten verknallt bist!“

Jasmines Wangen färbten sich rot, doch zu Aleras Überraschung erwiderte sie ihren Blick standhaft.

„Ja das bin ich! Und ich bin sicher, dass er kein schlechter Mensch ist!“

Mit einem Seufzer nahm sie die Hand von Roses Haaren und setzte sich wieder auf ihren Stuhl.

„Und wegen diesem sch… netten Kerl willst du dich verändern?“

Die braunhaarige senkte den Kopf wieder und fing an mit dem Finger unsichtbare Muster auf die Tischplatte zu zeichnen.

„Nein! Das… das will ich schon lange! Ich weiß, dass ich nie eine Schönheit sein werde, aber ich bin es so leid!“

Ihre Hand ballte sich zur Faust.

„Ich bin es leid unsichtbar zu sein! Ich will dass die Leute mich sehen, sich an mich erinnern und zwar nicht nur an die hässliche Tussi mit der furchtbaren Brille! Ich möchte jemand sein, ich will das die Leute sagen: ‚das ist Jasmine‘ und nicht: ‚habe ich die nicht schon mal irgendwo gesehen?‘! Das ist alles!“

Während die rehbraunen Augen feucht zu schimmern begannen lehnte Alera sich stöhnend auf ihrem Stuhl zurück, während ihr Helferkomplex in ihrem inneren eine Party feierte.
 

Jasmine saß auf einem äußerst bequemen und höchstwahrscheinlich auch verdammt teuren Sofa und konnte nicht anders als den Mann anzustarren, der ihr gerade eine Tasse Tee einschenkte.

„Ähm… was haben Sie gesagt?“

Die vollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

„Ich habe gefragt, ob Sie Milch, Zucker oder Zitrone in Ihren Tee möchten!“

„Ähm..“ wie trank sie normalerweise ihren Tee?

„Milch! Ich will Milch in meinen Tee!“

Die volle Tasse wurde vor ihr abgestellt und der Butler klemmte sich das Tablett wieder unter den Arm, nachdem er die Kanne auf dem Stövchen abgestellt hatte.

„Braucht ihr sonst noch irgendetwas?“

„Nein danke Lucas!“

Alera lehnte sich mit ihrer Tasse (drei Löffel Zucker und einen Spritzer Zitrone) im Sessel zurück und schlug die Beine unter.

„Zumindest ich bin Wunschlos glücklich.“

Als die Tür mit einem leisen Klacken geschlossen wurde hatte Jasmines Verwirrung sich noch immer nicht gelegt.

Normalerweise musste sie die Leute immer erst auf sich aufmerksam machen, wenn sie in einem Restaurant oder einem Laden etwas wollte, aber dieser Mann… Lucas… er hatte sie nicht übersehen, hatte ihr die Jacke abgenommen und die Tasse für sie gleich mitgebracht, ohne dass man ihn dazu auffordern musste…

Aber andererseits waren in diesem Raum ja auch nur vier Leute.

Von ihrem Sessel aus betrachtete Alera amüsiert Jasmines verdattertes Gesicht.

Die meisten normalen Leute (sie selbst eingeschlossen) reagierten so auf Lucas, was sie darauf schob, dass die meisten Leute nicht an Männer in schwarzen Anzügen gewöhnt waren, die einfach aus dem Nichts auftauchten, einem die Jacke abnahmen und Tee servierten.

„Also, hast du dir schon über einen Stil Gedanken gemacht?“

Das riss die Jüngste wieder aus ihren Gedanken.

„Stil? Nein, eigentlich nicht… muss ich das denn?“

Jasmine schob sich die Brille zurecht.

„Nun, es ist wesentlich einfacher Kleider und eine Frisur auszusuchen, wenn wir wissen nach was wir suchen müssen!“ meinte Chris und stellte ihre Tasse auf dem Untersetzer ab.

„Ich will sein wie Alera…“ Falten gruben sich in Jasmines Stirn.

„…also brauche ich auch Kleider wie sie?“

Die Angesprochene steckte sich ein Stück türkischen Honig in den Mund, kaute und schluckte.

„Ich glaube ja nicht, aber das lässt sich ja recht einfach herausfinden. Komm mit!“

Alera streckte sich und ging die Treppe hinauf in ihr Zimmer, die drei anderen hinter ihr.

Sie stieß die Tür zu ihrem Ankleidezimmer auf und deutete mit der Hand hinein.

„Bitte sehr, bediene dich!“

Jasmine, die eigentlich auf den Schrank (in dem sich nur alte Kleider für die Gartenarbeit und sonstiger Krimskrams befanden)zugesteuert hatte klappte der Kinnladen nach unten und auch Chris und Rose, die schon hier gewesen waren, bekamen große Augen.

„Du hast deine Kleidung nach Farben sortiert?“

„Und nach Art. Das macht die Suche nach bestimmten Kleidungsstücken leichter!“

Wortlos beobachteten die drei wie Jasmine zwischen den Kleidungsstücken hin und her wanderte und nach einigem Zögern schließlich eine Hose und ein Oberteil mit grüner Spitze nahm.

„Du kannst dich in meinem Badezimmer umziehen.“

Sie nickte und verschwand durch die angrenzende Tür.

Während Rose und Alera es sich auf dem Bett bequem machten nahm Chris den begehbaren Kleiderschrank genauer unter die Lupe.

Sie nahm ein weinrotes Abendkleid, hielt es sich vor den Körper und drehte sich vor dem großen Spiegel hin und her.

„Du hast ja gar keine schwarzen Klamotten! Und das bei deinem Hobby?“

Sie hängte das Kleid zurück und griff nach einem blau-schwarzen.

„Naja, zumindest keine komplett schwarzen.“

„Ich renne mitten in der Nacht durch dir Gegend, erpresse böse Menschen und erteile ihnen Notfalls eine Lektion und dabei trage ich grundsätzlich schwarz. Nach dem dritten oder war es der vierte? Einsatz konnte ich die Farbe nichtmehr sehen!“

Das war teilweiße wahr, aber in Wirklichkeit hatte sie jedes Mal an Marshall und Petricov denken müssen, an das warme Blut das auf ihre Kleidung gespritzt hatte.

Sie hatte sich eingebildet das kranke Lachen von Petricov zu hören, Marshalls klägliches Wimmern und das kraftlose Stöhnen einer Frau, deren Brust von einer Kugel durchbohrt worden war.

Also hatte sie alles Schwarze aus ihrem Schrank geholt, es in einen Sack gepackt und in die Altkleidersammlung gesteckt.

Die sich öffnende Badezimmertür riss die aus ihren Gedanken.

Jasmine fühlte sich in Aleras Kleidung sichtlich unwohl und auch ein Blick in den Spiegel änderte daran nichts.

Da die Figur bei beiden Mädchen völlig unterschiedlich war passten die Kleider nicht richtig.

Die braunhaarige hatte bei weitem nicht genügend Oberweite um den tiefen Ausschnitt auszufüllen und auch die Hose schlackerte um die Hüften herum.

„Tja, du hattest wohl Recht!“

Mit diesen Worten drehte Jasmine ihrem Spiegelbild den Rücken zu.

„Was hättest du denn dann gerne? Etwas Elegantes? Verspieltes? Sexy? Niedlich?“

Wieder legte das Mädchen die Stirn in Falten.

„Also… elegant wäre ich schon gerne!“

In diesem Moment klopfte es und Damian steckte seinen Kopf zur Tür herein.

Sämtliche Gesichtszüge entgleisten ihm, als sein Blick auf Jasmine fiel.

„Wie siehst du denn aus? Du hast doch hoffentlich nicht vor als Alerakopie rumzulaufen, oder?“

Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen und ihren Hände krallten sich in die Spitze um den Ausschnitt, der den BH hervorblitzen lies, zu schließen.

„Nein, habe ich nicht!“

Mit diesen Worten stürmte sie ins Bad, knallte die Türe zu und lehnte sich von innen dagegen.

Sie hatte überreagiert!

Die Worte hatten nicht abwertend geklungen, nur ehrlich.

Und Damian war eigentlich immer nett zu ihr gewesen, wenn sie sich in der Schule oder bei den Chorproben gesehen hatten.

Einmal hatte er ihr sogar geholfen ihre Notenblätter aufzusammeln, nachdem irgendwer sie so stark angerempelt hatte, dass sich der gesamte Inhalt ihrer Mappe auf dem Boden verteilt hatte.

Mit einem Seufzen zog sie ihre Hose und das T-Shirt wieder an.

Was kümmerte es sie eigentlich, was Damian von ihr dachte?

„Das war nicht nett!“

Alera warf ihrem Bruder einen bösen Blick zu und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hätte ich Lügen sollen?“

Da sie merkte wie Rose sich verkrampfte als Damian näher kam rutschte sie etwas näher an sie heran und schirmte ihre Freundin so ein wenig ab, achtete aber auch darauf noch genügend Abstand zu halten um sie nicht zu sehr einzuengen.

„Nein, aber man kann die Wahrheit auch netter formulieren!“

Sie stand auf und strich sich das Oberteil glatt.

„Kommt Mädels, wir gehen nach unten! Und du…“ sie zeigte mit dem Finger auf ihn „… du entschuldigst dich! Und zwar höflich, ist das klar?“

„Ja Madam!“

Im Vorbeigehen schnipste sie ihm mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe, wie immer wenn er sie ärgerte.

Damian setzte sich wie die beiden Mädchen vor ihm aufs Bett, überkreuzte seine Fußgelenke und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Alera ich lege… Was machst du denn noch hier?“

Jasmine kam aus dem Bad, die Kleidungsstücke über ihrem Arm, der Blick finster.

Ups, da war er doch tiefer im Fettnäpfchen gelandet als er gedacht hatte.

„Hör mal, das vorhin tut mir Leid! Ich hatte das nicht so gemeint!“

„Na dann ist ja alles paletti, hip hip hurra!“

Jasmine wollte sich am liebsten in den Hintern beißen.

Warum zickte sie so herum?

Sie ließ die blöden Kommentare über ihr Aussehen doch sonst auch schweigend über sich ergehen, hatte gelernt zu akzeptieren was sich nicht ändern ließ.

‚Und warum bist du dann hier?‘ fragte eine kleine, gehässige Stimme in ihrem Kopf.

Damians Gewissen wurde noch schlechter als er sah wie Jasmine den Kopf hängen ließ und sich auf die Unterlippe biss.

„Es war nur so ein Schock…“ das war ganz offensichtlich der falsche Satz gewesen, denn ihr Blick schoss nach oben, als säße er auf einer gespannten Feder.

„Was war ein Schock?“ ihre Stimme, sonst klar wie ein Kristall, brach, war plötzlich nur noch ein gequältes Krächzen.

„Das ich noch lächerlicher aussehen kann als sonst?“

Aleras Bruder wusste nicht, was ihn mehr erstaunte, Jasmines Tränen oder die Jeans, die sie ihm an den Kopf geschmissen hatte.

Er hatte sie noch nie so erlebt.

Obwohl, wenn er ehrlich war hatte er noch nie einen anderen Gesichtsausdruck als ein Lächeln bei ihr gesehen.

Jasmine wischte sich die Tränen von den Wangen, aber es kamen immer wieder welche nach.

Verdammt, die musste hier raus, wenn sie weinte sah sie noch schlimmer aus als sonst.

„Du sahst einfach nicht aus wie du!“

Damians Worte ließen sie auf dem Weg zur Tür innehalten.

Sie drehte den Kopf und blickte ihn aus ihren höchstwahrscheinlich roten und verquollenen Augen an.

„Ich kenne dich nicht sehr gut, nur durch die Chorproben, aber du sahst plötzlich aus wie eine komplett andere Person, ich hätte dich fast nicht erkannt.“

Er fuhr sich mit einer Hand durch sein rotbraunes Haar und wandte den Blick von ihr ab, starrte stattdessen aus dem Fenster, wo die grünen Blätter sich leicht im Wind wiegten und zusammen mit dem Sonnenlicht ein bewegliches Spiel von Licht und Schatten auf den Wegen und dem Gras schufen.

„Das hat mich erschreckt und darum habe ich geredet ohne nachzudenken. Es tut mir Leid, verzeih mir bitte!“

Jetzt sah er sie wieder an, das schlechte Gewissen stand ihm quer über das schöne Gesicht geschrieben, das ihm ebenso viele Verehrer wie Verehrerinnen einbrachte.

Als sie nichts darauf erwiderte stand er auf und wischte ihr die Tränen weg.

„Welchen Weg du einschlägst ist deine Sache…“ noch einmal strich er über ihre Wange „…aber ich würde dir gerne helfen, wenn du erlaubst!“

‚Das ist ja mal interessant!‘

Alera hatte die ganze Zeit über neben ihrer angelehnten Zimmertür an der Wand gestanden (Chris und Rose hatte sie unter dem Vorwand sie müsse aufs Klo alleine ins Wohnzimmer zurückgeschickt), bereit einzugreifen, falls ihr Bruder die Sache vermasselte.

Zwischendurch wäre sie ein paarmal fast in den Raum gestürzt, war jetzt aber froh, dass sie es nicht getan hatte, denn eigentlich hatte er es ganz gut hinbekommen, wenn auch mit einigen holprigen Stellen.

Während die leise den Flur entlang zu Treppe lief um den beiden doch noch etwas Privatsphäre zu lassen dachte sie über das gerade gehörte nach.

Was das wohl noch für Auswirkungen haben würde?
 

***
 

Nein, natürlich bin ich noch nicht fertig! Aber ich bin müde und würde gerne wann anders weitererzählen!

Jaja, Ihnen auch eine gute Nacht!

Hässliche Enten, Panikattacken und schöne Schwäne Teil 2

Oder: Shoppingtour und verletzte Gefühle
 

Ich soll weiter erzählen? Warum interessieren Sie sich so sehr für jemanden, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hat?

Jaja, schon gut! Ich erzähle ja schon!
 

***
 

„Warum machen wir das eigentlich?“

Rose ließ sich auf einen freien Stuhl (auf den anderen stapelten sich Kleider) vor den Umkleidekabinen im Kaufhaus sinken und streckte die Füße von sich.

Sie tourten jetzt schon mehrere Stunden durch die Einkaufsläden und ihr taten die Füße weh!

„Weil wir beide einen riesigen Helferkomplex haben?“

Alera ließ sich auf die Sitzgelegenheit neben ihr sinken, schlüpfte aus ihren High Heels und begann, ihre Zehen hin und her zu bewegen.

„Und Chris will Jasmine einfach nur helfen, sich selbst zu finden, der Mensch zu werden der sie unter der unscheinbaren Hülle eigentlich ist!“ schloss Rose für sich selbst.

„Heißt das nicht eigentlich, dass sie auch einen Helferkomplex hat?“

Aleras Augen funkelten amüsiert.

„Sollen wir uns in Zukunft das ‚Komplex-Quartett‘ nennen?“

„Wie findet ihr das?“

Der Vorhang der Kabine öffnete sich und gab den Blick auf Jasmine frei, gekleidet mit einer lila Bluse und einer schwarzen Hose.

„Lila steht dir nicht!“ entschied Alera und schüttelte den Kopf.

„Probiere mal eine andere Farbe, vielleicht grün oder rot!“

„Hey, ich habe hier noch ein paar Sachen!“

Chris trug einen bunten Stapel mit allen möglichen Kleidungsstücken auf dem Arm.

„Du kannst gleich alles wegtun was lila ist!“

„Hättest du das nicht früher sagen können?“ grummelte die blonde, hob den oberen Teil des Stapels ab und drückte ihn ihrer Cousine in die Hände.

Dann nahm sie ein lavendelfarbenes Kleid und hängte es an den Ständer zum wieder einsortieren, gefolgt von einer lila Hose.

„Was gibt es neues über Smith?“ fragte Chris im Flüsterton, während Jasmine sich etwas anderes anzog.

„Du meinst außer dass der Mistkerl Frau und Kinder schlägt?“

Aleras Gesicht verfinsterte sich, das grau ihrer Augen wurde kräftiger und überdeckte das grün.

Chris hatte das schon öfters beobachtet, die Augen der schwarzhaarigen änderten ihre Farbe tatsächlich je nach Stimmung.

Bei Rose war das genauso und bei ihr selbst?

Sie nahm sich vor Jack danach zu fragen.

„Mach dir keine Sorgen, wir haben bald genug Material, um ihm einen Tritt in den Allerwertesten zu verpassen!“

Der sich öffnende Vorhang unterbrach ihr Gespräch von neuem.

„Das sieht schon besser aus, was meint ihr?“

Satt einer Antwort legte Alera den Kopf schief und runzelte die Stirn, nur um dann wortlos aufzustehen und strümpfig in die Umkleidekabine zu tapsen, während die Pradas unbeachtet auf dem Boden liegen blieben.

„Wo ist er denn? Ich habe ihn doch gesehen!“

Die drei anderen Mädchen warfen sich gegenseitig verwirrte Blicke zu, zuckten mit den Schultern und schauten der vierten im Bunde weiter beim durchwühlen des Kleiderhaufens zu.

„Na bitte!“

Mit einem strahlenden Lächeln zog Alera einen Rock aus dem Stapel.

„Hier, probiere den mal an!“

„Aber…“

„Keine Wiederrede!“

Sie griff nach einer Feinstrumpfhose, drückte sie Jasmine in die Hand und schob sie in die Kabine zurück.

„Ich gehe mal schnell ein paar passende Schuhe suchen!“ mit diesem Worten verließ sie den Umkleidebereich, musste aber noch einmal umdrehen um ihre Schuhe zu holen.

Der Stiftrock hörte ein paar Zentimeter über dem Knie auf, war also keineswegs knapp, aber Jasmine hatte trotzdem das dringende Bedürfnis ihn nach unten zu ziehen.

„Wow! Du hast so tolle Beine und zeigst sie nicht? Bist du des Wahnsinns?“

Chris stemmte eine Hand in die Hüfte und zeigte anklagend mit einem Finger der anderen auf besagte Beine.

Das laute Klacken von Absätzen kündigte Alera an und bewahrte Jasmine vor einer Antwort.

„Also dieser Rock, ich weiß nicht…“

„Zieh die an!“ mit diesen Worten wurde ihr ein paar Stilettos in die Hand gedrückt.

Die Schuhe machten Jasmine gute zehn Zentimeter größer, waren aber höllisch unbequem und laufen ging überhaupt nicht.

„Oh Mann, mit solchen Beinen würde ich nur noch Miniröcke tragen!“

Chris klatschte in die Hände und machte sich wieder auf den Weg Richtung Verkaufsraum.

„Wir brauchen mehr Röcke, vielleicht ein paar Hotpants und vor allem flachere Schuhe!“

„In Ordnung!“ antwortete Alera und beide Mädchen verschwanden zwischen den Ständern.

Rose (ein bekennender Shoppingmuffel) schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Wand hinter sich, während Jasmine noch ein paar Kleidungsstücke anprobierte.
 

Zwei Stunden später saßen die vier in einem gemütlichen Café, tranken wahlweiße Tee, Kaffee oder heiße Schokolade und knabberten an Keksen.

„Und jetzt?“ fragte Jasmine nach einigen Schlucken.

„Was mache ich jetzt?“

Drei paar Augen richteten sich auf sie und irgendwie hatte sie die Vermutung eine ziemlich blöde Frage gestellt zu haben.

„Nun, das hängt von dir ab!“

Alera biss in ihren Schokokeks, kaute und schluckte.

„Du kannst weitermachen wie bisher oder eben nicht. Deine Entscheidung!“

Die Braunhaarige starrte in ihre Tasse und biss sich auf die Lippe.
 

Eine Woche später war die Verwandlung abgeschlossen.

Durch den flotten Kurzhaarschnitt mit den blonden Strähnchen hatte ihr Haar mehr Volumen, und mit der schicken neuen Brille und ein paar anderen Accessoires hatten sie bewusst Akzente gesetzt.

Kurz: Jasmine sah vollkommen anders aus als letzte Woche.

Ihre Klassenkammeraden hatten sie sogar gefragt, ob sie neu an der Schule sei!

Alera machte sich zwar Sorgen deswegen, aber alles in allem lief die Sache eigentlich sehr gut.

Sie hoffte nur, dass Henrik nicht wieder alles kaputt machte.
 

Jasmine drehte sich vor dem Spiegel hin und her und hatte dabei das Gefühl auf Wolken zu schweben.

Sie hatte ein Date!

Mit einem absoluten Traumtypen!

Vor Aufregung zitterten ihre Hände so sehr, dass ihr beinahe die Ohrringe aus der Hand gefallen wären.

Die Perlen in verschiedenen Blautönen passten zu ihrem Oberteil, ebenso die taubengrauen Wildlederpumps.

Wer hätte gedacht, dass es nur einer Shoppingtour bedurfte um sich zu verändern?

Mit diesem Gedanken schnappte sie sich ihre Handtasche und schwebte geradewegs zur Tür hinaus.

Eine dreiviertel Stunde später hatte ihre gute Laune allerdings einen ordentlichen Dämpfer bekommen, denn eigentlich hätte Henrik sie vor etwa zwanzig Minuten treffen sollen.

Hatte sie sich im Datum vertan?

In der Urzeit?

Oder etwa am Ort?

Ehe sie allerdings einen hysterischen Anfall bekommen konnte legten sich Hände auf ihre Schultern, drehten sie herum und bevor sie sich versah drückte Henrik seine Lippen auf ihre.

„Hallo meine schöne!“

Sein Lächeln war absolut entwaffnend und lies den Impuls ihm eine Ohrfeige zu verpassen ebenso schnell verschwinden wie ihre Wut über seine Verspätung oder ihre Verwirrung darüber, dass er sie genauso anredete wie neulich Alera.

„Hallo!“

Verlegen lächelnd strich Jasmine sich eine Strähne aus der Stirn, die sie eigentlich gar nicht gestört hatte, schob ihre Brille nach oben und strich ihre Bluse glatt, einfach weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.

Henrik bot ihr den Arm an und gemeinsam schlenderten sie über den Marktplatz.

Das Essen war absolut köstlich, aber trotzdem wäre Jasmine lieber in irgendeine Pizzeria gegangen.

Hier gab es viel zu viel Besteck auf einem Haufen (fing man innen oder außen an?), die Hälfte der Gerichte kannte sie nicht und überhaupt war die Atmosphäre für ein Date denkbar ungeeignet!

Und irgendwie wusste sie nicht, über was sie mit ihrem Gegenüber reden sollte und so blieb das Gespräch oberflächlich.

Lehrer, Mitschüler, das Wetter…

Aber wenn sie einander erstmal besser kannten würde sich das ändern, da war Jasmine sich sicher!
 

Alera wusste nicht so recht was sie hiervon halten sollte.

Es war neun Uhr abends, sie kam gerade aus dem Bad und auf ihrem Bett saß ein in Tränen aufgelöstes Mädchen dessen modischer Bob ziemlich zerzaust aussah, als ob die immer wieder mit den Händen durchgefahren wäre.

„Jasmine? Was ist denn los?“

Und was tat sie hier?

Normalerweise wurden Gäste in das kleine Wohnzimmer oder den Salon gebracht, aber naja, wer wollte schon heulend im Wohnzimmer fremder Leute sitzen?

Statt einer Antwort schluchzte das Mädchen munter weiter und auch Umarmungen und tröstende Worte brachten Alera kein Stück weiter.

Nach kurzem Zögern schnappte sie sich ihr I-Phone und verschwand mit den Worten „Ich bin gleich wieder da!“ aus dem Zimmer.

Christiane hob nach dem dritten Klingeln ab.

„Kannst du vorbeikommen? Jasmine weint sich hier die Augen aus und ich bekomme sie einfach nicht zum Reden!“

„Okay, Jack fährt mich bestimmt!“

Inzwischen war Alera bei der Küche angekommen.

„Gut. Wenn er keine Zeit hat ruf an, ich schicke dir einen Chauffeur!“

„Bitte nicht! Ich erinnere mich noch zu genau an die Reaktion der Nachbarn, als ich an unserem Shoppingtag von einem Bentley angeholt und wieder gebracht wurde! Sie reden immer noch darüber!“

„Wäre dir ein Mercedes oder ein BMW lieber? Oder doch ein Jaguar?“

„Angeberin! Okay, ich muss Schluss machen, da kommt Jack. Ich denke, ich bin in einer halben Stunde bei dir!“

Als Alera fünfzehn Minuten später ihre Zimmertür aufstieß balancierte sie ein Tablett mit einer Kanne heißer Schokolade, Tassen und einem Berg Schokokekse mir Mandelsplittern (diese Situation schrie förmlich nach einer Überdosis Schokolade!) auf ihren Händen, ihrer Meinung nach das beste Mittel gegen Traurigkeit.

In den letzten Wochen und Monaten hatte sich gezeigt, dass Chris nahezu jeden dazu bringen konnte, sich ihr anzuvertrauen.

Und das tolle (oder schlimme) daran war, dass man es überhaupt nicht merkte!

Sie blieb zufällig an der Bushaltestelle neben jemandem stehen, sagte ‚Hallo‘ und ehe man sich versah erzählte man ihr seine dunkelsten Geheimnisse.

Wenn also jemand befragt oder Informationen gesammelt werden mussten, dann war Christiane die Richtige.

Und ganz offensichtlich erging es Jasmine nicht anders als dem Rest der Welt: innerhalb einer Dreiviertelstunde hatte die Blonde ihr die ganze Geschichte entlockt.

Dass Henrik ein totaler Arsch war, das er immer alles anbaggerte was weiblich war, auch wenn sie dabei war, dass er nie zuhörte, sich im Grunde nicht für sie interessierte und auch nie eine echte Beziehung gewollt hatte.

„Hey!“ Alera legte ihr einen Arm um die Schultern.

„Der Typ hat dich nicht verdient, er ist ein Idiot!“

Wütend schüttelte Jasmine den Arm wieder ab.

„Jetzt spiel dich hier nicht so auf! Du Flittchen weißt doch gar nicht wie das ist!“

Alera schreckte zurück und Jasmine hätte sich am liebsten die Zunge herausgeschnitten.

Das Entsetzen stand Alera ins Gesicht geschrieben und in ihren Augen sammelten sich Tränen.

Warum hatte sie das gesagt?

Alera war eigentlich sehr nett und sie konnte doch auch nichts dafür, dass Henrik andauernd davon redete, dass er sie irgendwann noch rumkriegen würde.

Sie konnte nichts dafür das sie attraktiv war und vor allem nicht dafür, dass Jasmine selbst etwas in diesem Dreckskerl gesehen hatte, dass einfach nicht vorhanden war.

„Ich… es… hör mal…“ begann sie, doch die schwarzhaarige schnitt ihr das Wort ab.

„Was weißt du schon! Du kennst mich nicht, du weißt nur, was andere über mich erzählen, also solltest du besser aufpassen, was du sagst!“

Mit diesen Worten rauschte Alera aus ihrem Zimmer und schloss die Türe geräuschlos hinter sich, was viel beängstigender war als wenn sie sie mit einem lauten Knall zugeschlagen hätte.

Zurück blieben Jasmine, die jetzt völlig mit den Nerven am Ende war und Chris, die innerlich vor Wut kochte.
 

Alera saß zusammengekauert auf der gemütlichen Couch in ihrem Wintergarten, doch den vertrauten Geruch der weißen Teerosen und das üppige Grün der Pflanzen, um die sie sich jeden Tag gewissenhaft kümmerte, bemerkte sie überhaupt nicht.

Dabei war das ihr liebster Raum im ganzen Haus!

Warum reagierte sie so?

Sie war es doch gewöhnt!

Nach der Adoption hatte sich die Meinung ziemlich schnell festgefahren: ‚geldgierige Erbschleicherin‘!

Und wenn man schon dabei war, dann konnte man ihr auch noch den Ruf einer Schlampe anhängen.

Obwohl, daran war sie zum Teil auch selbst schuld, schließlich kleidete sie sich nicht gerade Nonnenhaft.

Aber gab das den Leuten die Berechtigung über sie zu urteilen?

Und warum fielen diese Urteile nie zu ihren Gunsten aus?

Die tröstende Hand auf ihrer Schulter ignorierte sie, in der Hoffnung, dass Christiane sie in Ruhe lassen würde.

Das tat sie natürlich nicht, wie konnte es auch anders sein!?

„Kann man denn nicht einmal in Ruhe schmollen?“

Alera bemühte sich um ein möglichst beleidigtes Gesicht.

„Du schmollst nicht! Sie hat dich verletzt, höchstwahrscheinlich deswegen, weil es nicht stimmt, oder?“

Sie unterdrückte ein freudloses Lachen.

Chris lag vollkommen falsch.

Sie war lediglich an eine unangenehme Wahrheit erinnert worden.

‚Hätte deine Mutter doch nur auf mich gehört und dich abtreiben lassen! Dann wäre das alles nie passiert!‘

Sie schob die Erinnerung in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses.

Sie wollte nicht an ihren Vater denken, nicht daran wie er, fast Wahnsinnig wegen des Verlusts seiner geliebten Frau, absolut unverzeihliche Dinge gesagt hatte.

Für die achtjährige war damals das letzte bisschen heile Welt zersplittert, wie eine Vase, die auf den Boden fiel.

Inzwischen verstand sie ihn zwar besser, aber verstehen und verzeihen waren zwei Paar Stiefel und ein Teil von ihr war einfach immer noch das verletzte Kind, das sich nach der Liebe ihres Paps sehnte.

Doch sie würde sich hüten, Chris irgendetwas davon zu erzählen.

Wer wusste, was sie ihr sonst noch alles aus der Nase zog?

Also bis Alera sich auf die Zunge, legte den Kopf auf ihre Knie und lies sich stumm trösten, während Selbstmitleid und verletzte Gefühle sich langsam aber sicher in brodelnde Wut umwandelten.

‚Zähle bis drei und schlucke!‘

Nachdem Chris und Jasmine gegangen waren überlegte sie kurz, ob sie ihren Besuch bei Smith ein wenig nach vorverlegen sollte, entschied sich dann aber dagegen.

Bei ihrer momentanen Stimmung hätte sie den Dreckskerl vermutlich krankenhausreif geprügelt und das war nicht der Plan.

Angst machen ja, aber Gewalt erst dann, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab.

Das war eine der Regeln, die sie anfangs aufgestellt hatten.

Also ging sie stattdessen in den Fitnessraum und begann dort solange mit bloßen Fäusten auf einen Sandsack einzudreschen, bis ihre Knöchel von der rauen Oberfläche blutig waren.
 

***
 

Ich habe nie behauptet, dass wir gute Freundinnen waren!

Für das mit dem Flittchen hat sie sich zwar entschuldigt, aber vergessen haben wir es beide nicht. Es hing wie ein Schatten über uns… ich bin nachtragend, wissen Sie?

Aber als sie mit Damian zusammenkam haben wir stillschweigend darauf geeinigt, uns wie erwachsene und zivilisierte Menschen zu benehmen.

Und eigentlich kamen wir ganz gut miteinander aus und wenn wir ein Gesprächsthema brauchten lästerten wir einfach ein bisschen über Henrik.

Ja, wenn ich weniger nachtragend wäre hätten aus uns bestimmt sehr gute Freundinnen werden können, aber ich kann das ebenso wenig abstellen, wie Sie ihre Neugier!

Mögliche Verbündete

Noel Valentin? Sie sind wirklich neugierig!

Okay, ich erzähle Ihnen von unserer ersten Begegnung.

Wie bitte? Sie wollen lieber hören, in welcher Beziehung wir zueinander standen?

Tja, Pech gehabt, jetzt erzähle ich diese Geschichte.
 

***
 

In manchen Momenten war man einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

Und dann gab es Momente, in denen man zu genau der richtigen Zeit am richtigen Ort war.

Heute waren offensichtlich Augenblicke der letzteren Sorte dran.

Alera lächelte zufrieden, während sie ihre Kamera ausschaltete und in die Tasche gleiten lies.

Auf dem Speicherchip befanden sich einige Schnappschüsse, die Richter Alan Wake mit leicht bekleideter und vermutlich minderjähriger Begleitung zeigten, das perfekte Material für etwas ‚Überzeugungsarbeit‘!

Ob er danach weiterhin solche Schufte wie Drogendealer aus ‚Mangel an Beweisen‘ freisprach?

Naja, falls doch, würden diese Bilder eben den Weg an die Öffentlichkeit finden.

Ihre Turnschuhe machten auf dem Asphalt fast keine Geräusche und so konnte sie sich unbemerkt von ihrem Beobachtungsplatz entfernen, wobei Alera sich die Mühe eigentlich hätte sparen können.

Wake war so sehr mit dem Mädchen beschäftigt, dass es eine Blaskapelle gebraucht hätte um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Der verzweifelte Schrei eines Kindes ließ sie zusammenfahren und ehe sie sich versah rannte sie schon los.

An der kleinen Seitengasse wäre sie beinahe vorbeigerannt, doch ein gequältes Stöhnen und ein verängstigtes „Opa!“ brachten Alera dazu, im vollen Lauf anzuhalten und nach rechts abzubiegen.

„Bitte! Das sind meine Herztabletten, ich brauche sie! Sie verursachen kein Hochgefühl oder so was…“ ein verängstigter, älterer Mann mit Halbglatze redete auf einem bulligen Typen mit kahlrasiertem Schädel und jeder Menge Tattoos ein, der ihn an Kragen gepackt hatte und seine Taschen durchsuchte, vermutlich auf der Suche nach Geld.

„Ach halt doch die Klappe! Für was die Pillen wirklich sind interessiert mich einen feuchten Dreck! Ich verhökere sie einfach an irgendwen, Hauptsache es springt Geld für mich heraus!“

Im Stillen verfluchte Alera sich dafür, keine Waffe eingepackt zu haben.

Der Kerl war riesig und mit einem Messer oder zumindest einem Stock würden ihre Chancen wesentlich besser stehen.

Suchend blickte sie sich nach einem Ersatz um.

„Aber…“

„Habe ich nicht gesagt, dass du die Klappe halten sollst?“

Glatzkopf brüllte zwar nicht, aber Alera standen trotzdem alle Haare zu Berge.

Bevor sie reagieren konnte hatte er den alten Mann mit seiner riesigen Pranke im Gesicht gepackt und seinen Hinterkopf gegen die Mauer hinter ihm geknallt.

„Opa!“ wieder die Kinderstimme, doch Alera war vor Schreck wie gelähmt.

‚`Mama? Mama sag doch was, mach die Augen auf!` Das Mädchen zog die Frau auf ihren Schoß, strich über ihre Wange, versuchte sie wachzurütteln‘.

Ein leises Wimmern brachte sie zurück in die Gegenwart.

Der Schlägertyp hatte das Kind, einen kleinen etwa acht oder neun Jahre alten Jungen, an der Kehle gepackt und hochgehoben.

Oh Gott, er wollte ihn doch nicht etwa würgen?

Ohne Nachzudenken (das hatte schon zu viel Zeit gekostet) zog sie sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf und stürmte los.

Alera machte einen Satz, krallte sich an den Schultern des Kerls fest, zog sich noch ein Stückchen höher und landete mit dem rechten Fuß in seiner Kniekehle, wo sie sich kräftig abstieß.

Glatzkopf schlug hart auf dem Boden auf, sein Griff lockerte sich und der Junge kam frei, aber der Mann kam aber sofort wieder auf die Beine.

Mist!

Sie konnte gerade noch zur Seite springen und sich abrollen, bevor sie umgerannt werden konnte..

Im vollen Lauf knallte Glatzkopf gegen die Wand, schüttelte kurz den Kopf und drehte sich wieder zu ihr um, seine blutende und vermutlich gebrochene Nase sowie die Platzwunde auf der Stirn vollkommen ignorierend.

Also entweder war der Typ auf Drogen, oder er hatte keine Schmerzrezeptoren!

Jetzt raste eine Faust auf Alera zu und sie riss ihren linken Arm hoch um sie abzublocken und ihm Kante ihrer rechten Hand seitlich gegen den Hals zu schlagen.

‚Bitte lieber Gott, lass es funktionieren!‘

Tatsächlich, der Typ kippte um und blieb regungslos auf dem Boden liegen.

Die junge Frau stieß einen erleichterten Seufzer aus und wandte sich den älteren Herren zu, kniete sich neben ihn um seinen Puls zu fühlen.

Er war schwach, aber vorhanden, die Wunde an seinem Hinterkopf machte ihr mehr sorgen.

Hoffentlich würde sie sich nicht entzünden.

„Ist er tot?“ fragte eine ängstliche Stimme.

Alera drehte den Kopf und blickte in ein paar große, dunkelblaue Kinderaugen.

„Nein!“ sagte sie so sanft wie möglich und holte ihr Handy aus der Tasche.

„Nur Ohnmächtig!“

Sie wählte den Notruf und bestellte einen Krankenwaagen sowie die Polizei und wendete dann ihre Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zu.

Er zitterte wie Espenlaub, schien aber keine Angst vor ihr zu haben.

Stattdessen warf er immer wieder Blicke in Richtung des Gangsters, der immer noch Bewusstlos auf dem Boden lag.

Immer noch kniend legte sie ihm tröstend die Hand auf die Schulter und ehe sie sich versah schlangen sich ein paar Arme um ihren Hals.

Im ersten Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte, dann legte sie vorsichtig die Arme um den zitternden Körper, strich sanft über seinen Rücken und murmelte beruhigenden Unsinn in sein Haar.

Der Moment wurde jäh unterbrochen, als sich Schritte näherten und ein blonder Mann die Gasse betrat.

Also entweder war die Polizei seit neusten schneller als die Feuerwehr, oder der Mann war zufällig hier.

Wie auch immer, sie würde nicht hierbleiben um das herauszufinden.

Vorsichtig löste sie die Arme des Jungen um aufzustehen, wuschelte noch einmal über seinen hellbraunen Schopf und rannte in die Gasse hinein, wo sie (wenn ihre Erinnerung sie nicht täuschte) eine Feuertreppe gesehen hatte.

„Halt, stehen bleiben, Polizei!“

Der Kerl glaubte doch nicht etwa wirklich, dass sie auf ihn hören würde, oder?

Alera war schnell, in Leichtathletik war sie schon immer gut gewesen, aber der Mann holte auf, als sie die Treppen hinauf rannten.

Auf dem Dach angekommen schaffte er es, ihren Arm zu packen und sie zu sich heran zu ziehen.

Kräftige Arme schlangen sich um ihren Oberkörper und drückten ihren Rücken gegen seine Brust.

„Du bleibst schön hier!“

„Ach ja?“ mit diesen Worten trat Alera dem Polizisten auf den Fuß und sobald sich seine Arme lockerten machte sie zwei kleine Schritte zur Seite, sodass sie neben ihm stand, bückte sich und rammte ihm den Ellenbogen zweimal zwischen die Beine.

Der blonde Mann schrie auf und sie schlüpfte aus seinen Armen, gab ihm einen Schubs und rannte davon.

Leider rutschte ihr bei der Befreiungsaktion die Kapuze vom Kopf, und für einen kurzen Moment bohrte sich himmelbabyblau in grüngrau, dann wandte Alera den Blick nach vorne, gerade noch rechtzeitig um über die etwa zwei Meter breite Lücke zum nächsten Hausdach zu springen, anstatt vier Stockwerke tief zu fallen.

Sich selbst verfluchend rannte sie die nächste Feuertreppe hinunter, durch dunkle Gassen und Gärten, bis sie zu einem der Zugänge zum Tunnelsystem kam.

Dort angekommen lehnte Alera sich gegen die raue Steinwand und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht.

Wie hatte sie so dumm sein können?

Wie hatte sie glauben können, die Kapuze würde einfach in jeder Lebenslage auf ihrem Kopf bleiben?

Warum hatte sie sich nicht schon längst eine Maske zugelegt?

Mit einem tiefen Seufzer stieß Alera sich von der Wand ab, zog die Haarnadeln aus ihrem Dutt und schüttelte die verschwitzten Locken aus.

Da der Junge sie nicht identifizieren konnte, stand es Aussage gegen Aussage, daher mussten Selbstvorwürfe warten, jetzt mussten erstmal ein paar gute Ausreden her.

Die sollten sich drei Tage später allerdings als völlig unnötig erweißen.
 

Noel Valentin händigte Kommissar Swan ein Täterprofil aus.

Wirklich viel stand zwar nicht drin, aber es war ja auch so gut wie nichts bekannt.

"Eins fünfundsechzig groß, weiblich, kurvige Figur, Leichtathletin, Kenntnisse in Selbstverteidigung. Ein Racheakt kann aufgrund des hinterlassenen Zeichens nicht ausgeschlossen werden, was auf ein traumatisches Ereignis, extreme Enttäuschung über das Polizei- und Rechtssystem oder beides hindeuten kann."

Der Kommissar hob den Kopf und durchbohrte Noel mit einem Blick aus eng zusammenstehenden Augen.

"Ziemlich dürftig, oder?"

Der Angesprochene ballte die Fäuste so fest, dass sich die Nägel in die Handflächen bohrten, sonst hätte er seinem Vorgesetzten vermutlich die Nase gebrochen.

"Nur wenige Leute haben eine Begegnung mit ihr überlebt und an den Tatorten befanden sich kaum Spuren. Und als ich sie Samstagabend getroffen habe war sie zu sehr damit beschäftigt davon zu rennen um mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen! Wir haben also mit sehr wenig Material arbeiten müssen!"

Warum er allerdings niemandem gegenüber ein Wort über ihr Aussehen verlor konnte er nicht sagen, vielleicht weil sie ganz offensichtlich einem Kind das Leben gerettet hatte?

Der Großvater hatte leider nicht so viel Glück gehabt, auf dem Weg ins Krankenhaus hatte sein Herz versagt, sämtliche Wiederbelebungsmaßnahmen waren umsonst gewesen.

Der Kommissar stieß nur ein Schnauben aus und überflog eine Liste mit möglichen Verdächtigen.

"Mir fällt noch eine zusätzliche Person ein!" mischte sich Sven, einer der Kollegen die an den Ermittlungen im Fall ‚Black Lady‘ beteiligt waren, ein.

"Alera Benett von Siegel wäre noch eine Möglichkeit."

"Alera Benett von Siegel? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor..."

"Wahrscheinlich hast du in der Zeitung über sie gelesen. Sie ist die Adoptivtochter der Familie von Siegel. Ich habe mich etwas über sie erkundigt: Es ist zwar nicht bekannt, dass sie Kampfsport macht, aber sie soll sehr gut in Leichtathletik sein. Die Größe passt auch in etwa und obwohl sie eine der besten ihres Jahrgangs ist, scheint sie mehr Kurven als Hirn zu haben. Außerdem hat sie sehr jung beide Eltern verloren, der Mörder ihrer Mutter wurde nie gefunden."

"Passt ganz gut!" meinte Noel.

"Wir sollten der Dame ein paar Fragen stellen!"

Sven und er waren schon auf dem Weg zum Auto, als Kommissar Swan sie aufhielt.

"Einem Moment meine Herren! Das ist eine extrem delikate Angelegenheit! Diese Familie ist zu einflussreich um sie zu verärgern, daher muss man bei der Befragung sehr behutsam vorgehen! Ich werde das übernehmen. Mayer, Sie bleiben hier, Valentin Sie kommen mit mir!"

Mit diesen Worten erhob sich der Kommissar und machte und ging in Richtung Tür.

Obwohl, watscheln traf es wohl eher.

Wie immer wenn er es eilig hatte ähnelte sein Gang eher dem einer Ente als eines Menschen, was vermutlich an seiner beachtlichen Leibesfülle und den kurzen Beinen lag.

Noel verdrehte genervt die Augen, was Sven mit einem Schulterzucken quittierte, bevor er zurück zu seinem Schreibtisch ging.

Noel selbst schlug die gleiche Richtung ein wie sein Chef.
 

Soso!

Felix Swan war also hier um dafür zu sorgen, dass die Angelegenheit möglichst "delikat" behandelt wurde?

Pah, da lachten ja die Hühner!

Noels Meinung nach war er nur hier, um Beatrice von Siegel an zu schmachten.

Zumindest war das die einzige plausible Erklärung dafür, dass er sie seit geschlagenen zehn Minuten vollschleimte.

Allerdings war die Dame wirklich hübsch.

Mit gerademal einem Meter fünfundvierzig war sie recht klein und außerdem extrem zierlich gebaut.

Ihr rotbraunes Haar, in dem sich trotz ihrer etwa vierzig Jahre (die man ihr übrigens nicht ansah) kein bisschen Grau ausmachen ließ, war im Nacken zu einem eleganten Knoten gedreht, die leuchtend grünen Augen bildeten den Kontrast zu ihrer elfenbeinfarbenen Haut.

Kurz: eine elfengleiche, klassische Schönheit.

"... wirklich ein wunderschönes Heim!"

"Vielen Dank Herr Kommissar!" Beatrice nahm einen Schluck Tee.

"Was verschafft uns die Ehre ihres Besuchs?"

"Naja, ähm, wir wollten ihrer Tochter Alera ein paar Fragen stellen."

Die Tasse wurde abgestellt und sie richtete den Blick aufmerksam auf die Männer gegenüber.

"Wieso denn? Hat sie etwas angestellt?"

"Nein, nein!" eilig winkte Felix ab.

"Sie haben doch sicherlich von dieser Mörderin gehört, dieser Black Lady!"

Ein leichtes Nicken.

"Es ist ein psychologisches Profil erstellt worden und ein paar Punkte decken sich mit ihrer Tochter. Reine Routine, wir müssen jeden befragen der irgendwie in Frage kommt, wir wollen ja schließlich nicht, dass der Mörder freigesprochen wird, weil man uns einseitige Ermittlungen vorwirft! Wir stellen dem Mädchen ein paar Fragen und das war’s dann, wirklich nicht weiter schlimm!"

Himmel, wenn das so weiter ging müsste man bald ein Schild mit der Aufschrift "Vorsicht Rutschgefahr" aufstellen.

Mit leicht hochgezogenen Augenbrauen erhob sich die Frau, ging zu einem kleinen Kästchen an der Wand und drückte einen Knopf.

"Lucas? Sag Alera doch bitte, sie soll in den kleinen Salon kommen. Vermutlich ist sie im Wintergarten bei ihren Blumen."

"In Ordnung!"

Keine zehn Minuten später hörte Noel, wie die Tür sich öffnete.

"Alera, da bist du ja!"

Irrte er sich, oder klang Frau von Siegels Stimme leicht kühler als vorher?

Allerdings hielt Kommissar Swans Gesichtsausdruck ihn davon ab, weiter darüber nachzudenken.

Der Mann sah aus, als ob er gleich anfangen wollte zu sabbern.

Neugierig geworden drehte der jüngere Polizist sich um und konnte sich nur knapp davon abhalten, sich seinem Vorgesetzten beim sabbern anzuschließen.

Der knappe Rock und das bauchfreie Oberteil waren gerade lang genug um nicht nuttig ausgesehen, stattdessen wirkte es irgendwie schick.

Die ebenholzfarbenen Locken waren gewollt verwuschelt auf ihrem Kopf aufgetürmt und kringelten sich teilweise um ihr Gesicht und den Nacken, während Kajal und Lidschatten jene grüngrauen Augen betonten, in die er vor drei Tagen geblickt hatte.

Sah so aus, als hätten sie Black Lady gefunden!

Aleras Gesicht blieb völlig unbewegt, nur ein leichtes weiten ihrer Augen verriet, dass sie ihn ebenfalls erkannte.

"Frau Benett von Siegel, es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennen zu lernen!"

Kommissar Swan war aufgesprungen, wuselte um seinen Stuhl herum, ergriff die Hand der jungen Frau und drückte einen schmatzenden Kuss auf den Handrücken.

Eine eigentlich sehr galante Geste, die aber einfach nur lächerlich wirkte.

Ihr ging es offenbar nicht anders, denn sie trat zurück und wischte ihre Hand am Rock ab.

"Kann ich Ihnen irgendwie helfen?"

"Ja, wir wollten Sie fragen..." Noel wurde mitten im Satz unterbrochen.

"...ob Sie gestern Abend in der Nähe des Stadtparks waren!"

"Nein, war ich nicht!"

"Ich wusste doch, dass sie damit nichts zu tun hat!"

Felix warf dem jüngeren Mann einen herablassenden Blick zu, als wäre es allein seine Schuld, dass sie die Zeit einer Unschuldigen verschwendet hatten.

'Hallo, schon mal was von Alibis gehört?'

Doch diese Gedanken behielt er wohlweißlich für sich, während der Kommissar einfach weiter schleimte, wobei er seinen Fokus allerdings wieder auf Beatrice verlegte, die ihr Missfallen deutlich weniger zum Ausdruck brachte als ihre Tochter.

"Möchten Sie sich vielleicht das Haus ansehen?" in der Stimme der älteren Frau schwang ein Hauch Verzweiflung mit.

"Nein danke!" antwortete der unerwünschte Gast prompt.

"Ich würde lieber noch eine Tasse Kaffee trinken!"

Ihre Finger schlossen sich so fest um den Griff der Kanne, dass die Knöchel weiß wurden.

"Dann könnte ich Herrn..." grüngraue Augen blickten ihn fragend an.

"Valentin! Noel Valentin!"

"Dann könnte ich Herrn Valentin das Anwesen zeigen! Natürlich nur wenn er möchte!"

Als er zustimmte verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln, bei dem er nicht wusste, ob er vor ihr auf die Knie fallen oder lieber davonlaufen sollte.
 

"Hier im Westflügel befinden sich die Gästezimmer, sowie im Untergeschoss der Sportbereich mit Pool und Fitnessraum." erklärte Alera, während sie die Treppe zu besagtem Flügel hinaufstiegen.

Noel hörte allerdings kaum hin, er war zu sehr damit beschäftigt, ihr nicht auf den Hintern zu starren.

Himmel, hätte dieser blöde Rock nicht etwas länger und weiter sein können?

Er war ja schließlich kein Heiliger und sie gerademal neunzehn!

Er beschleunigte seine Schritte, bis er neben ihr herlief und lenkte sich ab, indem er an blutige Leichen und eingeritzte Balkenwaagen dachte.

Na bitte, da starb doch jeder unsittliche Gedanke eines schnellen Todes.

"Ich bin überrascht, dass ich noch keine Handschellen trage!" meinte das Mädchen plötzlich, noch während Noel noch darüber nachdachte, wie er das Thema am besten anschneiden sollte.

"Ist das denn nötig?" fragte er, einfach weil er keine Ahnung hatte, was er sonst darauf antworten sollte.

Ein überraschtes Lachen.

"Sie sind der Polizist, sagen Sie es mir!"

„Aha, spielen wir jetzt das Unschuldslamm?“

„Wieso spielen? Ich bin die Unschuld vom Lande!“

Ein spöttisches Lächeln begleitete ihre Worte und ehe der Polizist sich versah, hatte er sie gepackt und gegen die Wand gedrückt, ihre Hände hielt er über ihrem Kopf fest.

„Wir zwei reden jetzt mal Tacheles! Ich habe dich vor drei Tagen gesehen und du mich auch!“

Noel merkte kaum, dass er die förmliche Anrede fallen gelassen hatte und zum du übergegangen war.

Schien in dieser Situation aber auch irgendwie passender.

„Und was haben Sie gesehen, Herr Polizist? Eine schwarz gekleidete Frau, die einen weinenden Jungen umarmt hat. Wenn es irgendeinen Hinweis auf mich als Täterin gegeben hätte, dann wären zumindest Sie mit Handschellen erschienen, oder?“

Wieder ein Lächeln, diesmal ein triumphierendes.

„So steht mein Wort gegen ihres und das Kind ist von der ganzen Sache so traumatisiert, dass jeder Anwalt seine Aussage in der Luft zerreißen würde, ganz zu schweigen davon, dass er mich nicht identifizieren kann.“

Soviel also zum Thema ‚mehr Kurven als Hirn‘!

Alera Benett von Siegel war intelligenter als sie aussah.

„Nein, ich bin nicht hier um dich zu verhaften. Ich…“

Er blockte das Knie ab, kurz bevor es ihn zwischen die Beine traf.

Die Lektion hatte er gelernt.

„Sollten Sie mich nicht besser loslassen? Wenn hier jemand vorbeikommt könnte er die Sache… missverstehen!“

Die kurze Pause war Absicht gewesen, ebenso wie die Tatsache, dass ihr Gesicht immer näher gekommen war.

Für jeden Außenstehenden musste es aussehen, als ob sie kurz vor einer wilden Knutscherei standen.

Swan würde das nutzen, um ihn in der Luft zu zerreißen!

„Tja, dann brauchen wir wohl einen etwas privateren Ort zum Reden!“

Mit diesen Worten ließ er sie los und trat einen Schritt zurück, schaffte es aber nur mit großer Willensanstrengung, den Blick von ihrer vollen Unterlippe loszureißen.

Verdammte Hormone!

Er kam sich von wie ein verknallter Fünfzehnjähriger!
 

Der Raum in den sie ihn führte überraschte ihn.

Es war ein großer Wintergarten in dem alle möglichen Pflanzen standen.

Farne, eine Palme, Orchideen, ein Rosenbusch?

Komische Wahl für eine Zimmerpflanze, oder?

Alera strich sanft mit der Fingerspitze über die Blätter eines Bonsais.

„Also, was wollen Sie, wenn Sie mich nicht verhaften wollen?“

„Warum? Warum hast du getan, was du getan hast? Warum mussten diese Menschen sterben?“

Als sie schwieg redete er weiter.

„Tom Marshall verstehe ich, er hätte eigentlich noch viel Schlimmeres verdient. Auch Roman Petricov hatte offenbar Dreck am Stecken aber warum musstest du zwei Kinder zu Waisen machen? Warum unbescholtene Bürger töten? Warum?“

Die schwarzhaarige schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Geben Sie mir ihre Adresse!“ mit diesen Worten ging sie an ihm vorbei auf die Tür zu, ihre bloßen Füße machten kaum Geräusche auf den Fliesen.

„Und schauen sie morgen Abend in ihren Briefkasten!“

Nicky

Sie wollen also wissen, warum man mir einen kleinen Jungen anvertraut hat?

Natürlich habe ich einen zweifelhaften Ruf, aber sie wissen ja wie das mit Gerüchten ist… man sagt ‚mir ist schlecht‘ und drei Tage später fragen die Leute, ob man schon weiß ob es ein Junge oder ein Mädchen wird…
 

***
 

Alera verteilte Make-Up auf dem blauen Fleck, der sich auf ihrem Schlüsselbein befand.

Das passierte, wenn ein Plan nach hinten losging!

Mit einem Schlägertyp wurde sie fertig, zwei waren allerdings ein Problem.

Sie konnte von Glück reden, dass nichts gebrochen und ihr Gesicht in Ordnung war.

So musste sie sich keine Ausrede ala 'ich bin zu blöd eine Tür zu öffnen' einfallen lassen und die meisten Leute würden ihn für einen Knutschfleck halten, wenn der Bluterguss ihnen überhaupt auffiel.

Seufzend legte sie das Schminkzeug beiseite und fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken, die sich offen über ihren Schultern kringelten.

Ein letzter Blick in den Spiegel, dann verlies sie ihr Zimmer, zog Jacke und Schuhe an und stieg in ihr Auto.
 

Lydia wartete an der Türe auf sie und als erstes bemerkte Alera, dass die Ringe unter ihren Augen noch dunkler waren als beim letzten Mal.

"Alles in Ordnung?"

Die Antwort war ein nicht besonders glaubhaftes "jaja" und Alera nahm sich vor, mit Holger über sie zu sprechen.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Sozialarbeitern stumpfte Lydia nämlich nicht ab, sondern nahm sich alles so sehr zu Herzen, das sie unweigerlich auf einen Nervenzusammenbruch hinsteuerte.

"Und wie geht es dem Jungen?" deswegen war sie ja schließlich hier.

Offenbar gab es mal wieder einen problematischen Neuzugang.

"Er isst, er schläft und wenn man ihn etwas direkt fragt, dann antwortet er, wenn auch nur mit 'ja' und 'nein'. Ansonsten starrt er die meiste Zeit ins Nichts."

Na das klang ja wunderbar!
 

Nicky saß auf seinem 'neuen' Bett, hatte die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen und die Stirn auf den Knien abgelegt.

Er wollte niemanden sehen, er wollte mit niemandem sprechen.

Weder mit den Leuten vom Heim, noch mit den anderen Kindern und schon gar nicht mit dieser Alera, die man offenbar seinetwegen angerufen hatte.

Wer war das überhaupt?

Und warum sollte sie ihn zum Reden bringen?

Verdammt!

Er wollte zu seinem Großvater!

Oder zu der Frau in schwarz!

Sie würden ihn verstehen, bei ihnen würde er sich sicher fühlen.

Doch sein Opa war tot und der Polizist hatte die Frau verjagt, bevor er nach ihrem Namen hatte fragen können.

Wie sollte er sie jetzt wiedersehen?

Er war allein, ganz allein!

Schritte auf dem Flur, die vor seiner Tür hielten brachten ihn dazu, sich enger zusammenzurollen und die Tränen zurückzudrängen, die in seinen Augen brannten.

Die Tür öffnete sich und man hörte das Klacken von Absätzen auf dem Boden, zusammen mit flachen Schuhen.

Konnte man ihn nicht einfach alleine lassen?

Der Parfümgeruch traf Nicky völlig unvorbereitet.

Dieser blumige Duft, den er nur ein einziges Mal gerochen und der sich trotzdem in sein Gedächtnis eingebrannt hatte.

Noch bevor er wusste was er tat oder irgendjemand etwas sagen konnte, war er aufgesprungen und hatte die Arme um den Hals der Frau geschlungen.

"Du bist gekommen!" murmelte er gerade so laut, dass sie es hören konnte, nur um dann seinen Tränen endlich freien Lauf zu lassen.

Und als sich ihre Arme um ihn schlangen, eine Hand über seinen Rücken strich und eine bekannte Stimme beruhigenden Unsinn murmelte fühlte Nicky sich zum ersten Mal seit Tagen sicher.
 

Als sie den Jungen auf dem Bett hatte sitzen sehen war Alera im ersten Moment wie gelähmt gewesen.

Was machte er hier?

Warum war er nicht bei seinem Großvater?

Doch bevor sie irgendeine Frage stellen konnte lag ein zitterndes und schluchzendes Kind in ihren Armen und flüsterte tonlos: "Du bist gekommen!"

Entschlossen schüttelte sie ihre Schreckstarre ab, setzte sich aufs Bett und zog den Jungen auf ihren Schoß, während sie wiedermal beruhigende Floskeln von sich gab.

So langsam wurde sie darin richtig gut!

Irgendwann schlief der Junge (Nicky, sein Name war Nicky) erschöpft in ihren Armen ein, sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, die Arme hingen schlaff an ihrem Oberkörper hinab.

Im leisen Flüsterton erzählte Lydia, dass Nicky und sein Großvater überfallen worden waren (was Alera natürlich schon wusste), dass der ältere Mann auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben war und der Junge keine lebenden Verwandten mehr hatte.

"Ich hoffe, ich finde eine Familie für ihn!" meinte die Sozialarbeiterin, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie sich keine Hoffnung machte.

"Er scheint ein guter Junge zu sein... du findest bestimmt schnell jemanden!"

Alera legte ihr aufmunternd die Hand auf die Schulter.

"Aber die meisten Leute wollen Babys oder Kleinkinder adoptieren und dass er nachts Albträume hat... das hilft der Sache nicht gerade!"

Lydia lies den Kopf hängen und schloss die Augen, sie wirkte müde und abgekämpft.

Mit einem tiefen Seufzer erhob sich Alera, legte Nicky vorsichtig auf sein Bett und zog ihm die Decke bis zum Kinn hinauf.

Wie gerne würde sie bleiben, sich neben ihm zusammenrollen um die Albträume fernzuhalten…

Stattdessen strich sie ihm sanft übers Haar und schlich so leise es ihre High Heels erlaubten aus dem Zimmer.
 

Die Idee den Jungen bei Alera unterzubringen kam Lydia einen Monat später.

„Er reagiert doch sowieso fast ausschließlich auf dich und solange ich keine Pflegefamilie für ihn finde…“

Vor Schreck hätte Alera beinahe die nächste Stufe verpasst.

„Wie bitte? Das… das geht doch nicht!“

„Wieso? Ihr kommt doch gut miteinander aus, oder nicht?“

„Und das reicht? Du gehst einfach zu Frau Knoblich und sagst ‚hey, Alera und Nicky kommen gut klar, warum bringen wir ihn nicht bei ihr unter?‘ Himmel, ich habe noch nicht mal ein festes Einkommen!“

Lydia zuckte mit den Schultern.

„Du bist reich!“

Alera wiederstand dem Drang sich die Haare zu raufen, stattdessen schüttelte sie fassungslos den Kopf.

„Reich sein reicht aber nicht. Außerdem bin ich nicht reich!“

Gut situiert vielleicht oder wohlhabend, aber doch nicht reich!

Obwohl… das Erbe ihres Großvaters müsste doch eigentlich als finanzielles Polster reichen.

„Ich denke darüber nach!“

Momentmal!

Das hatte sie doch nicht wirklich gesagt, oder?

Lydias strahlendem Lächeln nach zu urteilen wohl doch.

Klasse!

Leise mit sich selbst schimpfend stieg sie ihn ihren Audi, stieß sich den Kopf am Türrahmen (was die Lautstärke ihrer Schimpftriade beachtlich steigerte) und fuhr nach Hause.

Sie konnte doch kein Kind adoptieren!

Ein Desaster wäre vorprogrammiert!

Sie würde Lydia anrufen und sagen, dass das eine Schnapsidee war!

Genau das würde sie tun.
 

„Wäre es in Ordnung, wenn ein Junge hier wohnen würde?“

Okay, es gab bessere Wege das Thema zur Sprache zu bringen als einfach in Richards Arbeitszimmer zu platzen, aber Alera hätte diese Tatsache nicht egaler sein können.

Sie hatte sich die ganze Nacht schlaflos hin und her gewälzt, Nickys blasses Gesicht vor Augen, während in ihrem Kopf zwei Stimmen eine hitzige Diskussion um das Thema Adoption führten.

Nicht zu vergessen ihr Helferkomplex, der sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte!

Irgendwann mitten in der Nacht hatte sie dann aufgegeben und sich eingestanden, dass es eigentlich keine Entscheidung zu treffen gab.

Sie hatte Nicky helfen wollen, noch bevor Lydia überhaupt den Vorschlag gemacht hatte.

Deswegen stand sie hier und lies sich anstarren, als hätte sie gerade verkündet sich das Haar grünfärben zu wollen.

Oder hatte sie etwas im Gesicht?

„Ähm… nun… Alera meine Liebe…“

Die Angesprochene verdrehte innerlich die Augen.

Wenn Beatrice sie ‚meine Liebe‘ nannte war das kein gutes Zeichen.

„Wie heißt der junge Mann denn? Und was macht er beruflich?“

Junger Mann?

Beruflich?

Einen Moment lang hatte Alera keine Ahnung von was hier die Rede war, dann fiel der Groschen mit lautem Scheppern.

Die Beiden glaubten doch tatsächlich, dass sie ihren Freund hier einziehen lassen wollte.

„Kein Mann, ein Junge! Er ist erst neun und hat niemanden, der sich um ihn kümmert! Und weil ich so oft im Heim bin…“

„Du willst ein Kind adoptieren? Einfach so? Alera, das ist eine wichtige Entscheidung…“

„Ich will nicht einfach so irgendein Kind adoptieren!“ Alera stemmte die Hände in die Hüften und warf einen wütenden Blick in Richtung Beatrice.

„Ich will Nicky adoptieren! Ich habe darüber nachgedacht! Großvaters Erbe reicht als finanzielles Polster, bis ich mit der Schule fertig bin und…“

„Alera! Ein Kind ist kein Haustier! Du kannst nicht einfach…“

„Was kann ich nicht einfach?“

Himmel, in diesem Gespräch gab es mehr halbfertige Sätze als sonst etwas!

„Ihn in ein Zimmer setzen und ignorieren, wie ihr es mit mir gemacht habt? Keine Sorge, das weiß ich!“

„Wir haben dich nicht ignoriert!“

Beatrice sah ernsthaft verletzt aus.

„Aber ihr habt euch auch nicht sonderlich um mich gekümmert!“ Aleras Stimme brach.

„Es war Lucas, der mich nachts in den Armen hielt wenn ich nicht schlafen konnte; Emmett, der mir geholfen hat meinen Wintergarten zu bepflanzen und Lucia, die mir das Gefühl gab hier erwünscht zu sein. Euch habe ich meist nur beim Essen gesehen!“

Richard war mit der Leitung der Familienunternehmen viel zu beschäftigt und Beatrice mit einem verstörten Teenager schlicht und ergreifend überfordert gewesen.

Damians damalige Trotzphase hatte der angespannten Situation ebenfalls nicht gutgetan.

Alera holte tief Lust um sich zu beruhigen.

„Nicky und ich, wir haben beide ähnlich traumatisierende Erfahrungen gemacht. Darum verstehen wir einander, können uns gegenseitig helfen. Und wenn ihr mich dabei nicht unterstützen wollt, dann ziehe ich eben aus!“

Mit diesen Worten warf sie ihr Haar zurück, drehte auf der Ferse herum und stolzierte mit dem Vorsatz aus dem Raum, sich eine riesen Portion von Bettys Keksen einzuverleiben.
 

„Was denkt sich das Kind nur dabei?“

Beatrice warf die Hände in einer hilflosen Geste in die Luft.

„Das kann doch nicht gutgehen! Sie hat keine Ahnung, auf was sie sich einlässt!“

Richard, der kein Wort gesagt hatte seit Alera sein Arbeitszimmer betreten hatte, hob eine Augenbraue.

„Das hatten wir doch auch nicht, oder? Und Alera hat recht, sie kann sich viel besser in ihn hineinversetzen als wir es bei ihr je könnten!“

Mit einem tiefen Seufzer ließ seine Frau sich in einen der Ledersessel auf der anderen Seite des Tisches sinken.

„Außerdem ist Alera nicht zweitbeste ihres Jahrgangs weil sie so dumm ist. Sie wird es schaffen den Jungen bei sich aufzunehmen, ob mit oder ohne unsere Hilfe.“

„Das weiß ich doch alles auch!“

Beatrice fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und lehnte sich im Sessel zurück.

„Sie sieht ihrer Mutter nur so verdammt ähnlich… dass es mir manchmal schwerfällt mich in ihrer Gegenwart normal zu verhalten. Meine Reaktionen sind stellenweiße sogar für mich unverständlich! Diese gottverdammte Eifersucht! Und das auf eine Tote!“

Ihre Schmalen Hände fuhren durch ihr rotbraunes Haar, worauf sich ein paar Strähnen lösten und in ihr Gesicht fielen.

„Bea! Du hast keinen Grund eifersüchtig zu sein! Nadja hat sich für Maxime entschieden und ich mich für dich! Ich wollte Alera adoptieren um der Tochter einer alten Freundin zu helfen, nicht weil ich ein Erinnerungsstück an Nadja wollte.“

„Aber du hast sie geliebt!“

Richard lehnte seine Stirn gegen ihre und griff nach ihren Händen.

„Ja das habe ich. Aber das war vor über zwanzig Jahren! Jetzt habe ich dich, die Mutter meines Sohnes, meine größte Stütze, mein ein und alles!“

Ein sanfter Kuss auf ihre Stirn.

„Und gegen das was ich für dich empfinde kommen mir meine Gefühlen für Nadja absolut lächerlich vor!“
 

We're picture perfect

Sweet like candy

I'll be your girl

Yeah

I'll be your baby

Picture perfect

Barefoot beauty

You stole my heart

Just like in a movie

Got the key to me

Tell me, tell me

I'm your darling daisy

Picture perfect

Sweet like candy

I'll be your girl

Yeah

I'll be your baby
 

Alera balancierte einen großen Teller mit Zitronenkeksen auf einer Hand durch das Anwesen, als sie die Musik hörte.

Offenbar war Jasmine mal wieder ‚zum Üben‘ hergekommen, auch wenn jeder andere behaupten würde, dass sie und Damien eher damit beschäftigt wären einander anzuhimmeln.

Wie viele Liebeslieder Jasmine wohl noch singen musste bis er begriff, was jeder andere auf den ersten Blick sah?

Wie viele Komplimente und Origamiblumen von Damian waren noch nötig bis sie begriff dass sie das einzige Mädchen war, das ihn interessierte?

Alera zuckte mit den Schultern, steckte sich einen der Kekse in den Mund und ging weiter in ihr Zimmer.

Nach dem was beim letzten Mal passiert war würde sie Jasmine in keiner weiße helfen.

Sollte sie doch selbst sehen wie sie zurechtkam!

Alera hatte wichtigeres zu tun!
 

Nicky hatte absolut keine Lust mit der Sozialarbeiterin zu reden die sich neben ihn auf das Bett setzte, also starrte er weiterhin aus dem Fenster.

Wenn er sie lange genug ignorierte würde Lydia hoffentlich wieder gehen.

„Ich habe mit Frau Knoblich geredet… Sie wäre einverstanden dass wir dich bei Alera unterbringen, bis wir eine Familie für dich gefunden haben!“

Nickys Kopf fuhr herum.

„Ich darf bei Alera wohnen? Wirklich?“

„Ja wirklich!“

Die Frau nickte bestätigend.

Zwei Wochen später trug Alera seinen Koffer in eine Wohnung im Dachgeschoss eines sechsstöckigen Hauses und legte ihn auf ein Bett.

„So Nicky, dass hier ist dein Zimmer! Du musst nur noch deine Sachen in die Regale räumen.“

Nicky antwortete nicht, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem grünen Plüschelefanten, der auf der Bettdecke saß.

Vorsichtig griff er danach und strich mit der rechten Hand über den samtigen Stoff.

„Ein kleines Willkommensgeschenk. Ich hoffe er gefällt dir! Ich habe einen blauen.“

Wortlos nickte der Junge und wischte sich eine Träne weg.

Zum ersten Mal seit dem Tod seines Großvaters fühlte er sich willkommen.

Weihnachtszeit und Mistelzweige

Meine liebste Jahreszeit war immer der Winter!

Wie, das interessiert Sie nicht? Ich dachte, Sie wollten sich ein Bild über mich machen? Wie können Sie da so einen wichtigen Punkt auslassen?

Also, wo war ich? Ach ja, Weihnachtszeit!
 

***
 

‚Dezember ist einfach der beste Monat des ganzen Jahres!‘

Mit diesem Gedanken biss Alera genüsslich von einer frisch glasierten Punschbretzel ab.

„Betty, für diese Dinger würde ich morden!“ meinte sie, schob den Rest des Gebäcks in den Mund und begann, die die klebrige Zitronenglasur von ihren Fingern zu lecken.

Die Köchin, eine kleine, dicke Frau mit roten Pausbacken und weißer Schürze, lachte, während sie ein weiteres Blech aus dem Ofen holte.

„Anstelle Leute zu ermorden könntest du mir auch einfach helfen, dass wäre mir wesentlich lieber!“

Die jüngere Frau zog die Brauen hoch und tat, als müsse sie nachdenken.

„Mal sehen… beim Backen helfen oder lieber diese köstlichen Plätzchen essen… hmmm. Schwierig! Ich glaube, ich nehme die Plätzchen!“

Sie griff nach einer zweiten Bretzel und schloss beim Kauen genießerisch die Augen.

„Wirklich? Schade. Dann dauert es eben länger, bis die Schoko-Orangen-Sterne fertig sind!“

„Orangen-Schoko-Sterne? Du weißt eben genau, wie du mich ködern musst!“ mit diesen Worten schnappte sie sich eine kleine Schüssel und begann, die Kekse mit Orangenglasur zu bestreichen.

„Warum hilfst du Betty eigentlich immer nur zur Weihnachtszeit in der Küche?“

„Nur weil du alles was süß schmeckt verabscheust, muss das doch nicht jeder tun, oder?“

Damian, der die Küche gerade betreten hatte, warf einen abwertenden Blick auf Kokosmakronen, Butter-S und Nugatgipferl und ging stattdessen zum Kühlschrank, aus dem er sich eine Scheibe Käse holte, sie zusammenrollte und einmal kräftig abbiss.

„Igitt! Wie kannst du so etwas essen Püppchen?“ Alera zog eine Schnute.

„Oh, das ist einfach! Mund auf und rein damit!“ meinte er grinsend.

„Und hör gefälligst aus mich Püppchen zu nennen!“

Aber wieso denn?“ sie lächelte ihren Adoptivbruder zuckersüß an.

„Diesen Spitznamen hat dir der völlig verknallte Eugen an seinem dritten Schultag bei uns verpasst, darauf solltest du stolz sein! Und sein Blick erst, als er kapiert hast, dass du kein Mädchen bist! Ich kugle mich heute noch vor Lachen, wenn ich nur daran denke!“

„Jaja, lach nur!“

Damian war zwar einen Meter achtundsiebzig groß, aber für einen neunzehnjährigen Mann extrem feingliedrig gebaut.

Dazu noch das ovale Gesicht mit den feinen Zügen, den vollen Lippen und den langen Wimpern und schon waren sich die meisten Leute auf den ersten Blick nicht sicher, ob er männlich oder weiblich war.

Das wiederrum hatte zur Folge, dass er genauso viele Liebeserklärungen von Männern wie von Frauen bekam, weswegen Alera ihn unermüdlich aufzog.

„Wusstest du übrigens schon, dass Ed dieses Jahr zur Weihnachtsfeier kommt?“

Bei diesen Worten entgleisten der jungen Frau sämtliche Gesichtszüge sowie der Pinsel, wodurch klebriger Zuckerguss auf der Arbeitsfläche, dem Boden und Aleras Kleidung landete.

„Mist!“ fluchte sie, stellte die Schale ab und befeuchtete einen Spüllappen, mit dem sie über die Flecken rubbelte.

„Was tust du eigentlich hier? Bist du nicht ausgezogen?“

Vor etwas über fünf Monaten hatte Alera beschlossen, sich um einen kleinen Jungen zu kümmern, der keine lebenden Verwandten mehr hatte.

Ein Vorschlag, der weder bei Richard noch bei Beatrice auf Zustimmung gestoßen war.

Sie hatten befürchtet, dass Alera die Verantwortung auf sie abschieben würde.

Doch anstelle sich wie erwartet zu fügen hatte die schwarzhaarige einen Teil ihres Ersparten genommen, sich eine hübsche, kleine Eigentumswohnung gekauft und war mit Sack und Pack ausgezogen.

Das Lächeln, mit dem sie Damian jetzt bedachte, zeigte eindeutig, dass sie diesen Schritt bis jetzt nicht bereute.

„Ich wollte Betty um ein paar Rezepte bitten, damit ich für Nicky und mich ein paar Plätzchen backen kann! Die gehören zu Weihnachten einfach dazu!“

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Küchentüre ein weiteres Mal und herein kam ein etwa neun Jahre alter Junge mit großen, dunkelblauen Augen und hellbraunem Haar, der einen begehrlichen Blick auf die Butter-S warf.

„Nimm dir ruhig einen!“ meinte die Köchin lächelnd.
 

Alera hatte Weihnachten schon als Kind geliebt.

Und das nicht nur wegen der Geschenke, obwohl die natürlich ein netter Bonus waren.

Sie mochte den Geruch von frisch gebackenen Plätzchen, die leuchtenden Dekorationen und das sanfte Licht der Kerzen auf dem Adventskranz.

Der langweilige Alltag wich hektischer Erwartung, man konnte förmlich spüren, wie die Menschen sich auf das Fest freuten und sich doch gleichzeitig wünschten, sie hätten mehr Zeit für die Vorbereitungen.

Und dann gab es noch das große Weihnachtsfest in der Villa der Familie Siegel.

Als Richards Urgroßvater das Herrenhaus bauen ließ, war die heute große Stadt noch ein kleines, verschlafenes Dorf gewesen.

Der junge Otto von Siegel war damals noch unverheiratet und Kinderlos gewesen und hatte sich in seinem großen Haus, welches nur von ihn und ein paar Bediensteten bewohnt wurde, besonders zur Weihnachtszeit einsam gefühlt.

Also hatte er ein großes Fest ausgerichtet und das ganze Dorf eingeladen.

Jeder durfte kommen, ob Knecht oder Kaufmann, Mann oder Frau, ob jung oder alt.

So füllten sich die Räume einmal im Jahr mit Leben und Otto hatte diese Tradition beibehalten, auch nachdem er geheiratet und Kinder bekommen hatte.

Diese Kinder und deren Kinder hielten diese Tradition ebenso in Ehren und im selben Maß wie Stadt wuchs und gedieh, wurde auch das Fest immer größer, bis es die heutigen Ausmaße erreicht hatte.

Zumindest hatte Alera das so in der Schule gelernt, auch wenn es sie immer verwirrt hatte, dass ein Mann, der so paranoid war dass er sein Haus mit Geheimgängen durchzog, ein ganzes Dorf mit mehr oder weniger wildfremden Leuten einlud.

Mit prüfendem Blick zupfte sie das Jackett von Nickys Anzug zurecht, den sie extra für diesen Anlass gekauft hatte.

„Werden da wieder so viele komische Leute mit Kameras sein, die lauter blöde Fragen stellen?“ die dunkelblauen Augen blickten ernst zu ihr auf.

„Ja! Aber keine Sorge, wenn sie dich zu sehr nerven ignorierst du sie einfach und gehst in einen anderen Raum. Es gibt so viele Zimmer, dass sie dich so schnell nicht finden werden.“

„Aber du lässt mich doch nicht alleine, oder?“ die Panik in der noch kindlich hohen Stimme lies die ältere schmunzeln.

Wie sehr hatten das Blitzlichtgewitter und die gebrüllten Fragen sie am Anfang verängstigt?

Wie oft hatte sie sich an Richards Hand geklammert, nur um von Beatrice den Befehl zu erhalten, dass sie loslassen sollte?

Zu oft!

Der Junge würde das niemals durchmachen müssen, das hatte sie sich geschworen.

Und wenn sie bis an ihr Lebensende in der Gegenwart von Paparazzos seine Hand halten musste.

„Aber natürlich nicht!“ um ihn und sich selbst von diesen Gedanken abzulenken legte sie einen Arm um seine Schultern und zog den braunhaarigen Jungen vor den großen Spiegel.

„Na, was meinst du? Wir beide können uns doch sehen lassen, oder?“
 

Das fanden offenbar auch die Fotografen der mehr oder weniger seriösen Zeitschriften, die sich auf der Party tummelten, denn kaum dass Alera und Nicky aus dem Auto stiegen gingen das Blitzlichtgewitter und die Fragerei los.

„Frau Benett von Siegel, warum kümmern Sie sich um diesen Jungen?“

„Woher haben Sie ihr Kleid?“

„Soll dieser Junge ihr Image aufpolieren?“

„Wie ist es, in eine reiche Familie aufgenommen zu werden, wenn auch nur vorübergehend?“

Die Hände des Jungen krallten sich fest in den Rock von Aleras Kleid.

‚Der arme Kleine!‘ das ganze fühlte sich für Alera fast wie ein Déjà-vu an.

Am besten brachte sie den Jungen schnell nach drinnen!

Mit diesem Gedanken legte sie Nicolas den Arm um die Schultern und bugsierte ihn das letzte Stück der Auffahrt und die Treppe hinauf auf die Haustüre zu, während einer der Angestellten ihren Audi parkte.

Die weitläufige Eingangshalle war bereits gut gefüllt, auch wenn reich und arm sich voneinander fernhielten.

Noch ein Grund, warum Alera dieses Fest sosehr mochte: an diesem einen Tag im Jahr mussten die ‚reichen und schönen‘ sich damit abfinden, dass der ‚Abschaum‘, auf den sie sonst hinabblickten, sich im selben Raum befand.

Den meisten Schnöseln wäre es recht gewesen, wenn Richard diese Tradition einschlafen lassen würde, auch wenn es keiner von ihnen jemals zugegeben hätte.

Schließlich waren die von Siegels eine der ältesten und einflussreichsten Familien hier.

Ein sanftes Zupfen an ihrem Rock wies sie darauf hin, dass Nicky sich unter den vielen Blicken etwas bis ziemlich unwohl fühlte, weswegen sie sich hinter den Jungen stellte und ihm die Hände auf die Schultern legte, während sie beobachtete, wie ihre Adoptivfamilie die große Haupttreppe herunter kam.

Richard und sein Sohn trugen wie Nicky Anzüge, wobei Damian auf die Krawatte verzichtet und den obersten Hemdknopf offengelassen hatte.

Beatrice sah mit ihrem schlichten schwarzem Kleid, der Perlenkette und ihrem hochgestecktem rotbraunem Haar wie immer klassisch elegant und wunderschön aus.

Irgendwie war es seltsam am unteren Ende der Treppe zu stehen, die sie die letzten Jahre immer gemeinsam mit den von Siegels heruntergekommen war.

Sie war so lange ein Teil dieser Familie gewesen, dass sie vergessen hatte wie es war zu ihnen aufzusehen!

Gedankenverloren zog Alera den neunjährigen etwas näher zu sich, schreckte aber auf, als Richard zu sprechen anfing.

„Meine lieben Freunde und Gäste! Meine Familie und ich fühlen uns geehrt, dass Sie so zahlreich zu unserer kleinen Feier erschienen sind.“

Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, gekleidet in einen eleganten, dunkelblauen Stiftrock und eine weiße Bluse, bot ihr ein Tablett mit Getränken an.

Ihr scheuer Blick und das nervöse Lächeln deuteten darauf hin, dass sie zum ersten Mal hier aushalf und so lächelte die neunzehnjährige ihr aufmunternd zu, während sie ein Glas Champagner für sich selbst und ein Glas Orangensaft für den Jungen nahm.

„Außerdem freuen wir uns, dass wir dieses Jahr unsere Tochter Alera und ihren Pflegesohn Nicolas als unsere Gäste begrüßen zu dürfen!“

Ein Großteil der Gesichter im Saal wendete sich den beiden zu und die junge, schwarzhaarige Frau setzte ein huldvoll fröhliches Lächeln auf, das sie in solchen Situationen öfters benutzte.

Die Wirkung war die selbe wie immer, einige runzelten sie Stirn, andere schüttelten den Kopf, aber wie immer wandten sie ihre Aufmerksamkeit schnell wieder auf das augenscheinlich interessantere Geschehen, in diesem Fall Richards Rede.

Es war eben manchmal doch von Vorteil, wenn die Leute einen für Blöd hielten: niemand dachte groß über das nach, was man tat oder sagte.

„…und hiermit erkläre ich das Büfett für eröffnet!“

Bei diesen Worten öffnete sich schwungvoll eine große Flügeltüre und gab den Blick auf den Raum dahinter frei, während die Familie von Siegel ihre Champagnerflöten hob und der Menge zuprostete.

Der Ballsaal war dezent mit Girlanden, Weihnachtssternen und Mistelzweigen geschmückt.

Von letzteren hielt sie sich dieses Jahr besser fern.

Im letzten Jahr hatte ein recht angetrunkener Vollidiot versucht, sie unter einem Mistelzweig abzuknutschen, was aber wiederum seiner ebenso beschwipsten Freundin überhaupt nicht gefallen hatte.

Das Ende von Lied waren eine verkrachte Beziehung, reichlich ruinierte Deckoration, vier kaputte Gläser und die Schlagzeile ‚Millionenerbin zerstört Liebesglück’ gewesen.

„Komm, beeilen wir uns, bevor alles weg ist!“ meinte Alera und machte sich mit Nicky zusammen auf den Weg zur Tür.

Auf den großen Tischen stand so ziemlich alles, was man mit den Händen, einer Gabel oder (im Falle des Nachtischs) mit dem Löffel essen konnte.

Pasteten, belegte Brötchen, kleine Häppchen mit Lachs und Kaviar, verschiedenes Obst und süße Kleinigkeiten.

Die junge Frau gab sich in Gedanken einen Klaps auf die Finger um nicht nach einem der mit Zuckerguss verzierten Törtchen zu greifen.

‚Ich sollte lieber erst ein Brötchen essen!‘
 

Einige Zeit später lehnte sie im Schatten an einer Säule und hörte Damian beim Klavierspielen zu.

Die Melodie von ‚Comptined‘UnAutreÉté‘ aus ‚die fabelhafte Welt der Amelie‘ schwebte durch den Raum und verursachte Alera eine Gänsehaut.

Der sanfte Klang und die Klarheit der Töne… es war als würden die Gefühle ihres Bruders in jeder einzelnen Note stecken.

Das erste Mal hatte sie ihn spielen hören, kurz nachdem sie hierher gebracht worden war.

Damals hatte es anders geklungen, schmerzhaft, verzweifelt.

Ein stummer Hilfeschrei, der ihr das Herz zerrissen hatte und bei dem ihr stumme Tränen übers Gesicht gelaufen waren.

Lange Zeit hatte niemand außerhalb dieses Hauses gewusst, dass Damian überhaupt ein Instrument spielte, geschweige denn mehrere.

Warum wusste sie nicht.

Was sie aber wusste war, dass sich sein Charakter gedreht hatte, nachdem er der Musik-AG und später der Schulband beigetreten war.

War er vorher leicht reizbar und unfreundlich gewesen, wurde er nun zu einem fröhlichen Optimisten.

Wirklich seltsam, wie eine einfache Entscheidung dem Leben eine unerwartete Wende geben konnte, nicht wahr?

„Hey du stehst unter dem Mistelzweig! Du weißt, was das bedeutet?“

Die Angesprochene riss erschrocken die Augen auf und sah sich einem ihr unbekannten Kerl gegenüber, der ihr tatsächlich einen Mistelzweig über den Kopf hielt.

Ohne auf eine Zustimmung oder irgendeine andere Reaktion zu warten drückte der Idiot doch tatsächlich seinen Mund auf ihren, wobei er offenbar geflissentlich ignorierte, dass sie die Lippen fest zusammenpresste und ihr ganzer Körper steif wie ein Brett wurde.

„Alera, Alera!“ Rettung nahte in Form zweier Kinder.

Susi und ein Junge namens Tom liefen auf sie zu und winkten aufgeregt mit den Händen.

Diese Unterbrechung nutzte Alera um den Kerl von sich wegzuschieben und mit dem Handrücken über ihren Mund zu fahren.

„Wir haben ein Geschenk für dich!“ völlig außer Atem hielt das blonde Mädchen ihr eine Schachtel hin, um die eine rote Schleife gebunden war.

„Ihr müsst mir doch nichts schenken!“ mit diesen Worten kniete sich die ältere hin um mit den Kindern auf Augenhöhe zu sein.

„Och bitte!“ zwei paar große Kinderaugen flehten sie an und so nahm Alera die kleine weiße Box in die Hand und zupfte sanft an dem Band.

Zum Vorschein kam eine Kette aus bunten Glasperlen, die Mr, ‚Ich knutsche einfach wildfremde Frauen ab‘ (der Idiot bemerkte offenbar nicht, wann er unerwünscht war) mit einem abwertenden Schnauben bedachte.

„Ist es wenigstens Glas oder nur Plastik?“ für diese Bemerkung hätte Alera ihm am liebsten den Fuß mit ihrem spitzen Absatz durchlöchert, da sie aber immer noch auf dem Boden kniete schlug sie ihm mit der Faust kräftig aufs Knie.

„Aua!“

Die Kinder sahen aus, als wollten sie gleich anfangen zu heulen.

„Er hat Recht!“

Susi blickte so enttäuscht drein, dass Alera dem aufgeblasenen Snob die Pest an den Hals wünschte.

„Alera hat bestimmt viel hübschere Ketten, da braucht sie diese hier nicht!“

Tom wollte nach der Schachtel greifen, doch die ältere war schneller und griff nach dem Schmuckstück, um es sich um den Hals zu legen.

„Und?“

Sie stand auf und drehte sich einmal im Kreis.

„Findet ihr, dass sie mir steht?“

Ein scharfer Blick sorgte dafür, dass der Idiot die Klappe hielt, während die beiden Kleinen immer noch etwas skeptisch dreinblickten.

„Gefällt sie dir wirklich?“

„Aber ja!“

Alera nickte bekräftigend und betrachtete ihre eigene Kette, ein Erbstück ihrer Mutter, nachdenklich.

„Nur… was mache ich jetzt mit der hier?... Ah, ich weiß etwas!“

Mit diesen Worten ging sie wieder in die Hocke und legte Susi die flachen Perlen aus grüner Jade um den Hals.

„Passt du für mich darauf auf?“

Der letzte Rest Traurigkeit wich aus dem Gesicht des Mädchens und machte einem stolzen Grinsen Platz.

„Ich werde sie hüten wie mein Apfelauge… äh ich meine Augapfel!“

Die Kinder stürmten davon und ließen Alera wieder mit dem Kerl alleine, welcher auch prompt die Gelegenheit nutzte und sie am Handgelenk packte.

„So, wir beide haben jetzt ein bisschen Spaß!“

Mit diesen Worten drückte er sie gegen die Säule.

„Den kannst du alleine haben, lass mich in Ruhe!“

Alera versuchte ihn wegzuschieben, doch der Mann lachte nur und lies eine Hand an ihrem Bein hochwandern.

„Die Hart zu kriegen Masche? Wie drollig!“ die Hand legte sich auf ihren Hintern.

„Aber mal ehrlich: hier weiß doch jeder, dass du ein Flittchen bist!“

Wieder drückte er seinen Mund auf ihren und Alera machte sich bereit ihn zu beißen, zu kratzen oder zu treten, als sein Gewicht plötzlich wie von Zauberhand verschwunden war.

Verwirrt blinzelte sie, drehte den Kopf und sah, wie der schnuckelige Polizist (Joel? Noel? Irgendwas in der Art!) dem Mistkerl den Arm auf den Rücken drehte und ihn gegen die Wand drückte.

Der Kerl ließ einige schwer verständliche Beschwerden von Stapel (mit dem Gesicht gegen die Wand sprach es sich schlecht!), aber Noel schnitt ihm das Wort ab.

„Sie hat mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie kein Interesse hat! Also mach das du verschwindest, bevor ich die Handschellen raushole und dich wegen sexueller Belästigung verhafte!“

Die Drohung schien zu wirken, schließlich konnte der Kerl ja nicht wissen, dass Noel gar keine Handschellen dabei hatte.

Also machte er brav den Mund zu und trollte sich sobald er losgelassen wurde, allerdings nicht ohne noch einmal einen begehrlichen Blick auf Alera zu werfen, der Öl in die Flammen von Noels Zorn goss.

Nur die Hand die sich auf seinen Unterarm legte hielt ihn davon ab, den Kopf dieses Wichtigtuers gegen die Wand zu knallen.

„Danke!“

Er konnte Erstaunen und Dankbarkeit in ihrem Gesicht ablesen, dann senkte sie den Blick um ihr jadegrünes Kleid glatt zu streichen.

„Kein Problem!“

Langsam flaute seine Wut ab und er konnte wieder klar denken.

„Jeder andere hätte dasselbe getan!“

„Ach wirklich?“

Alera hob spöttisch die Augenbrauen.

„Ich hatte nicht den Eindruck dass irgendjemand vorhatte mir zu helfen!“

Noel rief sich in Erinnerung wie die Leute weggesehen, die Augen verdreht oder den Kopf geschüttelt hatten und kann zu dem Schluss, dass sie recht hatte.

„Aber warum nicht?“

Wie konnte man wegsehen, wenn sich ein Mann einer Frau so dermaßen offensichtlich aufdrängte?

Alera zuckte mit den Schultern.

„Vermutlich dachten sie ich hätte ihn ermutigt!“

Ihre Stimme klang gleichgültig, aber sie wandte das Gesicht nicht schnell genug ab und so sah er für einen Moment den feuchten Schimmer in ihren Augen, bevor sie ihn einfach stehen lies und mit eiligen Schritten auf die riesigen Balkontüren zulief.

Alera brauchte frische Luft!

Sie hatte das Gefühl zu ersticken wenn sie nur einen Moment länger in diesem Raum blieb, also öffnete sie eine der Glastüren und schlüpfte hinaus auf die Terrasse.

Die Luft war eisig und bis sie beim Geländer angekommen war zitterte sie bereits, aber wenigstens kamen ihre Gedanken zur Ruhe, die Übelkeit ließ nach und machte einem seltsamen Kribbeln Platz, aus dem prompt Schmetterlinge wurden als ihr ein Jackett um die Schultern gelegt wurde.

Der Geruch seines Aftershaves stieg ihr in die Nase, als sie den Stoff enger um sich herum zusammen zog und brachte die Schmetterlinge dazu einen Cha-Cha-Cha in ihrem Magen zu tanzen.

„Ob Sie ihn ermutigt haben oder nicht, er hatte kein Recht darauf sich Ihnen aufzudrängen! Insbesondere da sogar ich über mehrere Meter Entfernung sehen konnte, dass seine Avancen unerwünscht waren!“

Noel lehnte sich neben ihr an die Brüstung, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf, einen ungläubigen Ausdruck in den babyblauen Augen.

„Und Gewalt gegenüber Frauen ist in meinen Augen eines der größten Tabus!“

Die Falter stellten das Tanzen abrupt ein und Alera warf sich selbst alle möglichen Beleidigungen an den Kopf.

Der Mann war Polizist, Menschen aus der Patsche zu helfen war sein Job und im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen nahm er das offenbar ernst.

Sie durfte nicht zu viel in sein Verhalten hineininterpretieren, vermutlich hätte er sich bei jeder anderen Frau genauso verhalten!

„Mein Name ist Alera Benett von Siegel und für die meisten Leute kommt das einem Freibrief gleich!“

Was zur Hölle tat sie da?

Warum erzählte sie ihm, was sonst keinen interessierte?

„Was hat Ihr Name damit zu tun?“

Weil seine Meinung ihr wichtig war!

Er hatte ihr geholfen und sie wollte das er wusste, dass die Gerüchte über sie genau das waren: Gerüchte!

Damit er ihr auch in Zukunft half!

„Eigentlich stamme ich aus der Mittelschicht, mein Vater war Klempner und wir hatten nie viel Geld!“

Das stimmte zwar nicht ganz, aber über die Abstammung ihrer Mutter sahen sie Leute meist sowieso hinweg, also zählte das kaum.

„Nach dem Tod meines Vaters adoptierten mich Richard und Beatrice und plötzlich waren da all diese Leute um mich herum!“

Das naive Kind von damals hatte ihre Lügen für bare Münze genommen und sie waren wie die Geier über sie hergefallen.

„Alle Mädchen wollten meine Freundinnen sein und die Jungs wollten mit mir ausgehen und dumm wie ich war lies ich mich darauf ein. Mit der Zeit wurde es zum Statussymbol: ‚Hey Leute, ich habe es geschafft Alera dazu zu bringen mit mir auszugehen!‘“

Damals hatte sie das Gerede nicht hören wollen, hatte nicht glauben wollen das ihre ‚Freunde‘ zu so etwas fähig waren.

Heute erkannte sie ihr Verhalten als das Wunschdenken eines einsamen Mädchens, das sich an jeden Strohhalm klammerte.

„Dann wollte sich irgendein Idiot besonders wichtig machen und behauptete, ich hätte mich ihm richtiggehend an den Hals geworfen, angeblich sind wir sogar im Bett gelandet!“

Ein humorloses Lachen, schließlich hatte sie seine Einladung ausgeschlagen!

Vermutlich hatte er nur sein angeknacktes Ego mit einer besonders aufregenden Geschichte wieder aufpäppeln wollen.

„Die anderen zogen mit und aus harmlosen Kinobesuchen wurden wilde Knutschereien, aus Restaurantbesuchen wurde Sex und ehe ich mich versah hatte ich mich angeblich einmal durch die Schule gevögelt. So ein negatives Image wird man nie wieder los…“

Als Richard und Beatrice reagiert hatten war der Schaden schon angerichtet, auch der Wechsel auf die teure Privatschule die Damian besuchte hatte nichts genutzt, die Gerüchte waren schon vor ihr dort angekommen.

Irgendwann hatte sie einfach aufgegeben und angefangen, sich ihren Ruf zu Nutze zu machen.

Gekleidet in Miniröcke und Röhrenjeans, die Oberteile bauchfrei oder tief ausgeschnitten schaffte sie es zumindest der Welt vorzugaukeln, dass das Gerede sie völlig kalt lies.

Auch wenn sie nach wie vor kaum etwas tat um diesem Ruf gerecht zu werden, wurde ihre Kleidung zu ihrer Rüstung, genauso wie ihr oberflächliches Verhalten und die Leute glaubten es, da es zu allem passte was sie hörten.

Jetzt, etwa fünf Jahre später, erwischte Alera sich bei dem Wunsch die Zeit zurückzudrehen und wieder zu dem Kind von damals zu werden.

Aus irgendeinem Grund wollte sie sich Noel gegenüber nicht für das Verhalten von anderen Leuten rechtfertigen müssen.

Verwirrt von ihren eigenen Gedanken streifte sie die Jacke ab, drückte sie ihm in die Hand und verabschiedete sich.

„Ich ähm… sollte mal nach Nicky schauen, er hat sich in meinem Zimmer hingelegt!“

Den Rest des abends verbrachte Alera damit sich einzureden, dass das Kribbeln in ihrem Bauch von zu vielen süßen Törtchen kam und nicht von Noels Abschiedslächeln.

Seelensplitter Teil 2

„Komm schon Alera!“

Die achtjährige riss ihre Augen von den Puppen im Schaufenster los und rannte ihrer Mutter hinterher, die, zwei Tüten in jeder Hand, trotz ihrer hohen Schuhe so schnell den Bürgersteig entlang eilte, dass Alera kaum mithalten konnte.

„Nicht so schnell Mami!“

Sie zupfte am Ärmel der Bluse aus unglaublich weichem Material in der Hoffnung, dass sie etwas langsamer laufen würde, aber Nadja Benett schüttelte nur ihre blonden Locken.

„Wir müssen uns beeilen mein Schatz, nachher kommen doch meine Freundinnen!“

Alera wusste, dass ihre Mutter sie liebte aber manchmal hatte sie das Gefühl immer nur die zweite Geige zu spielen.

Zenzele die alte Dame von nebenan, die meistens auf sie aufpasste, hatte einmal gesagt, Nadja würde sich für den Mittelpunkt des Universums halten.

Auch wenn Alera den Sinn dahinter nicht wirklich verstand, hatte sie trotzdem das Gefühl, dass dieser Satz ziemlich genau zutraf.

Erneut liefen sie an einem Schaufenster vorbei und das Kind blieb kurz stehen um sein Spiegelbild im Glas zu betrachten.

Einige Leute sagten, sie würde ihrer Mutter ähnlich sehen.

Ihre Fingerspitzen strichen über die glatte Oberfläche, über das zu runde Gesicht (Nadjas Gesicht war schmaler, ohne Babyspeck), die dunklen Locken und verweilten schließlich unter der Reflektion ihrer Augen, die sich offensichtlich nicht entscheiden konnten ob sie nun das grau ihrer Mutter oder das grün ihres Vaters annehmen sollten.

„Alera!“

Das Mädchen zuckte schuldbewusst zusammen und beeilte sich, zu seiner Mutter aufzuschließen.
 

Hinterher konnte sie nicht wirklich erklären, warum sie in die düstere Seitenstraße gerannt war, schließlich war sie sonst ein eher braves Kind.

Hatte sie ihre Mutter ein wenig länger für sich haben wollen?

Oder war es nur ein plötzlicher Anfall von Ungehorsam gewesen?

Warum auch immer, Alera rannte mit einem frechen „fang mich wenn du kannst“ an Nadja vorbei, hinein in die Gasse und ignorierte die Aufforderungen ihrer Mutter sofort zurück zu kommen.

Leider war der Weg eine Sackgasse, weswegen die Verfolgungsjagt schnell vorbei war.

„Alera Benett, was ist nur in dich gefahren?“

Nadja griff nach dem Arm ihrer Tochter und wollte sie aus der Gasse ziehen, in ihrem hübschen Gesicht konnte Alera Enttäuschung und Ärger sehen.

„Na warte! Wenn ich das deinem Vater erzähle!“

Bei diesen Worten zuckte Alera zusammen, denn die Strafpredigten ihres Vaters waren ihr ein Greul.

Er war so fürchterlich streng!

„Aber Mama, ich…“

„Nichts ‚aber Mama‘ junge Dame!“

Nadja wollte sich an einem Mann vorbeischieben, der mitten auf der Straße stand.

„Wenn wir zuhause sind…“

Der Mann machte einen Schritt zur Seite und versperrte den beiden so weiterhin den Weg.

Mit gerunzelter Stirn wollte sie auf der anderen Seite vorbei, aber wieder wurde die Straße blockiert.

„Lassen Sie uns bitte vorbei!“

„Aber gerne doch! Aber das kostet! Mal sehen…“ der Kerl lies den Blick an Nadjas Körper auf und ab wandern.

„Ich denke die Ohrringe und der Inhalt deines Geldbeutels sollten reichen Schätzchen!“
 

Wenn es etwas gab, das Nadja Benett absolut nicht gewöhnt war, dann am kürzeren Hebel zu sitzen.

Himmel, ihr Vater war John Stag, ein milliardenschwerer Geschäftsmann!

Und auch wenn sie ihr altes Leben für ihren Mann aufgegeben hatte, so gab es immer noch Mittel und Wege zu bekommen was sie wollte.

Ob nun durch einen herzzerreisenden Augenaufschlag, ausgiebiges Schmollen oder einen simplen Tobsuchtsanfall!

Die Tatsache dass Maxime den Boden unter ihren Füßen anbetete war natürlich auch sehr hilfreich!

Nur Leider nutzte ihr das in dieser Situation überhaupt nichts, denn der widerliche Kerl zog eine Pistole und richtete sie auf Nadja.

„Her mit dem Zeug, wird’s bald?“

Was glaubte dieser Dreckskerl eigentlich wer er war?

Kinderhände krallten sich in ihr Hosenbein und machten sie darauf aufmerksam, dass Alera sich hinter ihren Beinen zu verstecken versuchte.

Mit einem abfälligen Schnauben stellte sie die Tragetaschen ab, griff ihn ihre Handtasche und zog ihren Geldbeutel hervor.

„Bitte sehr!“ der Mann nahm den Geldbeutel an, klemmte ihn unter seinen Arm und streckte ihr die Hand entgegen, damit sie ihre goldenen Creolen hineinlegen konnten.

Doch anstelle zu gehorchen tat sie etwas ziemlich dummes: Nadja machte einen Satz nach vorne, packte die Waffe und wollte sie ihm aus der Hand reisen.

Leider bedachte sie dabei zwei Dinge nicht…

Erstens war es nicht so leicht wie es in Filmen aussah und zweitens war die Waffe nicht gesichert.

Es gab einen lauten Knall und Nadja starrte fassungslos auf den roten Fleck, der sich auf ihrer Brust ausbreitete.

Verdammt, die Bluse war ruiniert!

Dann setzte der Schmerz ein, sie begann zu wanken, taumelte beim Versuch das Gleichgewicht zu halten ein paar Schritte hin und her und stürzte schließlich, wobei sie ihre Tochter unter sich begrub.
 

Alera wollte schreien, einfach nur schreien und sich irgendwo verstecken, doch der schwere Körper auf ihr drückte die Luft aus ihren Lungen.

„Mami… bitte… runter!“

Doch ihre Mutter bewegte sich nicht, es waren nur röchelnde Atemzüge zu hören, also versuchte Alera, sie von sich wegzuschieben.

Nach mehreren Minuten konnte sie sich endlich aufsetzen und Lungen mit tiefen Atemzügen füllen, die allerdings zischend wieder entwichen, als ihr Blick auf den großen roten Fleck und das schmerzverzerrt Gesicht ihrer Mutter fiel.

„Mami? Mami, was ist mit dir?“

Wieder keine Antwort, aber wenigstens öffnete sie ihre grauen Augen und hob eine Hand, um sanft mit den Fingern über ihre Wange zu streichen.

„Es tut mir Leid, Alera mein Liebling! Es… tut mir so Leid!“

Nadja schloss die Augen wieder und holte noch einmal Luft.

„Kümmere… dich um deinen Vater Alera!“

Die Hand an ihrer Wange erschlaffte und fiel zu Boden, während panische Angst ihr die Kehle zudrückte.

„Mami?“ ein tonloses Flüstern, das ungehört blieb.

„MAMI!“

Alera packte ihre Mutter an den Schultern und versuchte sie wach zu schütteln, doch sie reagierte wieder nicht.

Verzweifelt zog sie Nadjas Oberkörper auf ihren Schoß, barg ihren Kopf an ihrer Brust und begann sich sanft hin und her zu wiegen, wie ihre Eltern es bei ihr machten, wenn sie einen bösen Traum gehabt hatte.

„Mami… bitte sag doch was!“

In genau dieser Position fand sie später eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren war und diese Position behielt sie bei, bis Polizei und Krankenwagen eintrafen und man sie zwang loszulassen.
 

„Willst du etwas trinken?“

Ohne den Blick von ihren blutigen Fingern abzuwenden schüttelte Alera den Kopf.

Sie wollte nichts trinken, sie wollte nichts essen und sie wollte auch keine blöde Decke!

Sie wollte ihre Mutter!

„Wo ist meine Frau?“ die Frage war in den Raum gebrüllt worden, noch bevor die Tür gegen die Wand gekracht war.

Aleras Vater stürzte in den Raum, komplett noch mit Arbeitskleidung und dreckigen Händen.

„Paps…“

Doch Maxime Benett hatte keinen Blick für seine Tochter übrig.

„Wo ist Nadja?“

Alera rollte sich noch enger auf dem Stuhl zusammen, versuchte sich so klein wie möglich zu machen und doch fiel Maximes wütender Blick direkt auf sie, als er wieder aus dem Raum kam in dem ihre Mutter lag.

„Was hast du getan?“

Eine große Hand packte Aleras Unterarm und zerrte sie auf die Beine.

„Du solltest doch auf deine Mutter hören, warum bist du in diese Seitenstraße gelaufen?“

„Paps… ich…“

„Spar dir die Ausreden! Das ist alles deine Schuld!“

Die Hand griff fester zu und der Zorn in Maximes grünen Augen stach Alera mitten ins Herz.

Sie hatte das doch nicht gewollt!

„Hätte deine Mutter doch nur auf mich gehört und dich abtreiben lassen! Dann wäre das alles nie passiert“

„Paps… es tut mir Leid… ich wollte nicht…“

„Sei einfach still! Ich will nichts hören!“
 

Schweigend sah der Polizist zu, wie der Mann seine Tochter aus dem Gebäude zerrte.

„Meinst du er kommt klar?“ fragte er seinen Kollegen, der sich gerade ein Mars aus dem Automaten holte.

Der übergewichtige Mann zuckte gleichgültig mit den Schultern und riss die Verpackung seines Schokoriegels auf.

„Der kriegt sich schon wieder ein und wenn nicht, wir sind weder die Seelsorge noch die Wohlfahrt, also geht es uns nichts an!“

Beunruhigt biss sich der jüngere auf die Unterlippe.

Irgendwie hatte er ein mieses Gefühl in der Magengegend, beschloss aber trotzdem, alle Gendanken an kleine Kinder mit großen graugrünen Augen vorerst bei Seite zu schieben uns sich auf seine Ermittlungen zu konzentrieren.

Er würde in einer Woche oder so mal bei ihr vorbeischauen, wenn sich alles etwas beruhigt hatte.

Leider wurde aus einer Woche zwei, daraus wurde ein Monat und irgendwann hatte er es komplett vergessen.
 

Die folgenden Wochen waren einfach nur schrecklich!

Egal was Alera auch tat, ihr Vater reagierte einfach nicht.

Seit der Beerdigung redete er nicht, er aß nicht, er schlief nicht und er ging nicht zur Arbeit.

Nach einer Woche begann Alera das Telefon zu ignorieren und wäre Zenzele nicht jeden Tag vorbeigekommen wären sie vermutlich beide total verwahrlost.

Die alte Frau kochte das Mittagessen, half Alera bei den Hausaufgaben kümmerte sich um die Wäsche und schaffte es sogar Maxime zum Essen zu überreden.

Darum war Alera auch so überrascht, als sie eines Morgens (es war ein Samstag) vom Lärm des Staubsaugers geweckt wurde.

Zenzele kam doch erst mittags!

Sie schwang die Beine aus dem Bett und lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo Maxime gerade das Wohnzimmer saugte.

Hoffnung wärmte sie von innen heraus wie heiße Schokolade.

Ging es ihm endlich besser?

„Paps?“

„Guten Morgen! Hab ich dich geweckt?“

„Ja….“ Nervös zwirbelte Alera eine Locke um ihren Finger.

„Tut mir Leid! Deine Mutter ist nicht da und ich dachte ich mache hier schnell sauber, sonst kriegt sie noch einen Schreck wenn sie von ihrer Joggingrunde zurückkommt!“

Die Wärme war mit einem Schlag verschwunden.

Sie war zwar erst acht, aber auch sie wusste, dass Tote weder joggten noch zurückkamen.

Und beides zusammen schon gar nicht!

Was zur Hölle war hier los?

Völlig verängstigt rannte sie noch im Schlafanzug ins Nachbarhaus, doch die dunkelhäutige Afrikanerin zuckte nur hilflos mit den Schultern.

„Er versucht wohl auf seine Art mit Nadjas Verlust fertig zu werden… Vielleicht hilft es ja? Du behältst ihn einfach im Auge und wenn es in ein paar Wochen nicht besser geworden ist sagst du mir bescheid, dann braucht er einen Psychologen oder so. Kannst du das meine Kleine?“

Alera nickte bestätigend.

Es würde alles wieder gut werden.
 

Warum ich niemandem etwas gesagt habe? Ich war ein Kind und ich hatte Angst!

Ja ich weiß, Zenzeles Rat war nicht gerade der Beste, aber wir dachten beide, dass Paps sich wieder erholen würde. Wir dachten es wäre nur vorübergehend!

Und als ich merkte, dass er nie wieder der Alte sein würde, da war ich einfach nur verzweifelt!

Psychatrie? Wie hätte ich ihm das antun können? Nachdem ich ihm die Person genommen habe, die er am meisten geliebt hat? Zenzele bekam davon nichts mehr mit, sie wurde kurze Zeit später wegen eines Knochenbruchs in ein Pflegeheim gebracht und alle anderen? Denen war ich herzlich egal! Ich war alleine mit meiner Angst und meinen Selbstvorwürfen, Also hören Sie gefälligst auf mir vorzuwerfen, ich hätte völlig falsch gehandelt, das weiß ich selbst!

Die Erbschaft

Woher ich das Geld für die Wohnung hatte? Haben Sie nicht zugehört? Sie wissen doch, wer mein Großvater war!
 

***
 

„Alera? Richard will dich sprechen, in seinem Büro!“

Die Angesprochene sah von ihrem Buch auf und runzelte die Stirn.

Hatte sie etwas angestellt?

Mit einem Seufzen legte sie ein Lesezeichen zwischen die Seiten, stand auf und verlies ihr Zimmer, wobei sie Lukas einen fragenden Blick zuwarf, den er mit einem Schulterzucken beantwortete.

Richard saß hinter seinem (wie immer makellos aufgeräumten) Schreibtisch aus glänzendem Mahagoni und blickte sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg an.

Er deutete auf einen der Ledersessel ihm gegenüber und Alera ließ sich auf die kühlen Polster sinken, die Augen fest auf ihn gerichtet.

„Was gibt es?“

Richard verschränkte die Finger und stützte sein Kinn darauf.

„Es kam ein Brief vom Anwalt deines Großvaters!“

Da Alera noch nicht volljährig war gingen solche Briefe grundsätzlich an ihn, schließlich war er ihr Vormund.

„John Stag ist verstorben und er hat dich in seinem Testament bedacht!“

Hätte sie in diesem Moment etwas im Mund gehabt hätte sie sich vermutlich entweder daran verschluckt oder es ausgespuckt.

„Wie bitte?“

John Stag hatte sich bisher nie für seine Enkelin interessiert, und gesehen hatte Alera ihn nur einmal, auf der Beerdigung ihrer Mutter.

„Hat er etwa beschlossen, dass es mich doch gibt? Schließlich hat er ja meine Existenz bisher erfolgreich ignoriert!“

„Alera!“ Richard legte seine Hände auf dem Tisch ab und warf ihr einen strengen Blick zu.

„Ich gebe zu dass John nicht gerade ein Bilderbuchgroßvater war, aber hast du jemals versucht selbst Kontakt mit ihm aufzunehmen?“

„Ja, dass habe ich!“

Alera Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn.

„Mit zehn habe ich ihm einen Brief geschrieben!“

Zenzele war damals gestürzt und hatte sich einen komplizierten Bruch zugezogen, der einfach nicht richtig heilen wollte, weswegen ihre Kinder sie in ein Heim gesteckt hatten.

Nach einem besonders schlimmen Streit mit ihrem Vater hatte sie ihrem Großvater geschrieben und ihn um Rat gebeten.

Der Brief war ungeöffnet zurück gekommen, John Stag hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht ihn zu lesen.

Richard seufzte.

„Lass mich raten: er hat ihn nicht gelesen, oder? John war schon immer fürchterlich stur! Er hat nie verstehen können, dass Nadja sich für deinen Vater entschieden hat…“

„Und er dachte dass sich daran etwas ändern würde, wenn uns nicht beachtet?“ Alera lachte trocken.

„Nein! Er dachte nur es würde etwas bringen den Geldhahn zuzudrehen. Deine Mutter war einen gewissen Lebensstandart gewöhnt und jeder wusste, dass Maxime ihr den nicht bieten konnte. Also lies John sie auf dem Trockenen sitzen und wartete ab, schließlich hatte Nadja nie einen Beruf erlernt.“

Nur hatte das ihre Mutter nicht davon abgehalten, dass Geld trotzdem mit beiden Händen auszugeben.

Alera schüttelte den Kopf und drängte die Erinnerungen an die Shoppingtouren mit ihrer Mutter zurück.

Solche Gedankengänge endeten meist in einem Blutbad.

Sollte sie das Geld, oder was auch immer er ihr vererbte (es konnte ja schließlich auch seine Briefmarkensammlung sein), einfach annehmen und siebzehn Jahre Vernachlässigung einfach ignorieren?

„Du meinst also, dass ich die Almosen die er mir zuwirft einfach annehmen soll?“ eine schwarze Locke rutschte aus ihrem Haargummi und kitzelte ihre Wange, woraufhin Alera sie energisch zurück hinters Ohr strich.

„Himmel, ihr beiden hättet es im Leben wesentlich einfacher, wenn ihr etwas weniger nachtragend wärt!“

Richard machte ein Gesicht als ob er nicht wüsste, ob er lachen oder schnauben sollte.

„Was hältst du davon einfach zur Testamentseröffnung zu gehen und dir anzuhören was John geschrieben hat? Du kannst das Erbe dann ja immer noch ausschlagen!“
 

In einem (für ihre Verhältnisse extrem elegantem) dunkelgrauen Hosenanzug saß Alera zusammen mit Richard zwischen Verwandten die sie noch nie im Leben gesehen hatte und tat so, als würde sie die stechenden Blicke nicht bemerken.

Warum war sie eigentlich hier?

Ach ja, sie wollte sich anhören, was ihr Großvater in seinem Testament geschrieben hatte.

Alera unterdrückte ein Gähnen und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Anwalt zu, einem schickimicki Typ mit teurem Anzug und zurück gegelltem Haar, der gerade Verkündete, das sie genug erben würde um für den Rest ihres Lebens versorgt zu sein.

Gesetzt des Falles natürlich das sie das Geld nicht zum Fenster rauswarf!

Die Blicke der Cousins und Cousinen dritten (oder waren es vierte) Grades ihrer Mutter wechselten von stechend zu tödlich und die Temperatur schien um einige Grad zu sinken.

Irgendwie war Alera plötzlich froh, diese ‚netten‘ Leuten vorher nie getroffen zu haben.
 

„Sag mal…“ Alera saß auf dem Beifahrersitz von Richards BMW und nestelte am Saum ihres Jacketts herum.

„Wenn diese Leute so dagegen sind das ich erbe, warum fechten sie das Testament nicht an? Schließlich hat John meine Mutter enterbt… gilt das nicht auch für mich?“

Zu ihrer Überraschung fing Richard an zu lachen.

„Wir sind hier nicht in Amerika, Alera! Man kann nicht einfach alles irgendwem vermachen oder jemanden einfach so enterben, dafür muss schon ein triftiger Grund vorliegen. Und ‚meine Tochter hat nicht den Mann geheiratet den ich für sie ausgesucht hatte‘ ist kein triftiger Grund! Nicht mal annähernd!“

Einer ihrer Finger strich eine nicht vorhandene Falte glatt.

„Aber warum sagen dann alle dass es so wäre? Es stand sogar in den Zeitungen!“

„Du solltest doch eigentlich wissen, dass nicht alles wahr ist was man sich so erzählt. Und die wirklich seriösen Zeitungen haben diesen Käse nie gedruckt. Das ist auch der Grund warum Nadjas Freunde den Kontakt zu ihr nicht abgebrochen haben. Sie haben gehofft von ihrer ‚Treue‘ zu profitieren.“

Jetzt so er es sagte… die Freundinnen ihrer Mutter hatten tatsächlich immer teure Autos gefahren (sie hatte damals Stunden damit verbracht sich vorzustellen wie es wäre mit so einem durch die Gegend zu brausen) und sich darüber aufgeregt wie klein das Haus war (‚wie hältst du das in diesen beengenden Räumen nur aus, Nadja meine Liebe?‘ ‚Oh mein Gott, hat dieses Haus etwa nur ein Badezimmer?‘ ‚Wir trinken Tee im Wohnzimmer? Gibt es keinen Salon?‘).

Jetzt wusste sie wieder, warum sie diese Ziegen nie hatte ausstehen können!

„Heißt das also, dass eigentlich alles mir zusteht? Fechten sie deshalb das Testament nicht an?“

„Nicht ganz! Als einzige Erbin in gerader Linie steht dir dann alles zu, wenn nichts anderes im Testament steht. Anderenfalls beträgt dein Pflichtteil, der Teil der dir auf jeden Fall zusteht, die Hälfte seines gesamten Vermögens. Und damit meine ich nicht nur das Geld, sondern auch Aktien, die Firma, sämtliche Immobilien, Schmuck, Wertpapiere, Autos, Möbel und alles, was ihm sonst noch gehört.“

„Lass mich raten… das ist sehr viel mehr als ich bekommen habe, oder?“

„Genau! Man kann John vieles vorwerfen, aber er war klug. Du bekommst genug um versorgt zu sein ohne dir Sorgen um Gerichtsverhandlungen oder ähnliches machen zu müssen.“

Richard hielt an einer roten Ampel.

„Und dazu wäre es vermutlich gekommen, so wie ich meine lieben Cousins und Cousinen einschätze, oder?“

Statt einer Antwort warf er ihr nur einen Blick zu der Bände sprach, bevor er den ersten Gang einlegte und anfuhr.
 

Das Geld wurde ein paar Tage später auf ihr Konto überwiesen und Richard sorgte dafür, dass es gewinnbringend angelegt wurde.

Etwa zwei Jahre später kaufte Alera von einem Teil ihres Erbes eine hübsche drei Zimmerwohnung, in der sie mit Nicky zusammen wohnte.

Zusammen mit ihrem Job im Hotel der Familie von Siegel (Richard hatte beschlossen, dass Alera das Hotel und Damian die Firma erben sollte und deswegen dafür gesorgt, dass beide jeweils dort eine Ausbildung absolvierten) reichte das Geld für ein bequemes Leben.

Nur leider bleib das Leben eben nicht immer angenehm…


Nachwort zu diesem Kapitel:
Keine Sorge, nicht die ganze Geschichte wird nach diesem Muster ablaufen. Es ist nur Leider nötig, damit Aleras Charakter sich so entwickelt wie ich es mir vorstelle! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jasmines Lied 'Picture Perfect' ist leider nicht von mir, sondern von Charity Vance Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von:  Kiiy
2015-02-02T09:16:00+00:00 02.02.2015 10:16
Allöö.
Also, gegen Ende hat mich das Kapitel verwirrt. Ich wusste nicht mehr, aus welchem Blickwinkel geschrieben wurde, musste manche Sätze zweimal lesen, oder auch öfter. Ich hoffe mal, dass ich das jetzt hingekriegt habe. So musst du dich wahrscheinlich manchmal bei mir gefühlt haben, haha! Aber alles in allem ein gutes Kapitel. Wahrscheinlich vorbereitend auf etwas, was schwere Konsequenzen haben wird? Ich denke wahrscheinlich wieder zu weit.
Antwort von:  Zuckerschnute
02.02.2015 16:57
Ja du hast recht, ich hätte ein paar Absätze oder so einbauen sollen, um die Wechsel in der Perspektive leichter erkennbar zu machen...
Ich werde versuchen, dass in zukünftigen Kapiteln besser zu machen!
Für mich ist klar, wer wann redet und handelt, aber ich denke mir das ganze ja auch aus...

Schwere Konsequenzen hat das Kapitel eigentlich nicht wirklich, zumindest nicht für Alera. Ich wollte sie nur nicht die ganze Zeit Batman spielen lassen und habe deswegen eine Hintergrundhandlung in den Vordergrund geholt und etwas abgeändert...
Von:  Kiiy
2014-12-18T10:40:50+00:00 18.12.2014 11:40
Och nöööö, das Morden geht weiter. Supi! Alera ist soo naiv, oh mein Gott!
Rose nutzt sie aus, auch supi. Wo hat sie sich da nur reingeritten..
Ui, ich bin beeindruckt. Zuerst einmal bin ich froh, dass Alera ihn nicht umgebracht hat. Und was sie mit ihm gemacht haben, beeindruckt mich auch. Gute Arbeit, Alera!
Antwort von:  Zuckerschnute
18.12.2014 17:31
Keine Sorge, so schnell wird keiner mehr ermordet! (zumindest nicht von Alera!)
Und ja Alera ist naiv, zumindest bis zu einem bestimmten Grad. Außerdem ist sie irgendwo tief in ihrem inneren noch immer ein verängstigtes und wütendes Kind und darum handelt sie manchmal etwas unüberlegt (ein Beispiel dafür wäre Kapitel 12) und wie sie schon gesagt hat: gut gemeint ist nicht immer gut gemacht!
Von:  Kiiy
2014-12-18T08:04:02+00:00 18.12.2014 09:04
Hätte Alera doch nur auf Lucas gehört. Wäre sie doch nur realisitisch geblieben. Oh man.
Mehr weiß ich zu diesem Kapitel tatsächlich nicht zu sagen, mh. Das Ende heißt wohl, dass sie noch mehr ermordet hat?
Von:  Kiiy
2014-12-18T07:53:11+00:00 18.12.2014 08:53
Das Kursive löst bereits ein leicht ungutes Gefühl in mir aus.
"Der kleine Bastard braucht ein Abreibung" Einfach nur 'ne stumpfe Beleidigung oder tatsächlich Wahrheit?
Alera tut mir tatsächlich leid.
Okay, ihr Vater verwirrt mich. Wurde vor der Schlägerei nicht angemerkt, dass die Mutter bereits tot sei? Oder ist es das, warum ihr Vater so verrückt ist? Sich einzureden, dass sie bald nach Hause kommt?
Okay, es hat sich bestätigt. Auch Maxime tut mir nun leid.
Der Anfang des Absatzes nach Alera's Ausflippen macht mir Angst. Er hat sich doch hoffentlich nicht erhängt? Oder anderweitig ermordet.
Fuck, ich hatte recht. Ich bin überwältigt vom Ende dieses Kapitels. Dieses war das - bis jetzt - Beste meiner Meinung nach. Einfach überwältigt.
Antwort von:  Zuckerschnute
18.12.2014 17:15
Danke für das Lob! Freut mich, dass dir das Kapitel gefällt!
Die beiden tun mir auch Leid, ich musste beim schreiben selber heulen!
Aber schließlich wurde Alera ja nicht einfach so zu der Person, die sie im ersten Kapitel ist!
Von:  Kiiy
2014-12-16T10:29:43+00:00 16.12.2014 11:29
Lucia? Dann spielt dieses Kapitel vor dem Mord an Tom, oder?
Alera hatte nicht vor, einem Menschen willentlich etwas anzutun? Tja. Was soll man dazu sagen.
Das Kapitel zeigt Alera von einer ganz anderen Seite..Da is' sie mir ja fast doch schon sympathisch! Aber nur fast, da ich ihre Taten ja noch im Blick habe. Die Geschichte finde ich sehr spannend und ich freue mich schon, weiterzulesen.
Antwort von:  Zuckerschnute
16.12.2014 17:40
Du hast den Sinn des Kapitels erfasst!
Ich wollte zeigen dass Alera nicht einfach nur ein mordender Psycho ist (obwohl das am Anfang so geplant war, zumindest bis ich meine depressive Phase hinter mir hatte!)
Und ja, die Kapitel sind nicht in chronologisch richtige Reihenfolge, da Alera einfach jemandem die wichtigsten Punkte in ihrem Leben erzählt
Von:  Kiiy
2014-12-16T10:03:20+00:00 16.12.2014 11:03
Beim Kursiven denk' ich mir nur 'Och nö'. Alera hat also noch mehr umgebracht, für die 'Gerechtigkeit'. Ja, ich zweifle das momentan etwas an.
Alera stalkt Rose? Ich mag das Mädchen irgendwie nicht. Also Alera. Irgendwie kommt sie mir so vor wie 'Ich hab' was Schlimmes erlebt, und weiß deshalb GANZ GENAU was richtig und falsch ist! Und ICH muss bösen Menschen böse Sachen antun!" Keine Ahnung. Was ist eigentlich mit dem Mann im Prolog? MOMENT. Ist das der vielleicht Alera's Vater? Und hat er ihre Mutter getötet und Alera allein gelassen? Ich denke zu weit, kann das sein.
Okay, okay, offenbar ist der Vater auch tot. Vergessen wir meine obige Vermutung.
Beatrice weiß von Alera's Taten? Ernsthaft? Nee. Das glaube ich nicht. Ich interpretiere eindeutig zu viel hinein.
Sie hat ihn umgebracht..Wut schön und gut, aber das war nich' optimal. Ugh. Ich les' mal weiter.
Antwort von:  Zuckerschnute
16.12.2014 17:32
Jaja, das Kapitel mag ich auch nicht...
ich habe bei den ersten drei Kapiteln jede Menge Seelischen Müll abgeladen und das kam dabei raus...
Und denken die meisten Leute mit schlimmer Vergangenheit nicht, dass es nur ihnen schlecht geht und alle anderen in einer Traumwelt aus rosa Zuckerwatte leben?
Aber keine Sorge, das ist jetzt das letzte blutige Kapitel ;)
Von:  Kiiy
2014-12-16T09:39:45+00:00 16.12.2014 10:39
Im Kursiven spricht meiner Vermutung nach also das Mädchen, welches Marshall ermordet hat. Interessant.
Ihre Mutter war tot..Ach stimmt ja, im letzten Kapitel stand Adoptivfamilie. Und ihr Vater? Auch tot oder einfach weggegangen? Ich erfahr's wahrscheinlich gleich, was diese Fragen sinnlos erscheinen lässt.
Über Ed haben sich Alera und Damian unterhalten, oder? Bin mir bisschen unschlüssig, ob es nicht auch die Mutter sein könnte. Aber das wäre ja etwas..Komisch, nicht wahr?
War Lucia die leibliche Tochter von Alera's Adoptiveltern? Die Frage stellt sich mir jetzt auch.
Antwort von:  Zuckerschnute
16.12.2014 17:29
Hoppla, ich wolle niemanden verwirren!
Was mit Aleras Vater passiert ist erfährst du in Kapitel 6 und über Ed unterhalten sich Alera und Damian.
Lucia ist nicht die Tochter von Richard und Beatrice, sondern die von Lucas (dem Butler)
Von:  Kiiy
2014-12-16T09:28:24+00:00 16.12.2014 10:28
Der kursive Anfang verwirrt mich. Vielleicht denkt mein psycholiebendes Hirn zu schwierig, aber es hat für mich den Anschein, als sei dieses Morden eine Metapher für etwas Anderes.
Okay, normal geschrieben. Es ist wohl doch keine Metapher.
War Tom Marshall vielleicht irgendein wichtiges Tier in dieser Stadt? War der aus'm Prolog Tom Marshall? Bezweifle ich so'n Bisschen.
Eine Sechzehnjährige wollte einen Serienmörder allein stoppen? Wie naiv. Erinnert mich an meine Fanfic..
Oh, sie hat's geschafft. Hat mich tatsächlich überrascht. Sie hat ihm was in die Stirn geritzt? Is' ja auch so'n bisschen krank, oder?
Das Kapitel hat sich super gelesen, ich mag deine Beschreibungen. Bezweifle, dass meine Art zu schreiben da herankommt. Gleich mal das Nächste lesen!
Antwort von:  Zuckerschnute
16.12.2014 17:26
Himmel, gleich werde ich rot! Danke für das Lob.

Du hast recht, Sie ist naiv, verzweifelt und auch wütend.
Tom wird noch später mal erwähnt und er wird am Ende post mortem eine wichtige Rolle spielen, wenn auch nur indirekt!
Von:  Kiiy
2014-12-16T09:10:05+00:00 16.12.2014 10:10
Rollentaaaausch, diesmal kommentiere ich mal eine deiner Fanfics!
Den Prolog finde ich schon mal recht interessant. Der letzte Satz macht Lust auf mehr. Irgendwie habe ich schon die Vermutung, dass diese Frau und das Mädchen, welche er sozusagen irgendwie 'verdammt' hat, Partnerin und Tochter von ihm sind? Ich les' mal weiter!
Antwort von:  Zuckerschnute
16.12.2014 17:21
Erst mal Danke für deinen Kommentar und nein, die beiden sind mit dem Mann in keiner Weiße Bekannt, Verwand, verschwägert oder gar verheiratet!
Der Vater/Ehemann hat später seinen großem Auftritt
Von:  shinichi_san
2014-06-02T12:19:40+00:00 02.06.2014 14:19
Die Chemie bei Chemie passt nicht?! Na heureka!^^
Ich finde es ziemlich seltsam, dass der Erzählstil so flüssig von einer Person zu der anderen fließt, aber is ja dein Ding, ich finds nur leicht irritierend.
Im Allgemeienen ist dir das Kapitel echt gut gelungen und ich finde es echt spannend! Weiter so!
Und dann noch eine Liebesgeschichte drinnen! Hurray!
LG
Sandra

Antwort von:  Zuckerschnute
02.06.2014 14:24
Danke erstmal für dein Kommi :)

Ich lese einfach gerne aus so vielen Blickwinkeln wie möglich und das hat sich wohl auf meinen Schreibstil übertragen...
Ist wahrscheinlich Geschmackssache...

Gruß
Jessy


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