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Seelensplitter

von

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Nicky

Sie wollen also wissen, warum man mir einen kleinen Jungen anvertraut hat?

Natürlich habe ich einen zweifelhaften Ruf, aber sie wissen ja wie das mit Gerüchten ist… man sagt ‚mir ist schlecht‘ und drei Tage später fragen die Leute, ob man schon weiß ob es ein Junge oder ein Mädchen wird…
 

***
 

Alera verteilte Make-Up auf dem blauen Fleck, der sich auf ihrem Schlüsselbein befand.

Das passierte, wenn ein Plan nach hinten losging!

Mit einem Schlägertyp wurde sie fertig, zwei waren allerdings ein Problem.

Sie konnte von Glück reden, dass nichts gebrochen und ihr Gesicht in Ordnung war.

So musste sie sich keine Ausrede ala 'ich bin zu blöd eine Tür zu öffnen' einfallen lassen und die meisten Leute würden ihn für einen Knutschfleck halten, wenn der Bluterguss ihnen überhaupt auffiel.

Seufzend legte sie das Schminkzeug beiseite und fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken, die sich offen über ihren Schultern kringelten.

Ein letzter Blick in den Spiegel, dann verlies sie ihr Zimmer, zog Jacke und Schuhe an und stieg in ihr Auto.
 

Lydia wartete an der Türe auf sie und als erstes bemerkte Alera, dass die Ringe unter ihren Augen noch dunkler waren als beim letzten Mal.

"Alles in Ordnung?"

Die Antwort war ein nicht besonders glaubhaftes "jaja" und Alera nahm sich vor, mit Holger über sie zu sprechen.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Sozialarbeitern stumpfte Lydia nämlich nicht ab, sondern nahm sich alles so sehr zu Herzen, das sie unweigerlich auf einen Nervenzusammenbruch hinsteuerte.

"Und wie geht es dem Jungen?" deswegen war sie ja schließlich hier.

Offenbar gab es mal wieder einen problematischen Neuzugang.

"Er isst, er schläft und wenn man ihn etwas direkt fragt, dann antwortet er, wenn auch nur mit 'ja' und 'nein'. Ansonsten starrt er die meiste Zeit ins Nichts."

Na das klang ja wunderbar!
 

Nicky saß auf seinem 'neuen' Bett, hatte die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen und die Stirn auf den Knien abgelegt.

Er wollte niemanden sehen, er wollte mit niemandem sprechen.

Weder mit den Leuten vom Heim, noch mit den anderen Kindern und schon gar nicht mit dieser Alera, die man offenbar seinetwegen angerufen hatte.

Wer war das überhaupt?

Und warum sollte sie ihn zum Reden bringen?

Verdammt!

Er wollte zu seinem Großvater!

Oder zu der Frau in schwarz!

Sie würden ihn verstehen, bei ihnen würde er sich sicher fühlen.

Doch sein Opa war tot und der Polizist hatte die Frau verjagt, bevor er nach ihrem Namen hatte fragen können.

Wie sollte er sie jetzt wiedersehen?

Er war allein, ganz allein!

Schritte auf dem Flur, die vor seiner Tür hielten brachten ihn dazu, sich enger zusammenzurollen und die Tränen zurückzudrängen, die in seinen Augen brannten.

Die Tür öffnete sich und man hörte das Klacken von Absätzen auf dem Boden, zusammen mit flachen Schuhen.

Konnte man ihn nicht einfach alleine lassen?

Der Parfümgeruch traf Nicky völlig unvorbereitet.

Dieser blumige Duft, den er nur ein einziges Mal gerochen und der sich trotzdem in sein Gedächtnis eingebrannt hatte.

Noch bevor er wusste was er tat oder irgendjemand etwas sagen konnte, war er aufgesprungen und hatte die Arme um den Hals der Frau geschlungen.

"Du bist gekommen!" murmelte er gerade so laut, dass sie es hören konnte, nur um dann seinen Tränen endlich freien Lauf zu lassen.

Und als sich ihre Arme um ihn schlangen, eine Hand über seinen Rücken strich und eine bekannte Stimme beruhigenden Unsinn murmelte fühlte Nicky sich zum ersten Mal seit Tagen sicher.
 

Als sie den Jungen auf dem Bett hatte sitzen sehen war Alera im ersten Moment wie gelähmt gewesen.

Was machte er hier?

Warum war er nicht bei seinem Großvater?

Doch bevor sie irgendeine Frage stellen konnte lag ein zitterndes und schluchzendes Kind in ihren Armen und flüsterte tonlos: "Du bist gekommen!"

Entschlossen schüttelte sie ihre Schreckstarre ab, setzte sich aufs Bett und zog den Jungen auf ihren Schoß, während sie wiedermal beruhigende Floskeln von sich gab.

So langsam wurde sie darin richtig gut!

Irgendwann schlief der Junge (Nicky, sein Name war Nicky) erschöpft in ihren Armen ein, sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, die Arme hingen schlaff an ihrem Oberkörper hinab.

Im leisen Flüsterton erzählte Lydia, dass Nicky und sein Großvater überfallen worden waren (was Alera natürlich schon wusste), dass der ältere Mann auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben war und der Junge keine lebenden Verwandten mehr hatte.

"Ich hoffe, ich finde eine Familie für ihn!" meinte die Sozialarbeiterin, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie sich keine Hoffnung machte.

"Er scheint ein guter Junge zu sein... du findest bestimmt schnell jemanden!"

Alera legte ihr aufmunternd die Hand auf die Schulter.

"Aber die meisten Leute wollen Babys oder Kleinkinder adoptieren und dass er nachts Albträume hat... das hilft der Sache nicht gerade!"

Lydia lies den Kopf hängen und schloss die Augen, sie wirkte müde und abgekämpft.

Mit einem tiefen Seufzer erhob sich Alera, legte Nicky vorsichtig auf sein Bett und zog ihm die Decke bis zum Kinn hinauf.

Wie gerne würde sie bleiben, sich neben ihm zusammenrollen um die Albträume fernzuhalten…

Stattdessen strich sie ihm sanft übers Haar und schlich so leise es ihre High Heels erlaubten aus dem Zimmer.
 

Die Idee den Jungen bei Alera unterzubringen kam Lydia einen Monat später.

„Er reagiert doch sowieso fast ausschließlich auf dich und solange ich keine Pflegefamilie für ihn finde…“

Vor Schreck hätte Alera beinahe die nächste Stufe verpasst.

„Wie bitte? Das… das geht doch nicht!“

„Wieso? Ihr kommt doch gut miteinander aus, oder nicht?“

„Und das reicht? Du gehst einfach zu Frau Knoblich und sagst ‚hey, Alera und Nicky kommen gut klar, warum bringen wir ihn nicht bei ihr unter?‘ Himmel, ich habe noch nicht mal ein festes Einkommen!“

Lydia zuckte mit den Schultern.

„Du bist reich!“

Alera wiederstand dem Drang sich die Haare zu raufen, stattdessen schüttelte sie fassungslos den Kopf.

„Reich sein reicht aber nicht. Außerdem bin ich nicht reich!“

Gut situiert vielleicht oder wohlhabend, aber doch nicht reich!

Obwohl… das Erbe ihres Großvaters müsste doch eigentlich als finanzielles Polster reichen.

„Ich denke darüber nach!“

Momentmal!

Das hatte sie doch nicht wirklich gesagt, oder?

Lydias strahlendem Lächeln nach zu urteilen wohl doch.

Klasse!

Leise mit sich selbst schimpfend stieg sie ihn ihren Audi, stieß sich den Kopf am Türrahmen (was die Lautstärke ihrer Schimpftriade beachtlich steigerte) und fuhr nach Hause.

Sie konnte doch kein Kind adoptieren!

Ein Desaster wäre vorprogrammiert!

Sie würde Lydia anrufen und sagen, dass das eine Schnapsidee war!

Genau das würde sie tun.
 

„Wäre es in Ordnung, wenn ein Junge hier wohnen würde?“

Okay, es gab bessere Wege das Thema zur Sprache zu bringen als einfach in Richards Arbeitszimmer zu platzen, aber Alera hätte diese Tatsache nicht egaler sein können.

Sie hatte sich die ganze Nacht schlaflos hin und her gewälzt, Nickys blasses Gesicht vor Augen, während in ihrem Kopf zwei Stimmen eine hitzige Diskussion um das Thema Adoption führten.

Nicht zu vergessen ihr Helferkomplex, der sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte!

Irgendwann mitten in der Nacht hatte sie dann aufgegeben und sich eingestanden, dass es eigentlich keine Entscheidung zu treffen gab.

Sie hatte Nicky helfen wollen, noch bevor Lydia überhaupt den Vorschlag gemacht hatte.

Deswegen stand sie hier und lies sich anstarren, als hätte sie gerade verkündet sich das Haar grünfärben zu wollen.

Oder hatte sie etwas im Gesicht?

„Ähm… nun… Alera meine Liebe…“

Die Angesprochene verdrehte innerlich die Augen.

Wenn Beatrice sie ‚meine Liebe‘ nannte war das kein gutes Zeichen.

„Wie heißt der junge Mann denn? Und was macht er beruflich?“

Junger Mann?

Beruflich?

Einen Moment lang hatte Alera keine Ahnung von was hier die Rede war, dann fiel der Groschen mit lautem Scheppern.

Die Beiden glaubten doch tatsächlich, dass sie ihren Freund hier einziehen lassen wollte.

„Kein Mann, ein Junge! Er ist erst neun und hat niemanden, der sich um ihn kümmert! Und weil ich so oft im Heim bin…“

„Du willst ein Kind adoptieren? Einfach so? Alera, das ist eine wichtige Entscheidung…“

„Ich will nicht einfach so irgendein Kind adoptieren!“ Alera stemmte die Hände in die Hüften und warf einen wütenden Blick in Richtung Beatrice.

„Ich will Nicky adoptieren! Ich habe darüber nachgedacht! Großvaters Erbe reicht als finanzielles Polster, bis ich mit der Schule fertig bin und…“

„Alera! Ein Kind ist kein Haustier! Du kannst nicht einfach…“

„Was kann ich nicht einfach?“

Himmel, in diesem Gespräch gab es mehr halbfertige Sätze als sonst etwas!

„Ihn in ein Zimmer setzen und ignorieren, wie ihr es mit mir gemacht habt? Keine Sorge, das weiß ich!“

„Wir haben dich nicht ignoriert!“

Beatrice sah ernsthaft verletzt aus.

„Aber ihr habt euch auch nicht sonderlich um mich gekümmert!“ Aleras Stimme brach.

„Es war Lucas, der mich nachts in den Armen hielt wenn ich nicht schlafen konnte; Emmett, der mir geholfen hat meinen Wintergarten zu bepflanzen und Lucia, die mir das Gefühl gab hier erwünscht zu sein. Euch habe ich meist nur beim Essen gesehen!“

Richard war mit der Leitung der Familienunternehmen viel zu beschäftigt und Beatrice mit einem verstörten Teenager schlicht und ergreifend überfordert gewesen.

Damians damalige Trotzphase hatte der angespannten Situation ebenfalls nicht gutgetan.

Alera holte tief Lust um sich zu beruhigen.

„Nicky und ich, wir haben beide ähnlich traumatisierende Erfahrungen gemacht. Darum verstehen wir einander, können uns gegenseitig helfen. Und wenn ihr mich dabei nicht unterstützen wollt, dann ziehe ich eben aus!“

Mit diesen Worten warf sie ihr Haar zurück, drehte auf der Ferse herum und stolzierte mit dem Vorsatz aus dem Raum, sich eine riesen Portion von Bettys Keksen einzuverleiben.
 

„Was denkt sich das Kind nur dabei?“

Beatrice warf die Hände in einer hilflosen Geste in die Luft.

„Das kann doch nicht gutgehen! Sie hat keine Ahnung, auf was sie sich einlässt!“

Richard, der kein Wort gesagt hatte seit Alera sein Arbeitszimmer betreten hatte, hob eine Augenbraue.

„Das hatten wir doch auch nicht, oder? Und Alera hat recht, sie kann sich viel besser in ihn hineinversetzen als wir es bei ihr je könnten!“

Mit einem tiefen Seufzer ließ seine Frau sich in einen der Ledersessel auf der anderen Seite des Tisches sinken.

„Außerdem ist Alera nicht zweitbeste ihres Jahrgangs weil sie so dumm ist. Sie wird es schaffen den Jungen bei sich aufzunehmen, ob mit oder ohne unsere Hilfe.“

„Das weiß ich doch alles auch!“

Beatrice fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und lehnte sich im Sessel zurück.

„Sie sieht ihrer Mutter nur so verdammt ähnlich… dass es mir manchmal schwerfällt mich in ihrer Gegenwart normal zu verhalten. Meine Reaktionen sind stellenweiße sogar für mich unverständlich! Diese gottverdammte Eifersucht! Und das auf eine Tote!“

Ihre Schmalen Hände fuhren durch ihr rotbraunes Haar, worauf sich ein paar Strähnen lösten und in ihr Gesicht fielen.

„Bea! Du hast keinen Grund eifersüchtig zu sein! Nadja hat sich für Maxime entschieden und ich mich für dich! Ich wollte Alera adoptieren um der Tochter einer alten Freundin zu helfen, nicht weil ich ein Erinnerungsstück an Nadja wollte.“

„Aber du hast sie geliebt!“

Richard lehnte seine Stirn gegen ihre und griff nach ihren Händen.

„Ja das habe ich. Aber das war vor über zwanzig Jahren! Jetzt habe ich dich, die Mutter meines Sohnes, meine größte Stütze, mein ein und alles!“

Ein sanfter Kuss auf ihre Stirn.

„Und gegen das was ich für dich empfinde kommen mir meine Gefühlen für Nadja absolut lächerlich vor!“
 

We're picture perfect

Sweet like candy

I'll be your girl

Yeah

I'll be your baby

Picture perfect

Barefoot beauty

You stole my heart

Just like in a movie

Got the key to me

Tell me, tell me

I'm your darling daisy

Picture perfect

Sweet like candy

I'll be your girl

Yeah

I'll be your baby
 

Alera balancierte einen großen Teller mit Zitronenkeksen auf einer Hand durch das Anwesen, als sie die Musik hörte.

Offenbar war Jasmine mal wieder ‚zum Üben‘ hergekommen, auch wenn jeder andere behaupten würde, dass sie und Damien eher damit beschäftigt wären einander anzuhimmeln.

Wie viele Liebeslieder Jasmine wohl noch singen musste bis er begriff, was jeder andere auf den ersten Blick sah?

Wie viele Komplimente und Origamiblumen von Damian waren noch nötig bis sie begriff dass sie das einzige Mädchen war, das ihn interessierte?

Alera zuckte mit den Schultern, steckte sich einen der Kekse in den Mund und ging weiter in ihr Zimmer.

Nach dem was beim letzten Mal passiert war würde sie Jasmine in keiner weiße helfen.

Sollte sie doch selbst sehen wie sie zurechtkam!

Alera hatte wichtigeres zu tun!
 

Nicky hatte absolut keine Lust mit der Sozialarbeiterin zu reden die sich neben ihn auf das Bett setzte, also starrte er weiterhin aus dem Fenster.

Wenn er sie lange genug ignorierte würde Lydia hoffentlich wieder gehen.

„Ich habe mit Frau Knoblich geredet… Sie wäre einverstanden dass wir dich bei Alera unterbringen, bis wir eine Familie für dich gefunden haben!“

Nickys Kopf fuhr herum.

„Ich darf bei Alera wohnen? Wirklich?“

„Ja wirklich!“

Die Frau nickte bestätigend.

Zwei Wochen später trug Alera seinen Koffer in eine Wohnung im Dachgeschoss eines sechsstöckigen Hauses und legte ihn auf ein Bett.

„So Nicky, dass hier ist dein Zimmer! Du musst nur noch deine Sachen in die Regale räumen.“

Nicky antwortete nicht, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem grünen Plüschelefanten, der auf der Bettdecke saß.

Vorsichtig griff er danach und strich mit der rechten Hand über den samtigen Stoff.

„Ein kleines Willkommensgeschenk. Ich hoffe er gefällt dir! Ich habe einen blauen.“

Wortlos nickte der Junge und wischte sich eine Träne weg.

Zum ersten Mal seit dem Tod seines Großvaters fühlte er sich willkommen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Jasmines Lied 'Picture Perfect' ist leider nicht von mir, sondern von Charity Vance Komplett anzeigen

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