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Seelensplitter

von

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Weihnachtszeit und Mistelzweige

Meine liebste Jahreszeit war immer der Winter!

Wie, das interessiert Sie nicht? Ich dachte, Sie wollten sich ein Bild über mich machen? Wie können Sie da so einen wichtigen Punkt auslassen?

Also, wo war ich? Ach ja, Weihnachtszeit!
 

***
 

‚Dezember ist einfach der beste Monat des ganzen Jahres!‘

Mit diesem Gedanken biss Alera genüsslich von einer frisch glasierten Punschbretzel ab.

„Betty, für diese Dinger würde ich morden!“ meinte sie, schob den Rest des Gebäcks in den Mund und begann, die die klebrige Zitronenglasur von ihren Fingern zu lecken.

Die Köchin, eine kleine, dicke Frau mit roten Pausbacken und weißer Schürze, lachte, während sie ein weiteres Blech aus dem Ofen holte.

„Anstelle Leute zu ermorden könntest du mir auch einfach helfen, dass wäre mir wesentlich lieber!“

Die jüngere Frau zog die Brauen hoch und tat, als müsse sie nachdenken.

„Mal sehen… beim Backen helfen oder lieber diese köstlichen Plätzchen essen… hmmm. Schwierig! Ich glaube, ich nehme die Plätzchen!“

Sie griff nach einer zweiten Bretzel und schloss beim Kauen genießerisch die Augen.

„Wirklich? Schade. Dann dauert es eben länger, bis die Schoko-Orangen-Sterne fertig sind!“

„Orangen-Schoko-Sterne? Du weißt eben genau, wie du mich ködern musst!“ mit diesen Worten schnappte sie sich eine kleine Schüssel und begann, die Kekse mit Orangenglasur zu bestreichen.

„Warum hilfst du Betty eigentlich immer nur zur Weihnachtszeit in der Küche?“

„Nur weil du alles was süß schmeckt verabscheust, muss das doch nicht jeder tun, oder?“

Damian, der die Küche gerade betreten hatte, warf einen abwertenden Blick auf Kokosmakronen, Butter-S und Nugatgipferl und ging stattdessen zum Kühlschrank, aus dem er sich eine Scheibe Käse holte, sie zusammenrollte und einmal kräftig abbiss.

„Igitt! Wie kannst du so etwas essen Püppchen?“ Alera zog eine Schnute.

„Oh, das ist einfach! Mund auf und rein damit!“ meinte er grinsend.

„Und hör gefälligst aus mich Püppchen zu nennen!“

Aber wieso denn?“ sie lächelte ihren Adoptivbruder zuckersüß an.

„Diesen Spitznamen hat dir der völlig verknallte Eugen an seinem dritten Schultag bei uns verpasst, darauf solltest du stolz sein! Und sein Blick erst, als er kapiert hast, dass du kein Mädchen bist! Ich kugle mich heute noch vor Lachen, wenn ich nur daran denke!“

„Jaja, lach nur!“

Damian war zwar einen Meter achtundsiebzig groß, aber für einen neunzehnjährigen Mann extrem feingliedrig gebaut.

Dazu noch das ovale Gesicht mit den feinen Zügen, den vollen Lippen und den langen Wimpern und schon waren sich die meisten Leute auf den ersten Blick nicht sicher, ob er männlich oder weiblich war.

Das wiederrum hatte zur Folge, dass er genauso viele Liebeserklärungen von Männern wie von Frauen bekam, weswegen Alera ihn unermüdlich aufzog.

„Wusstest du übrigens schon, dass Ed dieses Jahr zur Weihnachtsfeier kommt?“

Bei diesen Worten entgleisten der jungen Frau sämtliche Gesichtszüge sowie der Pinsel, wodurch klebriger Zuckerguss auf der Arbeitsfläche, dem Boden und Aleras Kleidung landete.

„Mist!“ fluchte sie, stellte die Schale ab und befeuchtete einen Spüllappen, mit dem sie über die Flecken rubbelte.

„Was tust du eigentlich hier? Bist du nicht ausgezogen?“

Vor etwas über fünf Monaten hatte Alera beschlossen, sich um einen kleinen Jungen zu kümmern, der keine lebenden Verwandten mehr hatte.

Ein Vorschlag, der weder bei Richard noch bei Beatrice auf Zustimmung gestoßen war.

Sie hatten befürchtet, dass Alera die Verantwortung auf sie abschieben würde.

Doch anstelle sich wie erwartet zu fügen hatte die schwarzhaarige einen Teil ihres Ersparten genommen, sich eine hübsche, kleine Eigentumswohnung gekauft und war mit Sack und Pack ausgezogen.

Das Lächeln, mit dem sie Damian jetzt bedachte, zeigte eindeutig, dass sie diesen Schritt bis jetzt nicht bereute.

„Ich wollte Betty um ein paar Rezepte bitten, damit ich für Nicky und mich ein paar Plätzchen backen kann! Die gehören zu Weihnachten einfach dazu!“

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Küchentüre ein weiteres Mal und herein kam ein etwa neun Jahre alter Junge mit großen, dunkelblauen Augen und hellbraunem Haar, der einen begehrlichen Blick auf die Butter-S warf.

„Nimm dir ruhig einen!“ meinte die Köchin lächelnd.
 

Alera hatte Weihnachten schon als Kind geliebt.

Und das nicht nur wegen der Geschenke, obwohl die natürlich ein netter Bonus waren.

Sie mochte den Geruch von frisch gebackenen Plätzchen, die leuchtenden Dekorationen und das sanfte Licht der Kerzen auf dem Adventskranz.

Der langweilige Alltag wich hektischer Erwartung, man konnte förmlich spüren, wie die Menschen sich auf das Fest freuten und sich doch gleichzeitig wünschten, sie hätten mehr Zeit für die Vorbereitungen.

Und dann gab es noch das große Weihnachtsfest in der Villa der Familie Siegel.

Als Richards Urgroßvater das Herrenhaus bauen ließ, war die heute große Stadt noch ein kleines, verschlafenes Dorf gewesen.

Der junge Otto von Siegel war damals noch unverheiratet und Kinderlos gewesen und hatte sich in seinem großen Haus, welches nur von ihn und ein paar Bediensteten bewohnt wurde, besonders zur Weihnachtszeit einsam gefühlt.

Also hatte er ein großes Fest ausgerichtet und das ganze Dorf eingeladen.

Jeder durfte kommen, ob Knecht oder Kaufmann, Mann oder Frau, ob jung oder alt.

So füllten sich die Räume einmal im Jahr mit Leben und Otto hatte diese Tradition beibehalten, auch nachdem er geheiratet und Kinder bekommen hatte.

Diese Kinder und deren Kinder hielten diese Tradition ebenso in Ehren und im selben Maß wie Stadt wuchs und gedieh, wurde auch das Fest immer größer, bis es die heutigen Ausmaße erreicht hatte.

Zumindest hatte Alera das so in der Schule gelernt, auch wenn es sie immer verwirrt hatte, dass ein Mann, der so paranoid war dass er sein Haus mit Geheimgängen durchzog, ein ganzes Dorf mit mehr oder weniger wildfremden Leuten einlud.

Mit prüfendem Blick zupfte sie das Jackett von Nickys Anzug zurecht, den sie extra für diesen Anlass gekauft hatte.

„Werden da wieder so viele komische Leute mit Kameras sein, die lauter blöde Fragen stellen?“ die dunkelblauen Augen blickten ernst zu ihr auf.

„Ja! Aber keine Sorge, wenn sie dich zu sehr nerven ignorierst du sie einfach und gehst in einen anderen Raum. Es gibt so viele Zimmer, dass sie dich so schnell nicht finden werden.“

„Aber du lässt mich doch nicht alleine, oder?“ die Panik in der noch kindlich hohen Stimme lies die ältere schmunzeln.

Wie sehr hatten das Blitzlichtgewitter und die gebrüllten Fragen sie am Anfang verängstigt?

Wie oft hatte sie sich an Richards Hand geklammert, nur um von Beatrice den Befehl zu erhalten, dass sie loslassen sollte?

Zu oft!

Der Junge würde das niemals durchmachen müssen, das hatte sie sich geschworen.

Und wenn sie bis an ihr Lebensende in der Gegenwart von Paparazzos seine Hand halten musste.

„Aber natürlich nicht!“ um ihn und sich selbst von diesen Gedanken abzulenken legte sie einen Arm um seine Schultern und zog den braunhaarigen Jungen vor den großen Spiegel.

„Na, was meinst du? Wir beide können uns doch sehen lassen, oder?“
 

Das fanden offenbar auch die Fotografen der mehr oder weniger seriösen Zeitschriften, die sich auf der Party tummelten, denn kaum dass Alera und Nicky aus dem Auto stiegen gingen das Blitzlichtgewitter und die Fragerei los.

„Frau Benett von Siegel, warum kümmern Sie sich um diesen Jungen?“

„Woher haben Sie ihr Kleid?“

„Soll dieser Junge ihr Image aufpolieren?“

„Wie ist es, in eine reiche Familie aufgenommen zu werden, wenn auch nur vorübergehend?“

Die Hände des Jungen krallten sich fest in den Rock von Aleras Kleid.

‚Der arme Kleine!‘ das ganze fühlte sich für Alera fast wie ein Déjà-vu an.

Am besten brachte sie den Jungen schnell nach drinnen!

Mit diesem Gedanken legte sie Nicolas den Arm um die Schultern und bugsierte ihn das letzte Stück der Auffahrt und die Treppe hinauf auf die Haustüre zu, während einer der Angestellten ihren Audi parkte.

Die weitläufige Eingangshalle war bereits gut gefüllt, auch wenn reich und arm sich voneinander fernhielten.

Noch ein Grund, warum Alera dieses Fest sosehr mochte: an diesem einen Tag im Jahr mussten die ‚reichen und schönen‘ sich damit abfinden, dass der ‚Abschaum‘, auf den sie sonst hinabblickten, sich im selben Raum befand.

Den meisten Schnöseln wäre es recht gewesen, wenn Richard diese Tradition einschlafen lassen würde, auch wenn es keiner von ihnen jemals zugegeben hätte.

Schließlich waren die von Siegels eine der ältesten und einflussreichsten Familien hier.

Ein sanftes Zupfen an ihrem Rock wies sie darauf hin, dass Nicky sich unter den vielen Blicken etwas bis ziemlich unwohl fühlte, weswegen sie sich hinter den Jungen stellte und ihm die Hände auf die Schultern legte, während sie beobachtete, wie ihre Adoptivfamilie die große Haupttreppe herunter kam.

Richard und sein Sohn trugen wie Nicky Anzüge, wobei Damian auf die Krawatte verzichtet und den obersten Hemdknopf offengelassen hatte.

Beatrice sah mit ihrem schlichten schwarzem Kleid, der Perlenkette und ihrem hochgestecktem rotbraunem Haar wie immer klassisch elegant und wunderschön aus.

Irgendwie war es seltsam am unteren Ende der Treppe zu stehen, die sie die letzten Jahre immer gemeinsam mit den von Siegels heruntergekommen war.

Sie war so lange ein Teil dieser Familie gewesen, dass sie vergessen hatte wie es war zu ihnen aufzusehen!

Gedankenverloren zog Alera den neunjährigen etwas näher zu sich, schreckte aber auf, als Richard zu sprechen anfing.

„Meine lieben Freunde und Gäste! Meine Familie und ich fühlen uns geehrt, dass Sie so zahlreich zu unserer kleinen Feier erschienen sind.“

Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, gekleidet in einen eleganten, dunkelblauen Stiftrock und eine weiße Bluse, bot ihr ein Tablett mit Getränken an.

Ihr scheuer Blick und das nervöse Lächeln deuteten darauf hin, dass sie zum ersten Mal hier aushalf und so lächelte die neunzehnjährige ihr aufmunternd zu, während sie ein Glas Champagner für sich selbst und ein Glas Orangensaft für den Jungen nahm.

„Außerdem freuen wir uns, dass wir dieses Jahr unsere Tochter Alera und ihren Pflegesohn Nicolas als unsere Gäste begrüßen zu dürfen!“

Ein Großteil der Gesichter im Saal wendete sich den beiden zu und die junge, schwarzhaarige Frau setzte ein huldvoll fröhliches Lächeln auf, das sie in solchen Situationen öfters benutzte.

Die Wirkung war die selbe wie immer, einige runzelten sie Stirn, andere schüttelten den Kopf, aber wie immer wandten sie ihre Aufmerksamkeit schnell wieder auf das augenscheinlich interessantere Geschehen, in diesem Fall Richards Rede.

Es war eben manchmal doch von Vorteil, wenn die Leute einen für Blöd hielten: niemand dachte groß über das nach, was man tat oder sagte.

„…und hiermit erkläre ich das Büfett für eröffnet!“

Bei diesen Worten öffnete sich schwungvoll eine große Flügeltüre und gab den Blick auf den Raum dahinter frei, während die Familie von Siegel ihre Champagnerflöten hob und der Menge zuprostete.

Der Ballsaal war dezent mit Girlanden, Weihnachtssternen und Mistelzweigen geschmückt.

Von letzteren hielt sie sich dieses Jahr besser fern.

Im letzten Jahr hatte ein recht angetrunkener Vollidiot versucht, sie unter einem Mistelzweig abzuknutschen, was aber wiederum seiner ebenso beschwipsten Freundin überhaupt nicht gefallen hatte.

Das Ende von Lied waren eine verkrachte Beziehung, reichlich ruinierte Deckoration, vier kaputte Gläser und die Schlagzeile ‚Millionenerbin zerstört Liebesglück’ gewesen.

„Komm, beeilen wir uns, bevor alles weg ist!“ meinte Alera und machte sich mit Nicky zusammen auf den Weg zur Tür.

Auf den großen Tischen stand so ziemlich alles, was man mit den Händen, einer Gabel oder (im Falle des Nachtischs) mit dem Löffel essen konnte.

Pasteten, belegte Brötchen, kleine Häppchen mit Lachs und Kaviar, verschiedenes Obst und süße Kleinigkeiten.

Die junge Frau gab sich in Gedanken einen Klaps auf die Finger um nicht nach einem der mit Zuckerguss verzierten Törtchen zu greifen.

‚Ich sollte lieber erst ein Brötchen essen!‘
 

Einige Zeit später lehnte sie im Schatten an einer Säule und hörte Damian beim Klavierspielen zu.

Die Melodie von ‚Comptined‘UnAutreÉté‘ aus ‚die fabelhafte Welt der Amelie‘ schwebte durch den Raum und verursachte Alera eine Gänsehaut.

Der sanfte Klang und die Klarheit der Töne… es war als würden die Gefühle ihres Bruders in jeder einzelnen Note stecken.

Das erste Mal hatte sie ihn spielen hören, kurz nachdem sie hierher gebracht worden war.

Damals hatte es anders geklungen, schmerzhaft, verzweifelt.

Ein stummer Hilfeschrei, der ihr das Herz zerrissen hatte und bei dem ihr stumme Tränen übers Gesicht gelaufen waren.

Lange Zeit hatte niemand außerhalb dieses Hauses gewusst, dass Damian überhaupt ein Instrument spielte, geschweige denn mehrere.

Warum wusste sie nicht.

Was sie aber wusste war, dass sich sein Charakter gedreht hatte, nachdem er der Musik-AG und später der Schulband beigetreten war.

War er vorher leicht reizbar und unfreundlich gewesen, wurde er nun zu einem fröhlichen Optimisten.

Wirklich seltsam, wie eine einfache Entscheidung dem Leben eine unerwartete Wende geben konnte, nicht wahr?

„Hey du stehst unter dem Mistelzweig! Du weißt, was das bedeutet?“

Die Angesprochene riss erschrocken die Augen auf und sah sich einem ihr unbekannten Kerl gegenüber, der ihr tatsächlich einen Mistelzweig über den Kopf hielt.

Ohne auf eine Zustimmung oder irgendeine andere Reaktion zu warten drückte der Idiot doch tatsächlich seinen Mund auf ihren, wobei er offenbar geflissentlich ignorierte, dass sie die Lippen fest zusammenpresste und ihr ganzer Körper steif wie ein Brett wurde.

„Alera, Alera!“ Rettung nahte in Form zweier Kinder.

Susi und ein Junge namens Tom liefen auf sie zu und winkten aufgeregt mit den Händen.

Diese Unterbrechung nutzte Alera um den Kerl von sich wegzuschieben und mit dem Handrücken über ihren Mund zu fahren.

„Wir haben ein Geschenk für dich!“ völlig außer Atem hielt das blonde Mädchen ihr eine Schachtel hin, um die eine rote Schleife gebunden war.

„Ihr müsst mir doch nichts schenken!“ mit diesen Worten kniete sich die ältere hin um mit den Kindern auf Augenhöhe zu sein.

„Och bitte!“ zwei paar große Kinderaugen flehten sie an und so nahm Alera die kleine weiße Box in die Hand und zupfte sanft an dem Band.

Zum Vorschein kam eine Kette aus bunten Glasperlen, die Mr, ‚Ich knutsche einfach wildfremde Frauen ab‘ (der Idiot bemerkte offenbar nicht, wann er unerwünscht war) mit einem abwertenden Schnauben bedachte.

„Ist es wenigstens Glas oder nur Plastik?“ für diese Bemerkung hätte Alera ihm am liebsten den Fuß mit ihrem spitzen Absatz durchlöchert, da sie aber immer noch auf dem Boden kniete schlug sie ihm mit der Faust kräftig aufs Knie.

„Aua!“

Die Kinder sahen aus, als wollten sie gleich anfangen zu heulen.

„Er hat Recht!“

Susi blickte so enttäuscht drein, dass Alera dem aufgeblasenen Snob die Pest an den Hals wünschte.

„Alera hat bestimmt viel hübschere Ketten, da braucht sie diese hier nicht!“

Tom wollte nach der Schachtel greifen, doch die ältere war schneller und griff nach dem Schmuckstück, um es sich um den Hals zu legen.

„Und?“

Sie stand auf und drehte sich einmal im Kreis.

„Findet ihr, dass sie mir steht?“

Ein scharfer Blick sorgte dafür, dass der Idiot die Klappe hielt, während die beiden Kleinen immer noch etwas skeptisch dreinblickten.

„Gefällt sie dir wirklich?“

„Aber ja!“

Alera nickte bekräftigend und betrachtete ihre eigene Kette, ein Erbstück ihrer Mutter, nachdenklich.

„Nur… was mache ich jetzt mit der hier?... Ah, ich weiß etwas!“

Mit diesen Worten ging sie wieder in die Hocke und legte Susi die flachen Perlen aus grüner Jade um den Hals.

„Passt du für mich darauf auf?“

Der letzte Rest Traurigkeit wich aus dem Gesicht des Mädchens und machte einem stolzen Grinsen Platz.

„Ich werde sie hüten wie mein Apfelauge… äh ich meine Augapfel!“

Die Kinder stürmten davon und ließen Alera wieder mit dem Kerl alleine, welcher auch prompt die Gelegenheit nutzte und sie am Handgelenk packte.

„So, wir beide haben jetzt ein bisschen Spaß!“

Mit diesen Worten drückte er sie gegen die Säule.

„Den kannst du alleine haben, lass mich in Ruhe!“

Alera versuchte ihn wegzuschieben, doch der Mann lachte nur und lies eine Hand an ihrem Bein hochwandern.

„Die Hart zu kriegen Masche? Wie drollig!“ die Hand legte sich auf ihren Hintern.

„Aber mal ehrlich: hier weiß doch jeder, dass du ein Flittchen bist!“

Wieder drückte er seinen Mund auf ihren und Alera machte sich bereit ihn zu beißen, zu kratzen oder zu treten, als sein Gewicht plötzlich wie von Zauberhand verschwunden war.

Verwirrt blinzelte sie, drehte den Kopf und sah, wie der schnuckelige Polizist (Joel? Noel? Irgendwas in der Art!) dem Mistkerl den Arm auf den Rücken drehte und ihn gegen die Wand drückte.

Der Kerl ließ einige schwer verständliche Beschwerden von Stapel (mit dem Gesicht gegen die Wand sprach es sich schlecht!), aber Noel schnitt ihm das Wort ab.

„Sie hat mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie kein Interesse hat! Also mach das du verschwindest, bevor ich die Handschellen raushole und dich wegen sexueller Belästigung verhafte!“

Die Drohung schien zu wirken, schließlich konnte der Kerl ja nicht wissen, dass Noel gar keine Handschellen dabei hatte.

Also machte er brav den Mund zu und trollte sich sobald er losgelassen wurde, allerdings nicht ohne noch einmal einen begehrlichen Blick auf Alera zu werfen, der Öl in die Flammen von Noels Zorn goss.

Nur die Hand die sich auf seinen Unterarm legte hielt ihn davon ab, den Kopf dieses Wichtigtuers gegen die Wand zu knallen.

„Danke!“

Er konnte Erstaunen und Dankbarkeit in ihrem Gesicht ablesen, dann senkte sie den Blick um ihr jadegrünes Kleid glatt zu streichen.

„Kein Problem!“

Langsam flaute seine Wut ab und er konnte wieder klar denken.

„Jeder andere hätte dasselbe getan!“

„Ach wirklich?“

Alera hob spöttisch die Augenbrauen.

„Ich hatte nicht den Eindruck dass irgendjemand vorhatte mir zu helfen!“

Noel rief sich in Erinnerung wie die Leute weggesehen, die Augen verdreht oder den Kopf geschüttelt hatten und kann zu dem Schluss, dass sie recht hatte.

„Aber warum nicht?“

Wie konnte man wegsehen, wenn sich ein Mann einer Frau so dermaßen offensichtlich aufdrängte?

Alera zuckte mit den Schultern.

„Vermutlich dachten sie ich hätte ihn ermutigt!“

Ihre Stimme klang gleichgültig, aber sie wandte das Gesicht nicht schnell genug ab und so sah er für einen Moment den feuchten Schimmer in ihren Augen, bevor sie ihn einfach stehen lies und mit eiligen Schritten auf die riesigen Balkontüren zulief.

Alera brauchte frische Luft!

Sie hatte das Gefühl zu ersticken wenn sie nur einen Moment länger in diesem Raum blieb, also öffnete sie eine der Glastüren und schlüpfte hinaus auf die Terrasse.

Die Luft war eisig und bis sie beim Geländer angekommen war zitterte sie bereits, aber wenigstens kamen ihre Gedanken zur Ruhe, die Übelkeit ließ nach und machte einem seltsamen Kribbeln Platz, aus dem prompt Schmetterlinge wurden als ihr ein Jackett um die Schultern gelegt wurde.

Der Geruch seines Aftershaves stieg ihr in die Nase, als sie den Stoff enger um sich herum zusammen zog und brachte die Schmetterlinge dazu einen Cha-Cha-Cha in ihrem Magen zu tanzen.

„Ob Sie ihn ermutigt haben oder nicht, er hatte kein Recht darauf sich Ihnen aufzudrängen! Insbesondere da sogar ich über mehrere Meter Entfernung sehen konnte, dass seine Avancen unerwünscht waren!“

Noel lehnte sich neben ihr an die Brüstung, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf, einen ungläubigen Ausdruck in den babyblauen Augen.

„Und Gewalt gegenüber Frauen ist in meinen Augen eines der größten Tabus!“

Die Falter stellten das Tanzen abrupt ein und Alera warf sich selbst alle möglichen Beleidigungen an den Kopf.

Der Mann war Polizist, Menschen aus der Patsche zu helfen war sein Job und im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen nahm er das offenbar ernst.

Sie durfte nicht zu viel in sein Verhalten hineininterpretieren, vermutlich hätte er sich bei jeder anderen Frau genauso verhalten!

„Mein Name ist Alera Benett von Siegel und für die meisten Leute kommt das einem Freibrief gleich!“

Was zur Hölle tat sie da?

Warum erzählte sie ihm, was sonst keinen interessierte?

„Was hat Ihr Name damit zu tun?“

Weil seine Meinung ihr wichtig war!

Er hatte ihr geholfen und sie wollte das er wusste, dass die Gerüchte über sie genau das waren: Gerüchte!

Damit er ihr auch in Zukunft half!

„Eigentlich stamme ich aus der Mittelschicht, mein Vater war Klempner und wir hatten nie viel Geld!“

Das stimmte zwar nicht ganz, aber über die Abstammung ihrer Mutter sahen sie Leute meist sowieso hinweg, also zählte das kaum.

„Nach dem Tod meines Vaters adoptierten mich Richard und Beatrice und plötzlich waren da all diese Leute um mich herum!“

Das naive Kind von damals hatte ihre Lügen für bare Münze genommen und sie waren wie die Geier über sie hergefallen.

„Alle Mädchen wollten meine Freundinnen sein und die Jungs wollten mit mir ausgehen und dumm wie ich war lies ich mich darauf ein. Mit der Zeit wurde es zum Statussymbol: ‚Hey Leute, ich habe es geschafft Alera dazu zu bringen mit mir auszugehen!‘“

Damals hatte sie das Gerede nicht hören wollen, hatte nicht glauben wollen das ihre ‚Freunde‘ zu so etwas fähig waren.

Heute erkannte sie ihr Verhalten als das Wunschdenken eines einsamen Mädchens, das sich an jeden Strohhalm klammerte.

„Dann wollte sich irgendein Idiot besonders wichtig machen und behauptete, ich hätte mich ihm richtiggehend an den Hals geworfen, angeblich sind wir sogar im Bett gelandet!“

Ein humorloses Lachen, schließlich hatte sie seine Einladung ausgeschlagen!

Vermutlich hatte er nur sein angeknacktes Ego mit einer besonders aufregenden Geschichte wieder aufpäppeln wollen.

„Die anderen zogen mit und aus harmlosen Kinobesuchen wurden wilde Knutschereien, aus Restaurantbesuchen wurde Sex und ehe ich mich versah hatte ich mich angeblich einmal durch die Schule gevögelt. So ein negatives Image wird man nie wieder los…“

Als Richard und Beatrice reagiert hatten war der Schaden schon angerichtet, auch der Wechsel auf die teure Privatschule die Damian besuchte hatte nichts genutzt, die Gerüchte waren schon vor ihr dort angekommen.

Irgendwann hatte sie einfach aufgegeben und angefangen, sich ihren Ruf zu Nutze zu machen.

Gekleidet in Miniröcke und Röhrenjeans, die Oberteile bauchfrei oder tief ausgeschnitten schaffte sie es zumindest der Welt vorzugaukeln, dass das Gerede sie völlig kalt lies.

Auch wenn sie nach wie vor kaum etwas tat um diesem Ruf gerecht zu werden, wurde ihre Kleidung zu ihrer Rüstung, genauso wie ihr oberflächliches Verhalten und die Leute glaubten es, da es zu allem passte was sie hörten.

Jetzt, etwa fünf Jahre später, erwischte Alera sich bei dem Wunsch die Zeit zurückzudrehen und wieder zu dem Kind von damals zu werden.

Aus irgendeinem Grund wollte sie sich Noel gegenüber nicht für das Verhalten von anderen Leuten rechtfertigen müssen.

Verwirrt von ihren eigenen Gedanken streifte sie die Jacke ab, drückte sie ihm in die Hand und verabschiedete sich.

„Ich ähm… sollte mal nach Nicky schauen, er hat sich in meinem Zimmer hingelegt!“

Den Rest des abends verbrachte Alera damit sich einzureden, dass das Kribbeln in ihrem Bauch von zu vielen süßen Törtchen kam und nicht von Noels Abschiedslächeln.



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