Zum Inhalt der Seite

Falte die Flügel auf und Flieg

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Der Gesang der Vögel wurde von Sekunde zu Sekunde lauter. Sie kündigten das Erscheinen der Sonne an. Nur noch wenige Augenblicke trennten uns von ihren ersten Strahlen. Immer mehr Vögel stimmten in den Gesang ein. Sie sangen von der Luft, dem Morgen, der bald erscheinenden Sonne, die uns Kraft gab, von dem, was der Tag uns bringen mag und von dem Glück ein Teil dieser Welt zu sein. Jede Stimme passte sich an, so dass eine wohltuende Melodie die Wälder und Felder durchströmte. Eine Melodie, die die Söhne und Töchter der Natur sanft aus ihrem Schlaf weckte.

Das Lied hörte sich jeden Morgen anders an und doch irgendwie gleich. Es gab keine Vorgaben, keine Noten, keine Texte. Nur einen Titel: "Erwachen". Dieser wurde aber von keinem Vogel je genannt. Nein, die Vögel redeten nicht darüber. Sie übten auch nicht. Sie konnten es einfach. Tief in ihrem Inneren kannten sie die Melodie ohne sie je gehört zu haben. Ein Phänomen, welches wir noch nicht entschlüsseln konnten. Eines von vielen.

Die Menschen glauben, dass wir Toninos alle Geheimnisse der Vögel kennen müssten, da wir ihnen sehr ähnlich sind. Doch das ist Schwachsinn. Nur weil wir Flügel und Federn haben, heißt das noch lang nicht, dass wir Vögel sind und so denken wie sie. Aber es stimmt schon. Wir haben sehr viele Gemeinsamkeiten in unserer Lebensweisen mit ihnen. Um genau zu sein, genau so viel wie mit den Menschen.

Einige unserer Art beherrschen das Lied des Erwachens und stimmen jeden Morgen mit ein. Die meisten jedoch lauschen ihm lieber – so wie ich. Es gibt nichts Schöneres als in der Morgendämmerung in den Baumwipfeln zu sitzen und sich von dem Gesang verführen zu lassen.
 

Die Sonne erschien und tauchte das gesamte Land in wärmendes Licht. Das Lied versickerte und zurück blieb nur der gewöhnliche, halb so laute Sing-Sang der quasselnden Vögel. Es wurde Zeit fürs Frühstück. Ich kletterte in das tiefe Geäst der Bäume, hangelte mich von einem Ast zum andern, von einem Baum zum andern, bis ich unser Nest erreichte. Ich sollte es lieber Baumhaus nennen, denn ein offenes Nest, wie die Amseln es bauten, war es nicht. Kaum erreichte ich den kräftigen Ast, auf welchem es errichtet war, kamen mir auch schon meine jüngsten Geschwister entgegen. "Pavek, Pavek. Hast du es gehört? Hast du sie singen hören?", Maike, Lala und Jazu sprangen aufgeregt auf und ab. Mir blieb nur einen Moment um zu nicken, bevor Jazu anfing überhastig zu berichten: "Weißt du was heute für ein Tag ist? Heute dürfen wir das erste Mal mit den anderen Kindern drüben in der alten Eiche klettern! Das wird toll! Willst du mit?" "Jazu, dein Bruder muss in die Schule, um zu lernen. Er kann nicht mit euch mit.", meine Mutter, ähm… unsere Mutter antwortete wieder einmal für mich. Eigentlich machte sie das so gut wie immer. Echt nervig. "Kommt, lasst uns frühstücken!", fügte sie noch hinzu.

Nach dem Frühstück machte ich mich auf dem Weg zur Schule. Es war ein wenig anstrengend, da diese sich außerhalb des Waldes in den Bergen, besser gesagt in einer Felswand lag. Wenn man flog brauchte man maximal zehn Minuten. Für mich war es jedes Mal ein absoluter Sportakt.

Ich war als einziger Tonino nicht fähig zu fliegen. Ich habe es nie gelernt. Egal wie oft meine Eltern, Lehrer, Ärzte versucht haben es mir beizubringen, es hat nicht geholfen. Ich habe es nie gelernt. Ich zweifelte oft an mir selbst. So schwer war das doch nicht, oder? Es liegt uns eigentlich im Blut! Meine Eltern waren mit mir bei vielen Ärzten. Doch alle hatten keine Lösung. Ich war gesund. Mir fehlte nichts. Und doch konnte ich nicht fliegen. Mittlerweile sind sechzehn Jahre vergangen ohne dass ich einmal selbstständig in der Luft war. Mir blieb nichts anderes übrig als zu klettern und zu laufen. Für meinen Schulweg brauchte ich eine geschlagene Stunde. Ein Grund, weshalb ich dort nicht gern hinging. Der andere Grund war der, dass mich dort alle nur hänselten und auslachten. Ich hatte keine Freunde. Ein tapferer Einzelgänger. Sehr oft schwänzte ich einfach die Schule. Ich kam vom Weg ab und genoss das rege Treiben im Wald. Der Wald bot mir Schutz.
 

So auch an diesem Morgen. Ich hörte ein ängstliches Fiepen vom Grund des Waldes, aus dem Untergehölz. Ich machte mich also auf, dem Fiepen entgegen. Das Fiepen war nun ganz nahe, doch ich konnte nichts sehen. Ich untersuchte den Boden ab. Und da, zwischen den Brennnesseln, da saß etwas kleines weißes Flauschiges. Ein Küken! "Es muss aus dem Nest gefallen sein.", dachte ich mir und schaute automatisch nach oben in die Baumwipfel. Auf den ersten Blick sah ich nichts. Ich schaute mir nun erst mal das Küken an. Es sah nicht so aus, als sei es verletzt. Unaufhörlich fiepte es mich an. Ich vermutete, dass es ein Bussardküken sein müsste. Wo waren bloß die Eltern? Von ihnen fehlte jegliche Spur. Vorsichtig hob ich den kleinen Piepmatz auf und verstaute ihn in meinem Beutel. Dann kletterte ich den Baum hoch, um das Nest zu suchen.

Nach stundenlangem Suchen gab ich auf. Hier war kein Horst. Nicht mal ein Altvogel erschien. Möglicherweise wurde der Horst durch irgendetwas zerstört. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als das Küken mit zunehmen und aufzupäppeln. Was hätte ich sonst tun sollen?
 

In meinem Lieblingsbaum einer alten Gelb-Kiefer baute ich meinem kleinen Freund einen neuen Horst. Er schien sich sichtlich wohl zu fühlen in seinem neuen Heim. Nun musste ich dem Kleinen noch was zum Essen besorgen. Ich machte mich also auf zur Jagd. Toninos sind leidenschaftliche und begabte Jäger, solange sie fliegen können. Wir lernen das Jagen kurz nachdem wir fliegen gelernt haben. Ich aber habe das Jagen vor dem Fliegen gelernt und habe somit auch meine ganz eigene Jagdmethode. Dazu zählt Geduld, Abwarten und Zuschlagen. Auf einem geeigneten Ast in sieben Metern Höhe stellte, beziehungsweise hockte ich mich und wartete mucksmäuschenstill ohne mich zu bewegen.

Ein Kaninchen tauchte auf. Aber dieses Interessierte mich nicht. Es war fiel zu groß für das kleine Küken. Also weiter warten.

Nach etlichen Minuten der Stille tauchte plötzlich ein weiteres Säugetier auf. Es war ein Erdhörnchen. Jetzt hieß es den richtigen Moment erwischen! Und schon war er da: Ich sprang vom Ast und stürzte auf das kleine Lebewesen runter. Mein linker Fuß packte das Tierchen, mit meinem rechten federte ich den Sprung ab und rollte mich anschließend ab. Währenddessen stieß ich dem Erdhörnchen einer meiner Krallen in den Schädel. Sekunden später war es bereits tot.
 

Ich kehrte zum Horst zurück. Dort angekommen balgte ich meinen Fang ab. Das heißt, ich enthäutete es. Danach entfernte ich den Kopf und den Verdauungstrakt. Die restlichen Organe legte ich vorerst beiseite. Die Milz verfütterte ich gleich an meinen kleinen Freund. Dann teilte ich den Rest der Beute in zwei Hälften. Die eine war für den kleinen Bussard, die andere für mich. Ich hatte einen riesen Kohldampf, da ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Ich gab dem kleinen noch die Leber, das Herz und den Brustkorb. Das sollte fürs erste reichen. Und tatsächlich schien er zufrieden zu sein. Froh darüber aß ich meine Hälfte. Toninos essen sowohl rohes als auch gekochtes oder gebratenes Fleisch. Es gab aber nichts Besseres als frisch geschlagene Beute. Das Fleisch war noch warm und das Blut kaum geronnen, den Puls noch leicht zu spüren. Unbeschreiblich köstlich. Nach meinem Mahl packte ich den restlichen Teil für den Bussard beiseite. Der Kleine sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, sich selbst zu bedienen. Ich verbrachte den Tag in meiner Kiefer, ganz in der Nähe meines Schützlings. Dieser schlief die meiste Zeit. Dreimal fütterte ich ihn noch. Die letzte Mahlzeit erhielt er mit Fell, damit er über Nacht ein Gewölle bilden konnte. Bevor ich mich auf dem Heimweg machte, verdeckte ich das Nest mit einem Ast. Darauf legte ich meine Weste, damit Raubtiere durch den Geruch hoffentlich abgeschreckt werden. Und der Kleine sollte auch nicht erfrieren.
 

Zuhause angekommen erwartete mich auch schon meine missgelaunte Mutter: "Zum Kuckuck nochmal, wo warst du?" "In der Schule", antwortete ich. "Pavek Casco von Albatra lüg mich nicht an!", sagte sie energisch während sie mich am Arm packend zu sich ran zog. Ich glaube, sie war sauer. "Dein Lehrer hat mir soeben etwas ganz anderes erzählt. Er meinte, du seist heute gar nicht erst in der Schule erschienen. Und anscheinend ist das schon das zehnte Mal in diesem Monat. Was sagst du dazu?", sie schaute mich eindringlich an. Jep, sie war sauer. Im Hintergrund sah ich Prof. Longwood an unserem Tisch sitzen. "Wenn er das sagt, so wird es wohl stimmen.", meinte ich leise. "Ist das alles? Willst du uns nicht erzählen wo du dich eigentlich rumgetrieben hast?", sie wurde immer lauter. "Nein", gab ich von mir. "Komm Junge! Setzt dich zu mir!", diesmal sprach Prof. Longwood ruhig und geduldig, bevor meine Mutter vor Wut ausbrechen konnte. Ich setzte mich, so wie mir gesagt wurde. "Pavek, irgendwas stimmt mit dir nicht. Was ist los? Was bedrückt dich?" Ich schwieg. Nach einer Weile gab ich kleinlaut bei: "Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur mal wieder verlaufen." "Das passiert dir in letzter Zeit erstaunlich oft.", bemerkte der Professor, "kannst du dir erklären warum?" "Ich weiß nicht, der Wald sieht in letzter Zeit so anders aus. Früher kannte ich ihn, jeden Winkel, als hätte ich ihn selbst errichtet. Doch zurzeit fühl ich mich wie ein Fremder, der erst seit kurzem angereist ist." Ich erschrak. Wie leicht mir diese Worte doch von den Lippen kamen, als entsprächen sie der Wahrheit. Vielleicht war dieses genau der Fall und ich habe es noch gar nicht bemerkt. "Unsinn! Keiner der Toninos kennt den Wald so gut wie ich. Warum sollte mir dieser auf einmal nach 16 Jahren fremd sein? Das ergab keinen Sinn!", redete ich mir ein. Bevor ich allerdings noch weiter Gedanken darüber verlieren konnte, spürte ich nur noch diesen stechenden Schmerz auf meiner rechten Wange, der sich bis zu den Ohren hin zog. Er war so gewaltig, dass für einen Moment, mein Gehirn aussetzte. Als es wieder einigermaßen funktionstüchtig war, musste ich feststellen, dass meine Mutter direkt vor mir stand und mir anscheinend eine Ohrfeige erteilt hatte. Dazu vernahm ich allmählich den Satz: "Pavek, hör endlich auf uns anzulügen!", welcher bereits eine Weile im Raum schweben musste.

"Mrs. Albatra, Gewalt löst unser Problem nicht.", hörte ich Prof. Longwood sagen. Ich versuchte mich zu sammeln, meine Gedanken wieder zu ordnen: "Meine Mutter hatte mich gerade geschlagen, weil ich ihrer Meinung nach lüge. Prof. Longwood sitzt an unserem Esstisch, weil ich heute nicht in der Schule erschienen bin. Ich hatte mich im Wald verlaufen und war deshalb nicht in der Schule. Und wo war jetzt das Problem?" Neben meinen Gedanken hörte ich ein Fiepen in meinem Kopf. "Der Bussard! Deshalb war ich nicht im Unterricht. Hatte ich mich dann überhaupt verlaufen?" Meine Gedanken blieben wirr. Und je mehr ich versuchte über das Geschehene nachzudenken, desto öfter musste ich an mein kleines Küken denken. Es fühlte sich bestimmt einsam.

Ich merkte, dass Prof. Longwood mich besorgt anstarrte und auf irgendetwas wartete. Als nichts geschah fragte er mich: "Hast du mich verstanden? Hast du gehört was ich gesagt habe?"

Was wollte er von mir? "Ich befürchte nein.", gestand ich, da er mich noch mehr verwirrte, als ich eigentlich schon war. "Alles in Ordnung mit dir?", wollte er diesmal wissen. Worauf ich wahrheitsgetreu sagte: "Ich bin etwas verwirrt." Prof. Longwood stand auf und war im Begriff zu gehen. Er drehte sich allerdings noch mal zu mir um und sagte: "Geh ins Bett, Junge. Wir sehen uns morgen im Unterricht." Zu meiner Mutter meinte er nur: "Es hat keinen Sinn ihn heute noch weiter zu Löchern." Damit ließ er sie genau so verwirrt zurück wie mich.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück