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Schwarz: Initiation

mit wildest_angel
von

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Beurteilungen, Testergebnisse, Trainingsberichte…

Er nahm die Brille ab und rieb sich über die Augen. Seit Stunden brütete er nun schon über den Akten, las und verglich, und kam doch nur wieder zu dem Entschluss, der, wenn er ehrlich war, von Anfang an festgestanden hatte. Von dem Moment an, als die SZ-Ältesten ihn zu sich beordert hatten, um ihm mitzuteilen, dass er von nun an ein eigenes Team leiten sollte. Bisher war er ein Springer gewesen, hatte je nach Bedarf bei den bestehenden Gruppen mitgearbeitet, was ihm auch sehr gelegen kam. Er war ein Einzelgänger, schon immer gewesen, und so hatte er noch nebenbei einen Überblick über die einzelnen Rosenkreuzgruppen erhalten. Sein Name tauchte in unzähligen Missionsberichten auf, was ein weiterer Vorteil war.

Und die Rechnung war aufgegangen: Er war den Ältesten positiv aufgefallen. Von nun an würde er von ihnen direkt seine Anweisungen erhalten, er würde keinem Team mehr zugewiesen werden; in Zukunft würde er die Aufträge auf eigene Faust erledigen. Sein eigener Herr sein… zumindest im Rahmen der Möglichkeiten. Darauf hatte er die ganze Zeit hingearbeitet.

Allerdings konnte er als Einzelner nicht viel bewirken, soviel hatte er schnell begriffen. Er hatte die Zusammensetzung der Teams studiert, so dass ihm gleich klar war: Ohne einen Telepathen ging gar nichts. Zumindest nicht, wenn man so hohe Ansprüche an die Ergebnisse seiner Arbeit stellte wie Brad Crawford. Und er hatte auch sofort einen bestimmten Telepathen im Kopf, auch wenn er nicht genau sagen konnte, warum ausgerechnet diesen. Er kannte ihn noch von seiner Ausbildungszeit hier im Rosenkreuz-Institut, er hatte hohes Potential, er war jung… nun, vielleicht _zu_ jung, gerade mal sechzehn. Er war ein ruhiger Junge, der nicht weiter aufgefallen war, außer eben dadurch, dass er großes Talent besaß und sich ähnlich schweigsam gab wie Crawford selber.

Er wusste also selbst nach der Einsicht der Akten nicht, warum es gerade der sein sollte. Aber er hatte noch in keinem anderen Team gedient, sodass Crawford sich einbildete, ihn noch nach seinen Vorstellungen formen zu können.

Eigentlich war es auch egal. Wenn sein Bauchgefühl ihm sagte, der ist es, dann wäre er schön blöd, sich nicht darauf zu verlassen. Er konnte zwar nur wenige Minuten in die Zukunft sehen, aber er hatte auch ein ganz gutes Gespür für langfristige Verläufe.

Er klappte die Akten zu, setzte die Brille wieder auf und trank den restlichen Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. Er bedankte sich höflich bei der Sekretärin, dann machte er sich auf den Weg, seinen Auserwählten zu suchen.

Er fragte niemanden, aber er stellte sich in Gedanken vor, er würde es tun, um die Antworten vorauszusehen, und so seine Informationen zu erhalten, ohne zu offenbaren, was er wollte. Ein altes Spiel von ihm, das viel Konzentration verlangte.

Es funktionierte, weil ihn niemand ansprach und in ein Gespräch verwickelte. Hier und da ein Gruß, das war alles, was an Konversation stattfand. Er hatte hier keine Freunde, denn er hatte sich stets arrogant und eigenbrötlerisch gezeigt. Dennoch wurde er geachtet, denn er galt als äußerst zuverlässig.

Es dauerte nicht lange und er wusste, wo er den Telepathen finden würde.
 

Mehr als zehn Jahre... Mehr als zehn verdammte Jahre war er nun schon hier. Weit mehr als die Hälfte seines Lebens, fast schon drei Viertel davon.

Schuldig lag auf der schmalen Pritsche, die sein Bett darstellte, und starrte trostlos die Risse in der Farbe der Decke an, deren Muster er in- und auswendig kannte. Der Rosenkreuz-Stützpunkt war seine persönliche Hölle, aus der es kein Entrinnen zu geben schien.

Der Junge war geschafft und fertig; die Tests, denen er heute einmal mehr unterzogen worden war, waren anstrengend, schmerzhaft und zehrten an seinem Körper und seinem Geist gleichermaßen.

Er hatte schnell gelernt, niemandem zu vertrauen und sich an niemanden zu binden. Das hatte hier nur unschöne Folgen... Oft genug hatte er andere Kinder in seinem Alter zerbrechen sehen, weil ihnen nicht oder zu spät klar geworden war, dass Freundschaft, Hoffnung oder Freude hier keinen Platz hatten. Er hatte diesen Fehler nicht begangen. Seine Taktik war gewesen, den Forschern und Trainern ohne Widerworte zu geben, was sie von ihm sehen wollten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Natürlich wusste er, dass er als einer der fähigsten Telepathen hier gehandelt wurde - doch das wahre Ausmaß seiner Fähigkeiten hatte zum Glück noch niemand erkannt. Ebenso wenig allerdings seine Schwächen, was beides nur von Vorteil war.

Einen Augenblick lang ließ seine Konzentration nach, was zur Folge hatte, dass seine Schutzschilde sich im Bruchteil einer Sekunde in Nichts auflösten und hunderte von Gedankenstimmen mit der Wucht und Lautstärke eines Orkans über ihn hereinbrachen.

Schuldig kniff die Augen zusammen und presste die Kiefer aufeinander, während er versuchte, die Barriere wieder herzustellen. Gott, daran musste er wirklich noch arbeiten...

In dem Moment, in dem er es schaffte, seine Abwehr wieder aufzubauen, erreichte ihn ein fremder Gedanke, der ihn selbst betraf. Stirnrunzelnd richtete er sich auf und konzentrierte sich auf den unbekannten, mentalen Strom. Wie jedes Mal verdunkelten sich dabei seine Augen, leuchteten in einem giftigen Grün auf - und wie jedes Mal senkte er die Lider halb, um niemandem dieses kleine Detail zu offenbaren, das anzeigte, wann er seine Kraft nutzte. Das war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er das sogar machte, wenn er, wie jetzt, allein war.

Doch es nutzte nichts, er war zu ausgelaugt heute, er hatte nicht mehr die nötige Konzentration, um wirklich zu erkennen, was da jemand von ihm wollte. Also würde er sich wohl überraschen lassen müssen, was die Teufel wieder ausgeheckt hatten, um ihn weiter zu foltern...
 

Crawford hatte schon die Hand auf der Klinke, um die Tür zu öffnen, da besann er sich noch einmal anders.

Er klopfte an und wartete.
 

Im Inneren des Zimmers runzelte der Junge die Stirn. Was ging denn jetzt bitte ab? Seit wann wurde hier angeklopft? Das war etwas derart Ungewöhnliches, dass ihm unwillkürlich ein kalter Schauer über den Rücken rann. Mit einem tiefen Einatmen unterband er das Erschauern, straffte die Schultern und strich sich die sehr eigenwilligen Haare zurück auf den Rücken, dann schluckte er noch einmal und meinte dann leise und fast schon misstrauisch: "Ja?"

Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis die Klinke nach unten gedrückt wurde.
 

Unwillkürlich straffte sich Crawford, bevor er langsam die Tür öffnete. Die Klinke fühlte sich kalt an, und er merkte, dass seine Handflächen feucht waren. Auch sein Herz pochte in seinen Ohren, und er wunderte sich kurz, dass er so aufgeregt war. So wichtig war ihm, ausgerechnet mit Schuldig zusammen zu arbeiten? Erstaunlich…

Nach außen hin ließ er sich natürlich nichts anmerken, seine Miene war kühl und mit einer Prise Überheblichkeit gewürzt wie immer.

Bedächtig trat er ein und nahm sich einen Moment Zeit, die schlanke Gestalt auf der Pritsche zu betrachten. Schuldig wirkte müde. Aus den Augenwinkeln nahm Crawford die Kargheit des Zimmers war. Alles in allem ein trostloser Anblick. Er war froh, dem Ganzen entkommen zu sein.

„Mein Name ist Brad Crawford“, begann er in seiner dunklen, ruhigen Tonart. Zufrieden stellte er fest, dass ihm die Aufregung nicht anzuhören war. Er gab sich Mühe, beiläufig zu klingen, als er weiter sprach: „Ich brauche einen Telepathen für einige Spezialaufträge.“ Einen Telepathen… der Junge sollte sich nur nicht einbilden, er sei an ihm als Person interessiert.

„Hast du Lust?“

Er ging bewusst unkonventionell vor mit dieser Frage und auch mit dem Anklopfen. Er hatte das Gefühl, je mehr er sich von den Rosenkreuz-Gepflogenheiten abhob, umso besser standen seine Chancen auf eine gute Zusammenarbeit. Und es gab keine Alternative – er wollte Schuldig und sonst keinen, soviel war klar.
 

Skeptisch beobachtete der junge Telepath den Mann, der auf seine Aufforderung hin in sein Zimmer kam. Vom ersten Moment an wusste er, wen er vor sich hatte - Crawford war etwas wie eine Legende hier. Dennoch ließ er ihn sich erst einmal vorstellen und dann sagen, was er überhaupt wollte.

Spezialaufträge... Schuldig vermied es, sich aufgeregt auf der Unterlippe herumzuknabbern. Er sah den Schwarzhaarigen einfach nur schweigend an - das leuchtende Grün seiner Augen wohlweislich unter den halbgesenkten Lidern versteckt. Einen Augenblick lang war er versucht, nachzufragen, um welche Aufträge es sich handeln würde, doch er wusste, dass die ihm angeborene Neugier hier nicht gern gesehen war und noch weniger akzeptiert wurde.

Eine Sekunde lang dachte er noch nach, wog rasend schnell das Für und Wider ab - und nickte schließlich.

"Von mir aus", bestätigte er auch noch mal akustisch und stand dann auf. "Wann?"
 

Crawford hoffte, dass ihm seine Erleichterung nicht allzu deutlich anzusehen war. Wie viel Schuldig wohl von seinen Gedanken mitbekam? Nun, das würde er schon noch merken. Das war der Nachteil mit Telepathen. Aber das galt für alle Teams, die von Telepathie profitieren wollten. Er hatte sich dafür entschieden, da musste er nun also durch.

„Also, ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich möchte diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen“, antwortete er leise, nur für Schuldigs Ohren bestimmt, und selbst für die kaum hörbar.

Lauter fügte er hinzu: „Ich muss noch die Formalitäten erledigen. Wenn ich ein bisschen Druck mache, müssten deine Papiere bis heute Abend fertig sein. Du kannst in Ruhe deine Sachen packen oder was du sonst noch erledigen willst. Ich würde sagen, wir treffen uns um achtzehn Uhr an der Waffenkammer. Überleg dir schon mal, was du brauchst.“

Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, drehte sich Crawford um und verließ das Zimmer. Innerlich rieb er sich die Hände. Das war ja gut gelaufen. Jetzt stand noch das Gespräch mit dem Direktor an, aber er rechnete nicht mit Schwierigkeiten. Schließlich hatte SZ ihm freie Hand bei der Auswahl seines Teams gegeben. Wobei das Team erstmal nur aus zwei Personen bestehen sollte, eines nach dem anderen. Vergrößern konnte man sich immer noch bei Bedarf.
 

Schweigend hörte Schuldig dem Älteren zu und nickte zum Schluss nur knapp. Es war keine Frage, dass er dem Befehl des Amerikaners folgen würde. Und genau das war es auch gewesen: ein Befehl, um 18 Uhr an der Waffenkammer zu sein.

Was er brauchte, war keine Überlegung wert. Er war ein recht guter Schütze, wenn er eine Pistole in der Hand hatte. Und genau so eine würde er mitnehmen.

Wobei er auch schon beim nächsten Punkt war. Mitnehmen. Schuldig sah sich in der kleinen Zelle um und schnaubte freudlos auf. Es gab nichts, was er mitnehmen wollen würde... Die paar Klamotten, die er besaß, ließen sich rasch in eine kleine Tasche verstauen. Persönliche Gegenstände gab es hier ja kaum, also musste er auch nicht großartig packen. Außerdem - wer wusste schon, wie schnell er wieder hier landen würde. Wozu sich also die Mühe machen?

Sein Blick fiel auf das schmale Regal über seinem Bett. Ein einziges Buch stand darauf. Okay, das würde er mitnehmen. Die letzte Erinnerung an zuhause, an seine Familie. Seine Mutter.

Er verscheuchte den Gedanken mit einem hastigen Kopfschütteln, legte sich wieder auf sein Bett und wartete.
 

Die Waffenkammer befand sich im Keller, erstes Untergeschoss.

Er war eine viertel Stunde zu früh am vereinbarten Treffpunkt. Selbst Sergej, Hüter der Waffenkammer, war noch nicht da.

Crawford lehnte sich an die kühle und raue Wand, schob seine Brille zurecht, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.
 

Kurz nach halb sechs kam wieder Bewegung in den Jungen. Mit einem Seufzen schwang er die Beine über die Bettkante, stand auf und streckte sich, während er sich durch die Haare wuschelte. Dann griff er nach der Tasche, die neben der Tür stand, und verließ ohne einen letzten Blick zurück das Zimmer.

Rasch lief er durch die verwinkelten Gänge und stand um fünf Minuten vor sechs vor der Waffenkammer. Überrascht bemerkte er, dass Crawford schon da war, und zog ganz automatisch den Kopf ein wenig ein. Unpünktlichkeit wurde hart bestraft und obwohl sich Schuldig eigentlich sicher war, rechtzeitig da gewesen zu sein, rechnete er jetzt mit Strafe.

"Entschuldige", murmelte er verlegen und senkte schuldbewusst den Blick zu Boden.

"Ich wollte nicht zu spät kommen."

Innerlich machte er sich schon auf den Schlag gefasst, der jetzt unweigerlich kommen musste.
 

Erstaunt wölbte Crawford die Augenbrauen und blickte auf den reumütigen Jungen hinab.

„Na, dann… Herzlichen Glückwunsch.“

Demonstrativ schob er den Ärmel seines Jacketts hoch und sah auf die Uhr.

„Es ist kurz vor sechs. Wofür entschuldigst du dich?“
 

Irritiert blinzelte Schuldig den Größeren an. Den Sinn der Worte hatte er durchaus verstanden, doch konnte er noch nicht so ganz glauben, dass es jetzt das gewesen sein sollte. Er versuchte sich an einem wackligen Lächeln, das sich ungewohnt auf seinem Gesicht anfühlte.

"Ich... dachte nur..." Er brach ab. Unwichtig. Es schien nicht so, als hätte er den Amerikaner verärgert. Er entspannte sich ein klein wenig, doch die antrainierte Vorsicht blieb hartnäckig in seinem Hinterkopf.

Versuchsweise drückte er die Klinke der Tür zur Waffenkammer, doch sie war -eigentlich wie erwartet- verschlossen. Na toll. Und er hatte keine Ahnung, wie er sich jetzt verhalten sollte, nachdem er ja auch keinen Befehl bekommen hatte, irgendetwas zu tun. Unsicher lehnte er sich ebenfalls an die Wand, allerdings ließ er vorsichtshalber die Tür als Abstand zwischen ihnen.
 

Schweigend warteten sie. Minuten vergingen, und Sergej war noch immer nicht in Sicht. Crawford seufzte genervt und blickte zur Uhr. Es war schon zehn nach!

„Verdammt, wo bleibt er denn?“ fragte er unwillig, dann fügte er scherzend hinzu: „Wir könnten versuchen, das Schloss zu knacken. Aber damit verärgern wir Sergej… Allerdings ärgert er uns auch…“

Er zog einen Dietrich aus der Innentasche seines Jacketts und hob ihn hoch. Er grinste Schuldig an. „Willst du oder soll ich?“
 

Das lausbubenhafte Grinsen des Schwarzhaarigen hatte etwas Erlösendes für den jungen Telepathen. Von einer Sekunde auf die andere fühlte er sich freier, weniger unter Zwang und Regeln, die ihn umbringen wollten. Unbewusst und vor allem komplett ungeübt grinste er zurück, seine Augen blitzten munter auf, und er schnappte sich den Dietrich. Das Schloss stellte keine wirkliche Schwierigkeit dar und war innerhalb weniger Sekunden geöffnet. Er stieß die Tür auf und machte eine spöttisch-einladende Handbewegung.

"Bitte sehr, nach dir", grinste er ein wenig breiter, ein leises Glucksen schloss seine Worte ab.

All das entging seiner sonst so strengen Wachsamkeit allerdings und so zeigte er dem Amerikaner in ein paar Sekunden mehr von sich, als die Forscher, Trainer und Lehrer in den vergangenen Jahren zu sehen bekommen hatten.
 

Der Junge schien mit einem Mal wie ausgewechselt, und Crawford beglückwünschte sich dazu, dass er sich entschieden hatte, so zwanglos mit ihm umzugehen, und nicht versucht hatte, den Chef rauszuhängen. Er wollte keine Mitarbeiter um sich, die sich nur duckten und sich vor lauter Angst nicht trauten, den eigenen Kopf zu gebrauchen. Das war… ineffektiv.

Und so machte es ihm auch selbst viel mehr Spaß.

Er beobachtete interessiert, wie geschickt Schuldig das Schloss öffnete. Ein weiterer Pluspunkt für ihn, zu dem, ohne Zögern den Dietrich gegriffen zu haben. Und zu dem, pünktlich gewesen zu sein.

Ganz im Gegensatz zu Sergej, wie er mit leichter Verärgerung dachte. Allerdings barg jedes Ärgernis auch seine guten Seiten…

„Danke schön“, sagte er nach einer kurzen Verbeugung, womit er auf Schuldigs flapsigen Ton einging, trat ein und sah sich um in Sergejs Heiligtum.

Der Raum war nicht groß, nur ungefähr zwanzig Quadratmeter, aber das waren Quadratmeter, die es in sich hatten, und die mit Regalen bis an die Decke angefüllt waren mit allen möglichen Waffen aus aller Welt und in allen Raffinessen.

Lediglich an der Rückwand war ein schmaler Durchgang freigelassen worden, von dort führte ein schmaler Gang zum Schießstand, wo man nach Belieben die Schätze austesten konnte.

Crawford war allerdings mit seiner Beretta ganz zufrieden, er hatte eine ganz andere Idee. Er konzentrierte sich kurz auf die nächsten paar Minuten, was man als aufmerksamer Beobachter an seinem leicht verschleierten Blick erkennen konnte.

„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte er leise und jetzt wieder völlig ernst zu seinem jugendlichen Begleiter und ging beim Sprechen schon einmal zielstrebig zu einem der Regale, in denen die Munition gelagert wurde, wie er von seinen früheren Besuchen hier wusste. Seine Augen flogen über die Kartons, dann griff er sich den passenden heraus. „Weißt du schon, was du willst?“ Vorsichtig öffnete er die Pappschachtel, nahm sich zwei Handvoll Patronen heraus und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Dann stellte er den Karton wieder zurück, allerdings ganz unten unter den anderen. Bevor Sergej bemerken würde, dass etwas fehlte, würde der Verdacht nicht mehr auf Crawford fallen.
 

Schuldig war schon oft genug hier gewesen, um zu wissen, was sich wo befand. Nach einem raschen Überblick -rasch vor allem, weil sein Begleiter ihm sagte, dass sie nicht viel Zeit hätten- holte er eine Schachtel mit einer silbernen Heckler&Koch aus dem Regal, ließ die Schatulle aufschnappen, steckte sich die Pistole in den Hosenbund und stellte die leere Schachtel zurück in das Regalfach. Ebenso schnell hatte er die passende Munition eingeschoben und stand breit grinsend bereit, um die Waffenkammer ebenso schnell und unbemerkt zu verlassen, wie sie hereingekommen waren.

"Ich bin soweit", meinte er überflüssigerweise. Auch wenn er normalerweise den Mund gehalten hätte, schien es ihm im Augenblick richtiger zu sein, zumindest etwas Kommunikation zu betreiben. Wenigstens über das, was ihre 'Arbeit' anging, denn als genau das sah er diese Aktion hier.
 

Crawford bemerkte überrascht, dass der Junge sein Verhalten anscheinend zum Anlass nahm, sich ebenfalls zu bedienen. So war das eigentlich nicht gedacht gewesen, aber es war verständlich, dass er es so interpretierte. Crawford nahm sich vor, an seinen Formulierungen noch zu arbeiten…

Er ließ den Jungen machen. Warum auch nicht? Sollte er ruhig zwei Knarren haben – eine offizielle und eine private. Hatte Brad schließlich auch. Er hatte vor kurzem bei einer Mission einem der Opfer die Waffe abgenommen. Und gerade die Gelegenheit genutzt, sich mühelos Munition zu besorgen. Man wusste nie, wozu das noch gut sein konnte. Irgendwann würde man vielleicht mal einen Job erledigen wollen, ohne jemandem Spuren zu liefern, die eine Zuordnung des Täters ermöglichten.

Und niemand würde sie beide verdächtigen. Es war sogar wahrscheinlich, dass Sergej den Verlust, wenn er ihn denn irgendwann bemerkte, gar nicht melden würde, um selbst keinen Ärger zu bekommen. Falls Sergej klug genug war… Wovon Crawford allerdings ausging. Sergej war ein gerissener Hund. Und er würde in Kürze hier auftauchen.

„Dann jetzt schnell“, sagte er und schob den Jüngeren auf den Gang hinaus. Er hatte sich als geschickt mit dem Dietrich erwiesen, aber jetzt ging Crawford lieber auf Nummer sicher und verschloss die Tür wieder auf die gleiche Art, wie sie sie geöffnet hatten.

Und keine Sekunde zu früh – er hatte sich gerade wieder aufgerichtet, da bog Sergej hastigen Schrittes um die Ecke. Der große Ukrainer war etwa Mitte vierzig und trug seine schon leicht angegrauten Haare kurz geschoren, was ihm ein brutales Aussehen verlieh (was wahrscheinlich auch so beabsichtigt war). Er verfügte über keinerlei nennenswerte Psi-Kräfte, war aber ein absoluter Waffenfreak und ein wahrer Experte auf seinem Gebiet – auch darin, die kuriosesten Teile aus aller Welt zu besorgen.

Bevor er Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, blaffte Crawford ihn schon an: „Deine Ausreden interessieren uns nicht! Wir warten jetzt schon fast eine halbe Stunde und verlieren durch dich wertvolle Zeit! Also beeil dich jetzt lieber!“

So leicht ließ sich Sergej nicht einschüchtern. „Jetzt reg dich ab, Crawford. Du bekommst schon, was du willst… scheiße…“ Ein wenig nervös schien er doch zu sein, zumindest bekam er das Schloss nicht gleich auf. Irgendetwas hakte da… aber er schob es auf seine Hast und machte sich keine weiteren Gedanken darüber.

Kurz darauf standen Brad und Schuldig erneut in der Waffenkammer. Brad bekam die Munition für seine Beretta. Schuldig eine zweite Knarre mit ebenfalls reichlich Munition. Alles wurde sorgfältig in Sergejs Unterlagen eingetragen.
 

Als sie wieder draußen waren, grinste Brad den Jungen an: „Na, perfekt, oder? Jetzt müssen wir nur noch zum Direktor, uns artig verabschieden, deine Papiere abholen, und dann können wir dieses Drecksloch endlich verlassen.“

Bisher war er ganz zufrieden mit seiner Wahl – Schuldig war geschickt, spontan, und schien keine Probleme damit zu haben, Rosenkreuz zu hintergehen. Perfekt.
 

Als Sergej auftauchte, fiel wieder die kalte, unnahbare Maske über Schuldigs Gesicht. Die ausdruckslose Miene hatte er inzwischen so gut drauf, dass nicht einmal der kalte Schauer, der bei dem Anblick des Ukrainers unwillkürlich über den Rücken lief, eine Chance hatte, sich in irgendeiner Form widerzuspiegeln.

Er ließ sich von dem Herrn der Waffen eine kurzläufige Sig Sauer geben, schob den Karton mit Munition dazu in die Tasche, in der sich seine anderen Habseligkeiten befanden - und achtete sehr darauf, dass die silberne HK nicht im kalten Neonlicht aufblitzte und damit Sergej auffiel.

Es dauerte endlose Minuten, in denen sich der Junge ebenso unwohl fühlte, als wäre er in einem der unterirdischen Labore, bis sie die kleine, stickige Kammer wieder verließen. Mit viel Mühe unterdrückte er ein erleichtertes Aufatmen.

Was dann jedoch kam, ließ ihn trocken schlucken. Zum Direktor... Ergeben schloss Schuldig die Augen, riss sie allerdings bei Crawfords letzten Worten wieder auf und sah ihn überrascht an. Drecksloch? Ein kleines, verstecktes Schmunzeln huschte über seine Züge, und der kalte, übelkeiterregende Kloß in seinem Magen schrumpfte zu einem dumpfen Druck.

Da schien doch tatsächlich außer ihm noch jemand die Organisation wie die Pest zu hassen... Erfreuliche Feststellung.
 

Das Gespräch mit dem Direktor dauerte nicht lange und Schuldig hatte sich so gut im Griff, dass er den Drang, den alten Mann einfach umzubringen, erfolgreich niederkämpfte und sich schweigend anhörte, was er zu sagen hatte. Natürlich hatte er auf Durchzug geschaltet - es interessierte ihn nicht im Geringsten, was der Andere ihm zu sagen hatte. Seine Unterlagen wurden dem Amerikaner übergeben, was nichts anderes bedeutete, als dass Crawford jetzt für ihn verantwortlich war. Okay, nichts anderes hatte Schuldig erwartet. Trotzdem würde sich der Schwarzhaarige erst mal als würdig erweisen müssen, ihm zu sagen, was er zu tun hatte - und dann die gewünschten Resultate zu bekommen. Schuldig war als Telepath das Beste, was es derzeit gab, und das wusste er haargenau. Dass Rosenkreuz zugestimmt hatte, ihn Crawford zu überlassen, konnte nur bedeuten, dass der Amerikaner unglaublich viel Macht und Einfluss besaß. Nun, er würde ja sehen, ob Crawford damit auch umgehen konnte... und ob er es wert war, mit ihm zusammenzuarbeiten.
 

Beim Direktor gab es das übliche Geschwafel. Sie sollten dem Institut keine Schande machen, blabla. Crawford wusste, dass der Direktor ihn mochte, dafür hatte er gesorgt, und auch jetzt beherrschte er den Smalltalk so gut, dass man ihm seine Verachtung für den alten Mann nicht anmerkte.

Nie hatte Crawford ihm die Grausamkeiten der ersten Tage und Wochen hier im Institut vergessen und verziehen schon gar nicht. Dabei war es Crawford noch gut ergangen, das war ihm durchaus bewusst. Präkognition in solcher Präzision wie bei ihm war äußerst selten, dazu verhielt er sich brav und tat zuverlässig, was von ihm verlangt wurde – und so entwickelte er sich zu einem wahren Juwel für das Institut. Er hatte nicht lange warten müssen, bis die höchsten Funktionäre auf ihn aufmerksam wurden, was weitere Vergünstigungen für ihn nach sich gezogen hatte. Und Crawford hatte die Gelegenheiten, die sich boten, stets zu nutzen gewusst.
 

Vor dem Institut parkte sein schwarzer Mercedes CL Coupé. Ein Druck aufs Knöpfchen, und mit einem Aufleuchten der Blinklichter löste sich die Verriegelung des Zweitürers.

„Hier.“

Er drückte Schuldig die Papiere in die Hand.

„Offiziell bist du jetzt achtzehn.“
 

Der junge Telepath verbarg seine Aufregung so gut es ging, als sie durch einen Bereich der Anlage gingen, die er noch nie gesehen hatte: den Ausgang. Das Herz wummerte ihm im Hals und so langsam realisierte er, was tatsächlich geschah: er verließ Rosenkreuz. Mit unglaublich viel Beherrschung behielt er das Tempo bei, mit dem er neben Crawford her ging - viel lieber wäre er gerannt, als wäre der Teufel hinter ihm her. Doch das wäre dann doch eine Spur zu unpassend gewesen. Doch er konnte nicht verhindern, dass er tief durchatmete, als die schweren Eingangstüren hinter ihnen mit einem dumpfen Geräusch zufielen und sie ausschlossen. Einmal mehr lief ihm ein Schauer über den Rücken und verursachte eine Gänsehaut, doch diesmal war nichts Unangenehmes daran. Schuldig spürte, wie eine ungewisse Nervosität in seinem Magen aufbrandete und seine Nerven zum Flattern brachte; das breite Grinsen, das sich auf sein Gesicht schleichen wollte, hielt er mit enorm viel Mühe zurück.

Überrascht sah er auf den schicken Wagen, dessen Blinker nun hektisch aufflackerten, und er schluckte leicht. Die Aufregung, die vorher ein leichtes Grollen in seinen Eingeweiden gewesen war, wuchs sich zu einem wilden Kribbeln aus, als ihm aufging, wie wenig er von dem wusste, was ihn nun erwartete. Wie es wohl sein würde, das, was man allgemein 'Leben' nannte?

Diese Frage beschäftigte ihn so intensiv, dass er gar nicht mitbekam, wie Crawford ihm seine Papiere unter die Nase hielt.

"Hä?", machte er nicht so wirklich geistreich - fuck, da schien er jetzt was verpasst zu haben... Im Bruchteil einer Sekunde griff er in Crawfords Geist und holte sich die letzten zehn Sekunden aus seiner Erinnerung. Dann runzelte er kurz die Stirn, griff nach dem Ordner, in dem sich seine Unterlagen befanden und schlug ihn mit zittrigen Fingern auf.

"Achtzehn?", nuschelte er unbewusst und sah dann mit großen Augen zu dem Schwarzhaarigen auf. Das Grinsen, das die ganze Weile unter der Oberfläche gelauert hatte, brach nun endgültig durch, und er strahlte den Älteren regelrecht an. Dann senkte er den Blick wieder auf seine Papiere, blätterte sie rasch durch und verzog dann das Gesicht.

"Okay", murmelte er mit einem bitteren Unterton, riss ein Blatt energisch aus dem Ordner, faltete es zusammen und schob es in seine Hosentasche, seine Augen blitzten dabei giftgrün auf. Das hier ging niemanden etwas an, auch den Amerikaner nicht - seine Geburtsurkunde. Die anderen Unterlagen waren auf ein Pseudonym ausgestellt und hatten nichts mit seiner wirklichen Identität gemein. Wer er tatsächlich war, würde nie wieder irgendwer erfahren.

Noch immer in die Akten vertieft, öffnete er die Beifahrertür und setzte sich in das Auto. Erst als er das Aufschnurren des Motors hörte, schlug er die Mappe zu, hob den Blick wieder an und wandte den Kopf zu Crawford.

"Und jetzt?", wollte er leise und beinahe ein wenig eingeschüchtert wissen. "Wohin fahren wir jetzt?"
 

Crawford lenkte den Wagen sicher und gekonnt, wenn auch äußerst schwungvoll, die enge, serpentinenförmige Straße den Berg hinunter.

„Jetzt fahren wir zu meinem… unserem Appartement in München. Ich hoffe, wir haben noch ein paar Tage Zeit bis zu unserem ersten Auftrag.“

Er fragte sich, was Schuldig aus seinen Unterlagen gerissen hatte, und bereute, dass er sie ihm gleich ausgehändigt hatte, ohne vorher selbst noch einen Blick hinein geworfen zu haben.

Na, egal. Jeder hatte ein Recht auf seine kleinen, privaten Geheimnisse.

Er hoffte nur, dass Schuldig das genau so sah. Er hasste es, wenn jemand ständig ungefragt in seinen Gedanken herum schnüffelte.

„Was nicht heißt, dass wir frei haben…“ Er griff zur Seite und zog einen kleinen Kauderwelsch-Band aus dem Handschuhfach, den er Schuldig auf den Schoß warf. „Ich möchte, dass du Japanisch lernst. Möglichst schnell. Und – kannst du Auto fahren? Nein? Das musst du auch lernen. Und, Schuldig…“ Er warf einen kurzen, eindringlichen Blick zur Seite. „Erspare uns beiden den Ärger und versuche nicht, weg zu laufen. Du weißt, wohin das führt.“

Menschenmaterial, das nicht einsatzfähig war, wurde gnadenlos in den Untergeschossen des Instituts für Experimente verbraten, im wahrsten Sinne des Wortes. Das war ein offenes Geheimnis. Dabei ging es Crawford weniger um Schuldigs persönliches Schicksal. Vielmehr wollte er nicht unangenehm auffallen.
 

München... Schuldigs Magen zog sich schmerzhaft zusammen und sein Gesicht nahm einen leichten Grünstich an. Doch er atmete tief durch und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Dabei half ihm, dass ihm Brad das zerfledderte Wörterbuch in den Schoß warf. Er betrachtete es einen Moment nachdenklich, seine Mundwinkel hoben sich zum Anflug eines sarkastischen Grinsens an, dann nahm er das Buch und warf es achtlos auf den schmalen Platz hinter seinem Sitz.

"Brauch ich nicht. Ich lerne Sprachen anders", erklärte er, in seinem Ton schwang eine unbewusste Arroganz mit. Wenn die Menschen sprachen, blitzten meist die passenden Bilder zu ihren Worten in ihren Gedanken auf, und er hatte gelernt, sich diese Tatsache zu Nutze zu machen. Auf diese Weise lernte er eine Sprache innerhalb weniger Tage, wenn er unter Menschen war. Das war ein kleiner Trick, den er den Forschern nicht verraten hatte...

Bei Crawfords nächstem Satz allerdings verabschiedete sich jegliche Überheblichkeit und jeder Sarkasmus aus seiner Miene, und er strahlte wie ein Christbaum.

"Autofahren?"

Die grünen Augen leuchteten vor Begeisterung und von einer Sekunde auf die andere beobachtete er die Bewegungen des Amerikaners, das Zusammenspiel der Pedale und der Schaltung.

"Nein, keine Sorge", antwortete er daher eher beiläufig auf die Warnung des Älteren. "Ich weiß, was dann passiert."

So dumm war er nicht, auch wenn er sich gern so stellte. Und auch wenn er sein Leben eigentlich schon aufgegeben hatte, so wollte er es nicht unbedingt auf den Folterstühlen von Rosenkreuz verlieren. Noch dazu bot sich ihm ja jetzt die Möglichkeit, tatsächlich zu 'leben' und nicht nur vor sich hinzuvegetieren wie bisher. Und diese Chance würde er sich bestimmt nicht entgehen lassen. Dafür war er viel zu neugierig - und viel zu hungrig.
 

Von Schuldigs Reaktion auf die Nennung ihres Zielortes bekam Crawford nichts mit – zu beschäftigt war er damit, den Wagen auf der Straße zu halten und gleichzeitig das Wörterbuch hervor zu kramen. Was dann kurze Zeit später achtlos auf dem Rücksitz landete. Schuldigs Erklärung, Sprachen anders zu lernen, kommentierte Crawford lediglich mit einem Wölben der Augenbraue. Es war ihm ja egal, wie der Jüngere das anstellen wollte, allein das Ergebnis zählte. Man würde sehen…

Auf die letzte Äußerung antwortete er in fließendem Japanisch: „Gut, dann sind wir uns ja einig.“

Gutgelaunt drückte er am Radio herum, auf der Suche nach einem hörbaren Sender. Je weiter sie sich vom Institut entfernten, desto freier konnte er wieder atmen. Trotz aller Privilegien, trotz aller Vollmachten, immer noch verspürte er tief in sich die alte Furcht, wieder in einem der sterilen, fensterlosen Zellen im Untergeschoss eingeschlossen zu werden.

Schnell gab er auf und machte die CD an, die sich noch im Laufwerk befand, und ein rockiger, etwas schleppender Rhythmus tönte aus den Boxen, Schlagzeug und E-Gitarre begleitet von Geige und Dudelsack. „… wir sind frei wie die Vögel, wir sind vogelfrei…“ erklang die Stimme des Sängers von Schandmaul.

Crawford klopfte auf das Fach zwischen Fahrer- und Beifahrersitz.

„Hier sind noch mehr CDs, falls du was anderes hören willst…“
 

Ein breites Grinsen war Schuldigs Reaktion auf Crawfords Japanischkenntnisse. Natürlich konnte er noch nicht antworten, jedenfalls nicht auf japanisch, doch die Bedeutung der Worte hatte ihn wie ein hungriges Tier angesprungen.

"Sehe ich genauso", gab er lässig zurück und räkelte sich dann stolz im Beifahrersitz. Hach ja, er war einfach genial...

Als der Ältere die CD einschaltete, runzelte der junge Telepath erst die Stirn, doch dann hörte er einfach den Texten zu. Okay, sicher hätte er sich etwas anderes aussuchen können - doch er kannte sich ohnehin nicht mit solchen Dingen aus. Und wenn Crawford diese Musik gefiel, war es so gut wie alles andere auch. Trotzdem holte er die CDs aus dem Fach und betrachtete sich die Cover. Eines war dabei, das dem Jungen sofort ins Auge stach, obwohl es eigentlich nichts Besonderes war: lediglich eine violette Fläche mit einem orangefarbenen Strudel in der Mitte. Schuldig öffnete die Hülle, entnahm die CD und schob sie in den Player. Im nächsten Moment dröhnten schwere Bässe und scharfe Gitarrenriffs durch den Wagen, und eine dunkle, rockige Stimme begann in einem aufreizenden Tonfall auf Englisch zu singen. Schuldig strahlte - er hatte etwas gefunden, das ihn bis ins Innerste berührte. Noch einmal schlug er die Hülle auf, besah sich das Booklet und grinste bis über beide Ohren. Dann schaute er zu Crawford.

"Ich wusste nicht, dass du der Typ für Hardrock bist..."

Mit dem überbreiten Grinsen wedelte er mit der CD vor dessen Nase herum.

Er drehte ein wenig am Lautstärkeregler und stellte ihn von angenehmen 15 auf mächtige 33, lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss die Augen. Okay, München konnte kommen...
 

„Hey!“ Er packte die Hand, die da vor seiner Nase herum wedelte, und schob sie wieder in Schuldigs Hälfte des Autos zurück.

„Ich muss auch was sehen!“

Er regelte die Musik wieder auf ein Maß zurück, das Worte verständlich machte. Dann allerdings erwiderte er das Grinsen: „Du weißt verdammt wenig darüber, was für ein Typ ich bin, weißt du.“

Er drehte die Musik wieder hoch, schob seine Brille zurecht und klopfte mit den Fingern auf dem Lenkrad den Takt mit.

Als sie endlich die schmale, kurvige Zufahrtsstrasse hinter sich ließen, steigerte er das Tempo, konzentrierte sich ganz aufs Autofahren und fuhr jetzt im "Präkog-Modus“, wie er das für sich nannte; eine Fahrweise, die nichts für schwache Nerven war, da er so schnell fuhr, wie es die Straße und der Verkehr hergaben, und scheinbar halsbrecherische Überholmanöver an unübersichtlichen Stellen vollführte, da er ja wusste, ob ihnen jemand hinter der Kurve entgegen kommen würde oder nicht. Das gleiche galt für rote Ampeln, einmündende Straßen, kreuzende Fußgänger…

Ab und zu warf Brad einen kleinen Seitenblick auf Schuldig. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Beifahrer von ihm eine Panikattacke erlitt. Oder ihm womöglich ins Auto kotzte – wobei, das hatte Crawford bisher immer rechtzeitig zu verhindern gewusst!
 

Da hatte der Amerikaner bei Schuldig jedoch schlechte Papiere. Der Junge erkannte die Gefahr nicht, in die Brad sie brachte. Naja, oder nicht brachte. Je nachdem, wie man es sehen wollte. Im Gegenteil: die Geschwindigkeit machte ihm unglaublichen Spaß, und er schielte immer wieder auf den Tacho, um festzustellen, ob es vielleicht noch schneller ging. Eines nahm er sich in dieser Zeit, in der sie über die Straßen rasten wie nicht gescheit, allerdings vor: Wenn er selber ein Auto haben würde, würde das auf jeden Fall noch schneller sein als dieser Mercedes hier.

Er hopste also im Takt der aufpeitschenden Musik auf seinem Sitz herum und grinste von Mal zu Mal breiter, wenn sie wieder jemanden überholten. Allein das hier war schon besser als alles, was er erwartet hatte. Und irgendwie war er Crawford furchtbar dankbar dafür, das erleben zu dürfen.
 

Die Nervenprobe hatte der Junge also auch überstanden. Sehr schön.

Auf der Autobahn wurde die Fahrt ruhiger; er blieb auf der linken Spur und fuhr weiterhin schnell, aber seine Konzentration ließ langsam nach. Er war anstrengend, der „Präkog-Modus“, und über lange Zeit konnte er diesen Zustand nicht aufrecht erhalten.

Es war bereits später Abend, als sie ankamen. Das Apartment, das Brad sich gemietet hatte, befand sich am Stadtrand von München. Er parkte den Wagen in der Tiefgarage, holte eine kleine Sporttasche und einen großen, schweren Karton aus dem Kofferraum, und dann ging es mit dem Fahrstuhl in den neunten Stock.

„Wir haben die gesamte Etage für uns“, informierte er seinen neuen Mitbewohner, als sie oben angekommen waren.

„Schließt du mal die Tür auf? Der Schlüssel ist in der Jackentasche…“
 

Das Apartment war ein Penthouse mit riesiger Dachterrasse und Fenstern, die vom Fußboden bis zur Decke gingen. Crawford mochte keine Räume mit kleinen Fenstern.

Wenn man die Wohnungstür öffnete, stand man direkt in einem großen Wohnraum mit moderner Couchgarnitur, Fernseher und Stereoanlage. Die Küche war in den Wohnraum integriert und durch eine Arbeitszeile von diesem abgetrennt. Sechs Türen führten in die angrenzenden Räume.

Crawford stellte den Karton ab, und öffnete sie nacheinander. Bad, Gäste-WC, Büro, Fitnessraum, und dann das Zimmer, das in Zukunft von Schuldig bewohnt werden sollte. Im Moment befand sich nur eine Schlafcouch und ein kleiner Tisch mit Stuhl darin.

„Ich wusste nicht, wie du es möchtest. Du kannst es nach deinem Geschmack einrichten. Morgen gehen wir einkaufen. Neue Klamotten brauchst du auch…“

Seine Augen glitten kurz an der mageren Gestalt entlang. Dann nickte er zu der sechsten Tür, die als einzige noch verschlossen war.

„Das ist mein Zimmer. Zutritt ohne Erlaubnis verboten, verstanden? Willst du auch einen Kaffee?“
 

Schuldig wachte erst auf, als Brad den Wagen abstellte, und sah sich verschlafen um. Hm. Tiefgarage. Okay. Er stieg aus, gähnte leise und streckte sich, dann folgte er mit seiner Tasche in der Hand dem Amerikaner zum Lift.

Noch ahnte er nicht, was gleich auf ihn zukommen würde und so fummelte er ohne mit der Wimper zu zucken den Schlüssel aus Crawfords Tasche.

Als er dann allerdings die Tür aufschloss und Schuldig das Appartement betrat, erschlug ihn die Weitläufigkeit der Zimmer beinahe. Unbewusst zog er den Kopf ein wenig ein und traute sich gar nicht, irgendwo anders hinzusehen als auf das Stückchen Boden zwischen seinen Schuhspitzen. Eingeschüchtert nickte er nur, als er hinter dem Älteren hertappte und rasche Blicke in die einzelnen Zimmer warf.

In seinem eigenen Zimmer verschwand die Couch und der Tisch mit dem Stuhl fast - und zu allem Überfluss schlug der Schwarzhaarige auch noch vor, einkaufen zu gehen. Einkaufen... Das war auch so etwas, das der junge Telepath noch nie getan hatte. Und wenn er ehrlich war, hatte er ein wenig Horror davor. Noch dazu wusste er ja gar nicht, was er überhaupt brauchte. In der Schweiz war in seiner kleinen Zelle auch nicht mehr gewesen als das, was hier stand. Brauchte man denn mehr?

In diese erschreckenden Gedanken versunken nickte er nur zu der Anweisung, Zutrittsverbot zu Brads Zimmer zu haben, ohne wirklich etwas davon mitzubekommen. Dafür beschäftigte ihn die übelkeitserregende Aussicht auf die folgenden Tage viel zu sehr.

Die Frage nach dem Kaffee registrierte er dann jedoch sehr wohl wieder. Schüchtern hob er den Kopf an, um Brad anzusehen. Die leichte Panik, die er verspürte, spiegelte sich in seinen Augen wider, doch er kämpfte tapfer dagegen an und nickte.

"Einen Kaffee kann ich jetzt wahrscheinlich gut brauchen", nuschelte er verlegen - vor allem auch, weil er absolut keine Ahnung hatte, was er sonst sagen sollte.
 

Brad werkelte geübt mit der Kaffeemaschine herum, während er sich in Gedanken mit der unangenehmen Tatsache beschäftigte, dass er keinen Schimmer hatte, wovor der Junge solche Angst hatte. Vor ihm etwa? Oder war er nicht schwindelfrei und kam mit den Panoramafenstern nicht klar? Die Panik in seinen Augen war jedenfalls nicht zu übersehen.

Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung davon hatte, wie er sich jetzt weiter verhalten sollte. Die Teams, in denen er gedient hatte, waren ja alle schon komplett gewesen. Wie man sich in den ersten Tagen miteinander verhielt – großes Fragezeichen.

Und wie war das überhaupt für Telepathen, die aus der relativen Einsamkeit der Hochalpen plötzlich in einer Großstadt landeten? Er konnte sich nicht vorstellen, was in seinem Kopf gerade vorging. Crawford hatte zwar schon mit Telepathen zusammen gearbeitet. Aber so gern diese auch die Gedanken anderer erkundeten – was ihre eigenen Gedanken anging, so hielten sie sich äußerst bedeckt.

Er stellte zwei Kaffeetassen auf den runden Esstisch, der am Fenster stand, und bedeutete dem Jungen, der schüchtern herumstand, sich zu setzen. Wenn es also Höhenangst war, würde sich das gleich klären.

„Wie trinkst du den Kaffee? Mit Milch? Zucker?“
 

Höhenangst hatte Schuldig nicht. Noch nie gehabt. Nein, ihn verunsicherte immer noch einfach die Größe der Räume und der Luxus, der hier herrschte.

Tief durchatmend schlich er auf den Tisch zu, spähte neugierig aus dem Fenster und setzte sich dann. Wenn er sich auf Crawford fixierte, würde ihn vielleicht seine Umgebung nicht ganz so erschlagen...

"Schwarz, danke", antwortete er leise auf die freundliche Frage hin und behielt seine Augen fest auf den großgewachsenen Mann gerichtet. Wenn er nicht gerade aus dem Fenster sah, weil ihn das Panorama mächtig beeindruckte.

Seine Barrieren waren hart nach oben gezogen, das war in diesem Fall überlebenswichtig für ihn, wenn er nicht durch die ganzen Gedanken allein der Menschen in diesem Haus hier wahnsinnig werden wollte. So bekam er auch von den Überlegungen des Amerikaners absolut nichts mit.

Neugierig schnupperte er, als ihm das volle Aroma des Kaffees in die Nase stieg. Mh, das schien etwas anderes zu sein als das, was er gewohnt war... Na, da war er jetzt aber mal gespannt. Er griff nach der Tasse, die Brad vor ihm abgestellt hatte, und trank einen Schluck - bei dem er sich prompt erst mal die Lippen verbrannte. Mit einem kleinen Fluch stellte er die Tasse wieder ab und starrte sie wütend an. Wieso war das Zeug so heiß?

Dann hob er den Blick wieder an, weiter ohne auf seine Umgebung zu achten, und sah den Schwarzhaarigen fest an.

"Wieso soll ich eigentlich japanisch lernen?", war das erste, das ihm zu fragen einfiel.
 

Jaja, er erinnerte sich gut an das lauwarme Gesöff im Institut, er hatte ja erst heute Nachmittag wieder das zweifelhafte Vergnügen gehabt.

Amüsierte beobachtete Crawford den Jungen, wie er erst an dem Kaffee schnupperte, sich dann die Zunge verbrannte und schließlich den Kaffee anstarrte, als könne er was dafür.

Very sweet. Ja, er war wirklich süß. Auch wie er hier so unsicher durch die Wohnung tappte… wie ein junger Hund, den man seiner Mutter entrissen hatte und zum ersten Mal allein in eine fremde Umgebung setzte…

Als Schuldig den Blick hob, bemühte sich Brad schnell wieder um eine ernstere Miene.

„SZ plant da eine größere Sache in ein paar Jahren“, erklärte er im Plauderton. „In Japan. Und ich habe vor, dabei zu sein. Das scheint das Ereignis des Jahrhunderts zu werden, so wie die Alten sich aufführen. Das lasse ich mir nicht entgehen. Und falls wir gut miteinander klar kommen, wirst du mich natürlich begleiten. Falls nicht – bist du um eine Fremdsprachenkenntnis reicher. Schadet ja nichts.“

Er hielt die Kaffeetasse fest mit den Händen umschlossen und genoss die Hitze, die seine Finger durchströmte. Auch er trank den Kaffee schwarz. Stark und schwarz.

„Wir sind von nun an ein Team. Und ich bin für dich verantwortlich. Also, wenn irgendetwas ist… wenn du was wissen willst, oder wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du jederzeit zu mir damit kommen, klar?“
 

"Und in der Zwischenzeit bleiben wir hier in München?"

Bei dieser Frage schlug dem Telepathen das Herz deutlich im Hals. Oh Gott. So nahe an seiner Familie war er seit... damals nicht mehr gewesen. Etwa fünfzig Kilometer entfernt und doch unerreichbar weit weg.

Der Telepath seufzte und überlegte kurz. Ein Team mit dem Amerikaner. Japan - das andere Ende der Welt. Die Überraschungen schienen heute kein Ende mehr zu nehmen.

"Naja. Japanisch werde ich wohl erst in Japan lernen. Es sei denn, du bringst mich hier mit Japanern zusammen", meinte er nach einigen Sekunden des Schweigens. Es war keine Frage, dass er mit dem Amerikaner klar kommen würde. In dieser Hinsicht war er durch seine Ausbildung flexibel genug und konnte mit wem auch immer perfekt zusammenarbeiten, wenn er nur wollte.

Die nächsten Fragen drängten sich so schnell über seine Lippen, dass er erst merkte, dass er etwas fragte, als er sich selbst reden hörte.

"Und wann lernst du mir fahren? Krieg ich ein eigenes Auto?"
 

Crawford lachte leise über diesen Stimmungswechsel. Auf Schuldigs Frage, ob sie in München bleiben würden, hatte er nur genickt.

„Na, na. Kaum aus dem Nest gehüpft, und gleich ein eigenes Auto haben wollen? Zuallererst steht der Führerschein auf dem Programm, oder glaubst du, ich bin lebensmüde? Du gehst ganz normal zur Fahrschule. Die… Feinheiten des Fahrens werde ich dich lehren. Meinetwegen fangen wir morgen damit an. Und warum brauchst du Japaner? Kannst du nicht lesen?“

Davon hatte gar nichts in der Akte gestanden. Einen Analphabeten konnte er eigentlich nicht gebrauchen…
 

Der junge Telepath seufzte und bedachte den Amerikaner mit einem leicht gereizten Blick.

"Natürlich kann ich lesen", protestierte er gegen diese Frage. Was dachte sich der Andere denn eigentlich? Dass er doof war, oder was?

"Ich brauche Japaner, um japanisch zu lernen", erklärte er, als würde er einem kleinen Kind die Funktion eines Bilderbuchs erklären. Doch er ahnte schon, dass diese Aussage allein nicht reichen würde.

"Wenn die Menschen reden, haben sie Bilder zu den Worten in ihren Köpfen. Die hol ich mir zum Klang der Worte. Und so lerne ich Sprachen sehr schnell. Wozu soll ich also Wörterbücher wälzen?", gab er dann eines seiner kleinen, gut gehüteten Geheimnisse preis, ließ dabei aber den Kopf ein wenig hängen. Die ganzen Jahre hatte er diese Technik geübt und verfeinert und nun war er gezwungen, das zu verraten. Unfair. Ausgesprochen unfair, fand er.

Auf die zweite Aussage des Älteren hin schnaubte er ebenfalls ein wenig frustriert und verzog das Gesicht zu einer Schnute. Fahrschule... Das klang ebenfalls furchtbar anstrengend. Und langweilig.

Schuldig seufzte.
 

„Ach“, machte Crawford und beugte sich interessiert vor. „Das ist ja praktisch. Allerdings möchte ich, dass du die Sprache beherrschst, bevor wir mit irgendeinem Japaner zusammen treffen. Aber das ist kein Problem. Spreche ich eben von nun an Japanisch mit dir.“ Den letzten Satz sagte er schon in der fremden Sprache. „Allerdings wirst du nicht drum herum kommen, wenigstens die wichtigsten zweihundert Kanji zu lernen… sonst bist du womöglich in Japan tatsächlich ein Analphabet…“

Er nippte an seinem Kaffee. Er trank ihn am liebsten schön heiß.

„Wenn du Hunger hast, bedien dich ruhig. Allerdings ist im Moment nicht viel da. Müssen wir morgen alles besorgen. Du kannst hier alles benutzen – nur mein Zimmer ist tabu.“

Das konnte er nicht oft genug wiederholen. Seine Privatsphäre war ihm sehr wichtig.
 

Den Wechsel zwischen den Sprachen vollzog der Ältere so schnell, dass Schuldig im ersten Moment gar nicht reagierte.

"Okay", seufzte er dann. "Aber dann brauch ich einen permanenten Link zu dir, sonst klappt das nicht." Seine Augen leuchteten für den Bruchteil einer Sekunde urangrün auf, dann stand die Verbindung zu Brad, auch wenn Schuldig dabei so vorsichtig und sanft gewesen war, dass der Andere davon wahrscheinlich gar nichts mitbekommen hatte.

Noch antwortete er auf Englisch, da er ja erst die Grundkenntnisse der Sprache brauchte, um darauf aufbauen zu können. Aber er kannte sich - es würde unglaublich schnell gehen, bis er sich mit Crawford auf japanisch unterhalten konnte.

Die Sache mit den Kanji allerdings ließ ihn wieder das Gesicht verziehen. Er war klug und lernte schnell, aber er brauchte für so etwas oft genug einen Tritt in den Hintern. Von allein raffte er sich selten auf, um etwas zu lernen, eben weil ihm vieles einfach auch zuflog oder er es sich aus den Gedanken seiner Lehrer hatte holen können.

Probeweise nippte er nun auch noch einmal an seinem Kaffee und fand ihn trinkbereit, weswegen er einen großen Schluck nahm.

"Uhm... Einkaufen...", kam ihm unbewusst über die Lippen, als er die Tasse zurück auf den Tisch stellte. "Muss das sein?"
 

„Yes, muss sein. Ich werde nicht den Leibdiener für dich spielen. Wir sind hier nicht im Institut, wo für alles gesorgt ist.“ Sein Tonfall blieb locker und scherzend. Allerdings hatte er das Aufblitzen der Augen gesehen, und so mischte sich eine Spur Unruhe in die nächste Frage: „Einen permanenten Link? Und was bedeutet das im Klartext?“

Er mochte es nicht, konnte es noch nie leiden, wenn jemand seine Gedanken mitlas. Das war ein Gefühl… als hätte man einen Bandwurm, nur nicht im Bauch, sondern im Kopf. Crawford hatte natürlich noch keinen Bandwurm gehabt, aber so stellte er sich das vor – man wusste, dass da jemand in einem drin war, der da nicht hingehörte, und der mit aß.

Unangenehm auf jeden Fall.

Unangenehm und womöglich gefährlich.

Hieß es nicht so schön – die Gedanken sind frei… Nun, bei Rosenkreuz und bei SZ waren sie das nicht. Ein falscher Gedanke bei einer falschen Person gelandet – konnte einem den Kopf kosten.

Er versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Auch wenn das vielleicht erst recht idiotisch war, wenn Schuldig schon in seinem Kopf drin war.

Also versuchte er stattdessen, sich zu entspannen. Dass er Rosenkreuz verabscheute, hatte er den Telepathen schließlich schon im Institut durch seine abfälligen Bemerkungen wissen lassen…
 

Schuldig bekam Brads Sorgen auf dem Silbertablett serviert, bevor der überhaupt noch wusste, dass er sich Sorgen machte. Er lachte leise und verzog sich aus den Bereichen, die ihn nichts angingen.

"Das bedeutet nur, dass ich mir das ansehe, was an Bildern in deinem Kopf abgeht, wenn du mit mir sprichst. Ich lasse alles andere in Ruhe, keine Angst." Ein kleines, leicht arrogantes Schmunzeln huschte über seine Lippen. Er wusste um die Angst der Psi-Begabten vor Telepathen. Das war eine Macht, die man nicht unterschätzen durfte. Aber er konnte den Älteren wirklich beruhigen.

"Weißt du...", begann er leise und wusste, dass er sich auf gefährlich dünnes Eis begab. "... mich interessieren deine Gedanken nicht. Es ist mir egal, wie deine Pläne aussehen, welche Geheimnisse du hast oder ob du Rosenkreuz magst oder nicht. Was ich durch Zufall aufschnappe, werfe ich sofort wieder aus meinem Kopf."

Er hoffte, dass das reichte, um den Anderen zu entspannen. Es war nicht so günstig für seine Zwecke, wenn Brad eine Art Schere im Kopf hatte, die die Bilder, die er brauchte, zerschnippelte. So konnte er nicht arbeiten. Da wäre die Mühe umsonst. Und es war ja auch für ihn anstrengend, sich dauernd in Brads Geist herumzutreiben. Eine so oberflächliche und doch gezielte Verbindung brauchte unglaublich viel Konzentration und er durfte sich keinen Fehler dabei erlauben.
 

„Na, das hoffe ich auch“, knurrte er unwillig. Dabei ließ er offen, was genau er damit meinte, Schuldig bekam es ja sowieso mit – er meinte alles! Dass er sich nur die „Bilder“ zu den Wörtern ansah. Dass er alles andere in Ruhe ließ. Dass ihn seine Gedanken nicht interessierten. Dass er alles Aufgeschnappte sofort wieder aus seinem Kopf werfen würde… haha, wer’s glaubt!

Er nahm noch einen Schluck Kaffee, versuchte sich weiter zu entspannen und schalt sich selbst (nicht ganz ernst gemeint) einen Schwachkopf. Früher oder später würden sie diesen Link einsetzen müssen, je eher sie das übten, umso besser. Und mit Üben meinte er nicht nur Schuldig. Brad musste sich auch daran gewöhnen. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass sie gleich am ersten Abend damit anfangen würden.

„Okay, okay.“ Er seufzte leise. „Wenn es denn der Sache dienlich ist, meinetwegen.“

Auf Schuldigs arrogantes Schmunzeln ging er nicht ein, auch wenn er es bemerkt hatte. Aber das war normal. Sie wurden darauf gedrillt, ihre Fähigkeiten einzusetzen, und jeder der Psi-Begabten war dem anderen in irgendeiner Form überlegen. Er selbst war ja auch nicht anders.

//Du weißt zwar, was ich denke//, dachte er. //Aber ich weiß, was du wissen wirst, und dann kann ich an was anderes denken, und dann weißt du gar nichts, ätsch!//

Er verschluckte sich fast an seinem Kaffee als er sich bei diesen kindischen Gedanken ertappte. Herrje! Das konnte ja noch heiter werden, wenn das so weiter ging…
 

Dieser Gedanke traf Schuldig wie ein Hammerschlag.

"Bist du albern", war seine verständnislose Reaktion darauf, die er mit einem Kopfschütteln unterstützte. Er hätte sich für diese Kinderei auch anders 'bedanken' können, mit einem mentalen Schlag nämlich. Aber das wäre dann doch zu krass gewesen.

Geräuschvoll schob er seinen Stuhl zurück und stand auf, starrte dann einen Moment lang den Älteren wütend an und fragte dann leise: "Wieso holst du dir einen Telepathen, wenn du ihm nicht traust? Sind für dich alle anderen auch nur 'Monster', die eigentlich aus dem Weg geräumt gehörten?"

Das war unfair und er wusste das eigentlich auch, doch der alte Frust, oft genug so betitelt worden zu sein, brannte noch in ihm. Und zwar viel zu heiß. Er war lange genug als Versuchsobjekt behandelt, als Monster betitelt und ausgestoßen worden. Eigentlich hatte er gedacht, in einem Team, bei seinem Leader, nicht auf diese Vorurteile zu stoßen. Doch da hatte er sich wohl geirrt...

Der Junge schob ordentlich den Stuhl zurück an den Tisch, wandte sich wortlos um und wollte in sein Zimmer gehen. Der Hunger, den er zuvor noch gehabt hatte, war ihm ordentlich vergangen.
 

Schnell stand Crawford ebenfalls auf und stellte sich ihm in den Weg. Auf keinen Fall wollte er, dass sie am ersten Tag so auseinander gingen.

„Du hast recht“, sagte er ernst und sah den anderen eindringlich an. Er sprach weiterhin Japanisch, ließ die mentale Verbindung zwischen ihnen also deutlich gewollt bestehen. „Das war albern. Ich… es ist ungewohnt für mich, und ich bin müde. Ich hätte das auch niemals laut ausgesprochen. Entschuldige.“

Er sprach diese Worte nicht aus Berechnung und suchte auch keinerlei Hinweise aus der Zukunft, welche Worte den Telepathen wieder beruhigen würden – er meinte es völlig ernst. Denn Schuldig hatte noch in anderer Hinsicht recht: Wenn Crawford damit nicht klar kam, musste er auf Telepathie im Team verzichten…

„Und nein – ich denke nicht, dass du ein Monster bist. Lass uns morgen weiter machen, okay? Wenn du mit mir nicht klar kommst – du kannst es dir immer noch anders überlegen.“

Er trat zur Seite und gab den Weg wieder frei.
 

Der Telepath blieb wie angewurzelt stehen, als Brad sich ihm in den Weg stellte. Äußerlich komplett gelassen, innerlich allerdings aufgewühlt, hörte er sich die Entschuldigung an, forschte dabei in den braunen Augen ebenso nach einer Lüge wie in den Gedanken des Anderen. Hätte er eine gefunden, wäre er auf der Stelle zurück zu Rosenkreuz gegangen. Unter solchen Umständen wollte er nicht arbeiten. Auf keinen Fall.

Doch er fand nichts als Ehrlichkeit bei dem Amerikaner. Zumindest im Bezug auf ihn.

Schuldig seufzte und ließ den Kopf einen Moment lang hängen.

"Wir müssen uns beide daran gewöhnen", murmelte er. Sich für seine harschen Worte zu entschuldigen, fiel ihm im Traum nicht ein. Dafür versuchte er sich an einem erneut wackligen Lächeln, das einmal mehr einfach nur unsicher ausfiel, aber auch seine Zuversicht ausdrückte. Er mochte den Schwarzhaarigen und glaubte fest daran, dass sie zusammenarbeiten konnten, wenn sie beide es nur wollten.
 

„Ja“, sagte Crawford knapp. „Dann gute Nacht. Morgen um neun möchte ich los fahren.“

Er ließ Schuldig stehen, ebenso wie seinen nicht ausgetrunkenen Kaffee und öffnete die Tür zu seinem Zimmer einen Spalt. Dann schleppte er den schweren Karton, den er vorhin einfach mitten im Wohnzimmer abgestellt hatte, in sein Reich und schob die Tür mit dem Fuß zu.

Den Karton ließ er neben dem riesigen Schreibtisch auf den Boden plumpsen und sich selbst in den bequemen Ledersessel, der am Fenster stand.

Puh!

Er nahm die Brille ab und rieb sich über die Augen. Er war wirklich müde. Und das eben war beinah schief gegangen. An seinem Sinn für Humor musste Schuldig noch arbeiten.

Er musste allerdings auch den Kopf über sich schütteln, was er da auf einmal für einen kindischen Scheiß zusammengedacht hatte. Er beruhigte sich damit, dass wohl jeder seine bekloppten Gedanken hatte – nur fiel einem das erst dann auf, wenn man einen empfindlichen Telepathen um sich hatte.

Nun gut. Er würde in Zukunft besser auf seine Gedanken acht geben. Das war eine sehr gute Übung.

Und er hatte über diesen Aspekt der Telepathie noch nie nachgedacht – dass es wahrscheinlich des Öfteren nicht so angenehm war, um die unausgesprochenen Worte der anderen zu wissen. Nicht umsonst gab es für normal Sterbliche den Unterschied zwischen dem, was man sagte und dem, was man sich lediglich dachte.

Crawford seufzte leise und rappelte sich aus dem Sitz wieder hoch, bevor er noch einschlief. Er trat an den Karton und holte die Bücher hervor. Auch ohne seine Brille erkannte er jedes einzelne. Das waren seine Schätze, die ihn bei Rosenkreuz davor bewahrt hatten, den Verstand zu verlieren. Sorgfältig sortierte er sie in sein Bücherregal, das fast eine ganze Wand einnahm. Alle Möbel waren aus dunklem Holz und schwarzem Leder, und die Bücher füllten das Regal bis unter die Decke. Beinahe zärtlich strichen seine Fingerspitzen über die Buchrücken. Da standen uralte Werke über Religion, Schöpfungsmythen und Märchen aus allen Ländern der Erde neben Büchern über außersinnliche Wahrnehmung, Astronomie, Biologie, Numerologie und Quantenphysik und noch vieles mehr. Auch wenn er nicht alles im Kopf hatte – er wusste immerhin, wo er nachlesen konnte!

Aber jetzt war er hundemüde. Er streifte nur die Schuhe von den Füßen, zog das Jackett aus und ließ sich aufs Bett fallen. Normalerweise schlief er nackt. Aber im Moment wäre ihm dabei nicht wohl. Er musste sich auch erstmal daran gewöhnen, seine Wohnung mit jemandem zu teilen.

Sobald er die Augen schloss, war er tief eingeschlafen.
 

Einen Augenblick lang stand Schuldig wie verloren da, ließ den Kopf wieder hängen und atmete tief durch. Dann hörte er das Schlagen von Brads Zimmertür, wandte kurz den Kopf in die Richtung und verzog das Gesicht leicht. Na, das hatte er ja mit Bravour versaut...

Geknickt schlich er zu seinem eigenen Zimmer, blieb einen Moment noch unschlüssig vor der Tür stehen, schalt sich dann einen Narren und betrat den Raum. Seufzend sah er sich um. Okay, es sah wirklich ... unpersönlich aus. Mehr als das. Karg. Das traf es wohl eher. Auf der anderen Seite war das nichts, was Schuldig nicht jahrelang schon erlebt hatte. Er hatte also keinen Grund, sich zu beschweren. Die Schlafcouch sah bequemer aus, als es seine harte Pritsche bei Rosenkreuz gewesen war, und das war doch auch schon eine Menge wert.

Sogar eine Decke und ein Kissen befanden sich darauf, die beide unglaublich kuschelig aussahen. Bezogen waren sie mit einem schwarzen Stoff, den der Telepath nicht einordnen konnte. Langsam ging er auf die Couch zu, strich mit den Fingerspitzen über die Decke und bekam große Augen. Weich. Glatt. Und kühl.

Unbewusst lächelte er leicht. Bestimmt würde sich das wunderbar auf der Haut anfühlen...

Probeweise setzte er sich auf die ausgezogene Couch und wippte ein wenig. Wow! Schuldig, der bisher einfach ein hartes Brett als Schlafunterlage gehabt hatte, war begeistert. Das federte ja sogar! Wie ein richtiges Bett!

Das Lächeln verstärkte sich und wurde zu einem breiten, fast schon glücklichen Grinsen. Er strampelte sich die klobigen Schuhe von den Füßen, riss sich die labbrige Jeans von den Beinen und zerrte das ausgeleierte Shirt über den Kopf. Mit einem freudigen Glucksen sprang er ins Bett - wortwörtlich. Die Federn quietschten ein wenig, doch sogar das entlockte dem jungen Telepathen ein erfreutes Kichern. Mit einem wohligen Seufzen kuschelte er sich in den kühlen Stoff, der sich wohl auch in der Nacht nicht sonderlich erwärmen würde, wie er vermutete. Aber das war wirklich nicht schlecht, immerhin war es Sommer und die Temperaturen entsprechend.

Eigentlich hatte der Junge erwartet, ziemlich lange wach zu liegen, nach all dem, was heute geschehen war. Doch als er sich die Decke bis zur Nasenspitze zog, so dass nur noch die wilde, orange Mähne herauslugte, merkte er, wie müde er doch eigentlich war. Und obwohl er schon fast im Halbschlaf war, zog er aus reiner Gewohnheit seinen Schutzschild so hoch, dass nichts und niemand eine Chance hatte, ihn mental zu erreichen. Es war wirklich eine Wohltat, wenn einem seine Gedanken nur selber gehörten...

Er ruckelte sich zurecht, kuschelte sich noch tiefer in das Kissen, und schlief ein.

Überraschenderweise war sein Schlaf so fest, dass er tatsächlich bis zum nächsten Morgen völlig ungestört durchschlief.
 

Brad wachte früh auf.

Obwohl es nach zwölf gewesen war, als er sich hingelegt hatte, zeigte der Wecker erst fünf Uhr an und zeugte von Brads innerer Nervosität, die er nach außen hin so gut zu verbergen wusste. Von der Effektivität seines Teams hing viel ab. Es würde nicht genügen, zweitklassige Arbeit zu liefern, wenn er in Japan eingesetzt werden wollte.

An erneutes Einschlafen war nicht zu denken.

Seufzend erhob er sich, schlüpfte aus seinen Sachen und in den Trainingsanzug und tappte, nach einem kurzen Abstecher ins Bad, durch die vom ersten sanften Morgenlicht matt erhellte Wohnung in den Sportraum. Es war so still, als hätte er das Apartment noch für sich.

Ein Glück – Schuldig schien nicht zu schnarchen!

Eine viertel Stunde Joggen auf dem Laufband mit Blick auf den rot gefärbten Himmel, danach bearbeitete mit kräftigen Schlägen den Sandsack, bis ihm der Schweiß durch das Gesicht lief und sein T-Shirt dunkel färbte. Danach dehnte er gründlich alle wichtigen Muskelgruppen, bevor er in der Küche ein riesiges Glas Leitungswasser leer trank und anschließend im Bad verschwand, um zu duschen und sich zu rasieren.

Inzwischen war es halb sieben.
 

Das Geräusch des prasselnden Wassers aus der Dusche holte den Telepathen aus dem Schlaf. Er setzte sich auf, rieb sich verschlafen die Augen und sah sich anschließend um, weil er im ersten Augenblick nicht wusste, wo er überhaupt war. Als ihm wieder einfiel, was geschehen war, schwang er gähnend die Beine über die Bettkante und rappelte sich wenig schwungvoll in die Höhe. Gott, er hatte morgens immer eine immens lange Anlaufzeit...

Nur in Shorts bekleidet, in denen er geschlafen hatte, tappte er aus dem Zimmer, wuschelte sich dabei erneut gähnend durch die Haare und brachte so seine Mähne noch mehr in Unordnung.

Sein erster Weg führte ihn in die Küche. Kaffee. Ohne ging gar nichts bei ihm. Ein wenig ratlos sah er sich in der Küche um. Klar, wie eine Kaffeemaschine funktionierte, war ihm im Prinzip klar. Wo der Amerikaner allerdings die Filter und das Kaffeepulver versteckt hatte, war das viel größere Problem. Durch die Schränke wollte sich der Junge nämlich nicht unbedingt wühlen müssen...

Leicht genervt seufzend stützte er sich auf der Arbeitsfläche ab und bedachte die Maschine mit einem todbringenden Blick. Was das Gerät allerdings nicht im Mindesten beeindruckte.
 

Ein Handtuch um die Hüften geschlungen, kam Brad aus dem Badezimmer. Er war frisch rasiert, aber seine schwarzen Haare standen noch nass in alle Richtungen vom Kopf ab. Das und die Tatsache, dass er seine Brille nicht trug, ließ ihn mit einem Mal um Jahre jünger erscheinen. Er war schon halb an ihm vorbei, bevor er Schuldig bemerkte.

„O-hayô gozai-mass“, begrüßte er ihn mit einer leichten Verbeugung. „Schön, dass du schon wach bist.“ Naja, sehr wach wirkte er allerdings nicht, wie er da so über der Arbeitsplatte hing und die Kaffeemaschine anstarrte. „Der Kaffee ist im Schrank über der Maschine“, fügte er noch hinzu, während er sich schon wieder abwandte, um in seinem Zimmer zu verschwinden. Er steckte noch einmal den Kopf raus: „Ach, und im Bad steht ein Wäschekorb für die schmutzige Wäsche. Die Putzfrau nimmt sie zweimal die Woche mit. Obwohl… du kannst deine Sachen auch weg schmeißen, wenn du willst. Kriegst heut eh neue.“

Und dann war Schuldig auch schon wieder allein, als sich die Tür schwungvoll hinter dem Amerikaner schloss.
 

"Ohayoo", gab der Telepath ganz automatisch zurück, ohne dass es ihm bewusst auffiel. Aber das war das beste Zeichen dafür, dass seine Taktik aufging. Ebenso unbewusst stellte er die Verbindung zwischen ihnen wieder her und blinzelte danach müde den besagten Küchenschrank an. "Hai", murmelte er, öffnete das Fach und holte den Kaffee heraus. Nachdem er nicht so wirklich wusste, wieviel Pulver zu wieviel Wasser gehörte, machte er den Filter fast voll und gab dann eine dreiviertel Kanne Wasser in den Tank, drückte auf den roten Knopf und wartete mit wachsender Begeisterung, bis die ersten, schwarzen Tropfen in die Glaskanne platschten.

Na, der Kaffee würde wohl auch ohne ihn durchlaufen...

Schuldig tappte ins Bad, zog sich die Shorts aus und stellte sich unter die Dusche, aus der - oh Wunder! - sogar auf Anhieb warmes Wasser kam. Es dauerte keine fünf Minuten, bis er fertig gewaschen wieder aus der Duschwanne kam und sich in ein großes, weiches Handtuch hüllte. Mit einem leisen Seufzen hob er die Shorts auf, die er nur auf den Boden fallen lassen hatte, und nahm sie mit in sein Zimmer. Na, wenn er neue Klamotten bekam, würde er die hier auch nicht mehr brauchen... In Gedanken stellte er sich schon vor, was der Amerikaner für ihn aussuchen würde - und verzog das Gesicht bei der Vorstellung, in Zukunft in Anzügen herumlaufen zu müssen. Naja. Auch das würde er überleben...

Noch halb feucht, weil er sich nur flüchtig abgetrocknet hatte, schlüpfte er in frische Shorts, zog die Jeans wieder an und nahm sich ein Shirt aus der Tasche. Einen Moment lang betrachtete er es zweifelnd, dann zog er es sich über die nassen Haare. Ein wenig mutlos sah er an sich hinab. Die weiten, ausgeleierten Kleider verdeckten wenigstens, wie dünn er eigentlich war. Auch ein Vorteil...

Nicht so ganz von sich überzeugt schlurfte er zurück in die Küche, um endlich an seinen Kaffee zu kommen. Das Wasser aus seinen Haaren zog nasse Spuren über das Shirt und tropfte schließlich auf den Boden und markierte so seinen Weg in die Küche.
 

Crawford kam fast zeitgleich aus seinem Zimmer wie Schuldig, jetzt wieder adrett in Hemd und Bügelfaltenhose, mit Brille und gekämmtem Haar. Allerdings standen die oberen beiden Knöpfe offen, und auf eine Krawatte verzichtete er auch – für seine Verhältnisse war er also durchaus leger gekleidet.

Missbilligend betrachtete er die dicken Tropfen, die Schuldig quer durch die Wohnung hinterließ, aber er verzichtete auf einen Kommentar. Er machte sich lediglich in Gedanken eine Notiz, dass die Reinemachefrau von nun an eventuell öfter kommen musste.

Dafür schmeichelte sich der köstliche Duft von frischem Kaffee in seine Nase. Das WG-Leben schien also durchaus auch seine guten Seiten zu haben.

Er griff in den Schrank, holte einen Topf hervor und ließ Wasser hinein laufen.

„Es ist nicht viel da, aber für eine Misosuppe zum Frühstück reicht es. Möchtest du?“
 

Schuldig goss sich gerade eine Tasse mit Kaffee voll, als plötzlich Brad wieder hinter ihm stand. Er zuckte ein wenig zusammen und blinzelte den Älteren dann an.

"Was ist Misosuppe?", fragte er neugierig, während er mit der Tasse in der Hand zum Esstisch hinüberwanderte und sich auf einen der Stühle setzte. Eine kurze Weile betrachtete er den Amerikaner und fragte sich dabei einmal mehr, ob es nun auch seine Pflicht sein würde, in derart steif aussehenden Klamotten herumzulaufen.

Leise seufzend trank er einen Schluck, beobachtete den Älteren aber weiter über den Rand der Tasse hinweg. Naja. Eigentlich sah das ja gar nicht so schlecht aus. Oder besser: Brad sah gar nicht so schlecht aus... Mit einem vernehmlichen Klacken stellte er die Tasse auf den Tisch und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was war das denn auf einmal für ein Mist? Solche Sachen hatte er noch nie zuvor gedacht - und er würde sicher jetzt nicht damit anfangen.
 

„Misosuppe ist…“ Wie sollte er das beschreiben? „… japanisch.“

Er füllte Wasser für zwei Portionen in den Topf und stellte ihn auf den Herd.

„Probier’s einfach.“

Er griff in das Gefrierfach über dem Kühlschrank, holte eine Tüte mit Tiefkühlgemüse heraus und kippte Blumenkohl, Möhren und Brokkoli zu dem Wasser. Den Rest verstaute er wieder sorgfältig.

Dann schenkte er sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein, und wollte gerade einen Schluck nehmen, da warnte ihn seine innere Stimme vor einem ungenießbaren bitteren Geschmack im Mund. Kritisch beäugte er das tiefschwarze Getränk, das aussah, als könnte man damit Komapatienten wiederbeleben. Er beschloss, das seinem Magen nicht anzutun, stellte die Tasse wieder hin und befüllte den Wasserkocher.

„Schmeckt dir der Kaffee so?“ fragte er dabei beiläufig, aber mit ehrlichem Interesse in der Stimme.
 

Na, dann würde er sich wirklich mal überraschen lassen müssen. Das, was Crawford aus dem Gefrierfach holte, sah auf jeden Fall schon mal schrecklich gesund aus. Schuldig überlegte. Suppe zum Frühstück. So was konnte echt nur Japanern einfallen. Zu diesem Schluss kam er jedenfalls, bevor ihn Brads Frage aus der Überlegung riss.

"Hä?", meinte er ein wenig verwirrt, nippte nochmal von dem Kaffee, der der Beste war, den er jemals getrunken hatte.

"Ja. Schmeckt", nickte er bekräftigend. "Warum?"
 

„Okay…“, machte Crawford und zog das Wort in die Länge wie einen Kaugummi. „Wenn ich den so trinke, schlafe ich die nächsten drei Nächte nicht, glaub ich…“

Er kippte die Hälfte seines Kaffees in den Ausguss und füllte die Tasse dann wieder auf mit dem heißen Wasser.

Toll, dachte er. Der Junge schafft es am ersten Morgen, dass ich mich wie ein Opa fühle.

Das Bild einer uralten Frau mit weißem Haar und tausend Falten im Gesicht tauchte in seinem Kopf auf, die den Kaffee stets mit Wasser verdünnt hatte, und er verdrängte den Gedanken an sie rasch wieder.

Er wartete noch, bis die Suppe anfing zu köcheln, drehte die Temperatur herunter, tat einen Deckel auf den Topf und setzte sich dann mit seiner Kaffeetasse zu Schuldig an den Tisch.

„Und? Hast du dir schon überlegt, was du für dein Zimmer noch brauchst?“
 

Dieses 'Geständnis' brachte den jungen Feuerkopf zum Lachen und wieder einmal entspannte er sich zusehends.

"Na, dann weißt du ja jetzt, an wen du dich wenden musst, wenn du mal durchmachen willst", schmunzelte er. Doch schon im nächsten Augenblick verschwand das strahlende Lachen von seinem Gesicht und machte einmal mehr einem verlegenen und unsicheren Ausdruck Platz.

Er holte tief Luft und ließ dann seufzend die Schultern hängen.

"Ich hab keine Ahnung, was ich brauchen könnte. Ein Bett ist da, ein Tisch ist da... Vielleicht noch einen Schrank...?" Die letzten Worte kamen leise und fast unverständlich über seine Lippen. Schuldig schaute von unten her durch seine Ponysträhnen, die ihm über die Augen fielen, in Brads Gesicht auf und machte sich schon innerlich auf einen Anpfiff gefasst, dass es kein Schrank sein musste, sondern ein Regal auch reichte...
 

Was hatte er denn jetzt schon wieder falsch gemacht, fragte sich Brad ratlos, als er die plötzliche Unsicherheit bemerkte.

„Okay… Ein Schrank. Und was noch?“

Er dachte an Schuldigs zellenartiges Zimmer bei Rosenkreuz, und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Der Junge hatte tatsächlich keine Ahnung, womit er sein Zimmer füllen sollte!

„Weißt du was – wir gehen einfach zusammen durch das Möbelgeschäft, dann fällt dir vielleicht noch was ein“, schlug er vor. „Ansonsten eilt das ja auch nicht. Ich wollte nur…“ Er stockte kurz, dann zuckte er innerlich die Schultern und sprach den Satz dann doch zu Ende. Schließlich würde Schuldig merken, wenn er etwas anderes sagen würde als das, was er gedacht hatte. „Ich will, dass du dich hier wohl fühlst.“
 

Wie bitte? Ruckartig hob Schuldig den Kopf und sah ernst und in gewisser Weise auch lauernd in das Gesicht des Älteren. Nur mit viel Mühe hielt er sich davon ab, sofort im Gedächtnis des Anderen nach einer Lüge zu suchen. Nein. Wenn sie zusammenarbeiten wollten, sollten sie lernen, sich zu vertrauen. Auch wenn das dem Telepathen schwer fiel.

In seiner Miene spiegelte sich Neugierde, gemischt mit Vorfreude und einer kleinen Prise Furcht vor dem, was auf ihn zukommen würde. Dann hob er die Mundwinkel an, in dem Versuch, ein wenig ablenkend zu lächeln.

"Ich fühle mich hier wohl", nuschelte er dann und konnte dabei nicht verhindern, dass sich seine Wangen rot verfärbten und seine Augen regelrecht zu strahlen begannen.

"Ich bin fertig, wenn du dann los willst."
 

„Moment, Moment!“ Crawford lachte leise. „Erst wird gefrühstückt.“

Essen schien dem Jungen nicht so wichtig zu sein. Vorhin, ohne Brille, hatte Crawford ihn nicht so genau ansehen können, aber auch in angezogenem Zustand konnte man erahnen, wie dünn er war. Crawford war aber wichtig, dass er ordentlich versorgt war, sonst würde er auch keine ordentliche Arbeit leisten können.

Und außerdem hatte er selbst nach seinem morgendlichen Training richtig Kohldampf!

Er stellte zwei Essschälchen auf den Tisch, daneben legte er sorgfältig jeweils ein paar Stäbchen. An Schuldigs Platz legte er noch einen Löffel dazu.

Dann nahm er das Miso aus dem Kühlschrank, stellte den Herd ab und rührte zwei Esslöffel der dunklen Paste in die Suppe, die er anschließend in die Schälchen füllte.

„Itadakimass“, sagte er, bevor er die Stäbchen griff und damit die Gemüsestücke aus der Suppe fischte.
 

Frühstück? Naja, wenn es denn sein musste... Aufmerksam beobachtete Schuldig, wie Brad den Tisch deckte, und runzelte beim Anblick der Stäbchen leicht die Stirn. Ganz toll... Ihm war klar, dass er auch das lernen musste, um sich nicht ganz zu blamieren, wenn er irgendwann mit dem Amerikaner in Japan sein würde. Tz, da hatte er gedacht, wenn er erst einmal von Rosenkreuz weg sein würde, hätte sich die Lernerei erledigt. Von wegen. Sie hatte sich nur auf ein anderes Level verlegt.

Ein seltsamer Geruch drang von der Kochzeile zu ihm herüber und der Telepath schnupperte misstrauisch. Das roch komisch... Okay, dagegen war eigentlich nichts einzuwenden, aber... irgendwie...

Skeptisch beäugte er die Schüssel, die der Ältere vor ihm abstellte, sah dann fragend auf. Als Brad ihn ansprach, holte er sich die erwartete Antwort ganz einfach aus dessen Kopf: "Itadakimasu!" Dann griff er nach den Stäbchen, indem er sie so in die Hand nahm, wie er es bei seinem Gegenüber sah, und versuchte ebenfalls, sich ein Stückchen Gemüse zu angeln. Ganz so einfach, wie es aussah, war es nicht, aber in solchen Dingen hatte der Telepath eine schier unglaubliche Geduld. Stolz schob er sich das erste Stück in den Mund, kaute darauf herum - und musste sich beherrschen, um es anschließend nicht einfach über den Tisch zu prusten. Das. War. Widerlich. Ein anderer Ausdruck fiel ihm dafür nicht ein.

Angespannt und sehr tapfer schluckte er das kleine Stück Gemüse, sah dann leicht verzweifelt zu dem Älteren und fragte wehleidig: "Was genau ist das jetzt?"
 

Crawford kaute genüsslich auf seinem Gemüse und schlürfte zwischendurch die Suppe direkt aus der Schale, wie das in Japan üblich war.

Unbeeindruckt beobachtete er, wie Schuldig sich erst mit den Stäbchen abmühte, nur um dann als zweifelhaften Lohn vor Abscheu das Gesicht verziehen musste.

„Miso ist eine Paste aus fermentiertem Getreide. Sehr gesund. Aber du kannst auch nachher in der Stadt was anderes essen.“

Wenn er allerdings die japanische Küche generell nicht mochte, würde er in Japan ein Problem haben… Oder sie wären Stammgäste bei McDonalds.
 

"Aha", machte der Telepath ein wenig irritiert, gab sich einen innerlichen Ruck und der Suppe eine zweite Chance. Doch auch da schmeckte es nicht wesentlich besser als beim ersten Mal. Er legte die Stäbchen beiseite, schlug die Beine übereinander und widmete sich ausschließlich seinem Kaffee. Das reichte ihm vollkommen.

"Isst du das oft?" erkundigte er sich vorsorglich, um sicherzustellen, dass er in diesem Haushalt nicht verhungern musste, sollte so etwas öfter auf dem Speiseplan des Amerikaners stehen. Die Alternative, in der Stadt etwas zu essen, war wirklich hervorragend. Und vor allem würde er da dann wohl auch Hunger haben - was er jetzt noch absolut nicht hatte.
 

„Ja. Schon. Irgendwie habe ich mir das in den letzten Monaten so angewöhnt – ich bin ja erst seit zwei Wochen wieder in Europa. Aber das heißt natürlich nicht, dass du das auch essen musst“, fügte er noch schnell hinzu.

Er schlürfte den Rest Suppe aus, trank den Kaffee leer und stand auf.

„Gut, dann können wir ja jetzt los.“

Vorher allerdings räumte er noch sein Geschirr in die Küche. Er mochte es gern ordentlich. Und bislang war das ja auch kein Problem gewesen…

3.
 

Aufmerksam hörte der Telepath den Ausführungen des Amerikaners zu und hob überrascht eine Augenbraue. Crawford war also schon im Ausland gewesen, und wie es aussah, sogar in Japan. Er sagte nichts dazu - die Vergangenheit des Anderen ging ihn nichts an, und wenn Brad ihm etwas erzählen wollte, würde er das sicher irgendwann von selber machen.

Während der Andere das Geschirr wegräumte, trabte Schuldig zurück in sein Zimmer und schlüpfte in seine Schuhe, wuschelte seine inzwischen trockenen Haare zu einer wahren Mähne auf und stand gleich darauf bereit an der Wohnungstür.
 

Im Auto kombinierte Crawford den Japanisch- mit dem Fahrunterricht, indem er alle Verkehrsschilder, an denen sie vorbei fuhren, erklärte, und auch sonst viel von dem kommentierte, was er tat, – Schalten, Blinker, Vorfahrtsregeln…

Nebenbei zeigte er ihm ein wenig von der Stadt, damit sich Schuldig möglichst rasch allein zurecht finden konnte.

In der Innenstadt steuerte er das Parkhaus einer großen Einkaufsgalerie an. Dort gab es ein Klamottengeschäft neben dem nächsten, von Young Fashion bis zu Designer-Anzügen war alles zu finden.

„Dann such dir mal was aus“, sagte er nur und überließ dem jungen Telepathen die Führung.
 

Die Fahrt ins Zentrum war durchaus interessant, auch wenn Schuldig ein wenig Mühe hatte, sich nur auf die Gehirnwellen des Schwarzhaarigen zu konzentrieren und alle anderen auszuschalten. Allerdings würde das nicht mehr lange nötig sein, denn er merkte selbst, wie er von Sekunde zu Sekunde mehr von der Sprache verstand.

Und so ganz nebenbei auch eine Menge über das Autofahren lernte...

Als sie in dem Parkhaus standen, atmete der junge Feuerkopf tief durch, drängte die Nervosität zurück und ging tapfer neben seinem Leader her. Wohin der ihn allerdings brachte, verschlug dem Jungen die Sprache. Mit großen Augen lief er von einem Schaufenster zum nächsten, bis sein Blick an etwas hängenblieb, das ihm den Mund offenstehen ließ. Ohne zu zögern betrat er das Geschäft, obwohl er eigentlich wusste, dass er den Älteren um Erlaubnis fragen sollte. Immerhin würde der erst mal für ihn bezahlen müssen...

Doch an all das dachte der junge Telepath nicht. Wie in Trance ging er auf einen Kleiderständer zu, an dem genau die Teile hingen, die im Schaufenster ausgestellt gewesen waren. Er drehte sich zu Brad um, die grünen Augen leuchteten begeistert, als er ihm eine Jeans entgegenhielt, die nicht nur wie eine zweite Haut sitzen würde, sondern die auch aus mehr Löchern und ausgefransten Rissen als aus Stoff bestand. Mit der anderen Hand griff er noch einmal in den Kleiderständer und holte ein schwarzes T-Shirt hervor, das einen unverschämt großen Ausschnitt besaß, der ihm unter Garantie über die Schulter rutschen würde, und ansonsten aussah, als hätte es irgendwer durch den Reißwolf gejagt.

"Bekomme ich das... bitte?", fragte er höflich - und so schüchtern, dass er kaum zu verstehen war.
 

Brad zuckte die Schultern mit unbewegtem Gesichtsausdruck. „Klar.“

Er hatte das Gefühl, eine verpuppte Raupe aus dem Institut mitgenommen zu haben. Er war gespannt, was für ein Schmetterling sich daraus entwickeln würde. Oder Nachtfalter, wer weiß. Die Wahl der Kleidung gab wichtige Hinweise darauf, was für ein Mensch Schuldig eigentlich war.

Und so süß er Schuldig in diesen schüchternen, unsicheren Momenten auch fand – er wusste, dass das der Rosenkreuzdrill war, der ihm noch im Nacken saß. Brad hielt davon nicht allzu viel. Angst lähmte, und Lähmung minderte die Leistung. Er hatte das in vielen Teams beobachtet, denn die meisten setzten die strenge Hierarchie in ihrer Arbeit fort.

„Bedien dich ruhig. Du brauchst noch mehr“, sagte er aufmunternd. „Schließlich muss dein Schrank auch voll werden.“
 

Im ersten Augenblick dachte der Junge, er hätte sich verhört. War das gerade ein Freifahrtschein gewesen, sich wirklich einmal das zu nehmen, was er wollte? Nicht, was ihm zugeteilt wurde, sondern was ihm wirklich selber gefiel? Er kaute kurz auf seiner Unterlippe herum, entschied dann aber, es einfach auszuprobieren. Bestimmt würde Crawford ihn stoppen, wenn er es übertrieb... Vorsichtshalber verschwand er mit den zuerst ausgewählten Sachen in einer Umkleidekabine - er war sich nicht ganz sicher, ob er die richtige Größe gewählt hatte. Als er sich dann jedoch in diesen Sachen im Spiegel betrachtete, bekam er einmal mehr große Augen. Oh wow! Bisher hatte er sich nie für etwas Besonderes gehalten - okay, seine Haarfarbe war ungewöhnlich, aber damit hatte es sich auch schon. Aber jetzt... Das tiefe Schwarz des Shirts unterstrich seine leuchtende Mähne ebenso wie das klare Grün seiner Augen und ließ sein Gesicht interessant und anziehend wirken; durch die Risse schimmerte eine Menge leicht gebräunter Haut. Okay. Damit wusste er jedenfalls schon mal eine Stilrichtung und vor allem die passende Größe, obwohl er überlegte, sich die ganzen Sachen eine Nummer größer zu nehmen, damit er noch ein wenig Platz hatte, um hineinzuwachsen.

Er zog sich wieder um, kam aus der Kabine, lächelte den Älteren schwach und entschuldigend an und begann dann mit einer Kleiderauswahl, wie er sie noch nie getroffen hatte. Einige Jeans, die zwar nicht alle durchlöchert, jedoch ausnahmslos knalleng waren, fanden ebenso ihren Platz auf Crawfords Armen wie eine Anzahl der verschiedensten Shirts. Wobei er auf das 'Übliche' so gut wie verzichtete und sich nur Teile aussuchte, die ein klein wenig gewagt waren - auch wenn ihm das wirklich nicht bewusst war. Eine Lederjacke und sogar ein Sakko und eine weite Leinenhose gefielen ihm ebenfalls so gut, dass er sie mitnahm und sie - wie schon die anderen Kleidungsstücke - auf Brads Armen ablud.

Nach etwas über einer Stunde nickte er endlich zufrieden.

"Okay, ich glaub, das war's...", nuschelte er verlegen, als ihm auffiel, wie viel er dem Anderen da zumutete.

Auf dem Weg zur Kasse jedoch kamen sie noch an Regalen mit Tüchern und Schmuck vorbei. Schuldig blieb kurz stehen, betrachtete die Gegenstände, warf einen raschen Seitenblick zu seinem Leader, griff dann nach zwei Schaltüchern, einem gelben und einem schwarzen, sowie zu ein paar dünnen Lederbändern, die man sich um das Handgelenk wickeln konnte. Genau das hatte er auch vor, jedenfalls mit den Bändern. Für die Schals hatte er eine andere Verwendung...

Nachdem sie bezahlt hatten - Schuldig wäre am liebsten im Boden versunken, als er hörte, wie viel sein kleiner Einkaufsrausch kostete - schnappte sich der Telepath die beiden Sachen, wegen denen er überhaupt erst in das Geschäft gekommen war, jagte in die Umkleidekabine zurück und zog sich um. Wieder war er erstaunt, wie sehr er sich mit den neuen Kleidern veränderte... Eines der Lederbänder wickelte er sich lässig um das Handgelenk, den schwarzen Schal schlang er sich um den Kopf und wuschelte seine Mähne darüber. Nun war er wirklich gespannt, was Brad zu diesem Outfit sagen würde. Mit laut klopfendem Herzen zog er den Vorhang zurück, kam langsam aus der Kabine und ging mit gestraffter Haltung, geschmeidigen Bewegungen und einem nervös-fragenden Blick auf den Amerikaner zu.
 

Das war wahrhaftig ein anderer Mensch, der da aus der Umkleidekabine kam.

Crawford hob die Augenbrauen, zog die Mundwinkel nach unten und nickte bedächtig. Das war zwar nicht gerade sein Kleidungsstil, aber Schuldig sah… sexy aus. Aber das konnte er ihm natürlich nicht sagen. Schlimm genug, dass er den Gedanken womöglich aufgefangen hatte.

„Das ist doch mal ein außergewöhnlicher Geschmack“, sagte er nur in trockenem Ton. „Aber das passt zu dir.“

Er drückte Schuldig die beiden riesigen Einkaufstüten in die Hand.

„Komm. Es fehlt noch was.“

Er ging voran und blieb vor einem kleinen Geschäft mit Herrenunterwäsche stehen.
 

Der Telepath fing den Gedanken nicht auf, er war gerade viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um sich darum zu kümmern, was andere von ihm denken mochten. Er nahm die beiden Taschen, die Crawford ihm in die Hand drückte, und verließ aufgeregt und komischerweise auch ziemlich stolz das Geschäft. Also eines war klar: hier würde er wieder mal herkommen!

Dann runzelte er die Stirn. Es fehlte noch etwas? Er schielte unauffällig an sich hinunter und schmunzelte dann. Stimmte ja, er brauchte auf jeden Fall noch neue Schuhe. Die hier passten echt nicht zu den Klamotten!

Als Brad vor dem Unterwäschegeschäft stehen blieb, lief der Telepath knallrot an.

"Das ist jetzt nicht dein Ernst!", stotterte er verlegen, strich sich schlagartig gestresst durch die Haare. Doch wie es aussah, meinte der Amerikaner das vollkommen ernst. Gottergeben schloss Schuldig die Augen, atmete tief durch und betrat dann das Geschäft.
 

Amüsiert über Schuldigs Verlegenheit folgte er ihm. Mit dem gleichen ungerührten Gesichtsausdruck wie in dem vorigen Geschäft beobachtete er seinen jungen Teamkollegen. Es gab hier alles – von ordinären Boxershorts bis hin zu Stringtangas. Was würde er wählen? Er tat ihm nicht den Gefallen, diskret zur Seite zu blicken. Dazu machte ihm das hier viel zu viel Spaß.
 

Unschlüssig kaute sich der Junge wieder einmal auf der Unterlippe herum und warf ein ums andere Mal verzweifelte Seitenblicke auf den Älteren. Aber den schien das Ganze absolut nicht zu stören... Schuldig seufzte innerlich und sprang schließlich einmal mehr über seinen Schatten.

Er begutachtete zuerst die Boxershorts, rümpfte die Nase. Nein. Diese ekligen Schlabberdinger hatte er lange genug getragen. Und außerdem würde man die unter den knallengen Jeans deutlich sehen. Das war ja doof.

Dann kam er zu Retroshorts, die ebenfalls wie eine zweite Haut anlagen. Ohja. Das war schon mal richtig gut! Er schnappte sich ein paar davon und wanderte dann weiter, bis er vor der Auswahl Strings stand. Bamm! Wieder lief er tiefdunkelrot an und wollte sich schon abwenden. Doch da fiel sein Blick wieder auf den irgendwie amüsiert aussehenden Amerikaner. Machte Brad das gerade mit Absicht? Schuldig verengte die Augen, knirschte kurz mit den Zähnen und fing dann an, sich etwas mehr für die Tangas zu interessieren. Mit einem zähnefletschenden Grinsen nahm er sich auch eine Auswahl davon mit, von denen einige sogar absichtlich extrem aufreizend waren, durchsichtig, mit Netzeinsatz, eine sogar mit Nieten verziert.

Hocherhobenen Kopfes ging er damit zur Kasse und überließ dem Älteren das Bezahlen.
 

Crawfords Mund verzog sich zu einem Grinsen, als er den Blick des Jüngeren und die darauf folgende Auswahl an Tangas bemerkte. War ihm sein kleines Spielchen also aufgefallen. Nun, wenigstens reagierte er nicht so beleidigt wie am Abend zuvor. Das war doch schon mal ein Fortschritt.

Er folgte ihm allerdings nicht sofort zur Kasse, sondern suchte ihm noch ein paar schlichte, weiße Unterhemden aus, wie man sie unter einem Anzug tragen konnte. Dann erst stellte er sich neben ihn, wies allerdings die Verkäuferin noch an, von jedem Slip, den Schuldig ausgewählt hatte, noch drei zusätzlich einzupacken. Es gab Dinge im Leben, von denen konnte man nicht zu viel haben. Unterhosen gehörten für Crawford eindeutig dazu.

„Socken brauchst du auch noch“, sagte er, als sie wieder draußen standen.

Socken waren schnell gekauft. Doch auch hier achtete der Amerikaner darauf, dass einige weiße dabei waren.

Denn…

„Wir sind noch nicht fertig. Komm.“

Diesmal ging es in eines der nobleren Geschäfte. Dort gab es Anzüge in allen Formen und Farben.

Crawford überging den skeptischen Blick des Verkäufers auf seinen Begleiter. Schuldig in seinem neuen Outfit sah nun wirklich nicht nach dem richtigen Klientel für dieses Geschäft aus.

„Mein junger Freund hier braucht neue Geschäftskleidung. Ich dachte da an zwei helle und zwei dunkle Dreiteiler. Wenn Sie uns bitte behilflich wären…“

„Sehr gerne.“ Der Argwohn war aus den Zügen des Verkäufers verschwunden. Jetzt standen da eher die Dollarzeichen. „Wenn Sie mir bitte folgen würden.“

Die nächsten zwei Stunden durfte Schuldig damit verbringen, Anzüge und Krawatten anzuprobieren und an sich herumzupfen zu lassen. Dieses Mal duldete Crawford keinen extravaganten Geschmack, sondern kommentierte gnadenlos:

„Zu bunt.“

„Zu eng.“

„Zu grell.“

„Zu modern.“
 

Das war ein Alptraum. Es musste einer sein.

Schuldig stand da wie eine Modepuppe, mit der ein irres Kind spielte, und ließ sich von einem Anzug in den nächsten stecken. Okay, hier hatte er definitiv kein Mitspracherecht, das begriff er von der ersten Sekunde an. In sich hinein seufzend ließ er also alles über sich ergehen, was der Amerikaner samt Verkäufer mit ihm anstellten, und schickte ein Stoßgebet ums andere zum Himmel, dass die beiden sich bald ausgetobt hätten. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, schienen die beiden sich einig zu sein und der Telepath war um einen weißen, einen cremefarbenen und zwei schwarze Anzüge reicher.

Zu dem ganzen Drama sagte er nichts, er hatte sofort verstanden, warum Crawford solchen Wert auf 'Geschäftskleidung' legte. Klar, er konnte ja schlecht in seinen zerfetzten Jeans - so genial sie für ihn auch waren - vor eventuelle Auftraggeber treten und erwarten, ernst genommen zu werden. Hier tat der Rosenkreuzdrill einmal mehr seine Wirkung - diesmal sogar im positiven Sinne. Ein kleines, durchaus süffisantes Lächeln huschte über die Züge des Telepathen, als er vor einen Spiegel geschoben wurde und sich in diesem erwachsenen Outfit bewundern konnte. Okay, er musste zugeben, dass Brad einen ausgezeichneten Geschmack und der Verkäufer ganze Arbeit geleistet hatte. Man sah ihm seine sechzehn Jahre nicht mehr an, dafür wirkte er beinahe schon seriös und vor allem vertrauenswürdig. Interessant, was Kleider doch für Wirkung haben konnten... Auch wenn er sich nicht sonderlich wohl darin fühlte. Aber das war nichts, was er nicht schon gewöhnt war.

"Sind wir fertig?", fragte er leise und mit einem sehr geduldigen Gesichtsausdruck, der nicht wirklich zu ihm passte. Allmählich wurde ihm langweilig, und das war noch nie sonderlich förderlich für seine Umwelt gewesen.

Als er das zustimmende Nicken seines 'Chefs' sah, seufzte er erleichtert auf, flitzte in die Kabine zurück und riss sich den letzten Anzug, der ihm aufgedrängt worden war, vom Leib. Er war heilfroh, wieder in seine Jeans zu kommen, auch wenn die beiden Männer im Geschäftsraum das wohl nicht so ganz nachvollziehen konnten.

Ein wenig gelöster stellte er sich neben Crawford und sah diesmal recht ungerührt zu, wie der Amerikaner seine Kreditkarte zückte. Allerdings zuckte er doch ein wenig zusammen, als er hörte, dass die vier Anzüge samt Hemden mehr kosteten als alles andere zuvor zusammen. Oh wow. Okay, dann sollte er wohl verdammt gut aufpassen, die teuren Stücke nicht sofort zu ruinieren...
 

Nachdem sie wieder in der breiten Einkaufsstraße standen, wandte sich der junge Telepath um und entdeckte das, worauf er die ganze Zeit über schon gehofft hatte: ein Schuhgeschäft. Ohne seinen Begleiter zu fragen, trabte er los und stand nur wenige Sekunden später zwischen hohen Regalen voller Schuhe. Zuerst sah er sich ein wenig ratlos um, doch dieser Zustand dauerte nicht lange. Ihm war klar, dass sich der Schwarzhaarige um die passenden Schuhe für die Anzüge kümmern würde - hoffte er zumindest! - und so konnte er sich dem widmen, was viel interessanter für ihn war: Turnschuhe und Stiefel.

Kurze Zeit später hatte er von jedem zwei Paar und war mehr als zufrieden damit. Ein Paar Turnschuhe behielt er gleich an; er war heilfroh, die dämlichen Treter loszuwerden, die er bisher hatte tragen müssen. Als er auf seinem Weg zu Crawford an einem Spiegel vorbeikam und einen raschen Blick hineinwarf, breitete sich einmal mehr ein mächtiges Grinsen auf seinem Gesicht aus. Donnerwetter, DAS hätte er nicht erwartet! Das war einfach... perfekt!

Schuldig schloss kurz die Augen und sondierte die Umgebung, ein heiß-kalter Schauer rieselte ihm dabei über den Rücken. Er zog tatsächlich sämtliche Blicke und Gedanken auf sich... Und ausnahmsweise einmal im positiven Sinne. Mit vergnügt blitzenden Augen und hochroten Wangen über die mehr als eindeutigen Gedanken der hier im Laden Anwesenden kehrte er zu seinem Begleiter zurück und sah ihn munter an.
 

Während Schuldig seine Schuhe auswählte, hatte sich Crawford schon einmal um die passenden Fußkleider für die Anzüge gekümmert – auf der anderen Seite des Verkaufsraumes. Auch wenn Schuldig sich bei den Anproben sehr geduldig gezeigt hatte, wollte Brad seine Nerven nicht weiter strapazieren. Er verwendete also seine Gabe, um festzustellen, ob die Schuhe, die er für geeignet hielt, auch passen würden. Ein helles Paar, ein dunkles, das würde für den Anfang reichen.

Als Schuldig mit seiner eigenen Ausbeute zu ihm zurückkehrte, hob er nur kurz die beiden Paare hoch:

„Sind die okay? Ja? Gut.“

Und ab zur Kasse.

Crawford brauchte eine Pause. Er sah auf die Uhr: Es war auch schon Mittag. Und der Junge hatte noch gar nicht gefrühstückt!

„Wir essen jetzt erstmal was“, bestimmte er. „Worauf hast du Hunger?“

Nach dem Desaster mit der Misosuppe sollte ruhig Schuldig entscheiden, wo sie einkehren würden.
 

Hunger? Schuldig legte die Stirn in Falten. Eigentlich hatte er gar keinen Hunger, aber er sah es dem Älteren an der Nasenspitze an, dass sich der mit einer solchen Antwort nicht zufrieden geben würde. Ein wenig die Nase rümpfend gab der Junge klein bei und überlegte. Nachdenklich blickte er die Einkaufsarkade entlang, bis sein Blick an etwas hängen blieb, bei dem er zu grinsen begann. Okay, das würde Brad wohl auch begeistern... Er deutete vage mit der Hand in die Richtung des Lokals, das er sich ausgesucht hatte. Natürlich konnte er die verschnörkelten Zeichen auf den roten Wimpeln nicht lesen, aber er hatte durchaus schon von Running-Sushi-Lokalen gehört und auch deren Prinzip verstanden. Und wenn er sich an alles, was japanisch war, gewöhnen sollte, war das wohl ein guter Anfang. Vor allem, weil er dann auch gleich feststellen konnte, ob alles dort so grauenhaft schmeckte wie Misosuppe...
 

Überrascht stellte Brad fest, dass sich der Junge ausgerechnet für ein Sushi-Lokal entschieden hatte. Er lachte leise.

„Du bist mutig. Das gefällt mir.“

Sie brauchten fast einen kompletten zweiten Tisch, um ihre ganzen Einkaufstüten unterzubringen. Aber dann mussten sie sich nur noch bequem von den auf Band an ihnen vorbei gleitenden Köstlichkeiten bedienen.

„Pass auf mit der grünen Paste – ist höllisch scharf!“ warnte er Schuldig. Normalerweise machte es Spaß zuzusehen, wie Europäer zum ersten Mal Wasabi probierten. Aber bei dem Gedanken an seinen Misosuppengesichtsausdruck empfand Crawford so was wie Mitleid. Außerdem war Schuldig sehr brav gewesen, als Crawford die Anzüge für ihn ausgewählt hatte, also ersparte er ihm das.
 

Dankbar für die Warnung nickte Schuldig dem Älteren zu und fing dann an, sich von den kleinen Tellern zu nehmen, die an ihm auf dem Band vorbeizogen. Er war ziemlich froh, schon heute Morgen Stäbchen in der Hand gehabt zu haben, sonst wäre er spätestens jetzt doch aufgeschmissen gewesen. Ein wenig misstrauisch nahm er das erste Röllchen und schob es sich in den Mund, kaute mit einer auf unliebsame Überraschungen lauernden Miene und hob schließlich überrascht die Augenbrauen.

"Boah, ist das lecker!", lautete sein erstes Statement, mit dem er den Amerikaner vergnügt ansah. Echt jetzt, daran konnte er sich ohne Weiteres gewöhnen - wenn er davon ausging, dass Sushi in Japan noch besser schmeckte als das hier.

Vorsichtig tupfte er das nächste Röllchen in einen kleinen Klecks Wasabi, giggelte danach leise und leckte sich über die Lippen. Mit dem Zeug musste man wirklich sparsam umgehen, lautete sein Urteil, auch wenn ihm die Schärfe durchaus Lust auf mehr machte.
 

„Freut mich, dass es dir schmeckt. Dann wirst du mir in Japan wenigstens nicht verhungern.“

Und ich muss nicht ständig zu McDonalds, knüpfte er an seine Gedanken vom Morgen an.

„Wie wäre es dann jetzt noch mal mit einem Teller Miso?“ Er deutete mit seinen Stäbchen auf eine Schüssel mit bräunlicher Suppe, die gerade an ihnen vorbei zog.

Entspannt lehnte er sich in seinem Sitz zurück und begutachtete sein Werk. Schuldigs Geschmack war… merkwürdig, aber durchaus zu ihm passend. Schillernd, jung, ausgeflippt, selbstbewusst waren die Worte, die ihm dazu einfielen. Und gewagt.

Er bekam eine Ahnung davon, was noch auf ihn zukommen würde.

Aber auch im Anzug machte er eine gute Figur. Wenn er sich bei ihrer gemeinsamen Arbeit genauso gut fügen würde wie bei der Anprobe, würden sie ein gutes Team abgeben. Schuldig hatte Potential. Und sein Wille schien nicht zerbrochen worden zu sein bei Rosenkreuz, obwohl sich Crawford keine Illusionen darüber machte, dass seine Persönlichkeit natürlich Risse bekommen hatte. Niemand überstand die Jahre im Institut unbeschadet. Aber solange man die Scherben wieder zu etwas Ganzem zusammenfügen konnte, war alles in Ordnung.
 

Der Telepath hatte seine Fühler weitgehend eingezogen, so dass er von den Gedanken des Älteren rein gar nichts mitbekam. Inzwischen hatte er das meiste, das er brauchte, um sich mit Crawford einigermaßen auf japanisch unterhalten zu können. Alles andere war jetzt nur noch Übung, und wie es aussah, bekam er die auch mit jedem weiteren Satz, den sie beide sprachen.

Er sah den Teller mit der Misosuppe an und schüttelte grinsend den Kopf.

"Nein, danke!", lachte er abwehrend, strich sich leicht durch die Haare und brachte so seine Mähne noch weiter in Unordnung, warf sie dann schwungvoll über die Schulter zurück auf den Rücken.

"Und was machen wir als nächstes?", erkundigte er sich voller Tatendrang. Jetzt, nachdem er gesehen hatte, dass ihn Einkaufen nicht umbrachte, sondern eine Menge Spaß machte, wollte er es nicht so schnell aufgeben. Und wer wusste schon, vielleicht bekam er ja noch mehr tolle Sachen... Ein kurzer, fast liebevoller Blick glitt über die auf den Stühlen aufgestapelten Taschen. Ehrlich, er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal derart viel Spaß gehabt hatte. Von absolut genialen Klamotten, die nur ihm gehörten, ihm gefielen und auch passten, mal ganz zu schweigen.
 

„Als nächstes kümmern wir uns um dein Zimmer. Ich schlage vor, du schaust mal ein wenig in den Köpfen der Leute hier nach, wie die so wohnen und holst dir ein wenig Inspiration. Das kannst du doch, oder?“

Ein wenig lauernd betrachtete er sein Gegenüber. Die Testsituationen im Institut waren immer etwas anderes als die Praxis draußen in der Welt. Und er wusste, dass manche Telepathen gerade in größeren Menschenmengen Probleme mit ihrem Talent hatten.

„Zum Beispiel der Typ da hinten, der mit dem roten Pulli. Der ist doch etwa in deinem Alter. Wie sieht denn sein Zimmer aus?“

Crawford wusste, dass es nicht damit getan war, in die Gedanken des fremden Jugendlichen einzudringen. Denn der dachte höchstwahrscheinlich nicht gerade zufällig an sein Zuhause, sondern an irgendwelche anderen Dinge, und Schuldig musste ihn nicht nur lesen, sondern auch sein Bewusstsein gezielt auf das Gewünschte lenken.
 

Stirnrunzelnd wandte Schuldig den Kopf nach hinten, um zu sehen, wen der Andere meinte. Ein schiefes Schmunzeln bog einen Mundwinkel nach oben, als er wieder zu Crawford blickte. So ganz sicher war er sich nicht, was der Amerikaner damit bezweckte, er wusste lediglich, dass das nicht einfach nur ein harmloser Vorschlag gewesen war.

Schuldig machte einen tiefen Atemzug, fixierte die goldbraunen Augen seines Gegenübers und verlinkte sich mit dem Jungen im Bruchteil einer Sekunde. Und zwar -nur- mit dem Jungen.

Diesmal senkte er die Lider nicht, er ließ Crawford sehen, was er bisher geheim gehalten hatte: das deutlichste Zeichen für den Einsatz seiner Telepathie - das giftgrüne Aufleuchten seiner Augen.

Mühelos begab er sich in das Unterbewusstsein des Jugendlichen, ließ dessen aktuelle Gedanken komplett außen vor, grub nur in den Erinnerungen, bis er hatte, was er wollte. Hm. Naja. Nicht so ganz sein Stil, die Einrichtung, aber immerhin konnte er sich jetzt vorstellen, was ein 'normaler' Teenager in seinem Zimmer hatte.

Er nickte leicht, ließ Crawford keine Sekunde aus den Augen und lächelte dann deutlicher. So beiläufig, als würde es keine Mühe machen, schloss er sich an das Denken des Amerikaners an und überspielte ihm die Bilder, die er von dem Jungen empfing. Eine kleine Demonstration seinerseits - es machte verdammt viel Spaß, ein bisschen anzugeben. In diesem Rahmen stellte seine Aktion auch noch keine wirkliche Herausforderung für ihn dar. Schwerer wurde es, wenn er mehr Menschen miteinbeziehen musste, egal ob als Sender oder Empfänger. Und wenn er das nicht nur wenige Minuten, sondern eine geraume Weile tun musste, sich sozusagen in eine menschliche Telefonzentrale verwandelte, war das Ergebnis eine Migräne, die sich wirklich gewaschen hatte.

Aber das würde erstmal sein kleines Geheimnis bleiben - wer verriet schon freiwillig eventuelle Schwachstellen?
 

Hm, okay. Das schien ja mit Leichtigkeit zu funktionieren. Und nicht nur das – Crawford sah sogar selbst das Zimmer des Jugendlichen in allen Einzelheiten vor sich. Es war zwar immer noch ein unangenehmes Gefühl, dass Schuldig so unbemerkt in seinem Kopf ein und aus gehen konnte, aber jedes Ding hatte zwei Seiten. Wenn er sich eine ähnliche Situation auf einer Mission vorstellte oder bei einem Gespräch mit einem Auftraggeber, und ihm dann ebenfalls Bilder und Gedanken seines Gegenübers so frei Haus geliefert wurden, bekam das Ganze eine sehr nützliche Note.

„Schön“, bemerkte er nur kühl. Dann senkte er die Stimme zu einem leisen Raunen. „Dann steigern wir das Ganze mal ein wenig. Der Mann in dem grauen Anzug direkt am Nebentisch? Der seit einer halben Stunde so angeregt seiner Begleitung von seinem Kochkurs erzählt? Kannst du ihn dazu bringen, jetzt stattdessen sein Schlafzimmer zu beschreiben?“
 

Damit war klar, worauf Crawford es abgesehen hatte: Er wollte ihn austesten. Na, wenn es nicht mehr war als das; damit konnte der Telepath wirklich leben. Er hatte nichts dagegen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, auch wenn er sicher noch eine ganze Weile weiter trainieren musste, um in jeglichen Bereichen unvergleichlich zu werden. Das war sein großes Ziel: der beste Telepath zu werden, den es gab. Okay, er war schon jetzt besser als die meisten, aber er hatte noch lange keine Erfahrung. Die 'Praxis' hier sah doch wesentlich anders aus als die 'Theorie' im Institut, und Schuldig war nicht naiv genug, um zu glauben, dass er mit seinem Können jegliche Situation meistern konnte.

Die Aufgabe, die Crawford ihm allerdings gestellt hatte, kostete ihn lediglich ein müdes Lächeln. Okay, es bedeutete zwar eine kurzfristige Gedankenkontrolle und war damit etwas, was bei Rosenkreuz geübt, aber nicht sonderlich vertieft wurde. Man wollte schließlich keine Schüler, die sich gegen ihre Lehrer wandten - und damit hätten sie den Kindern die Fertigkeit für genau diese Möglichkeit gegeben.

Wieder strahlten die Iriden des Jungen auf und wieder hielt er seinen Blick fest in die braunen Augen seines Leaders gerichtet, während er sich die Erinnerung des Mannes an sein Schlafzimmer aus dessen Gedächtnis holte und ihn dann dazu brachte, lautstark von seiner schicken Einrichtung zu schwärmen. Die Frau, die sich in der Begleitung des Anzugträgers befand, sah zuerst ein wenig skeptisch drein, und nach und nach war ihr anzumerken, dass sie den plötzlichen Themenwechsel als mehr als peinlich empfand.

Schuldigs Gesichtsausdruck zeigte einen Moment lang einen Anflug von wahrhaftig teuflischem Vergnügen, dann steigerte er seine kleine Vorstellung, auch wenn Brad das nicht von ihm verlangt hatte, und ließ den Herrn mittleren Alters in den höchsten Tönen von seiner letzten heißen Nacht mit seiner Sekretärin erzählen - in einer Lautstärke, bei der auch der letzte im hintersten Eck des Lokals jedes Wort verstehen konnte. Mit hochrotem Kopf und entgeistertem Blick stand die Frau auf, warf einen verächtlichen Blick auf den Mann im grauen Anzug, schnappte sich ihre Handtasche, zischte ihm ein "Sie Schwein" zu und stöckelte hüftschwingend aus dem Lokal.

Schuldig lachte leise, ließ den Mann verstummen und den Kopf verlegen senken, und sah dann triumphierend seinen Chef an.

"Zufrieden?"
 

„Ja. Sehr.“ Crawford stimmte in das Lachen mit ein.

Er stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab, verschränkte die Finger ineinander bis auf die Zeigefinger, deren Spitzen er zusammen legte, und überlegte, wie er die Übung als nächstes steigern sollte.

„Bist du satt? – Gut. Dann werden wir jetzt gehen, ohne zu bezahlen, und ohne deswegen aufgehalten zu werden.“ Er musterte die geschäftigen Japaner hinter dem Tresen. Es war Mittagszeit und entsprechend viel zu tun. Der ältere Mann, der die Sushi formte, war allem Anschein nach der Chef hier. Dann war da ein Mädchen an der Kasse, das freundlich jedem Gast ein Lächeln schenkte. Ungeeignet. Aber der andere Angestellte, ein junger Mann, wirkte reichlich gestresst und hatte augenscheinlich auch am Meisten zu tun – Tische abwischen, Tabletts wegräumen und dem Chef assistieren, jedenfalls war er ständig beschäftigt und sah überfordert aus, auch wenn das Mädchen ihm zwischenzeitlich zur Hand ging. Crawford bemerkte auch die wenig freundschaftlichen Blicke zwischen ihm und dem Alten. Perfekt.

Sein Mund verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen.

„Und das ist noch nicht alles. Der junge Kerl da mit dem weißen Stirnband wird uns die ganzen Tüten zum Auto tragen.“

Er war wirklich gespannt, wie Schuldig die Aufgabe meistern würde.

Und er hoffte, der junge Japaner würde sich deutlich mehr zur Wehr setzen als der prahlerische Angeber vom Nebentisch - wenn Crawford die Situation richtig deutete, könnte er durchaus seinen Job verlieren, wenn er jetzt einfach den Laden verließ. Und der Chef schien renitent genug, um auf einer Bezahlung zu bestehen...

Crawford stand auf.

"He, Junge!" rief er den Mann auf Japanisch an. "Du hilfst uns mal hier mit den Taschen."

Der Mann hielt in der Bewegung inne - er war gerade dabei, das Fließband mit frischen Tabletts zu bestücken - und starrte Crawford erstaunt an.

„Wie bitte?“ fragte er, aber er hatte schon verstanden. //Ist der bescheuert…?!//, dachte er.
 

Okay. Die Forderung Crawfords hatte es in sich, das konnte Schuldig nicht bestreiten. Aber noch war es nichts, was er normalerweise nicht lösen konnte. Ebenso wie der Ältere sah er sich im Lokal um und taxierte die Angestellten. Na toll. Der Junge mit dem weißen Haarband sah nicht so aus, als würde er sich leicht übernehmen lassen - und auf genau das lief Brads Forderung hinaus. Je mehr sich jemand wehrte, desto mehr Stress bedeutete das für Schuldig. Was in logischer Konsequenz bedeutete, dass sich seine Kopfschmerzen schneller einstellen würden. Aber er sagte nichts und hoffte das Beste, als er noch einmal tief durchatmete. Diesmal sah er den Amerikaner nicht mehr an, sondern konzentrierte sich erst auf den Chef des Ladens und das Mädchen hinter der Kasse. Beiden suggerierte er ein, sie hätten ihr Essen durchaus bezahlt - was wesentlich einfacher war, als wenn er den Alten auch noch unter seiner Kontrolle behalten müsste. Der andere Angestellte war in dem Zusammenhang ebenfalls ein Klacks, da er schwer beschäftigt war. Unaufmerksamen Menschen konnte man solche Kleinigkeiten leichter in den Kopf pflanzen als aufmerksamen. Dennoch spürte der Telepath, wie sich der Geist des Alten gegen die Behandlung wehrte. Seufzend verstärkte er seinen Griff, erschuf eine falsche Erinnerung, in denen sie sogar ein nicht zu verachtendes Trinkgeld gegeben hatten, und kniff die Augen leicht zusammen, als er spürte, wie seine Taktik aufging. Von dem alten Japaner würde keine Gefahr mehr ausgehen - sie hatten das Essen umsonst bekommen und würden dafür nicht aufgehalten werden.

Der Junge wandte den Blick zu dem Kellner mit dem weißen Stirnband. Hier würde ein einfach mentaler Schubs nicht genügen... Schuldigs Augen leuchteten in einem intensiven Urangrün auf, er biss die Zähne zusammen und verband sich mit dem jungen Mann. Seine einzige Hoffnung lag darin, dass es Brad anschließend reichte, ihn auf die Probe zu stellen, sonst würde er eine höllische Nacht durchleben...

Wie ferngesteuert legte der Japaner seinen Lappen zur Seite und kam mit abgehackten, roboterartigen Bewegungen auf sie zu.
 

Er hatte überhaupt nicht vor gehabt, auf diesen unverschämten Kerl zu reagieren. Aber sein Körper bewegte sich unverständlicherweise auch ohne sein Zutun. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes ohne sein Zutun, denn seine Bewegungen waren normalerweise von der eleganten Geschmeidigkeit einer Katze; jetzt jedoch schienen seine Muskeln gar nicht richtig zu funktionieren, wie bei einer Marionette, wenn man zu ungeschickt an den Fäden zog.

//He! Was… Wieso…?//

Wieso tapste er auf die beiden Gäste zu, wenn er das doch gar nicht wollte? Dabei ging es ihm gar nicht vorrangig darum, dass er seine Arbeit gerade nicht unterbrechen konnte, sondern dieser arrogante Mensch da hatte ihn nicht einfach so herum zu kommandieren… Genau deswegen hatte er Japan verlassen, wegen dieser ständigen Schikanen, und er würde nicht zulassen, dass das in Deutschland wieder von vorne losging! Der Chef war schon schlimm genug.

Als er etwas ungelenk vor Crawford und Schuldig zum Stehen kam, war er schon schweißgebadet, von der Anstrengung, seine Beine an dem zu hindern, was sie unbeabsichtigt taten.

Er sah in das grinsende Gesicht des Dunkelhaarigen und wurde wütend.

„Ich werde nicht… Ihre Taschen… tragen…“ sagte er gepresst, aber bestimmt. Gleich ging es ihm besser. Er konnte einen Schritt zurück treten. Er wollte einfach wieder an seine Arbeit gehen!

„Doch“, entgegnete Crawford leise. „Genau das wirst du tun.“

Crawford betrachtete ihn. Schlank, aber muskulös, mit einem sehr ebenmäßigen Gesicht. Er war einer dieser asiatischen, androgyn wirkenden Männer, die auch als Frau hübsch aussehen würden. Es tat ihm fast ein wenig leid, dass er ihn in Schwierigkeiten brachte. Der Chef warf ihnen schon beunruhigte, fragende Blicke zu. Der würde sauer sein.

Gleichzeitig gratulierte er sich zu seiner Wahl. Das war genau die Art von Herausforderung, die er gebraucht hatte, um Schuldigs Fähigkeiten zu testen.
 

Der Kleine war ja richtig widerspenstig! Einen Moment lang lockerte Schuldig den mentalen Griff um den freien Willen des jungen Mannes - das war der Augenblick, in dem der Kerl einen Schritt zurück machen konnte - und packte dann umso fester zu. Es war klar ersichtlich, dass er noch Übung darin brauchte, es so aussehen zu lassen, als würde sein Opfer aus freiem Willen handeln, und die Bewegungen nicht so abgehackt und mechanisch wirken zu lassen. Aber auch darin würde er von Mal zu Mal besser werden... Und er hatte ja ohnehin vor, seine Fähigkeiten auch in solchen Sachen zu vervollkommnen.

Einmal mehr blitzten seine Augen in dem unheiligen Feuer auf, der junge Japaner nahm mit einem eindeutig entsetzten Gesichtsausdruck die Taschen auf, bis er wie ein Lastenesel aussah, und wandte sich ruckartig zum Ausgang um.

Schuldig ahnte, in welche Schwierigkeiten er den Typen brachte. Das Lokal war gut besucht, und er würde es sich bestimmt nicht leisten können, jetzt einfach das Geschäft zu verlassen. Noch während er den Stirnbandträger aus dem Lokal dirigierte, versenkte er sich noch einmal in den Geist des alten Kochs, der entgeistert und auch wütend drein sah. Zehn Sekunden später war dem Alten egal, dass sich sein Kellner auf den Weg machte, um die Gaijins zu bedienen.

Schuldig gluckste leise, auch wenn ihm die Anstrengung, die ihn diese Aktion kostete, durchaus anzusehen war.

Wie ein Puppenspieler dirigierte er den Japaner unbarmherzig durch die Menschenmenge des Einkaufszentrums hin zur Garage.
 

Sie zogen etliche Blicke auf sich, aber niemand hielt sie auf.

Oder, anders ausgedrückt: Der junge Japaner zog etliche Blicke auf sich, aber niemand half ihm.

Es sah ein bisschen wie eine Slapstick-Nummer aus, wie er sich vollbeladen mit den Tüten in ruckartigen Bewegungen vorwärts bewegte. Crawford bekam das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht. Ihn erinnerte das an einen Sketch von Monty Python, den mit dem „Silly walk“, wo mehrere merkwürdige Gangbilder komödiantisch dargestellt wurden.

Aber die meisten Leute, die ihn sahen, dachten wohl eher an eine Art Spastik, ihren mitleidigen Blicken nach zu urteilen.

Crawford hätte damit gerechnet, dass der Koch versuchen würde, sie aufzuhalten. Aber seinem plötzlich entspannten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte auch da Schuldig eingegriffen.

Sein Respekt vor Schuldigs Talent wuchs. Das war schon eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe, die er da gerade bewältigte. Es hatte sie auch niemand angesprochen, obwohl sie ganz offensichtlich die Zeche geprellt hatten.

Jetzt war er neugierig, wie weit er dieses Spielchen noch treiben konnte.

Er bemerkte, dass es für den Telepathen immer anstrengender wurde, denn der junge Mann wehrte sich noch immer verzweifelt gegen die Fremdbestimmung. Er sah, wie sie ihre stillen Kämpfe ausfochten daran, dass die Bewegungen manchmal noch stockender und holpriger wurden, der junge Mann es manchmal fast schaffte, stehen zu bleiben, nur um dann, wie von einem inneren Schubser angestoßen, weiter vorwärts getrieben zu werden.

Es war ein ungleicher Kampf.

Denn einer von ihnen wusste ja nicht einmal, wogegen er ankämpfte…

Am Auto angekommen, öffnete er die Kofferraumklappe und sagte liebenswürdig: „Hier hinein, bitte.“

Der Japaner hätte ihn am liebsten mit Blicken erwürgt, aber er verstaute nur die Taschen in dem Wagen.

Er verstand überhaupt nicht, was mit ihm los war. Er hatte versucht, stehen zu bleiben, umzudrehen - nichts davon ging. Warum gehorchte sein Körper diesem Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte? Er wollte das nicht, und es machte ihm Angst, und verbissen kämpfte er dagegen an, versuchte, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Ohne Erfolg.

„Vielen Dank“, sagte der Mann mit dem amerikanischen Akzent. „Und jetzt möchte ich, dass du mit deinem schönen Stirnband meine Schuhe sauber machst.“ Auffordernd streckte er ihm einen Fuß entgegen.

„Nein!“, sagte der Junge wütend, und bemerkte fassungslos, wie trotzdem seine Beine unter ihm wegknickten, während seine Hände schon ungeschickt an dem Band nestelten.

„Fick… dich…“, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und tat dennoch, wie ihm geheißen.

„Na, na“, machte Crawford tadelnd, sah jedoch dabei zu Schuldig und nicht zu dem vor ihm knienden Jungen. „Du hast es ja gleich geschafft. Eine Aufgabe habe ich allerdings noch für dich. Wir fahren jetzt los. Und du stellst dich da vorne hin und lässt dich von uns überfahren, ja?“

Er sah noch zu, wie der Junge sich ungeschickt aufrappelte und dann mit ruckenden Bewegungen Richtung Ausgang torkelte, bevor er sich hinter das Steuer setzte und den Motor aufschnurren ließ.

Jetzt ging es um Leben und Tod.

Er war neugierig, wie stark Schuldig war.
 

Mit den letzten Worten des Amerikaners war Schuldig eines klar: er würde heute eine höllische Nacht erleben. Doch er ließ sich nicht anmerken, dass ihm das eine gewaltige Panik einjagte. Er würde Crawfords Forderung ohne Zögern erfüllen. Ein Menschenleben bedeutete ihm nichts, absolut nichts. Für ihn waren seine Mitmenschen ohnehin nicht ... real. Nicht wirklich. Also konnte er auch keine Skrupel haben, den jungen Mann, der eigentlich nur das Pech hatte, als Übungspartner herzuhalten, von den Lebenden zu den Toten zu befördern.

Was allerdings durchaus schwierig war, war die Todesangst, die sich in den fast schwarzen Augen des jungen Mannes abzeichnete, niederzuringen. Crawford hatte sich - ob nun wissentlich oder unwissentlich - den schwersten Test überlegt, den es geben konnte. Es war einfach, die Gedanken von jemanden zu lesen und umzudrehen, es war einfach, jemandem, der nicht darauf gefasst war, etwas zu suggerieren, es war einfach, jemanden, der sich nicht wirklich wehren konnte, zu übernehmen. Es war NICHT einfach, die Kontrolle zu behalten, wenn der stärkste Instinkt, den ein Mensch hatte, angesprochen wurde: der Überlebenswille.

Natürlich war es machbar, den Kleinen ruhig zu halten, während er sah, dass der Wagen auf ihn zuraste. Und natürlich würde der Telepath in diesem ungleichen Kampf der Sieger bleiben. Danach allerdings... würde es wohl Essig sein mit dem Möbelkauf... Schuldig schnaubte unwillig. Schade. Er hatte sich schon richtig darauf gefreut...

Die Zähne fest zusammenbeißend, weil sich die ersten Kopfschmerzen durch die Widerspenstigkeit des Japaners bemerkbar machten, stieg er in den Wagen und ließ den Kellner zur Ausfahrtsschranke gehen. Jeder Schritt, den er den Anderen schickte, wurde schwieriger durchzusetzen als der vorherige.

Auf der Stirn des Telepathen bildeten sich die ersten Schweißtropfen, seine Hände zitterten vor Anspannung und Anstrengung. Doch er ließ nicht locker. Er war stark, er war verdammt stark - die meisten anderen Telepathen hätten auch bei noch so viel Erfahrung bei dieser Aufgabe das Handtuch werfen müssen. Das grüne Leuchten ließ keine Sekunde mehr nach, Schuldig hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, spürte seinen Pulsschlag dumpf in den Schläfen.

"Fahr endlich!", zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen, die Anstrengung war ihm deutlich anzuhören.

Erleichtert merkte er, wie der Mercedes Fahrt aufnahm. Er konzentrierte sich so sehr auf sein Opfer, dass er nichts anderes mehr wahrnahm, auch nicht, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte und sich seine Fingernägel durch die Haut der Handflächen bohrten. Mit jeder Sekunde nahm das Gefühl zu, irgendwer würde mit einem stumpfen Messer in seinem Schädel herumwühlen, doch auch darauf nahm er gerade keine Rücksicht. Starr wie eine Statue stand der Japaner mitten in der Fahrspur, war nicht mehr in der Lage, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Der innere Kampf jedoch tobte unvermindert weiter, und er machte es dem jungen Telepathen alles andere als einfach. Doch Schuldig würde nicht aufgeben, er würde den Kerl dort stehen lassen, und wenn es das letzte war, das er tat.
 

Er sah den Wagen auf sich zu rasen, und alles in ihm schrie danach, zur Seite zu springen, sich in Sicherheit zu bringen – doch sein Körper war stocksteif, es war unmöglich, auch nur einen kleinen Schritt zur Seite zu machen. Er kämpfte bis zum letzten Moment dagegen an, dann erst schloss er die Augen und wartete auf das Unvermeidliche, während sich unbemerkt seine Blase entleerte und sich eine dunkle Pfütze auf dem Asphalt zu seinen Füßen ausbreitete…

Konzentriert gab Crawford Gas und hielt direkt auf den Jungen zu, auf dessen Gesicht sich ein unbeschreibliches Grauen abzeichnete.

Crawford hatte nicht nur sehen wollen, wieweit Schuldig fähig war, andere Menschen zu manipulieren. Crawford wollte auch sehen, ob er bereit war, ohne Zögern zu gehorchen. Ohne Zögern zu töten.

Er war es.

//Er blieb dort stehen, bis der Mercedes ihn erfasst hatte. Ein Ruck ging durch den Wagen, sein Körper wurde zur Seite geschleudert, nachdem er mit einem lauten Krachen gegen die Windschutzscheibe geprallt war. Blut und Gehirnmasse klebte an dem zersplitterten Glas. Der Wagen war ruiniert.//

In letzter Sekunde riss Crawford das Lenkrad herum und lenkte den Wagen zentimetergenau an dem regungslosen Japaner vorbei.

Er musste scharf bremsen, um nicht noch die Schranke zur Ausfahrt mitzunehmen. Er ließ das Fenster hinunter gleiten und schob mit ruhiger Hand den Parkschein in den Schlitz des Automaten.

Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm gerade noch, wie die schlanke Gestalt kraftlos in sich zusammensank, dann fädelte er sich geschickt in den Straßenverkehr ein.

Begeistert schlug er mit der flachen Hand auf das Lenkrad.

„Wie geil!“

Er hatte noch nie einen Telepathen etwas Vergleichbares tun sehen. Vielleicht, weil es nicht verlangt worden war. Vielleicht aber auch, weil Schuldig etwas ganz besonderes war.

Brad hatte den jungen Kellner nicht am Leben gelassen, weil er so ein großer Menschenfreund war. Aber er verabscheute unnötige Gewalt. Er hatte zu sehen bekommen, was er wissen wollte. Und tot hätte der Junge ihnen mehr Schwierigkeiten bereitet als lebendig – es gab zu viele Zeugen, die gesehen hatten, wie er mit ihnen den Sushi-Laden verlassen hatte, von den Überwachungskameras in der Tiefgarage ganz zu schweigen.

Er warf einen Blick auf seinen Beifahrer. Schuldig sah reichlich blass und ziemlich mitgenommen aus.

„Alles klar mit dir? Das war eine großartige Vorstellung!“
 

Erschöpft sank der Telepath in seinem Sitz zusammen. Ein schwaches Lächeln huschte bei dem Lob über sein Gesicht. Doch auch das konnte das Gefühl nicht mildern, dass ihm förmlich der Schädel in tausend Einzelteile zerplatzen wollte.

"Fahr bitte nach Hause", murmelte er, schloss die Augen und klammerte sich am Handgriff der Beifahrertür fest, um sich in der Realität zu halten und nicht bewusstlos zusammenzusacken.

Jeder einzelne Pulsschlag verursachte höllisches Hämmern in seinem Kopf und jeder Atemzug verschlimmerte die Sache noch. Noch nie zuvor hatte er etwas Ähnliches getan - obwohl er gewusst hatte, dass er dazu in der Lage war. Diese kleine Vorstellung war für ihn härter gewesen als jeder Test im Rosenkreuz-Institut, weil sie dort unter kontrollierten Bedingungen arbeiteten, bei denen es zwar durchaus auch Tote geben konnte, aber nur, wenn eine Übung misslang.

Wie auch immer - er hatte Brads Forderungen erfüllen können, und nur das zählte. Und er wusste, dass er zu noch mehr in der Lage war. Seine PSI-Kraft war noch lange nicht am Limit, auch wenn sein Körper gerade schlapp machte.

"Ich glaube, das Einkaufen fällt heute flach", brachte er mühsam über die trockenen Lippen. "Ich brauch eine Kopfschmerztablette..." Oder zwei. Oder eine ganze Packung...

Ein wenig beschämt ließ der Kopf hängen. Es machte sich nicht sonderlich gut, gleich am ersten Tag einen Schwachpunkt preiszugeben, fand er. Jetzt konnte er nur hoffen, dass der Amerikaner ihm das nicht allzu übel nahm und ihn in die Schweiz zurückschickte...
 

„Okay.“

Bei der nächsten Apotheke lenkte Brad den Wagen vorsichtig in eine der Parkbuchten. Überhaupt bemühte er sich um einen weniger rasanten Fahrstil als gewöhnlich. Schuldig sah wirklich nicht gut aus.

„Bin gleich wieder da!“

Mit mehreren Sorten Schmerztabletten und einer Flasche Saft kam er kurz darauf wieder zurück. Er drückte Schuldig den Saft in die Hand und wählte nach einem prüfenden Blick in sein Gesicht eine von den stärkeren Tabletten aus. Er reichte sie ihm.

„Hier. Und viel trinken ist jetzt wichtig… denke ich.“

Auf dem kürzesten Weg fuhr er zurück zu seinem, nein, zu ihrem Apartment. Zu Hause, hatte Schuldig gesagt…

In der Wohnung angekommen, gab er ihm das Tütchen mit den Medikamenten.

„Aber keine Überdosis, bitte! Das hier sind richtige Hammerteile, also sei vorsichtig damit. Diese sind für schwächere bis mittelstarke Schmerzen. Es ist in Ordnung, Schuldig. Du hast den Rest des Tages frei. Aber wenn es dir besser geht, möchte ich dich sprechen. Wenn irgendwas ist, sag Bescheid, okay? Brauchst du jetzt noch was?“
 

Der Telepath nickte matt, nahm die weiße Tüte entgegen und schlurfte damit in sein Zimmer. Er kannte das Spiel, auch wenn er es tatsächlich noch nie so schlimm erlebt hatte wie jetzt. Vorsichtig setzte er sich auf das Bett - nachdem jede Bewegung wie ein Erdbeben in seinen gequälten Schädel hämmerte, war Vorsicht immer gut - und leerte die Tüte neben sich auf die Matratze. Ein wenig skeptisch betrachtete er die Schachteln, die heraus purzelten. Es war ein elender Teufelskreis, dem er jetzt ausgeliefert war. Nahm er eines der schwächeren Mittel, würden seine Kopfschmerzen zwar gedämpft, aber sie würden bleiben und er sich nicht wirklich erholen können. Nahm er eines der stärkeren, verschwanden die Schmerzen, aber sein Verstand wurde so benebelt, dass er keine Kontrolle mehr über seine Kraft hatte... Was unter Umständen ziemlich übel für seine Mitmenschen, in dem Fall allen voran Crawford, ausgehen konnte.

Mit einem aufgebenden Seufzen entschied er sich für Option eins. Sich mit einer trockenen Zunge über die immer noch trockenen Lippen leckend, drückte er mit zitternden Fingern zwei Tabletten aus dem Blister, legte sie sich auf die Handfläche, sah sie zweifelnd an und warf sie sich dann in den Mund, um sie mit einem großen Schluck Saft hinunterzuspülen. Bäh, eklig! Er schüttelte sich kurz, legte sich dann auf sein Bett und schloss die Augen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit merkte er, wie sich das penetrante Hämmern in ein nerviges, aber dumpfes Pochen verwandelte. Okay. Mehr konnte er jetzt nicht erwarten.

Behäbig und immer noch behutsam rollte er sich aus dem Bett, stand auf und machte sich auf die Suche nach Crawford. Immerhin hatte der ja gesagt, dass er mit ihm reden wollte. Und solche Sachen brachte der Junge immer am Liebsten so schnell wie möglich hinter sich.

4.
 

Crawford saß in dem funktional gehaltenen Arbeitszimmer am Rechner und tippte seinen ersten Bericht an SZ. Über Schuldig schrieb er nicht viel – nur, dass er ihn ausgewählt und mit nach München genommen hatte, und dass sie noch mindestens zwei Wochen zur Einarbeitung brauchten. Er konnte sich nicht verkneifen, den Ausbildungsplan von Rosenkreuz zu kritisieren, weil der Junge noch über keine Fahrpraxis verfügte. Jetzt musste er sich darum kümmern, dass er voll einsatzfähig wurde, was zusätzliche Zeit kostete.

Als Schuldig in der offen stehenden Tür erschien, drehte er sich mit dem Schreibtischstuhl zu ihm herum. Er setzte an, ihn zu fragen, ob er etwas benötigte, aber darum ging es Schuldig gar nicht.

Crawford stand auf. „Komm. Gehen wir ins Wohnzimmer.“

Er hatte nicht damit gerechnet, dass Schuldig so rasch zum Gespräch kommen würde. Eigentlich hatte er an den nächsten Tag dabei gedacht, aber gut, wenn der Junge schon mal da war… Obwohl er immer noch nicht wirklich fit aussah. Seine Bewegungen waren vorsichtig und zeugten von Schmerz, und sein Gesicht war noch immer bleich, und unter den Augen zeigten sich dunkle Ringe. Der gehörte eigentlich ins Bett!

Brad setzte sich auf das breite Sofa, lehnte sich an und schlug lässig die Beine übereinander.

„Nur zwei Sachen“, sagte er in geschäftsmäßigem Ton. „Diese Kopfschmerzen… hast du das oft?“
 

Ein wenig unsicher stand der Telepath in der Tür und sah zu, wie der Amerikaner auf seinem Notebook herum hämmerte. Er räusperte sich leise, um auf sich aufmerksam zu machen und schüttelte dann bei der ersten Frage des Anderen nur leicht den Kopf.

"Du wolltest mit mir reden?" beantwortete er die unausgesprochene Frage und nickte leicht, als Brad meinte, sie sollten ins Wohnzimmer gehen.

Behutsam setzte er sich auf die Couch, die ihm immer noch ein klein wenig Angst einjagte - sie war sicher sündteuer gewesen, was, wenn er sie aus Unachtsamkeit ruinierte?

Crawfords Frage allerdings ließ diese Bedenken verpuffen, weil sich Schuldig auf die Antwort konzentrieren musste.

"Nein. Nur wenn ich ... wenn ich an meine Grenzen gehe", seufzte er leise. "Allerdings werden diese Grenzen von Mal zu Mal größer..."
 

„Naja… Ehrlich gesagt, war das meine Absicht“, antwortete Crawford langsam. „Es ist wichtig, dass ich deine Grenzen kenne, damit ich im Ernstfall weiß, was ich von dir verlangen kann - ohne dich gleich für den Rest des Tages außer Gefecht zu setzen. Davon kann später unser Leben abhängen. Wir werden das also üben. Ich erwarte von dir, dass du auch selbst auf deine Grenzen achtest, ich kann nicht immer für dich mit denken. Das ist gerade jetzt am Anfang wichtig, wo wir uns noch nicht so gut kennen. Dein Gehorsam in allen Ehren – ich weiß, das trichtern sie uns sorgfältig ein, und es wird sicherlich oft genug der Fall sein, dass ich genau das von dir erwarte: blinden Gehorsam. Aber wenn es hart auf hart kommt, möchte ich, dass du deinen eigenen Kopf einschaltest. Es ist mir wichtiger, dich unbeschadet wieder zu haben als den Auftrag wie geplant zu erledigen – es sei denn, ich sage vorher was anderes.“ Er grinste schief.
 

Trotzdem es ihm wirklich bescheiden ging, grinste der junge Telepath.

"Du wirst meine Grenzen nie wirklich kennen", korrigierte er ihn. "Ich kenne sie ja selber nicht. Ich arbeite sehr hart daran, auszutesten, was alles machbar ist. Bisher habe ich das heimlich gemacht, sonst wäre das heute nicht möglich gewesen. Aber ich spüre, dass da noch viel mehr geht..." Dann legte er den Kopf ein wenig schief und betrachtete den Älteren nachdenklich.

"Glaube nicht, dass ich nicht in der Lage bin, meinen Kopf einzuschalten. Ich werde dir in jedem Augenblick gehorchen, in dem ich einen Befehl von dir für mich selbst verantworten kann."

Eines war dem Jungen heute klar geworden: Ihnen beiden stand mit ihren Fähigkeiten die Welt offen, nichts konnte sie aufhalten, wenn sie es nicht wollten. Und damit war er niemandem gegenüber mehr verantwortlich, nur sich selbst. Solange sich Crawfords Pläne mit seinen eigenen deckten, würden sie perfekt zusammenarbeiten, und der Amerikaner konnte niemanden finden, der seine Befehle schneller und kompromissloser ausführen würde als der Telepath.

"Ich werde mich also auch auf Befehl von dir nicht in Lebensgefahr bringen." Das musste Crawford klar sein - er würde alles für ihn tun. Außer sterben.

Noch wusste er nicht, dass sich auch diese Einstellung schon bald ändern würde.
 

Man merkte, dass der Junge noch keine Erfahrungen in Außeneinsätzen gesammelt hatte. Crawford erwiderte sein Grinsen mit einem milden Lächeln. Schon sein Befehl, in zu begleiten, konnte Schuldig in Lebensgefahr bringen…

Aber es ging ihm vielmehr darum, Schuldig klar zu machen, dass ihm sein Team wichtiger war als SZs Weisungen. Noch deutlicher wagte er es allerdings noch nicht zu formulieren, solange er Schuldig nicht gut genug kannte. Obwohl ihm seine Intuition sagte, dass Schuldig perfekt war. In jeder Hinsicht. Was auch immer dieses Gefühl zu bedeuten hatte.

Und der Telepath hatte ja auch so das Wesentliche in seiner Aussage verstanden.

„Dann sind wir uns ja darin einig, dass du am Leben bleibst“, sagte er also mit einem Anflug von Humor. „Ist mir auch zu anstrengend, alle paar Monate einen neuen Teamkollegen einzukleiden…“

Der Junge war schwer einzuschätzen – in einem Augenblick noch verunsichert und schüchtern. Und im nächsten Augenblick machte er dann solche selbstbewussten Äußerungen wie eben.

„Das Zweite, was ich dir sagen wollte…“ Jetzt breitete sich wieder ein echtes Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Das war richtig gut vorhin. Der Typ wäre echt stehen geblieben, bis wir ihn umgefahren hätten! Nur an der Feinmotorik solltest du noch arbeiten…“
 

Zustimmend nickte der Telepath und lachte leise. Er stellte sich gerade bildlich vor, wie der Ältere wieder und wieder loszog, um einen neuen Kollegen auszustaffieren. Na, das konnte er ihm doch echt nicht antun... Und er hatte ja sowieso nicht vor, sich so schnell umbringen zu lassen.

Crawfords Lob über seine Vorstellung heute ließ den Jungen breit grinsen.

"Ich weiß, dass ich das noch üben muss", stimmte er zu und zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern. "Aber das sollte das kleinste Problem sein." Es stand ohnehin auf seiner To-do-list, auch solche Sachen weiter und weiter zu trainieren. Aber das behielt er wohlweislich für sich, um den Fragen zu entgehen, wie er das anstellen wollte.

"Aber gut, wenn es dir 'gefallen' hat", schmunzelte er. "Und ja. Er wäre stehen geblieben bis zum bitteren Ende. Er hätte meinen Griff nicht lösen können."

Schuldig wusste, wie selbstsicher er im Moment klang. Vielleicht sogar arrogant. Aber hey! Er hatte auch allen Grund dazu.

"Gehen wir morgen dann wieder einkaufen?", wechselte er das Thema und sah den Älteren mit überraschend großen Augen und einem wahrlich gekonnten Chibi-Blick an.
 

Da war wieder so eine Wandlung – von dem abgebrühten Rosenkreuzagenten zu einem kindlichen Teenager… Mit Sicherheit würde es mit diesem facettenreichen Teamkollegen interessant werden.

„Ich weiß, dass er stehen geblieben wäre – ich hab ihn an der Windschutzscheibe kleben sehen…“

Crawford schob seine Brille zurecht – eine Geste, die Schuldig noch oft zu sehen bekommen würde.

„Und ich werd nachher noch einkaufen gehen – wir brauchen Lebensmittel. Tja, und mit deinem Zimmer… bleibt es denn dabei, dass du nur einen Schrank möchtest? Ansonsten ist es vielleicht doch besser, jemand kommen zu lassen, der sich um alles kümmert… Ich hab wenig Lust, Regale anzuschrauben, Vorhänge aufzuhängen und die Wand zu streichen… Aber auf jeden Fall wirst du morgen deine erste Fahrstunde haben – ah, darum muss ich mich auch noch kümmern.“
 

Ein kleines Grinsen huschte über Schuldigs Gesicht.

"Ah, ja", meinte er verschmitzt, legte dann den Kopf schief und musterte seinen Kollegen skeptisch. "Und warum musste ich mich dann so schinden, wenn du es ohnehin gesehen hast? Du hättest dann doch sowieso gewusst, dass ich es kann."

Das war nicht böse gemeint, es interessierte ihn einfach nur.

"Kann ich mitkommen?", lautete die nächste Frage des immer noch recht angeschlagenen Telepathen bezüglich des Einkaufens. Nachdem er heute die Vielfalt gesehen hatte, die es zu entdecken galt, konnte er nicht genug davon bekommen. Er wollte alles kennen lernen und alles bis zum Schluss ausreizen. Und selbst wenn es nur Lebensmittel waren, die sie besorgten...

Zu der Zimmerfrage konnte er nur den Kopf schütteln.

"Nein... Ich glaube, ich will doch nicht nur einen Schrank", meinte er schlagartig wieder schüchtern, und er hoffte, dass er mit dem, was er sich in der Zwischenzeit überlegt hatte, nicht den Rahmen und Brads Geduld sprengte. Aber er hatte in den Erinnerungen der anderen Menschen heute eine Menge gefunden, was er haben wollte. Wie der Amerikaner gesagt hatte, er hatte sich Inspiration geholt - und wusste haargenau, wie sein Zimmer aussehen sollte, wenn es nach ihm ging. Was es ja anscheinend tat.

"Dann lass jemanden kommen, dem ich erklären kann, was ich will und wie ich mir das vorstelle", bat er und hängte gleich noch eine Frage an: "Aus welchem Stoff ist eigentlich die Bettwäsche?"

Immerhin wollte er sich bei eventuellen Erklärungen ja auch nicht komplett blamieren, weil er von nichts eine Ahnung hatte.

Die nächsten Worte des Älteren brachten dann seine Nerven zum kribbeln, und obwohl er sich noch wie gerädert fühlte und sein Schädel noch immer enervierend pochte, schien sein ganzes Gesicht anzufangen zu leuchten.

"Ehrlich? Ich bekomme morgen schon Fahrstunden?"

Das war ja ... grandios! Schuldig hibbelte auf dem Sofa herum.

"Eine nur? Oder gleich mehrere?"

Das war etwas, das er unbedingt lernen wollte! Und er hatte auch schon eine Ahnung, wie sein Auto aussehen würde, wenn er erst einmal den Führerschein hatte. Bei dem Gedanken daran begannen die grünen Augen noch mehr zu strahlen.
 

„Eins nach dem anderen“, lachte Brad. „Erstmal muss ich einen geeigneten Fahrlehrer für dich finden… Die Bettwäsche ist aus Satin. Und du kannst gerne mitkommen zum Einkaufen, aber, ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, wenn du dich ausruhen würdest. Damit du morgen wieder fit bist. Tja… und zu deiner ersten Frage.“

Er wurde jetzt wieder ernst und sprach ein wenig nachdenklich weiter, suchte sorgfältig nach den richtigen Worten für den nächsten Satz.

„Die Zukunft ist ein zartes Pflänzchen, das mit viel Sorgfalt gepflegt werden will... Sie ist nicht so klar zu lesen, wie die Gedanken der Menschen. Schon kleinste Eingriffe in den Ablauf der Dinge können weiter in der Zukunft liegende Geschehnisse entscheidend verändern, schon ein veränderter Gedanke kann das. Darum sind auch Zeitreisen in die Vergangenheit so problematisch. SZ beißt sich schon seit geraumer Zeit die Zähne daran aus…

Und darum kann ich mit Sicherheit auch nur die nächsten Minuten vorhersagen. Denn schon mein Wissen und mein daraus resultierendes Handeln verändern ja den weiteren Ablauf mit unvorhersehbaren Folgen. Es gibt Menschen, die Ereignisse in ferner Zukunft voraussagen. Aber an diesen Ereignissen kann man in den meisten Fällen überhaupt nichts ändern – die Versuche, es zu tun, führen nicht selten sogar direkt zu dem, was man verhindern wollte…“

Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare.

„Es ist eine komplizierte Angelegenheit. Selbst jetzt habe ich eigentlich nicht erfahren, was ich wissen wollte – was geschehen wäre, wenn wir wirklich bis zum Äußersten gegangen wären. Weil mir von vorne herein klar war, dass wir ihn dort nicht einfach umbringen können, ohne gleich die Polizei am Hacken zu haben.

Was wäre gewesen, wenn er gestorben wäre, während du noch den Kontakt zu ihm hattest? Ich habe schon einen Telepathen den Verstand verlieren sehen, als genau das während einer Mission geschehen ist.

Und wann hätte ich von den Nebenwirkungen, von deinen Kopfschmerzen erfahren? Hättest du mir das gesagt?“

Fragend sah er den Jüngeren an. In seinem Blick war keinerlei Vorwurf.
 

Ruhig hörte sich Schuldig alles an, von den ersten Antworten bis zu der ausführlichen Erklärung des Älteren, und nickte vor allem bei Letzterem verstehend. Hm, es war wirklich interessant, auch einmal etwas von anderen PSI-Kräften zu erfahren, von deren Einsatz, deren Problemen... Er dachte für seine Verhältnisse sogar lange über eine Antwort nach: fast zehn Sekunden. Dann seufzte er leise. Das Thema mit den Fahrstunden war zweitrangig, ebenso das Einkaufen. Wenn Brad wollte, würde er eben zu Hause bleiben und sich ins Bett legen.

"Mh, okay", brummte er schließlich, sah Brad dann offen in die Augen und lächelte schwach.

"Ich weiß, dass so etwas passieren kann. Hab ich oft genug schon gesehen. Auch bei geringeren Sachen als einer Verbindung mit einem Sterbenden. Aber..."

Er setzte sich ein wenig gerader hin und hob das Kinn leicht an, seine Mimik zeigte eine unbewusste Überlegenheit.

"... die waren auch nur zweit-, wenn nicht sogar drittklassig. Mir wäre nichts geschehen, wenn er unter meinem Griff gestorben wäre. Sonst könnte ich auch nicht mental töten, oder? Der Link wäre einfach abgebrochen, sonst nichts."

Damit verriet er ganz unwillkürlich ein weiteres seiner Geheimnisse. Eigentlich sogar das, das er bisher am besten gehütet hatte. Als einer der wenigen Telepathen, die man an einer Hand abzählen konnte, war er in der Lage, einen Anderen telepathisch umzubringen. Was allerdings ebenso kräfteraubend war, wie die kleine Showeinlage, die er dem Amerikaner heute gegeben hatte.

Dann verzog er das Gesicht in einer Mischung aus Verlegenheit und Genervtheit.

"Was denkst du denn? Dass sich DAS auf Dauer verheimlichen lässt? Du hättest es spätestens erfahren, wenn ich mich bei einer Trainingseinheit übernommen hätte..."

Er ließ den Kopf sinken. Mist, er hasste solche Momente, in denen er sich unzulänglich und unfähig fühlte. Dieser Augenblick hier gehörte eindeutig dazu. Dabei hatte jeder Telepath irgendwann mal mit solchen Nebenwirkungen zu kämpfen. Dass es bei den meisten fertig ausgebildeten Telepathen nicht dazu kam, hatte nur einen Grund: Sie gaben sich mit 75% ihrer möglichen Leistung zufrieden. Niemand konnte ihnen beweisen, dass sie nicht vollen Einsatz brachten. Allerdings kam so ein Verhalten für den Feuerkopf gar nicht in Frage. Er wollte seine Grenzen austesten, sie erweitern, in jeder Hinsicht. Er wollte leben, schnell und intensiv. Schließlich hatte er eine Menge nachzuholen.

Sein Blick lag immer noch offen und aufrichtig in den goldbraunen Augen seines Leaders.
 

Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht des Amerikaners ab. Schuldig konnte mental töten? Das hatte gar nicht in seiner Akte gestanden… Wie viele Überraschungen hatte der denn noch auf Lager?

Und, soso, er stufte sich selbst also als erstklassig ein. Na, bestens. Mit weniger gab sich Brad Crawford auch nicht zufrieden.

„Wo wir gerade beim Thema Training sind… Die Rosenkreuz-Weisung gilt hier weiter: Nutze deine Fähigkeiten so oft es geht und lasse keine Gelegenheit aus, dich zu verbessern. Aber unter zwei Bedingungen: Du tust nichts, was SZ oder einen unserer Aufträge gefährden könnte. Und mich nimmst du bitte nicht als Übungsobjekt, das wir uns da verstehen!“

Es war eine gruselige Vorstellung, wie ein Roboter durch die Wohnung zu staksen und gezwungen zu werden, Schuldigs Mörderkaffee zu trinken. Zum Beispiel.

„Und morgen joggen wir eine Runde. Mal sehen, wie es mit deiner körperlichen Fitness steht…“
 

Leises Lachen perlte durch das Wohnzimmer.

"Nein, keine Sorge. Es macht auch keinen Spaß, wenn jemand quasi darauf wartet, dass ich irgendwas mit ihm anstelle."

Was nichts anderes bedeutete, als dass Brad zumindest in dieser Hinsicht viel zu langweilig für den Telepathen war.

"Und natürlich werde ich meine Fähigkeiten weiter trainieren. Nichts anderes hatte ich vor."

In dieser Beziehung war er ehrgeizig - verdammt ehrgeizig.

"Allerdings werde ich nicht alles trainieren können. Ich schätze, es würde dir nicht sonderlich gefallen, wenn sich in der Umgebung die Leichen anhäufen, oder?"

Den kleinen Joke unterstrich er mit einem neckenden Zwinkern, schnaubte aber gleich darauf. "Joggen?"

Boah! Er war nicht sonderlich fit. Er war klein, schmächtig und mager, und er hatte nie die Notwendigkeit gesehen, sich in irgendeiner Form körperlich zu betätigen. Das wurde bei Rosenkreuz auch nicht unbedingt verlangt.

Schuldig verdrehte die Augen und ließ den Kopf ein wenig hängen. Das war echt grausam von Crawford!
 

„Solange sich die Leichen nicht hier im Wohnzimmer häufen…“, sagte Brad gleichmütig. „Und solange dich niemand in Verdacht hat… Mich würde eher stören, wenn du jeden zweiten Tag außer Gefecht gesetzt wärst.“

Ungerührt fuhr er fort: „Ja, genau: Joggen. Kondition ist wichtig – auch wenn dein Schwerpunkt auf der mentalen Ebene liegt. Und jetzt ruh dich bitte aus. Ich hab noch einiges zu erledigen. Soll ich dir irgendwas bestimmtes mitbringen? Was möchtest du frühstücken?“
 

Über diese Antwort bekam Schuldig große Augen. Er hatte hier tatsächlich einen Freifahrtschein zum Töten? Ein unbewusstes Grinsen bog seine Mundwinkel nach oben. Oh wow! Sein Leben hatte sich wirklich von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt.

"Okay", meinte er - eine Generalantwort auf sämtliche Anweisungen, die er gerade von Brad erhalten hatte. Dann seufzte er leise. Das mit dem Joggen gefiel ihm nicht wirklich, aber da musste er wohl durch... Wie es aussah, war der Amerikaner in dem Punkt unnachgiebig.

Zu der Frühstücksfrage zuckte der Telepath nur die Schultern.

"Es ist eigentlich egal, solange es keine Misosuppe ist...", murmelte er und sah wieder einmal ein wenig betreten zu Boden. Schon im nächsten Augenblick hob er den Blick allerdings wieder. Ihm war etwas eingefallen, das sozusagen ein Schwachpunkt bei ihm war. Etwas, dem er nicht widerstehen konnte.

"Ähm... könntest du mir vielleicht... Himbeeren mitbringen?", fragte er leicht verlegen. Er liebte diese Dinger wirklich und bisher hatte er nur sehr selten Gelegenheit gehabt, welche zu essen. Dafür würde er sogar ohne zu maulen Joggen gehen...
 

„Himbeeren, okay.“

Brad verstand nicht so recht, warum den Jungen diese Bitte nun schon wieder so verlegen machte. Vielleicht war er einfach nicht gewohnt, um etwas zu bitten. Oder nicht gewohnt, dass überhaupt nach seinen Wünsche gefragt wurde. Das war bei Rosenkreuz schließlich nicht gerade üblich.

Und diese Stimmungsschwankungen… daran würde sich Brad wohl gewöhnen müssen. Und das ging so schnell bei Schuldig, dass Brad da seine Präkognition wenig nützen würde. Oder nur ein einziges Thema zur Zeit anschneiden, wenn er eine Einschätzung wollte, wie Schuldig auf etwas Bestimmtes reagieren würde. Mal strotzte er vor Selbstbewusstsein, war teilweise sogar ein wenig aggressiv (die Szene gestern Abend), dann wieder wirkte er völlig verschüchtert und kleinlaut.

War das die Pubertät? Oder gehörte das zu Schuldigs Wesenskern?

Jedenfalls würde es nicht langweilig werden.

Brad mochte langweilige Menschen nicht.

„Ich kümmere mich jetzt um deinen Fahrlehrer.“

Er erhob sich und ging wieder in das Büro, das von allen Zimmern das kleinste war.

Erst einmal surfte er ein wenig im Internet, um eine passende Fahrschule zu finden. Ihm schwebte da etwas ganz bestimmtes vor… Aber damit würde er Schuldig überraschen.

Dann griff er zum Telefon und nahm die Verhandlungen auf. Man brauchte nur mit Geldscheinen wedeln, und meist bekam man dann, was man wollte. So war es diesmal auch. Der Chef persönlich würde ab morgen Schuldig unter seine Fittiche nehmen. Very good.

Er müsste sich dann nur langsam auch mal wieder darum kümmern, dass auch wieder etwas Geld auf seine Konten floss. Aber auch da hatte er schon eine Idee…
 

Nachdem sich Brad in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, saß Schuldig noch eine kleine Weile wie verloren auf der Couch. So wirklich realisierte er noch immer nicht, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war. Und es machte den Anschein, als würde es in dem gleichen Tempo weitergehen.

Fahrstunden... Schuldig schüttelte ungläubig den Kopf, grinste aber dabei. Er würde tatsächlich Fahren lernen!

Mit einem Gefühl, als würde er auf Wolken schweben, stand er auf und zuckte zusammen. Autsch! Die Bewegung war nicht sonderlich schlau gewesen - sein Kopf hämmerte urplötzlich wieder los. Missmutig murrend schlurfte er zurück in sein Zimmer und legte sich vorsichtig auf das Bett, kroch unter die Decke, griff dann aber nochmal zu den Tabletten und nahm eine der stärkeren. Es dauerte nicht lange, bis das Medikament seine Wirkung tat, das beständige Hämmern unter seiner Schädeldecke leichter und er selbst schläfrig wurde. Mit einem leisen, aber sehr zufriedenen Seufzen schloss er die Augen und war gleich darauf eingeschlafen.
 

Das Einkaufen war schnell erledigt, ein großer, gut sortierter Supermarkt war gleich an der nächsten Ecke.

Es gab sogar frische Himbeeren.

Brad kaufte gleich drei Schälchen. Dann griff er noch ein Frühstücksmüsli mit Himbeeren und Himbeerkekse.

Der Einkaufswagen füllte sich rasch, wie immer, wenn er länger nicht zu Hause gewesen war. Frisches Brot und Aufbackbrötchen, Obst und Gemüse, Tiefkühlpizza, Konserven, asiatische Nudelsuppe und Kaffee, eine Kiste Mineralwasser, eine Kiste Apfelsaft und Schokolade!

Als er die Lebensmittel in die Wohnung schleppte, bereute er schon fast, Schuldig zu Hause gelassen zu haben – der sollte bloß nicht auf die Idee kommen, Migräne als Ausrede zu benutzen, um sich vor Hausarbeit zu drücken!

Hoffentlich hatte er die Himbeeren nicht zermatscht… nein – die Schälchen waren relativ unversehrt.
 


 

(Fortsetzung folgt)

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

(Danke an Anuri für deine zwei Kommentare!

Dir - und allen anderen, die die FF möglicherweise lesen - viel Spaß mit dem neuen Kapitel!

Das nächste Kapitel steht schon in den Startlöchern!)
 

6.
 

Auch wenn der Link zwischen Schuldig und Brad gekappt war, so sprangen den jungen Telepathen die Bilder, die im Kopf des Amerikaners aufblitzen, an wie hungrige Raubtiere. In der Sekunde, in der die Tür hinter dem Schwarzhaarigen ins Schloss knallte, erzitterte der Jüngere und schrie rau vor Lust auf. Sein Körper schien komplett in Flammen aufgehen zu wollen, in seinem Unterbauch sammelte sich ein glühender Ball aus reiner Energie an, der vibrierend größer und immer größer zu werden schien.

Etwa zur gleichen Zeit, zu der Brad seinen Kopf unter dem Wasserhahn in der Küche vor zog, explodierte der erste, bewusste Orgasmus seines Lebens in Schuldig; das dunkle Grollen, das sich dabei aus seiner Kehle drängte, hallte durch die Wohnung.

Zittrig sank der Orangehead auf die Knie und versuchte krampfhaft wieder zu Atem zu kommen, das Wasser prasselte weiter warm und beruhigend auf seinen Nacken und die Schultern, floss ihm über Rücken und Brust und spülte schließlich die weißen Tropfen weg, die er am Körper und auf dem Boden der Dusche verteilt hatte.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich von dem, was er soeben empfunden hatte, erholte. Alles in ihm zuckte und brannte noch, als er sich auf die Beine hievte, nach dem Wasserhahn griff und das Wasser abschaltete. Seine Knie schienen aus Pudding zu bestehen, und so tappte er mit unsicheren Schritten aus der Duschkabine, wickelte sich in ein großes Badetuch und verließ das Bad, wobei ihm das Herz immer noch im Hals klopfte - aus mehr als nur einem Grund.

Denn als sein Höhenflug zu Ende gewesen war, war ihm aufgegangen, WIE der Ältere ihn gesehen hatte... Gott, war das peinlich!

Mit hochrotem Kopf schloss er die Badtür hinter sich und sah sich nur einen Moment später auch schon mit seinem Leader konfrontiert. Verlegen senkte er den Blick, wieder einmal kaute er hektisch auf seiner Unterlippe herum.

"Mh, es... ich... also...", stotterte er, die Augen nach wie vor auf seine nackten Füße gerichtet und ohne Ahnung, was er eigentlich sagen sollte oder konnte.
 

Brad kam gerade von der Terrasse, wo er den Kaffee aufgewischt und die Scherben aufgefegt hatte. In der Hand hielt er das Kehrblech, auf dem unter dem Handfeger ein kaffeegetränktes Geschirrtuch lag. Seine Haare waren noch tropfnass und benetzten sein Hemd auf seinen Schultern.

Er blieb kurz stehen und blickte auf die personifizierte Scham, die da vor ihm stand. Er selbst hatte genug Zeit gehabt, um sich wieder zu fangen. Wahrscheinlich würde es ihm anders gehen, wenn er wüsste, dass Schuldig seine Vision als klare Bilder ebenfalls gesehen hatte, aber so konnte er nüchtern erwidern: „Schon gut.“

Er ging an ihm vorbei in die Küche und entsorgte Scherben und Geschirrtuch mitsamt dem Kehrblech und dem Handfeger im Müll. Dabei sprach er wie beiläufig weiter: „Wir können ja mal ein entsprechendes Etablissement aufsuchen – oder wir laden die Damen hier zu uns ein. Zu Zweit ist es noch viel besser, glaub mir. Magst du auch einen Kaffee?“
 

Erleichtert atmete der Junge auf. Dass er so leicht davonkommen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Der Vorschlag des Älteren brachte jedoch sofort die Farbe wieder zurück in sein Gesicht.

"Echt jetzt?" platzte es aus ihm heraus und er schaffte es nicht, die Aufregung aus seiner Stimme herauszuhalten.

Augenblicklich flatterte es in seinem Magen, und er hibbelte von einem Bein auf das andere, während seine Augen wieder einmal chibihaft groß wurden. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken, als er sich vorstellte, andere Hände als seine eigenen zu spüren zu bekommen...

Nur mühsam riss er sich zusammen und konzentrierte sich auf die Frage, die ihm Brad zuletzt gestellt hatte.

"Ja", nickte er, ohne wirklich daran zu denken, dass er noch immer halbnackt, nur mit einem umgewickelten Badetuch, vor dem Anderen stand. Und schon setzte er sich in Richtung Esstisch in Bewegung, wobei er wieder einmal den Fußboden volltropfte, weil ihm das Wasser ungehindert aus den Haaren rann, und der weiche Stoff, den er sich um den Körper geschlungen hatte, bei jedem Schritt leicht aufklaffte.
 

Brad musste seinen Blick mit Gewalt von den schlanken langen Beinen losreißen und verfluchte sich schon innerlich für diesen Vorschlag. Im Gegensatz zu Schuldig hatte ER sich nicht Erleichterung verschafft, und von daher war sein bestes Stück noch sehr empfänglich, was erotische Bilder betraf.

Während er den Kaffee einschenkte, fragte er sich zum wiederholten Male, seit wann er eigentlich auf Männer (naja, in dem Fall eher Jünglinge) stand. Er konnte wirklich nur hoffen, dass das lediglich Nachwirkungen waren auf die telepathische „sexuelle Belästigung“, und dass sich das wieder geben würde.

In weiser Voraussicht füllte er die Tassen nicht randvoll, sonst hätte er wohl weiteren Kaffee verschüttet, denn seine Hände zitterten leicht. Er hoffte, dass Schuldig das nicht merken würde, als er die Tassen auf den Esstisch stellte und sich zu ihm setzte. Er strich sich eine schwarze nasse Strähne aus der Stirn und versuchte, Schuldigs Gesichtsausdruck zu deuten, was gar nicht so leicht war ohne Brille.

„Du hast Glück“, wechselte er das Thema auf etwas Unverfängliches. „Ich hab vergessen, dir Sportsachen zu besorgen. Wir verlegen das Joggen also auf die Abendstunden. Dein Fahrlehrer holt dich hier um neun Uhr ab. Sei dann bitte fertig.“
 

Der Rotschopf hatte im Moment mehr als genug mit sich selber zu tun, um großartig auf den Älteren zu achten. Aber selbst dann war es fraglich, ob ihm Crawfords Nervosität aufgefallen wäre - und ob er sie auf sich bezogen hätte. Wohl eher nicht..

Er beugte sich ein wenig vor, grapschte nach einer der Tassen und zog sie zu sich heran, nur um gleich darauf überrascht den Kopf zu heben.

"Ehrlich? Wow!", brachte er nach einer kurzen Anlaufschwierigkeit heraus, in der er seine Verblüffung über diese Eröffnung verarbeitet hatte. Die Freude über die Fahrstunden war ihm am Gesicht abzulesen, doch auch die Neuigkeit, dass er dem verhassten Joggen vorläufig auskam, ließ ihn grinsen.

"Und wie lange hab ich dann Fahrstunden?", wollte er schlagartig wieder aufgeregt und vor allem neugierig wissen. Seine Hoffnung lag wirklich darin, dass das Tempo, das Brad vorgab, ebenso weitergehen würde. Dann wäre er nämlich recht bald im Besitz des Führerscheins - und damit rückte dann auch sein Traumwagen (den er sich noch aussuchen wollte) in greifbare Nähe. Und weil er schon mal bei diesem Thema war, fügte er auch gleich noch begeistert mit an: "Und wann gehen wir uns Autos ansehen?" Einmal mehr strahlten die grünen Augen ausdruckskräftig und in einem fiebrig-erwartungsvollen Glanz. Beiläufig strich er sich die nassen, noch immer tropfenden Haare über die nackten Schultern zurück - das Wasser drohte in seinen Kaffee zu tropfen und noch dünner, als das Getränk ohnehin schon war, wollte er es nun wirklich nicht haben! - und bedachte den Älteren mit einem Blick, der durchaus ausdrückte, wie hibbelig der junge Telepath war.

Dann runzelte er die Stirn, schob quietschend seinen Stuhl über den glatten Steinboden und stand auf, um in die Küche zu gehen.

"Ich hab Hunger!", murmelte er verständnislos mehr zu sich als zu Brad. Echt mal, dieses Rumoren im Bauch kannte er von sich gar nicht, bisher war Essen wirklich nur Nebensache für ihn gewesen: lästig und meist vollkommen unnötig. Doch jetzt knurrte ihm vernehmlich der Magen.

Schuldig öffnete den Kühlschrank und begutachtete dessen Inhalt, schloss ihn dann aber kopfschüttelnd wieder. Er sah sich in der Küche um, entdeckte die Schokolade und grinste fast bis zu den Ohren. Mit zwei Tafeln bewaffnet, kehrte er an den Tisch zurück, setzte sich wieder und fing in aller Seelenruhe an, die erste Tafel aus dem Papier zu holen und genüsslich zu verspeisen.
 

Brad widerstand dem Drang, ihm nachzusehen, wie er durch den Raum schritt; er hatte erstmal genug vom Anblick nackter Haut.

Wieder einmal war er fasziniert von Schuldigs Meisterschaft, die Stimmung zu ändern wie ein Chamäleon die Farbe. Am meisten beeindruckte ihn seine Begeisterungsfähigkeit. Er konnte sich nicht erinnern, ob er jemals so gewesen war. Vielleicht… in seinem früheren Leben, bevor er zu Rosenkreuz gekommen war, in der Zeit, an die zu denken er sich seitdem so strikt verboten hatte, dass sie nur selten als zusammenhangslose Bilder in seinem Bewusstsein auftauchte. Rosenkreuz jedenfalls hatte ihn berechnend und kühl werden lassen. Genauso hatte er sich auch bei seiner ersten Außenmission verhalten, Schuldigs kindliche Freude hatte er jedenfalls nicht empfunden, da war er ganz sicher. Er hatte immer sein Ziel vor Augen – SZ positiv auffallen, in der Gunst der Ältesten aufsteigen und seine verhassten Vorgesetzten endlich loswerden.

Und Schuldig? Hatte der überhaupt ein Ziel? Und wenn ja, welches?

Nachdenklich beobachtete er ihn, wie er begann, die Schokolade zu vertilgen. Dann besann er sich wieder auf die Fragen, die er gestellt hatte.

„Eins nach dem anderen. Erst mal sehen, wie das mit dem Fahren klappt.“ Er kannte einen ebenfalls sehr begabten Telepathen, der jedoch nicht in der Lage war, aktiv am Straßenverkehr teilzunehmen, weil ihn die Gedanken der anderen Verkehrsteilnehmer zu sehr ablenkten und er damit eine unkalkulierbare Gefahr für sich und alle anderen war, die mit ihm im Fahrzeug saßen. „Sechs Stunden geht der Unterricht morgen, ich werde in der Zwischenzeit dafür sorgen, dass du anständige Jogging-Sachen bekommst. Vor dem Abendessen drehen wir dann eine Runde.“ Er nippte an seinem Kaffee. Köstlich. Nicht so ein Gebräu, wie das, was Schuldig trank. „In einer Woche ist dann die Fahrprüfung. Ich denke, das ist gut zu schaffen. Und wenn alles gut läuft, gibt es danach noch…“ Er unterbrach sich. „Ach, lass dich überraschen!“
 

Sechs Stunden gleich? Vor Überraschung verschluckte sich der Telepath fast an seiner Schokolade. Seine Augen strahlten freudig auf wie bei einem Kind unter dem Christbaum. Da störte ihn nicht einmal die Ansage, dass sie danach Joggingsachen kaufen und die wohl auch gleich einweihen würden. Brads letzte Andeutung hatte ihn aber noch neugieriger gemacht, als er ohnehin schon war.

"Sechs Stunden?", sprudelte er einfach aus ihm heraus und er hatte Mühe, sich auf seinem Stuhl ruhig zu halten. "Das ist ja echt genial! Und was gibt es dann noch? Jetzt hast du schon angefangen, es ist unfair, mich so auf die Folter zu spannen!"

Nun hibbelte er doch auf seinem Sitz herum, während sein Blick neugierig auf dem Älteren lag und ihn taxierend musterte. Kurz überlegte er, sich den Rest einfach aus den Gedanken des Amerikaners zu holen - aber das war eigentlich nicht so sein Stil. Und wäre sicher auch ein Vertrauensbruch, wenn man es genau bedachte. Also ließ er es brav bleiben.

Also hatte er jetzt eine Woche, um Fahren zu lernen. Na, das war doch zu schaffen, oder? Daran, dass da auch eine Menge Theorie dahinter steckte, was für ihn eine gute Portion Lernerei bedeutete, dachte er gerade nicht. Dafür war er von allem anderen viel zu begeistert und zu aufgeregt. Wenn alles gut ging, hatte er in einer Woche den Führerschein und sein eigenes Auto!

Vor lauter Aufregung merkte er gar nicht, wie sich das Handtuch, das er sich umgeschlungen hatte, langsam aber sicher verabschiedete.
 

„Das tut mir jetzt aber leid“, sagte Brad in einem Tonfall, der die Worte nicht gerade bekräftigte. Langsam brach ihm der Schweiß aus. Machte Schuldig das mit Absicht? Er musste sich zwingen, ihm nicht in den Schoß zu starren, und dennoch bekam er aus dem Augenwinkel nur allzu deutlich mit, wie der Stoff sich in Zeitlupe löste und den Blick wieder freigab auf Schuldigs – nein! Nicht noch einmal heute!

Diesmal war es Brad, der so schnell aufstand, dass der Stuhl kreischend über den Boden rutschte. „Das… bleibt eine Überraschung!“ Er schnappte sich seine Tasse. „Sieh es als Übung in Geduld und Selbstdisziplin, das können wir beide gut gebrauchen.“ Was redete er denn da? „Und jetzt entschuldige, ich muss noch arbeiten.“ Bloß weg!

Erleichtert schloss er die Tür vom Büro, setzte sich an den Schreibtisch und starrte blicklos auf den dunklen Bildschirm. Es war nicht gelogen gewesen mit der Arbeit, allerdings war das nichts, was nicht Zeit bis morgen gehabt hätte, und Lust hatte er gerade überhaupt nicht dazu… Lust hatte er auf etwas ganz anderes…

Seufzend schaltete er den Rechner an. Vielleicht lenkte ihn das ein bisschen ab. Ansonsten müsste er wohl auch noch mal unter die Dusche gehen heute Abend…

Allerdings konnte von Ablenkung keine Rede sein – er stellte fest, dass er ohne Brille nicht viel entziffern konnte.

Shit.

Leise fluchend versuchte er, die Schriftgröße auf dem Bildschirm seiner Sehschwäche anzupassen.
 

Als er das Quietschen von Brads Stuhl hörte, blinzelte er verwirrt und kam schlagartig aus seinen Tagträumen in die Realität zurück. Nanu, was war denn jetzt los? Wenn ihn nicht alles täuschte, sah das gerade ganz nach einer merkwürdigen Flucht aus...

Schuldig kam gar nicht mehr dazu, noch irgendwas zu sagen, da war der Ältere auch schon in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Leicht irritiert blieb der Telepath zurück und fragte sich unweigerlich, was wohl passiert sein mochte. Er stand auf und griff ganz automatisch nach dem Handtuch, das urplötzlich gefährlich rutschte. Na hoppla! Das hätte ja einmal mehr peinlich ausgehen können...

Er trabte in sein Zimmer, um sich anzuziehen und machte sich schließlich daran, seine Haare zu trocknen. Und weil er grade so schön dabei war, stylte er sie auch gleich. Währenddessen fiel sein Blick auf die Taschen, in denen sich immer noch das meiste seiner netten, neuen Klamotten befand, und wieder einmal benagte er unschlüssig seine Unterlippe.

Keine Viertelstunde später war er komplett in seinem neuen Outfit bekleidet und obwohl er keinen großen Spiegel zur Verfügung hatte, wusste er, dass er einfach nur gut aussah. Leise klopfte er an der Bürotür und öffnete sie gleich darauf einen Spalt, ohne abzuwarten, ob der Andere ihn überhaupt hereinbitten würde. Er streckte den Kopf in den Raum und grinste schüchtern.

"Ich dreh noch mal ne Runde um den Block, okay?", ließ er Brad leise wissen. Keine Frage, sondern eine klare Ansage. Schließlich hatte er nicht vor, sich das verbieten zu lassen. Und aus genau diesem Grund zog er auch den Kopf wieder zurück und schloss die Tür, ehe der Amerikaner Gelegenheit zu einer Antwort hatte.
 

Schuldig wollte noch mal los?

Brad hatte nicht vor, ihm das zu verbieten, er war schon zufrieden, wenn Schuldig ihm Bescheid gab, bevor er ging.

Aber da war noch etwas, was Brad vergessen hatte – entweder war er im Moment echt vergesslich, oder es war einfach unmöglich, am Anfang an alles zu denken.

Rasch stand er auf und riss die Tür auf.

„Schuldig? Warte!“

Hoffentlich erwischte er ihn noch.
 

Froh, so glimpflich und ohne Fragen oder ähnliches davongekommen zu sein und mit einem Kribbeln im Bauch, das daher rührte, dass er noch nie zuvor einfach so 'losgezogen' war -wie auch? - hatte er die Klinke der Wohnungstür schon in der Hand, als er Brads Stimme hinter sich hörte. Unhörbar aufseufzend drehte er sich zu dem Älteren um. Jetzt nur nicht anmerken lassen, wie aufgeregt er eigentlich war!

"Ja? Was denn?", wollte er höflich und beinahe ein wenig gezwungen freundlich wissen - er hatte schließlich den bösen Verdacht, dass sein Boss ihn nun doch zurückpfiff, aus welchem Grund auch immer.
 

„Du brauchst noch deinen Schlüssel“, sagte Brad und verschwand wieder im Büro, wo er die oberste Schreibtischschublade durchwühlte, bis ein klingendes Geräusch anzeigte, dass er das Gesuchte gefunden hatte.

„Hier.“ Mit ernster Miene hielt er dem Jüngeren zwei Schlüssel hin. Und widerstand dem Drang, ihn jetzt noch mit Ermahnungen zu versehen, wie „Wehe, du verlierst sie“ oder „Komm nicht zu spät zurück“ oder dergleichen.

Es war erstaunlich, wie problemlos sich Begehren in Bemuttern verwandeln konnte.

Ihm gefiel beides nicht.

„Bis morgen früh“, sagte er lediglich. „Viel Spaß.“
 

Schlüssel? Die misstrauische Miene des Jungen verschwand und wurde zu einem strahlenden Grinsen. Er schnappte sich die Schlüssel, die Brad ihm hinhielt, verstaute sie in der Hosentasche und nickte, immer noch grinsend.

"Danke! Werd ich sicher haben", meinte er mit einem neckischen Zwinkern, drehte sich um und verließ die Wohnung.

Im Gang atmete er erst einmal tief durch. Oh wow, das war ja besser gegangen als erwartet! Schuldig konnte sich ein kleines, teuflisch klingendes Kichern nicht verkneifen. Er hatte das Gefühl, die Stadt würde ihm offenstehen...

Beschwingt stieg er in den Fahrstuhl und ließ sich nach unten bringen.

Kaum trat er durch die große, verspiegelte Glastür ins Freie, wurde seine gute Laune durch einen Gedanken getrübt, der ihm zuvor noch nicht gekommen war: Was sollte er eigentlich anstellen - er hatte schließlich keinen Cent in der Tasche...

Hervorragend, wirklich!

Nachdenklich schob er seine Hände in die hinteren Hosentaschen, bis seine Fingerspitzen auf das kalte Metall der Schlüssel trafen. Hm. Sein Blick glitt an dem Haus nach oben. Natürlich konnte er wieder hochfahren und sagen, er hätte es sich anders überlegt. Aber das würde einer Niederlage gleichkommen, die er nicht zugeben wollte. Oh nein. Ganz sicher nicht! Und wozu war er schließlich Telepath? Obendrein einer der Besten?

Wieder schlich sich das breite, leicht dämonische Lächeln auf sein Gesicht.

Keine fünf Minuten später schlenderte der Junge durch einen Park - oder zumindest etwas Ähnliches. In einiger Entfernung sah er einen Herrn mittleren Alters auf einer Bank sitzen - anscheinend wartete der auf eine Verabredung. Na, wenn das mal kein Zufall war!

Die grünen Augen des Telepathen glommen in der zunehmenden Dämmerung auf - und gleich darauf verspürte der freundliche Herr auf der Parkbank das dringende Bedürfnis, dem Jungen mit den langen, orangen Haaren, der soeben des Wegs kam, all sein Bargeld in die Hand zu drücken. Und Schuldig staunte nicht schlecht über die Menge des Geldes. Na, damit ließ sich auf jeden Fall etwas anfangen!

Sein erster Weg führte ihn in eine Art Kneipe - aus der er schnellstmöglich wieder floh. Oh nein, das war nicht die Art Gesellschaft und Spaß, die er wollte!

Er schlenderte weiter, beobachtete Passanten und betrachtete die Umgebung, bis er mittendrin nicht mehr wusste, wo er überhaupt war oder wie er hierhergekommen war. Als er sich reichlich ratlos umsah, entdeckte er ein in grellen Neonfarben blinkendes Schild über einer Glastür: "American Cocktails". Na, das klang doch gut! Und lecker!

Das Grinsen erschien wieder auf den Lippen des Telepathen, er ging über die Straße und öffnete die Tür, über der ein Glöckchen bimmelte. Neugierig sah er sich um, entdeckte einen Platz direkt an der Bar und hopste mehr oder minder elegant auf den Barhocker. Interessiert musterte er die aufgereihten Flaschen auf den Regalen, die durch die Spiegel dahinter nach noch mehr aussahen.

Der Barkeeper sah den neuen Gast fragend an und Schuldig ahnte, dass er besser was sagen sollte.

"Ähm... Ich hätte gern auch so nen Drink", meinte er schließlich und deutete auf das orange Getränk der jungen Frau, die neben ihm saß.

Mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem süffisanten Schmunzeln nickte der Barkeeper.

"Einen Mai Tai. Kommt sofort."
 

Schuldig war weg – die Wohnung war leer!

Brad merkte, wie ein Zentnersack Anspannung von seinen Schultern fiel. Himmlische Ruhe umfing ihn. Er wusste, diese Momente der Einsamkeit würden in Zukunft kostbar sein.

Gutgelaunt und leise vor sich hin pfeifend, betrat er das Badezimmer und ließ sich ein heißes Bad ein. Er ignorierte die halbe Überschwemmung, die Schuldig nach dem Duschen auf den Fliesen hinterlassen hatte ebenso wie das ungute Gefühl, das sich in seinem Magen einnistete, und das Schuldigs abendlichen Ausflug betraf.

Er ging noch einmal zurück ins Arbeitszimmer, schaltete den Rechner aus und ließ sich dann wohlig seufzend in das heiße, schaumige Wasser sinken. Genüsslich verschaffte er seinem Körper die Erleichterung, die er nach diesem „Zwischenfall“ benötigte, danach lag er einfach nur entspannt in der Wanne und dachte über die letzten Stunden nach. Im Großen und Ganzen war er zufrieden, wie es bisher gelaufen war. Und sie würden ein gutes Team abgeben, da war er noch immer überzeugt von.

Und dennoch nagte jetzt wieder diese Unruhe an ihm, die Schuldigs Weggang oder besser seine Wiederkehr betraf, und er ließ das Wasser ab und trocknete sich ab. Nackt tappte er durch die leere und friedliche Wohnung, mit dem immer deutlicher werdenden Gefühl, dass dies die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm war.

Aber was sollte er tun? Er hatte überhaupt keine Lust, durch München zu rennen, um seinen Telepathen nach Hause zu schleifen, davon abgesehen hatte er überhaupt keine Ahnung, wo er ihn suchen sollte und von daher eine verschwindend geringe Chance, ihn überhaupt zu finden.

Also tat er das einzig Vernünftige in dieser Situation: Er legte sich schlafen. Dann war er wenigstens ausgeruht für die Dinge, die da kommen sollten.

(Hallo zusammen!

Wie versprochen kommt das nächste Kapitel gleich hinterher.

Das ist die gute Nachricht.

Die schlechte ist: Das nächste Kapitel wird noch ein wenig brauchen, da schreiben wir nämlich gerade noch dran, und ich muss gestehen, dass ich im Moment nicht die schnellste beim Posten bin... (Ihr könnt ja versuchen, durch reichlich Kommentare meine Motivation zu erhöhen... *fg*)
 

@Anuri: Kein Problem, wiederhol dich nur - wenn's denn weiterhin soviel Lob ist... *gg*

Und wieso Mann ausnehmen? Der hat Schu das Geld doch geschenkt... ;-P
 

Und nun viel Lesevergnügen!)
 


 

7.
 

Lange sollte Brads friedlicher Schlaf nicht andauern.
 

Nach dem zweiten Mai Tai war Schuldig, der ja soeben zum ersten Mal in seinem Leben mit Alkohol in Berührung gekommen war, abgefüllt bis Oberkante Unterlippe. Und nicht nur das: Irgendwie hatte er es doch tatsächlich auch noch geschafft, das Mädchen neben sich anzuflirten, obwohl er überhaupt keine Ahnung davon hatte, wie er das fertig gebracht hatte. Aber eigentlich war das egal. Sie hatte ihn, nachdem er seine beiden und ihren Drink gezahlt hatte - immerhin war er ja Gentleman! - mit nach draußen geschleift und kurz nach der Cocktailbar in eine enge Seitengasse, die wohl mehr ein Lieferantenzugang war, abgebogen. Und auch wenn Schuldigs Geist so benebelt war, dass er kaum mehr wusste, was er tat und nicht nur doppelt, sondern dreifach sah, hatte er das Kunststück fertig gebracht, die Kleine gegen eine Mauer zu lehnen und sie durchzunehmen. Naja. Mehr oder weniger, jedenfalls. Denn so wirklich war das nicht das Wahre gewesen... Vielleicht wegen den Drinks zuvor, vielleicht wegen der Umgebung, whatever. Aber so oder so war er nicht wirklich zufrieden gewesen.

Nach diesem Intermezzo, das ihm die restlichen, noch funktionierenden Gehirnzellen auch noch auf Stand By geschaltet hatte, war er - zerzaust, nach widerlich süßem Parfüm, Alkohol und Rauch stinkend und mit Klamotten, die nicht so ganz dort saßen, wo sie sollten - in Schlangenlinien nach Hause gewankt. Wie er dieses Kunststück im Endeffekt fertig gebracht hatte, war und blieb ein Rätsel - vor allem, weil er zuvor ja auch jeglichen Orientierungssinn verloren gehabt hatte. Aber nur das Ergebnis zählte, und das sah nunmal so aus, dass er den Weg irgendwie gefunden hatte und in den Aufzug gestolpert war, der ihn in das oberste Stockwerk brachte.

Vor sich hinnörgelnd stand er nun vor der Tür, hatte keine Ahnung, wie spät es war oder wie er aussah, und kniff die Augen zusammen, um mit dem Schlüssel das blöde, widerspenstige Schlüsselloch zu treffen. Was dummerweise nicht so ganz klappen wollte... Weswegen er sich vom Nörgeln auf's Fluchen verlegte, was erfahrungsgemäß nicht leise vor sich gehen konnte. Damit hatte er dann allerdings doch Erfolg: Er traf das Schlüsselloch, und die Tür sprang auf. Erleichtert taumelte er in die Wohnung, versetzte der störrischen Tür einen kräftigen Fußtritt, der sie wieder ins Schloss beförderte und seufzte dann erleichtert auf. Das war doch ziemlich heftig für eine Nacht gewesen!

Schuldig schaffte es noch, die Schuhe von seinen Füßen zu kicken, dann wurde ihm übel und gleich darauf schwarz vor Augen. Er schaffte es drei Schritte ins Wohnzimmer, dann sackten ihm die Beine unter dem Körper weg, und er klappte in sich zusammen. Den Aufschlag auf dem harten Parkett spürte er schon nicht mehr. Der Telepath war ohnmächtig geworden - und etwas schlimmeres hätte ihm nicht passieren können. Oder besser: etwas schlimmeres hätte Brad nicht passieren können...
 

Das laute Fluchen vor der Tür ließ Crawford aufwachen, aber da befand er sich noch in diesem kurzen Zustand absoluter Desorientiertheit, dem man ausgesetzt war, wenn man aus der Tiefschlafphase in den Wachzustand katapultiert wurde.

Das Knallen der Tür ließ ihn jedoch in Sekundenbruchteilen hochschnellen. Aus dem Bett springen und die Knarre greifen, die stets griffbereit in der Nachttischschublade lag, wenn er schlief, waren eine einzige, fließende Bewegung. Doch sofort hatte er das Bild eines auf dem Wohnzimmerboden liegenden Telepathen vor seinem inneren Auge, und er warf die Pistole auf das Bett zurück, bevor er mit großen Schritten ins Wohnzimmer eilte.

Da lag er nun, der Held des Abends, nach Kneipentour und Frauen stinkend reglos am Boden. Er drehte den schlaffen Körper um. Wenigstens schien er nicht verletzt. Nur stockbesoffen.

Brad packte ihn unter den Armen und schleifte ihn zum Sofa, hievte ihn hinauf und zog ihm die Schuhe von den Füßen. Dann ging er einen Eimer holen, den er neben ihn stellte. Und deckte ihn zu. Schließlich sollte er sich nicht erkälten.

Er hatte nicht viel Erfahrung mit Alkoholleichen. Bei Rosenkreuz wurden sie eigentlich darauf gedrillt, keine Drogen zu nehmen – höchstens die institutseigenen, falls die verordnet wurden. Er kannte wirklich Betrunkene nur von flüchtigen Begegnungen in der Stadt, meist nachts oder in den frühen Morgenstunden, und das unkoordinierte, enthemmte Verhalten und später in fortgeschrittenem Stadium das Torkeln und Kotzen bis zur Bewusstlosigkeit hatte ihn stets abgestoßen.

Ob der morgen wieder fit war? Crawford bezweifelte das. Immerhin war es jetzt schon fast vier Uhr. In fünf Stunden stand schon der Fahrlehrer auf der Matte.

Die ersten Fahrstunden mit Fahne und Restalkohol… na, Prosit!

Crawford schüttelte leicht den Kopf, während er auf Schuldig hinab blickte. War das da Lippenstift an seiner Wange? Wundern würde es ihn nicht. Das Outfit war auch wirklich sexy… und Schuldig selber... sah auch sehr verführerisch aus. Zumindest konnte sich Brad gut vorstellen, dass er auf Frauen so wirkte.

Da er hier eh nicht ausrichten konnte und nur auf komische Gedanken kam, ging er zurück in sein Zimmer, um noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.
 

Es dauerte ein paar Stunden, bis der Junge den Alkohol so weit abgebaut hatte, dass sein Gehirn die Arbeit wieder aufnahm. Und wie! Es war kurz vor halb sieben, als der Telepath von seinen Erlebnissen zu träumen begann - und diese Träume durch die durch den Alkohol eingestürzten Barrieren wild in der Gegend herum funkte.

Da Brad ihm am nächsten war, bekam er den Hauptteil ab und durfte Zeuge dessen werden, was Schuldig in der Bar und der Seitengasse so alles getrieben hatte. Wortwörtlich.

Der ganze Spuk, der etwa eine halbe Stunde dauerte, verblasste erst vollständig, als der Telepath noch ein Stückchen nüchterner wurde und schließlich mit einem lauten Stöhnen die Augen aufblinzelte.

Die Helligkeit, die durch die deckenhohen Fenster fiel, schmerzte ihn in den Augen, er kniff sie zusammen und setzte sich auf, nur um sich gleich darauf wieder zurückfallen zu lassen. Himmel, das war keine gute Idee gewesen! Das ganze Zimmer drehte sich um ihn, und sein Magen drehte sich ebenfalls munter mit.

Beim zweiten Versuch klappte es schon ein wenig besser und Schuldig konnte sitzen bleiben und sich irritiert umsehen. Warum zum Geier lag er auf der Couch statt in seinem Bett, und wieso war er noch bekleidet? Und - die beste aller Fragen! - weshalb war ihm so erbärmlich übel?
 

Erst dachte er, es wäre ein Traum.

Er träumte, wie Schuldig in einer Bar mit einer jungen Frau flirtete, schmeckte den Mai Tai auf der Zunge, fühlte die Verwunderung über die Leichtigkeit, mit der die Frau auf seine Avancen einging, und – Moment! Irgendetwas stimmte da nicht – diese Detailgenauigkeit, obwohl er noch nie zuvor Alkohol getrunken hatte, ließ ihn stutzig werden und aufwachen. Schuldig war sich seiner verführerischen Ausstrahlung in seinem neuen Outfit anscheinend nicht in vollem Umfang bewusst.

Er stöhnte leise auf, weil er sich schwindelig fühlte, und sein erster Impuls war, diesen erneuten telepathischen Überfall sofort zu unterbinden. Doch dann bremste er sich und zwang sich, zu entspannen. Eine bessere Gelegenheit, Schuldig kennen zu lernen würde sich ihm nicht bieten. Und gleichzeitig erfuhr er so, was Schuldig die Nacht getrieben hatte – oder was er gern getrieben hätte. Denn obwohl er sicher war, dass das Erinnerungen waren, die da auf ihn einstürzten, war es doch auch nur ein Traum.

Und… so genau wollte es Crawford dann doch nicht wissen, was… und vor allem wie der Junge es getrieben hatte…

Dafür wusste er jetzt wenigstens, wie sich ein Vollrausch anfühlte. Er fand das keinen erstrebenswerten Zustand.

Und schon gar nicht den Kater am nächsten Morgen. Crawford spürte noch ein Stechen in den Augen und eine unglaubliche Übelkeit, dann verblasste die Verbindung zwischen ihnen zum Glück, bis er sich wieder alleine in seinem Bewusstsein hatte.

Thanks to the goddess.

Er ließ sich noch einige Momente Zeit mit dem Aufstehen, dann machte er sich auf den Weg in die Küche, wobei er einen kurzen, kritischen Blick auf das Häufchen Elend auf dem Sofa warf. In Schuldigs Haut wollte er jetzt nicht stecken.

„Schätze, du möchtest auch einen Kaffee?“

Während er sprach, werkelte er schon an der Kaffeemaschine herum.
 

Statt einer Antwort brachte der junge Telepath lediglich ein gequältes Stöhnen zustande. Er fühlte sich, als wolle sein Kopf einfach explodieren. Mühsam zwang er seine Augen, offenzubleiben, obwohl ihn das helle Licht blendete, das durch die großen Fenster fiel, und er sich am Liebsten wieder unter der Decke verkrochen hätte. Seine Zunge war nur ein pelziger Klumpen in seinem trockenen Mund, doch allein der Gedanke, etwas zu trinken, um dieses Gefühl wegzubringen, brachte seinen Magen dazu, sich munter im Kreis zu drehen.

"Wie spät ist es?" brachte er nach mehreren Anläufen heraus und verzog bei der Lautstärke,in der er gesprochen hatte, schmerzhaft das Gesicht.

Total fertig rieb er sich über das Gesicht und stemmte sich schließlich wie ein alter Mann mühevoll in die Höhe. Oh-oh, das fühlte sich gar nicht gut an...

Matt ließ er sich wieder zurück auf die Couch fallen und ächzte gequält.

"Was ist passiert?" wollte er wissen - diesmal vorsichtshalber im Flüsterton. "Und ja, Kaffee wäre nicht schlecht..."
 

„Es ist genau sieben Uhr, vierzehn Minuten“, verkündete Brad, indem er sein Tun unterbrach und einen Blick auf seine Armbanduhr warf. Er dachte an Schuldigs Mörderkaffee vom Vortag und häufte den Filter ordentlich voll. Innerlich kopfschüttelnd machte er sich dazu kochendes Wasser.

Schuldigs Ächzen und die hörbare Qual in seiner Stimme kommentierte Brad mit einem herzlosen Grinsen. „Der Kaffee ist gleich fertig. Weißt du nicht mehr, was passiert ist?“ Seine Stimme bekam einen leicht süffisanten Unterton. „Du hast dich betrunken und dann entjungfert. Gratulation. Danach wolltest du hier auf dem Fußboden schlafen. Der Fahrlehrer kommt um neun. Ich geh jetzt duschen.“

Er überließ Schuldig seinem Elend und ließ sich Zeit im Bad. Wie jeden Morgen rasierte er sich gründlich und kämmte sorgfältig die Haare. Er achtete sehr penibel auf sein Äußeres.

Er bemerkte, dass er auch ohne Brille ganz gut zurecht kam. Ein Leben ohne Details.

Dennoch entschied er, eine zweite Brille als Reserve anzuschaffen.

Mit dem Handtuch um die Hüften geschlungen wechselte er schließlich in sein Zimmer, um seiner Erscheinung den letzten Schliff zu geben – zur Feier des Tages (schließlich wurde man nur einmal im Leben entjungfert) wählte er den weißen Anzug. Mit weinroter Krawatte.

Wieder in der Küche goss er sich Kaffee und heißes Wasser ein und begann, seine morgendliche Miso-Suppe zu kochen.

Ob Schuldig heute wohl fit genug für die Fahrschule war? Er blickte sich nach Schuldig um.

Und beschloss, heute als erste Amtshandlung einen Optiker aufzusuchen.
 

Bei allen Heiligen, das durfte alles nicht wahr sein! Fassungslos hörte Schuldig den Ausführungen des Älteren zu und ließ danach den Kopf hängen. Die Frage, woher Brad das alles wusste, lag ihm schon auf der Zunge - aber so genau wollte er es dann doch auch wieder nicht wissen.

Sein erster, halbwegs vernünftiger Gedanke galt der Tatsache, dass er nicht mal zwei Stunden hatte, bis er fit sein musste. Wenn er heute wohl auch auf viel verzichtet hätte - Fahrstunden gehörten ganz sicher nicht dazu. Erst bei der zweiten Überlegung ging ihm auf, das Crawford ihm noch gesagt hatte. Zuerst stand ihm der Mund offen, dann schob sich ein breites Grinsen darüber. Na holla, das war ja mal was! Er hatte gestern also tatsächlich...? Hitze flutete seine Wangen, und auch ohne in einen Spiegel zu sehen wusste er, dass er knallrot angelaufen war. Zu dumm, dass er sich an rein gar nichts mehr erinnerte. Jedenfalls an nichts, was nach dem ersten Mai Tai geschehen war.

Er war so in seine Überlegungen versunken, dass er gar nicht wirklich mitbekam, wie der Ältere aus dem Bad in sein Zimmer übersiedelte und anschließend vollständig bekleidet wieder im Wohnzimmer auftauchte. Dafür schaffte es das kräftige Aroma des starken Kaffees, bis in sein noch leicht alkoholumnebeltes Gehirn vorzudringen. Ohja, das konnte jetzt auf jeden Fall brauchen.

Den Geruch der Misosuppe so gut es ging ignorierend, schlich der Junge im wahrsten Sinn des Wortes in die Küche, um sich den versprochenen Kaffee zu holen. Dabei streifte sein Blick einmal mehr den Schwarzhaarigen, der sich wieder einmal mächtig in Schale geworfen hatte. Anerkennend zog der Telepath eine Augenbraue nach oben - zu mehr war er gerade nicht in der Lage.

Jetzt einen Kaffee, dann duschen, und dann könnte er vielleicht so munter sein, dass es reichte, um dem Straßenverkehr seine Aufmerksamkeit zu schenken...
 

Schuldig saß noch genau so auf dem Sofa, wie Brad ihn zurück gelassen hatte, soweit er das beurteilen konnte. Mann, musste es dem elend gehen. Brad dachte kurz an die vorhin gespürten Kopfschmerzen und die Übelkeit und war gespannt darauf, wie Schuldig den Tag überstehen würde. Auf keinen Fall würde er ihm das angekündigte Joggen ersparen. Aber wer weiß – bis zum Nachmittag war der Junge vielleicht schon wieder fit. Brad hatte keine Ahnung, wie lange so eine leichte Alkoholvergiftung andauerte.

Er kippte die klein geschnittene Möhren und den Kohlrabi in den heißen Topf und schloss den Deckel. Das musste jetzt erstmal kochen.

Normalerweise las Brad morgens gern die Tageszeitung. Nicht so sehr, weil ihn interessierte, was in der Welt passierte. Das meiste war sowieso ein riesiges Bühnenstück, aufgeführt für die breite Masse der Bevölkerung. Aber er war gerne informiert, womit die Welt gerade beschäftigt war; schließlich war es nicht gut, weniger zu wissen als andere. Doch ohne seine Brille war an Zeitung lesen nicht zu denken.

Brad schlürfte langsam seinen Kaffee und wieder ruhte sein Blick nachdenklich auf Schuldig, der ebenfalls seinen Kaffee trank.

„Ich möchte dich ja nicht nerven, aber…“ Er versuchte, möglichst beiläufig zu klingen. „Denk bei solchen Aktionen in Zukunft daran, immer ein Kondom zu benutzen, ja? Da kann man sich nämlich eine ganze Menge an Krankheiten einfangen.“

Und nur gut, dass Schuldig kein Mädchen war – somit bestand wenigstens nicht die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft.
 

Bei dieser Ermahnung verlor der junge Telepath noch mehr Farbe und nahm dadurch schon fast einen Grünstich an, während er den Kopf zwischen die Schultern zog. Nein, er wollte jetzt nicht so genau wissen, woher der Ältere wusste, was geschehen war oder ob er ein Kondom benutzt hatte oder nicht. An das er natürlich nicht gedacht hatte. Wie auch? Er hatte ja zu dem Zeitpunkt nicht mal mehr gewusst, wie er hieß... Aber prophylaxehalber nickte er artig.

Mit zittrigen Händen hob er seine Tasse an und konzentrierte sich schwer, um sie an die Lippen führen zu können, ohne auszuschütten oder sie fallen zu lassen. Heiß und bitter rann der erste Schluck seine Kehle hinunter, und Schuldig musste sich schwer beherrschen, um seinen Magen dazu zu bringen, die winzige Menge Kaffee in sich zu behalten.

Als er das nächste Mal zur Uhr sah, zuckte er zusammen. Oh wow, wo war die Zeit geblieben? Es war schon fast halb neun und er noch nicht mal ansatzweise geduscht! Mit einem satten Knall stellte er die Tasse auf dem Tisch ab, zuckte ob des lauten Geräuschs entsetzt zusammen, sprang dann auf und raste ins Bad. Naja, oder das, was man in seinem Zustand 'rasen' nennen konnte.

Aber ob nun so oder so, auf jeden Fall wusch und stylte er sich in Rekordzeit, wobei er mit dem Ergebnis des Letzteren nicht so wirklich zufrieden war. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern.

Nur mit einem Handtuch um die Hüften flitzte er in sein Zimmer und zerrte seine Kleider aus den Tüten. Hm. Er musste Brad mal fragen, wann er jemanden holte, der sein Zimmer einrichtete... Aber nun war erst mal die Fahrstunde wichtig, auf die der junge Telepath schon ganz heiß war.

Fünf Minuten vor neun kam er wieder ins Wohnzimmer zurück - schick und frech angezogen, die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, und viel munterer und wacher aussehend, als er sich fühlte.

Er stellte sich vor den Amerikaner, der immer noch am Tisch saß, und fragte kokett: "Kann man mich so auf die Menschheit loslassen?"
 

Prüfend ließ Crawford seinen Blick über die schlaksige Gestalt wandern. Der Junge konnte auch wirklich alles tragen, der würde selbst in einem Kartoffelsack noch eine gute Figur machen. Oder lag das nur an Brads intimen Einblicken in Schuldigs sexuelle Phantasien, dass er ihn so attraktiv fand?

„Hm-m. Geht so.“ Die Antwort klang mürrischer als gewollt. „Das Outfit ist okay, aber du stinkst wie eine Horde Berber nach einer durchzechten Nacht.“ Das war etwas übertrieben, aber ein leichter Alkoholgeruch war noch übrig von dem nächtlich Exzess, und das Genörgel lenkte ab von den ungewollten Gedanken an Schuldigs Attraktivität.

Das Läuten der Türglocke ersparte ihnen beiden weitere Diskussionen. Crawford stand auf, um den Fahrlehrer herein zu lassen. Der Mann war pünktlich, das gefiel Crawford. Umso mehr natürlich, da es ihm eine Pause von seinen Teamchefpflichten gewährte.

Der Mann war Ende vierzig mit schon leicht angegrauten, kurzen Haaren. Brad empfing ihn auf Deutsch mit deutlich mehr amerikanischem Akzent, als er eigentlich nötig hatte. Aber es gefiel ihm immer wieder aufs Neue, den reichen Ami raus hängen zu lassen. Und wie meistens verfehlte sein Auftritt nicht seine Wirkung – der Mann verfiel in speichelleckerische Unterwürfigkeit. Blieb nur zu hoffen, dass der überhaupt mit Schuldig fertig werden würde.

„Lassen Sie sich von Ihrem neuen Schüler nicht übers Ohr hauen“, warnte Brad ihn halb scherzend und ohne die Stimme zu senken. „Er ist hochbegabt, aber ich bestehe darauf, dass er vor der Prüfung die vorgeschriebene Anzahl Stunden erhält. Auch die theoretischen, egal, ob Sie den Eindruck haben, er weiß schon alles, okay? Er bekommt keine Sonderbehandlung.“

Den letzten Satz sagte er mit Nachdruck und der Fahrlehrer schluckte trocken und nickte. Bei aller oberflächlichen Freundlichkeit, die der Amerikaner ihm präsentierte, verfügte er doch über ausreichend Menschenkenntnis, um sich keinen Ärger mit ihm einfangen zu wollen.

Brad führte ihn ins Wohnzimmer und stellte ihm seinen zukünftigen Schüler vor.

„Das ist Herr Gödeke. Er ist dein Weg zu einem eigenen Auto. Viel Spaß miteinander. Und viel Erfolg.“

Er überlegte kurz, ob er Schuldig noch etwas Geld geben sollte, schließlich würde der Junge vielleicht im Laufe des Tages Hunger kriegen, und dann könnte er sich unterwegs etwas kaufen. Doch ein kurzer Blick in die Zukunft sagte ihm, dass Schuldig sich am Vorabend schon irgendwie selbst Geld beschafft hatte.

Um so besser.

Er überließ die beiden sich selbst und kümmerte sich um seine Frühstückssuppe. Und danach würde er zum Optiker gehen und sich eine neue Brille beschaffen.
 

Schuldig zuckte wie elektrisiert zusammen, als die Türglocke losklingelte, und ein breites, vorfreudiges Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Ziemlich gelassen hörte er Brads Ausführungen zu, ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr ihn nervte, dass der Fahrlehrer die Anweisung bekam, ihn sozusagen hart ranzunehmen. Doch er konnte auch nicht verheimlichen, wie sehr er sich auf die Fahrstunden freute - hibbelig trat er von einem Bein auf das andere, bis sich Herr Gödeke mit einem schleimerischen Lächeln von Brad verabschiedete.

Vor der Haustür stand kein typisches Fahrschulauto, sondern ein Audi Cabrio, der den Telepathen sofort in Freudentaumel versetzte.

Er stieg ein und ließ sich von dem Lehrer in Ruhe alles erklären. Als er dann endlich nach dem Zündschlüssel griff und ihn herumdrehte, machte sein Herz einen riesigen Hopser.

Schuldig hatte zwar nicht Crawfords hellseherischen Vorteil, doch er setzte seine gesamte Konzentration ein, um den stundenlangen Unterricht bestmöglich über die Bühne zu bringen. Tatsächlich lernte er rasend schnell, selbst mit den leichten Kopfschmerzen, die er mittlerweile nur noch hatte. Schon bald steuerte er den Wagen sicher und geschickt auch durch den dichtesten Verkehr Münchens.

Gleichzeitig mit dem praktischen Unterricht erklärte und erläuterte der Fahrlehrer ihm auch gleich die Verkehsregeln und die Formeln, die bei gewissen Manövern griffen.

Der junge Telepath war so trainiert, dass er jede Kleinigkeit - und mochte sie ihm noch so unwichtig erscheinen - abspeicherte.

Kurz vor drei Uhr nachmittags parkte er das Cabrio wieder vor dem Appartementhaus, verabschiedete sich artig von Herrn Gödecke und vereinbarte gleich den nächsten Termin für den kommenden Tag.

Beschwingt und gut gelaunt schloss er nur wenige Minuten später die Wohnungstür auf, warf sie übermütig ins Schloss und kickte sich die Schuhe von den Füßen.

"Ich bin wieder da!", rief er durch die augenscheinlich leere Wohnung. Natürlich war Brad zu Hause, auch wenn er ihn nicht auf Anhieb entdecken konnte. Aber er würde ihn hören, und das reichte dem Jungen völlig aus.
 

Brad streckte den Kopf aus dem Badezimmer.

„Und? Wie war's?“

Er fühlte sich ein wenig ertappt, da er gerade dabei gewesen war, seine zwei neuen Brillenmodelle vor dem Spiegel mit verschiedenen Gesichtsausdrücken auszuprobieren. Die eine schien besser zu dem abgebrühten Geschäftsmann und eiskalten Killer zu passen – während die andere eher das Modell „harmloser Student auf Durchreise“ war.

Naja, wahrscheinlich übertrieb er gnadenlos. Eigentlich sahen sich beide Modelle recht ähnlich, nur dass die eine etwas größere Gläser hatte, und die andere schön leicht und randlos war.

Jedenfalls kam er sich jetzt, wo Schuldig potentiell mitbekommen hatte, was er da trieb, ein wenig kindisch dabei vor.

Na, egal.

Schuldig schien gute Laune zu haben. Brad grinste. Er trug schon seinen schwarzen Jogging-Anzug, und war gespannt, wie es um Schuldigs Kondition stand.
 

Bei Brads Anblick drehte sich dem Telepathen fast der Magen um. Himmel, den Plan, joggen zu gehen, hatte er völlig verdrängt und sich eigentlich auch darauf gefreut, sich noch ein wenig hinzulegen. So ganz munter fühlte er sich ja immer noch nicht, und sechs Stunden Konzentration auf den irrsinnigen Verkehr taten ihr Übriges.

"Joah, war cool! Ich hab für morgen den nächsten Termin ausgemacht", teilte er Brad ein wenig unbegeistert mit - was garantiert nicht mit den Fahrstunden zusammenhing.

"Du willst jetzt wirklich raus und durch die Gegend rennen?" erkundigte er sich im Anschluss, in der irrigen Hoffnung, er hätte sich bezüglich des Trainingsanzugs geirrt, und seufzte vernehmlich, als der Ältere mit einem bösen Grinsen nickte. "Du weißt schon, welche Temperatur wir haben?"

Doch das schien den Amerikaner überhaupt nicht zu interessieren, und Schuldig ergab sich in sein Schicksal und schlich mit gesenktem Haupt in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Einem Befehl zu widersprechen, fiel ihm im Traum nicht ein, besonders, da es sich um so etwas Lapidares handelte.

Es dauerte nicht lange, bis er seine Jeans gegen eine weiche, weiße Jogginghose und ein ärmelloses Shirt getauscht hatte und in sündteuren Sportschuhen wieder im Wohnzimmer stand, wo er seinen Chef ein wenig unglücklich anschaute. Unfassbar, wie gut gelaunt Brad war...

Lang, lang ist's her... Das reale Leben hat uns fest im Griff, und wenn dann mal Zeit ist, ist die Muse plötzlich weg...

Aber wir haben es dennoch geschafft, langsam weiter zu schreiben,

und wir bleiben auch dran an der Geschichte, keine Sorge!
 

Und jetzt: Viel Spaß!

(Hoffentlich erinnert Ihr Euch noch, worum es überhaupt geht... *drop*)
 


 

Schuldigs Laune sank sichtbar auf den Nullpunkt in dem Moment, als er Brad sah. Dieser beschloss, das nicht persönlich zu nehmen, und schob die Reaktion auf das bevorstehende körperliche Training – zumindest ließ Schuldigs diesbezügliche Frage darauf schließen.

„Was, bitte schön, hat denn die Temperatur damit zu tun?“ entgegnete Brad nur, und Schuldig schlich schon vom Leben (oder eher von Brad) gebeutelt in sein Zimmer und kehrte kurz darauf gehorsam umgezogen in sportlichem Outfit zurück.

Brad konnte nicht umhin, zu bemerken, dass der Junge auch in dieser Aufmachung sehr hübsch aussah... obwohl das vielleicht das falsche Wort war. Cool, traf es wohl besser. Auch wenn er so bedröppelt dreinschaute. Er sah zwar nicht sehr sportlich aus, eher wie einer dieser Jung-Rapper von MTV, fehlte nur die Mütze...

Brad griente schon wieder. „Na, komm schon“, versuchte er, sein Teammitglied ein wenig aufzumuntern. „Du wirst sehen, es wird Spaß machen!“

Ihm zumindest.

Zunächst ging es allerdings Richtung Tiefgarage, denn Brad hatte vor, ein wenig hinaus zu fahren. Er hatte da einen ganz speziellen Trimm-dich-Pfad für sich entdeckt.

Am Stadtrand parkte er den Wagen, stieg aus und reckte sich genüsslich. Die Luft roch frisch und würzig, und man hörte eine Amsel singen.

„So.“ Er rieb sich die Hände. „Wir laufen in Richtung des kleinen Wäldchens dort, am Bach entlang. Du bestimmst erstmal das Tempo, okay?“
 

Was sollte bitte daran Spaß machen, bei gefühlten hundert Grad wie ein Irrer durch die Gegend zu rennen? Innerlich schnaubte Schuldig, ließ sich aber sonst nichts anmerken.

Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, schlich er hinter dem Amerikaner her in die Tiefgarage, setzte sich brav auf den Beifahrersitz und hielt auch während der Fahrt mitten in die Pampa einfach nur den Mund.

Nachdem sie ausgestiegen waren und Brad ihm die Richtung vorgegeben hatte, schaute der junge Telepath leicht verzweifelt zu besagtem Wald und ließ die Schultern hängen. Bis dahin waren es mindestens... mindestens... tausend Meter! Verstieß das nicht gegen die Genfer Konvention bezüglich Folter?

Einen winzigen Moment lang spielte Schuldig mit dem Gedanken, einfach stur stehen zu bleiben und seinem Boss einfach nur das Trugbild vorzugaukeln, er würde mit ihm laufen. Dann aber bemerkte er den erwartungsvollen Blick des Älteren und seufzte ergeben. Wahrscheinlich würde er auf dem halben Weg schon wegen Luftmangel einfach aufgeben...

Der Telepath zuckte die Schultern, riss sich zusammen und trabte los. Sehr gemächlich, wohlbemerkt. Er schätzte ja, dass es nicht damit getan war, bis zu dem kleinen Wald zu laufen, sondern dass es dort dann erst richtig losging. Und er wollte sich nicht die Blöße geben und tatsächlich vor Sauerstoffmangel kotzen. Ausdauertraining war nie so sein Ding gewesen...

Schon nach den ersten Metern wünschte er sich, er hätte einen MP3-Player oder irgendetwas in dieser Richtung mitgenommen, was ihn wenigstens abgelenkt hätte. Aber so gab es nichts, auf das er sich konzentrieren konnte.

Bis er einen Blick neben sich auf den durchtrainierten Körper des Schwarzhaarigen warf und seine Augen sich für den Bruchteil einer Sekunde weiteten. Himmel, wann hatte der sich denn ausgezogen? Schuldig schluckte. Okay, Brad war nicht 'oben ohne', aber so gut wie. Jedenfalls hatte er den Eindruck, auch wenn dessen Shirt locker um seinen Oberkörper flatterte.

Zu der Hitze des Sommernachmittags kam nun auch noch die in seinem Inneren, die Schuldig das Leben schwer machte.
 

Im Schatten der Bäume wurde die Luft etwas kühler. Nicht, dass Brad schon sonderlich ins Schwitzen geraten wäre bei der Schneckengeschwindigkeit, die Schuldig vorgab. Aus Solidarität trabte er lässig neben dem Jungen her, auch wenn er das Gefühl hatte, ein flottes Schritttempo wäre ausreichend, um an seiner Seite zu bleiben. Aber er sagte nichts. Immerhin war der gute Wille erkennbar. Außerdem war es nicht unbedingt faul, sondern durchaus klug von Schuldig, sich nicht gleich am Anfang des Laufes zu verausgaben.

Das Wäldchen war lang, aber nicht breit – kaum hatten sie es betreten, konnte man schon nach etwa fünfhundert Metern sein Ende ausmachen.

Die Sonne nahm sie blendend in Empfang. Sie bogen nach links ab und liefen nun am Waldrand entlang auf ein altes Fabrikgelände zu.

„So“, sagte Brad. Er war nicht einmal ansatzweise außer Atem. „Jetzt mal ein bisschen schneller.“

Er steigerte langsam das Tempo, bis aus dem Laufen Rennen wurde, blieb jedoch stets dicht bei Schuldig, nur ein bis zwei Schritte vor ihm. Jetzt interessierte ihn, wie schnell der Junge war.

Als sie an der Mauer ankamen, die das verwildernde Grundstück umgab, blieb er stehen.

„Nicht schlecht. Und jetzt klettern wir über die Mauer. Mal sehen, wer als erstes drüben ist.“

Kaum ausgesprochen begann er auch schon, geschickt das brüchige Mauerwerk zu erklimmen.
 

Nee, ne? Das ... durfte doch jetzt nicht wahr sein!

Schuldig verdrehte die Augen, verkniff sich ein 'Muss das sein?', versuchte heldenhaft, wieder zu Atem zu kommen und machte sich dann wesentlich langsamer als sein Boss daran, über die Mauer zu klettern. Das grenzte aber schon haarscharf an Tierquälerei, entschied er für sich. Nochmal würde ihn Brad aber sicher nicht dazu bekommen, mit ihm so einen Irrsinn zu unternehmen!

Reichlich unelegant ließ er auf der anderen Seite zu Boden plumpsen und kämpfte sich murrend wieder auf die Beine.

"Und jetzt?" fragte er resignierend, da er auf den ersten Blick erkannte, dass der Amerikaner immer noch nicht genug körperliche Betätigung hinter sich hatte. Verdammt, wo nahm der denn nur die Ausdauer her?

Schuldig bereute wirklich, sich die letzte Nacht um die Ohren geschlagen zu haben. Das würde ihm nicht mehr passieren, nahm er sich vor. Vor allem nicht mit einem solchen Alkoholkonsum.
 

Der Junge pfiff aus dem letzten Loch, aber er hielt sich wacker. Weiter also. Jetzt begann ja erst der richtige Spaß.

„Jetzt dort zu dem Hauptgebäude.“

Damit Schuldig wieder ein wenig Puste holen konnte, trabte Brad locker über den – zugegeben – reichlich unebenen Untergrund zu der großen, mehrstöckigen Fabrikhalle. Man musste schon aufpassen, wo man seine Füße hinsetzte, denn es lag einiges an Geröll und Schutt herum, ganz zu schweigen von den Grasbüscheln und anderen heldenhaften Pflanzen, die es geschafft hatten, die Asphaltdecke zu durchbrechen und durch diesen Zivilisationsboykott den ehemals glatten Boden in eine wahre Huckelpiste zu verwandeln.

An einem der kaputtgeschlagenen und anschließend mit Brettern vernagelten Fenster im Erdgeschoss blieb Brad erneut stehen. Das unterste Brett fehlte. Man konnte also hochspringen, sich am Fenstersims hochziehen und durch den Spalt kriechen.

Genau das tat Brad nun auch und wartete im Dämmerlicht der alten Halle auf seinen Gefährten. Er schloss halb die Augen und sondierte schon einmal die nächsten Minuten. Er war schließlich nicht der einzige, der diese Ruine für seine Zwecke nutzte. Junkies und Obdachlose lümmelten sich hier teilweise herum, waren jedoch relativ harmlos. Weniger harmlos war eine Art Vorstadt-Rockergang, die manchmal den abgelegenen Ort für Partys, Mutproben oder andere finstere Machenschaften nutzte.

Im Moment schien alles ruhig.
 

Oh nein, nicht auch das noch! Schuldig stand an der Fassade und starrte den Spalt an, durch den Brad verschwunden war. Ihm fiel nicht ein, zu protestieren, auch wenn er das jetzt liebend gern gemacht hätte. Doch da schlug der Rosenkreuz-Drill wieder an, und obendrein ging er davon aus, dass es einen Grund gab, weswegen der Ältere ihn so hetzte und quälte.

Mit einem leisen Ächzen hievte er sich am Fensterbrett in die Höhe, wobei er mit dieser einfachen Übung fast überfordert war. Er wog zwar nicht viel, aber er war gänzlich untrainiert, und seine Muskeln protestierten enorm gegen diese Beanspruchung. Und dummerweise half ihm seine Telepathie hier auch kein Stück weiter.

Dann endlich hatte er es geschafft und sich durch das Loch gezwängt und stand nun schwer atmend und mit vor Anstrengung zitternden Armen und Beinen vor dem Amerikaner.

"Sag mal... Für was soll das eigentlich gut sein?", wollte er allen Ernstes wissen, als er wieder genug Luft hatte, um zu reden. "Ich dachte, du wolltest nur eine kleine Runde Joggen gehen, und nicht, dass du mich im Militärstil drillst."

Zittrig strich er sich die Ponysträhnen aus der Stirn, die vor lauter Schweiß an seiner Haut klebten und ihn deswegen nervten.

Erst jetzt kam er dazu, sich ein wenig im Halbdunkel umzusehen, und kräuselte angewidert die Nase.

"Und was machen wir hier jetzt? Sind wir bald fertig?"

Er wusste, dass er sich gerade anhörte, wie ein quengeliges Kind, aber das war ihm egal. Für seine Begriffe hatte er heute mehr als genug geleistet, und es bestand keine Veranlassung, ihn noch weiter durch die Gegend zu hetzen.
 

„Schätze, du bist jetzt schon fertig“, sagte Brad in neutralem Tonfall, nachdem er Schuldig ernst zugehört und ihn aufmerksam gemustert hatte. Der Jugendliche hatte allem Anschein nach wirklich schon genug. So, wie seine Muskeln jetzt schon zitterten, war es zu gefährlich, Brads speziellen „Trimm-dich-Pfad“ fortzusetzen. Bedauernd huschten seine Augen kurz an dem metallenen Stahlgestänge entlang, welches die Halle von innen stützte und an dem man so herrlich herum klettern konnte. Musste das eben warten.

„Du scheinst es tatsächlich geschafft zu haben, dich den 'körperlichen Ertüchtigungen' bei Rosenkreuz konsequent fernzuhalten“, stellte er mit einem leichten Anflug von Anerkennung in der Stimme fest. Entweder hatten sie tatsächlich den Schwerpunkt auf seine mentalen Fähigkeiten gesetzt oder Schuldig hatte eben diese erfolgreich eingesetzt, um den Sportunterricht zu schwänzen. Was beides auf sein außergewöhnliches Talent hinweisen würde. Aber das wusste Brad ja nun schon.

„Bei mir wird es das aber nicht geben. Ich erwarte, dass du in Höchstform bist – auch körperlich. Das, was du 'Militärstil' nennst, wird dir im Zweifelsfall später das Leben retten. Was meinst du, warum das Militär auf die Art trainiert wird? Es wird nicht ausreichend sein, dich auf deine Psi-Fähigkeiten zu verlassen, wenn du mit mir zusammen arbeiten willst. Und falls du jetzt immer noch nicht weißt, wozu das hier gut sein soll, beantworte ich dir das gerne: Es soll ganz einfach deine Kondition verbessern. Darum werden wir das von nun an auch jeden Tag wiederholen. Aber für heute ist es genug. Gehen wir.“

Doch anstatt wieder durch das Fenster zu kriechen, durchquerte Brad die weiträumige Halle, bis zu einem dunklen Schacht an der gegenüberliegenden Seite. Das war wohl einmal ein alter Aufzug gewesen, der jetzt nur notdürftig mit Maschendrahtzaun abgesichert war. Brad schob das Drahtgeflecht ein wenig zur Seite und begann, in die Dunkelheit hinab zu klettern. An der Betonwand war eine schmale Eisenleiter befestigt.

Er nahm immer diesen Weg hinaus – durch den dunklen Keller. Es war keine akrobatische Meisterleistung, an der Leiter hinunter zu steigen, aber es schulte den Orientierungssinn, sich in den Kellergewölben nicht zu verlaufen. Außerdem verspürte er in der Dunkelheit jedes Mal ein unbehagliches Gefühl, das auf seine Anfangszeit bei Rosenkreuz zurückzuführen war. Es war seine Art, mit seinen Ängsten umzugehen, und sich ihnen immer wieder zu stellen. Klaustrophobie im Dunkeln konnte er sich nun wirklich als Anführer eines Top-Agenten-Teams nicht erlauben, und es wurde auch tatsächlich von Mal zu Mal besser. Das rasende Herzklopfen und die schweißnassen Hände gehörten schon längst der Vergangenheit an, und übrig war nur noch diese leichte Beklommenheit. Und auch die würde bald überwunden sein.
 

Jeden Tag? Schuldigs Teint nahm einen leichten Grünstich an, und er konnte sich nicht beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Na toll. Ja, Brad hatte Recht: Er hatte eine Möglichkeit gehabt, tatsächlich dem verhassten Sportunterricht zu entkommen. Im Nachhinein stellte sich das ja wohl als Eigentor heraus. Hervorragend, wirklich!

Mit wenig Begeisterung trabte er hinter dem Älteren her zu dem Aufzugschacht. Doch nach dem ersten Blick in das schwarze, scheinbar bodenlose Loch hellte ein freudiges Grinsen sein Gesicht wieder auf. Brav wartete er ab, bis Brads Vorsprung weit genug war, und er nach oben schaute, um zu sehen, wo sein Schützling denn blieb.

"Ich bin gleich da!", rief er auf die unausgesprochene Frage, die ihn aus dem Dunkel erreichte, und wartete, bis der Andere weiter kletterte und schließlich auf dem Betonboden aufkam. Das war das Geräusch, auf das er gewartet hatte. Oh, er war sich sicher, den Amerikaner nun ein klein wenig überraschen zu können...

"Geh mal ein bisschen zur Seite!", rief er zu dem Älteren hinunter, schätzte die Tiefe ab, atmete noch einmal tief durch und ... sprang.

"WOOOHOOOO!" hallte sein Jubelschrei von den engen Wänden wider, gefolgt von ausgelassenem Gelächter, während er im freien Fall in die Tiefe fiel.

Geschmeidig und elegant wie eine Katze kam er mit einem sattem 'BANG!' neben Brad auf und zischte leise, da ihm der Aufprall durch die Turnschuhe die Fußballen prellte. Na, auch in solchen Stunts war er anscheinend außer Übung... Aber wenn sie diese Strecke jeden Tag absolvieren sollten, würde er auch diese Technik wieder lernen.

"Das war richtig geil!" strahlte er Brad an. "Das machen wir dann auch jeden Tag? Gibt's noch mehr solcher Stellen?"

Oh ja, DAS kam seinem Abenteuerdrang und Übermut sehr entgegen. Und für die Möglichkeit, öfter solche Sprünge hinzulegen, würde er sich sogar herablassen, zuvor zu joggen, auch wenn er das hasste wie die Pest. Und vielleicht sollte er sich auch überlegen, ob er sich nicht doch bei Gelegenheit mal in die Folterkammer quälen sollte... Schaden konnte es sicher nicht, wenn er nachhalf, seine Muskeln schneller aufzubauen.

Das Adrenalin, das bei dem Sprung freigesetzt worden war, pumpte durch seine Adern und ließ seine Augen aufstrahlen. Von diesem Kick angestachelt, hakte er sich einfach bei Brad ein, stellte sich auf Zehenspitzen und blinzelte ihm aus allernächster Nähe direkt in die Augen.

"Jetzt schau nicht so entsetzt!", grinste er, wobei er Brad so nah war, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten und der Ältere seinen Atem auf den Lippen spüren konnte.
 

Brad spürte die Nähe des Jungen nur allzu deutlich, nicht nur seinen Atem, auch die Wärme des erhitzten Körpers, den Geruch nach frischem Schweiß, vermischt mit ihrem Duschgel und den neu gekauften, noch ungewaschenen Klamotten... Schuldig war mit einem Mal so aufgedreht und ausgelassen, Brad sah trotz des Zwielichts das Funkeln in den grünen Augen, und aus irgendeinem unerklärlichen Grund musste er sich zurück halten, nicht den Kopf noch ein Stück weiter nach vorne zu neigen und seine Lippen auf Schuldigs, dicht vor seinem Gesicht einladend grinsenden, Mund zu legen. Seine Mitte reagierte auch schon wieder auf diese körperliche Nähe und begann angenehm zu pochen.

Sofort rückte Brad ein Stück von ihm weg und strich sich mit einer fahrigen Geste durch das dunkle Haar.

Himmel nochmal! Waren das immer noch die Nachwirkungen von ihrer gestrigen Gedankenverbindung? Oder was war plötzlich mit ihm los? Vielleicht sollte er seinem ungewohnt drängenden Sexualtrieb heute Abend mal ein wenig Befriedigung verschaffen und eine Prostituierte aufsuchen... Oder noch besser: Kommen lassen. Hatte er nicht Schuldig auch so etwas versprochen? Immerhin war das auch förderlich für die Kondition und machte eindeutig mehr Spaß als Joggen.

„Ich schau gar nicht entsetzt“, verteidigte er sich, ohne auf Schuldigs scherzenden Tonfall einzugehen. Zumindest nicht wegen dem, was du denkst, fügte er in Gedanken hinzu. „Wenigstens scheine ich doch noch etwas gefunden zu haben, was dir gefällt“, redete er rasch weiter, als ihm erneut bewusst wurde, dass seine Gedanken jetzt nicht mehr ganz so persönlich waren, wie sie es sein sollten. „Du gehst vor mir und findest den Ausgang. Ich werde dich lotsen – in Gedanken. Okay?“

Je häufiger sie das übten, umso besser würde das später im Notfall klappen. Dabei ging es wahrscheinlich gar nicht in erster Linie darum, dass Schuldig das üben musste – er selbst musste sich daran gewöhnen. Wie auch immer. Er wollte ein reibungslos funktionierendes Team, und das gab es nun einmal nicht durch Theorie.

„Es ist ziemlich duster hier, also pass auf, wo du hintrittst.“ Schuldig schien mit der Dunkelheit nicht so viele Probleme zu haben wie er, als er Rosenkreuz frisch verlassen hatte. Und der Sprung in die Tiefe war beeindruckend gewesen. Was der Junge wohl noch so auf Lager hatte? „Es gibt hier noch einige Stellen, wo du solche Sprünge hinlegen kannst. Du wirst sehen, wenn du erstmal fitter bist, werden wir hier viel Spaß haben“, nahm er den Faden zu Schuldigs Fragen wieder auf, bevor er sich auf den Weg durch die verwinkelten Gänge konzentrierte.
 

Oha! Das klang nach einer sehr interessanten Methode, hier wieder raus zu kommen.

"Okay!" erklärte sich Schuldig bereit, verband sich schnell, aber sanft mit dem Verstand des Älteren und wartete die ersten Anweisungen ab, die auch prompt kamen. Dennoch blieb er wie angewurzelt stehen und sah den Amerikaner leicht gestresst an.

"Hey! Ein bisschen langsamer, bitte!" moserte er. "Ich bin doch noch gar nicht losgegangen, und du bist gedanklich schon am Ausgang..." War er Superman, oder was? Er konnte zwar springen wie ein Känguru, aber noch lange nicht fliegen.

Er hörte förmlich, wie Brad gedanklich zu ihrem Standort zurückkam und nun seine Gedanken so kontrollierte, dass Schuldig immer wusste, wie viele Schritte er bis zur nächsten Abzweigung oder Biegung zu gehen hatte. Ein anerkennendes Lächeln bildete sich ungesehen auf seinen Lippen, er strich sich die langen Haare aus dem Gesicht und marschierte los. Ihm machte die Dunkelheit nichts aus - und dieses kleine Manko Brads war auch nichts, was ihn interessierte. Deswegen ignorierte er die flüchtigen Gedanken darüber, die sich hin und wieder in die Wegangaben einmischten und blendete sie zum Schluss so aus, bis er sie gar nicht mehr empfing.

Trotzdem dauerte es eine gefühlte halbe Stunde, bis er am Ende eines engen Ganges, in dem er sich auf dem Bauch dahinrobben musste, einen hellen Lichtfleck sah, der allmählich größer wurde, je näher er ihm kam.

Schuldig kniff die Augen zusammen, als er von der Röhre, in der sie sich befunden hatten, ins Freie purzelte und der strahlende Sonnenschein ihn blendete.

Er saß im hohen Gras, war wahrscheinlich von oben bis unten verdreckt, aber das freche Grinsen verließ für keinen Moment sein Gesicht, als er den Älteren ansah, der ebenso ramponiert aussah, wie er wahrscheinlich auch.

"Das war ja mal richtig geil!" stellte er vergnügt fest. Seit dem Sprung in den Aufzugschacht war er total gut drauf, und wenn er ehrlich war, hatte der letzte Teil ihrer Tour ja auch etwas von einem Abenteuerspielplatz an sich gehabt - und kam damit seinem Übermut gewaltig entgegen.

Vorsichtig löste er die mentale Verbindung wieder, stand auf und klopfte sich den Staub und Schmutz von den Klamotten.

"Ich gehe davon aus, du hast mir mindestens zwei Garnituren Jogginganzüge besorgt", grinste er den Älteren frech an und setzte ein kleines, neckendes Zwinkern hinterher. Seine Kopfschmerzen waren verschwunden, sein Körper gehorchte ihm wieder, und er hatte diese grausame Joggingtour für heute hinter sich. Das war doch ein Grund, um gut drauf zu sein, fand er.

Jetzt nur noch nach Hause und ab in die Badewanne - Duschen würde er so schnell nicht wieder, hatte er beschlossen - und dann konnte man ja sehen, was man mit dem angebrochenen Tag noch machen konnte.
 

Auch wenn seine Aufgabe bei weitem nicht darin bestand, Schuldig glücklich zu machen, freute es ihn doch irgendwie, dass sein spezielles Kraft-Ausdauer-Training dem Jungen letztendlich doch noch gefallen hatte. Er erklärte sich dieses ungewohnte Gefühl damit, dass es immerhin ein Kompliment für den Lehrer war, wenn der Schüler Spaß hatte, und außerdem zeigte es doch auch, wie gut sie zusammen passten, welch gute Wahl Schuldig gewesen war. Wie schön das Leben doch war, wenn alles nach Plan lief!

Wäre da nicht diese merkwürdige Faszination, die der jugendliche Körper immer deutlicher auf ihn ausübte. Während der Rückfahrt warf er so manchen, kurzen Blick auf den lässig im Beifahrersitz lümmelnden Teenager. Schuldig hatte sich besoffen, war übernächtigt, hatte kaum etwas gegessen (vermutete Brad einfach mal, so wie er den Jungen bisher erlebt hatte), hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und musste dann auch noch bis zur Erschöpfung durch die Nachmittagshitze laufen – der musste doch total fertig sein. Aber er schaffte es selbst in diesem Zustand noch, cool zu wirken. Irgendwie schien Schuldig sich in dem Kellergewölbe regeneriert zu haben. Das zeigte doch mal wieder, wie wichtig die Psyche für die Leistungsfähigkeit des Körpers war... Den Spaßfaktor durfte er also in seinem Team keinesfalls vernachlässigen.

Zu Hause angekommen, verschwand Schuldig erstmal ins Bad, und Brad flüchtete sich in den Fitnessraum. Nach dem gestrigen Erlebnis wollte er nicht so bald wieder mit Schuldig im Bad sein, wenn einer von ihnen nackt war. Außerdem hatte er sich noch nicht wirklich ausgepowert. Das würde er jetzt nachholen. Ihm war auch irgendwie gar nicht mehr danach, sich noch eine Frau zu besorgen. Es fühlte sich auf einmal seltsam falsch an, sich mit Schuldig zusammen auf diese Art zu vergnügen. Und allein hatte er jetzt auch keine Lust mehr. Sport war genauso gut! Er drosch auf den Sandsack ein, bis ihm der Schweiß in die Augen lief und seine Glieder vor Anstrengung schmerzten. Danach vollzog er noch sein Dehnprogramm, und erst danach ging er nachsehen, ob das Bad inzwischen frei war.
 

Die nächsten Tage verliefen in genau dieser Reihenfolge. Schuldig stand früh auf, verbrachte sechs bis sieben Stunden mit dem Fahrlehrer, wobei der netterweise den theoretischen Unterricht gleich im Wagen abhielt, während der Junge sich durch den irren Großstadtverkehr kämpfte. Allerdings ging das nur, weil der Telepath ein wirklich schlaues Kerlchen war und sehr gut darauf trainiert war, alles abzuspeichern, was ihm gesagt wurde.

Nach den Fahrstunden zog er sich um und ließ sich von Brad zu ihrem 'Fitness-Pfad' fahren. Okay, das Joggen machte ihm nach wie vor keinen Spaß, auch wenn er inzwischen doch mehr mit dem Amerikaner mithalten konnte als am ersten Tag. Doch durch die alte Fabrikhalle zu streifen, zu klettern und zu springen, das waren durchaus Sachen, die Schuldig gefielen und die ihn immer wieder dazu brachten, erfreut aufzulachen.

Er merkte bei diesen Gelegenheiten auch, wie sein Boss sich mehr und mehr entspannte und lockerer wurde, wenn sie allein waren. Und ihm fiel auch auf, dass der Andere dann so jung aussah, wie er eigentlich war.
 

An diesem Morgen war der junge Telepath besonders hibbelig und kippte nicht nur eine Tasse seines mörderischen Kaffees hinunter, sondern gleich drei, was seine Nervosität nicht unbedingt milderte. Im Gegenteil, er tippte mit dem Fuß in einem wilden Stakkato auf den Boden, was jedesmal ein klackendes Geräusch ergab. Dabei starrte er auf die Uhr, als wären seine Augen daran festgetackert. Als sich der große Zeiger endlich auf die zwölf schob, sprang er auf, wuschelte sich noch einmal durch die Haare, schlüpfte in seine Sneakers, rief "Wünsch mir Glück!" durch die Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu.

Vor dem Haus wartete schon sein Fahrlehrer auf ihn.
 

Zwei Stunden später schlich ein geknickter Telepath zurück in die Wohnung. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit landete die Tür nicht mit Schwung im Schloss, nein, er machte sie fast unhörbar zu. Dann zog er sich die Schuhe aus und tappte mit tief gesenktem Kopf durch das Wohnzimmer, auf dem Weg in sein inzwischen vollständig eingerichtetes Zimmer.

Aus den Augenwinkeln sah er den Amerikaner auf sich zukommen und zog den Kopf noch weiter zwischen die Schultern.

"Wie war's?", wollte Brad wissen, auch wenn er sich schon am Verhalten des sonst so lebhaften Jungen ausmalen konnte, was geschehen war.

Schuldig seufzte leise und wartete noch ab, bis der Ältere direkt vor ihm stand. Dann hob er ganz langsam den Kopf, sah seinen Leader deprimiert an - und sprang ihn an. Wortwörtlich. Er hopste auf Brad, umschlang dessen Taille mit seinen langen Beinen, klammerte sich mit den Armen um seinen Nacken fest und lachte laut los.

"Ich hab bestanden! Was dachtest du denn?", quietschte er lachend. "Ich darf jetzt ganz offiziell fahren!"

Und weil er vor Freude fast überschäumte und dieses Gefühl unbedingt teilen wollte, knuddelte er Brad durch und gab ihm einen übermütigen Knutscher auf die Backe.
 

Natürlich konnten bei so einer Fahrprüfung alle möglichen Sachen schief gehen. Allerdings hatte Brad nie ernsthaft in Erwägung gezogen, dass sein Telepath durchfallen würde – der Fahrlehrer war schließlich stets zufrieden mit Schuldigs Leistungen gewesen. Als Schuldig jedoch so geknickt und niedergeschlagen zurückkehrte, traf Brad das Nichtbestandenhaben der Prüfung so unvorbereitet, dass ihm mehr als ein sinnloses „Wie war's?“ nicht einfiel.

Und dann überraschte ihn der Junge erneut und hüpfte ihn freudestrahlend an! Unter diesem stürmischen Freudenausbruch taumelte Brad zwei Schritte rückwärts und die eigentlich abwehrend hochgerissenen Arme konnten nichts weiter mehr tun als den schlanken Körper zu umschließen. Er war so überrumpelt, dass er nicht mal rechtzeitig dem feuchten Kuss auf seiner Wange ausweichen konnte.

Fühlte sich auch gar nicht so schlecht an. Weich und warm.

„Na... natürlich dachte ich, dass du bestehst. Und jetzt runter von mir, du bist schwer!“

Er befreite sich aus der Umklammerung und versuchte seine Würde als Teamleiter wieder herzustellen, in dem er an seinem hochgerutschten Sakko herumzupfte.

„Du darfst vielleicht offiziell fahren, aber vor mir hast du noch nicht bestanden, und glaub mir, ich habe andere Ansprüche als dein Fahrlehrer“, verpasste er mit mürrischen Ton dem sprudelnden Übermut vor sich einen Dämpfer. Gleichzeitig versuchte er, seiner eigenen inneren Vorfreude keinerlei Beachtung zu schenken, denn schließlich wollte er nicht die Überraschung versauen, die Schuldig jetzt erwartete. Das beste Mittel, Gedanken vor Telepathen geheim zu halten, war immer noch, an etwas ganz anderes zu denken. In der Theorie klang das einfach...

„Natürlich brauchst du jetzt auch einen eigenen Wagen. Ich habe mir erlaubt – in weiser Voraussicht – schon mal einen zu besorgen... Er steht unten in der Tiefgarage.“

Nur mit Mühe unterdrückte er ein Grinsen und gab seinem Gesicht einen ernsten, geschäftsmäßigen Ausdruck. Nur seine Augen funkelten verräterisch amüsiert.

So, ihr Lieben,

diesmal müsst ihr nicht so lange warten – hier kommt schon das nächste Kapitel!
 

@Anuri und Hitokiri: Danke schön für eure Treue und für eure Kommentare!
 

Und auch Grüße an alle anderen, die sich hierher verirren. ^^

Und jetzt viel Spaß!
 


 


 

Die Tiefgarage war um diese Uhrzeit relativ leer. Crawfords Mercedes stand da und noch circa fünf Fahrzeuge, von denen Schuldig wusste, dass sie anderen Anwohnern gehörten. Die einzigen Autos, die nicht ständig hier parkten, waren ein schicker, dunkelblauer Ford Mustang und ein alter, roter Golf II.

Mit einem diabolischen Grinsen überreichte Brad seinem Teamkollegen den Autoschlüssel, auf dem unverkennbar das VW-Zeichen eingestanzt war.

„Ich denke, der reicht für den Anfang. Mein Budget ist erschöpft. Aber jetzt machen wir erst einmal eine Probefahrt, ja?“
 

Einen winzigen Moment lang zeichnete sich so etwas wie Enttäuschung auf dem Gesicht des Jungen ab, doch er fing sich gleich wieder. Noch war er nicht so korrumpiert, dass er nicht zu schätzen wusste, was Brad für ihn tat. Und es war sicher keine Selbstverständlichkeit, dass er überhaupt einen eigenen Wagen bekam. Schuldig setzte ein breites Grinsen auf und schnappte sich den Schlüssel. Kurz warf er einen letzten, wehmütigen Blick auf den Ford, dann auf den schweren Mercedes seines Chefs und marschierte tapfer auf den Golf zu. So wirklich gefiel ihm diese Karre ja nicht, und ihm war jetzt schon klar, dass er sich von dem ersten Geld, dass er verdienen würde, ein anderes Auto besorgen würde. Oder vielleicht auch schon eher - wozu war er schließlich Telepath? Aber nun würde er erst einmal diesem Vehikel hier eine Chance geben. Brad hatte sich immerhin wirklich Mühe und Gedanken gemacht.

Schuldig sperrte die Tür auf, aus dem Inneren des alten Golfs stieg ihm ein leicht muffiger Geruch entgegen, der ihn leise seufzen ließ. Er setzte sich auf den Fahrersitz und beugte sich dann hinüber, um auch die Beifahrertür zu entriegeln. Während sich Brad ebenfalls in den kleinen Wagen quetschte, stellte sich der junge Telepath den Sitz und die Spiegel ein und rammte den Schlüssel ins Zündschloss.
 

Das kleine Spielchen mit dem Wagen hatte Brad ein wenig abgelenkt, aber es war noch nicht vorbei. Das Schwierigste stand ihm noch bevor.

Er hatte Schuldigs Gesichtsausdruck genau studiert und den kurzen Hauch der Enttäuschung wohl bemerkt. Umso erfreulicher war Schuldigs letztendliche Reaktion, das breite Grinsen; ohne zu nörgeln fand er sich mit den Begebenheiten ab und setzte sich hinter das Steuer des altersschwachen Golfs. Brad jonglierte seine langen Beine in den engen Fahrgastraum, nachdem er den Kampf mit der Beifahrertür gewonnen hatte – die Tür klemmte, und sowohl das Öffnen als auch das Schließen bedurfte mehrerer Versuche.

Dankbar widmete sich Brad vollkonzentriert dieser Aufgabe. Bloß die Gedanken nicht abschweifen lassen! Griff nach dem Gurt, Verschluss einrasten lassen, Schuldig bei den Einstellungen von Rückspiegel und Sitzposition beobachten. Dennoch blitzten ab und zu Erinnerungen an ein vorhin geführtes Telefonat durch sein Gehirn. //Bleibt es bei heute? - Ja, wir werden gegen fünfzehn Uhr da sein. Das Geld ist schon überwiesen.// Bilder einer grünen, weitläufigen Landschaft kamen hinzu. Ein langer, asphaltierter Streifen auf einer kurz gemähten Wiese.

„So. Dann zeig mal, was du gelernt hast. Wir fahren zur A 8. Richtung Augsburg.“

Nervös tippelten Brads Finger auf seinen Oberschenkeln, während er seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Straße lenkte, auf die Menschen und Gebäude, die an ihnen vorüber zogen. Nein, nicht an Flugzeuge denken. Brad drehte an dem Radio herum und suchte einen Nachrichten-Sender. Das Auto verfügte lediglich über ein Radio-Kassetten-Deck. CD-Player hatte es damals, als das Auto gebaut wurde, noch nicht gegeben, und der Vorbestizter hatte nicht nachgerüstet.. Gebannt lauschte Brad den Nachrichten und vertrieb sich unliebsame Gedanken an Hubschrauber, indem er Schuldig jeden Rastplatz anfahren ließ, nur um ihn sofort wieder auf die Autobahn zu dirigieren, bis er überzeugt war, dass Schuldig sich sicher von der Beschleunigungsspur in den fließenden Verkehr einfädeln konnte. Manchmal verlangte er die Gedanken eines anderen Verkehrsteilnehmers zu wissen, um zu prüfen, inwieweit Schuldig Fahren und Gedankenlesen gleichzeitig meisterte.

An der Abfahrt „Dachau, Fürstenfeldbruck“ verließen sie die Autobahn und folgten der B 471 in Richtung Olching. Sie fuhren durch beschauliche, kleine Ortschaften und den etwas größeren Ort Fürstenfeldbruck bis Jesewang. Immer noch widmete Brad der Landschaft außerhalb des Autos größte Aufmerksamkeit und nervte mit sinnfreien Kommentaren zu allem, was in sein Sichtfeld kam.

„Da stehen fünf Windräder. Die sind fünfzig Meter hoch.“

„Die haben gelbe Vorhänge und blaue Fensterrahmen. Findest du das schön?“

„Schon wieder eine Ampel.“

„Schau mal, der Hund ist ja dick.“

„Pass auf, hier ist siebzig.“

„Da ist eine Flugschule! Lass uns da mal vorbei fahren.“ Der Satz sollte beiläufig klingen, und er sprach auch gleich weiter, wie ein Wasserfall sprudelten die Nebensächlichkeiten aus seinem Mund: „Mann, liegt hier viel Müll am Straßenrand. Die könnten hier ruhig für mehr Ordnung sorgen, ich war schon lange nicht mehr im Wald spazieren, hier sieht es ja ganz nett aus, vielleicht können wir nachher noch ein wenig die Beine vertreten, da steht ein roter Golf, fast so einer wie deiner, und da, der Bauer, also Bauer möchte ich ja nicht sein, die haben nie frei, und zur Ernte... park den Wagen hier auf dem Parkplatz. Ich will mich nur kurz umsehen.“

Schon hatte er nach dreimaligem Ruckeln die Tür aufgestoßen und faltete sich auf dem Parkplatz zu seiner stattlichen Größe auseinander. Puh, das nächste Mal nahmen sie aber seinen Mercedes, wenn sie eine längere Fahrt unternahmen!

„Kommst du?“ Ohne Schuldig recht zu beachten, betrat Brad das Geländer der Flugschule. Einige weiße Cessnas standen neben dem Rollfeld und zwei weiße Helikopter. Auf letztere steuerte Brad zu.

„Was meinst du – hättest du Lust, so ein Ding zu fliegen?“ fragte er unschuldig und drehte sich zu dem rothaarigen Teenager um.
 

Schuldig hatte den Wagen einigermaßen geschickt durch den Mittagsverkehr der Großstadt gelenkt und dabei festgestellt, dass sein 'neues' Auto in etwa zwei Stunden brauchte, um von Null auf Hundert zu beschleunigen, was ihm ein minimales Seufzen entlockte. Das war komplett das Gegenteil von dem, was er sich eigentlich vorgestellt hatte. In der Stadt fiel es noch nicht gar so auf, richtig schlimm wurde es erst, als er tatsächlich auf die Autobahn auffuhr.

Der Golf fing bei neunzig Stundenkilometern beängstigend zu klappern an und wurde obendrein jedesmal heftig zur Seite gedrückt, wenn ein schnellerer Wagen sie überholte. Noch dazu schien sich Brad einen Spaß daraus zu machen, ihn jedesmal, wenn er es geschafft hatte, dem Wagen eine halbwegs passable Geschwindigkeit zu entlocken, auf einen Rastplatz zu lotsen. Nach dem dritten Mal war der Junge schon reichlich entnervt, doch er ließ sich davon immer noch nichts anmerken. Vor allem, weil er sich immer wieder sagte, dass es reine Freundlichkeit von dem Amerikaner war, ihm überhaupt ein Auto zur Verfügung zu stellen. Schließlich hätte er das nun wirklich nicht gemusst.

Auf den Smalltalk ließ sich der junge Telepath gern ein, ebenso auf die üblichen Forderungen, die Gedanken anderer Autofahrer aufzuschnappen, weil es ihn von dem Klappern und Dröhnen seines Wagens ablenkte. Denn wenn er darüber genauer nachgedacht hätte, hätte er wohl die Vermutung gehabt, dass ihm das Teil mitten auf der Autobahn auseinanderfiel.

Zum Glück hatte Brad irgendwann Erbarmen mit ihm und dem Golf und lotste ihn über Landstraßen in eine Gegend, die ihn in ihrer Ländlichkeit durchaus an die Umgebung des Rosenkreuz-Instituts erinnerte. Ohne es verhindern zu können, zog sich Schuldig der Magen zusammen, doch er schaffte es mit aller Beherrschung, sich nichts davon anmerken zu lassen.

Irgendwann schien der großgewachsene Amerikaner die Nase voll zu haben, wie eine Sardine in den kleinen Wagen gequetscht zu sein und Schuldig bog - selber erleichtert - auf den Parkplatz einer Flugschule ab.

Im Gegensatz zur Beifahrertür ließ sich die Fahrerseite gleich beim ersten Mal öffnen und der Telepath war froh, als er aussteigen und sich die Beine vertreten konnte. Nachdem er sich ausgiebig gestreckt und tief durchgeatmet hatte, trabte er hinter seinem Boss her, der zielstrebig auf das niedrige Gebäude und die dahinterliegende Rollbahn zusteuerte.

Neugierig betrachtete Schuldig die kleinen Sportflugzeuge und den Jet, der im Hangar stand, dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Helikoptern zu, die anscheinend Brads besonderes Interesse hatten.

Was er dann hörte, konnte er erst gar nicht glauben.

"Was?", fragte er mit großen Augen nach und klinkte sich blitzschnell in Brads Gedanken ein, nur um festzustellen, dass es durchaus dessen Ernst war, ihn fliegen zu lassen. Ein strahlendes Grinsen breitete sich auf Schuldigs Gesicht aus, das seine Mundwinkel in gefährliche Nähe zu seinen Ohren zog.

"Na klar!", jubelte er und konnte es nicht lassen, Brad, der stehen geblieben war und ihn ansah, noch einmal um den Hals zu fallen. Wenn das mal kein geiles Geschenk war, wusste er auch nicht. Überschwänglich wollte er dem Älteren einen Schmatzer auf die Backe drücken, was Brad zu einer Abwehrbewegung veranlasste. Er wandte den Kopf ab - in genau die falsche Richtung. Und so trafen Schuldigs Lippen nicht wie geplant die Wange des Schwarzhaarigen, sondern geradewegs dessen Mund.

Dieser Kontakt löste fast einen Schock bei dem jungen Telepathen aus; ein irrwitziges Kribbeln schoss wie ein Blitz durch seinen Körper, der dafür sorgte, dass er Brad losließ, als hätte er sich verbrannt.

"Sorry", nuschelte er verlegen. Oh wow, er musste sich dringend abgewöhnen, so überschwänglich zu sein... Bevor er noch mehr Unsinn von sich geben konnte, kam ein Mann in einem Overall auf sie zu und begrüßte den Amerikaner. Schuldig bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu, als Brad den Piloten in ein Fachgespräch über den Helikopter verwickelte. Er konnte für diese Zeit nur danebenstehen und verwirrt blinzeln. Zum Glück dauerte es nicht allzu lange, bis Brad auf das Fluggerät deutete und ihm zunickte. Das freche Grinsen erschien wieder und Schuldig machte sich daran, das Cockpit des Hubschraubers zu entern. Die vielen Hebel, Schalter, Pedale und Anzeigen ließen ihn kurz stocken. Wow, wie sollte man denn da den Überblick behalten? Doch noch ehe er sich diesem Gedanken eingehender widmen konnte, stiegen auch schon Brad und der Fluglehrer ein. Während es sich der Amerikaner quasi auf dem Rücksitz gemütlich machte, setzte sich der andere Mann, der sich als Michael vorstellte, auf den rechten Sitz und begann, ihm zu erklären, auf was er alles achten musste. Wieder einmal zeigte sich seine rasche Auffassungsgabe als Vorteil. Nach einer Viertelstunde eingehender Instruktionen wusste der Junge, auf was es ankam und auf was er aufpassen musste.

Er wandte den Kopf zu Brad, zwinkerte ihm zu und legte dann einen kleinen Hebel am Himmel des Helikopterdaches um. Die Rotoren begannen sich zu drehen, das laute Flappen wuchs schnell zu einem ohrenbetäubenden Getöse an, was Schuldig veranlasste, zu den Kopfhörern zu greifen, die über seinem Kopf baumelten und sowohl als Hörschutz als auch als Kommunikationshilfe dienten.

Schuldig drückte nach Anweisung den Steuerknüppel nach oben und sah fasziniert, wie sich der Boden unter ihnen entfernte.

"Ich flieeeeeeeeeeeeeeeege!", jubelte er lachend, konnte sich aber grade nicht freudestrahlend noch einmal zu seinem Chef umdrehen, weil seine Konzentration bei dem gebraucht wurde, was er gerade tat.

Die Freude über dieses Erlebnis verdrängte die Aufregung, die er zuvor über den zufälligen Kuss empfunden hatte.
 

Dieses Mal hatte Brad den Schmatzer kommen sehen, und er drehte rechtzeitig den Kopf zur Seite – nur in die falsche Richtung! Schuldigs weiche Lippen berührten seinen Mund, und ein feines, elektrisches Kribbeln durchzog Brads Eingeweide bis tief in sein Becken. Rasch trat er einen Schritt zurück. Wenigstens entschuldigte sich Schuldig und wirkte reichlich verlegen dabei. Das würde ihm hoffentlich eine Lehre sein, solche Attacken in Zukunft zu unterlassen!

Brad sah sich kurz um, in der Hoffnung, dass niemand sie gesehen hatte, und sah zu allem Übel auch noch Michael Jansen, den Fluglehrer, mit dem er im Vorfeld alles besprochen hatte, auf sie zukommen. Der hatte bestimmt den Kuss gesehen. Shit. Aber sollte der Typ ihn jetzt für schwul und Schuldig für seinen jugendlichen Liebhaber halten, war er glücklicherweise professionell genug, sich nichts davon anmerken zu lassen.

Eigentlich war es Brad ja auch egal, was andere Menschen von ihm dachten, vor allem [i}normale Menschen – die waren eh nur Schachfiguren, Statisten in dem Film des Lebens, der sich nur um eine einzige Figur drehte, und das war Brad Crawford. Wichtig waren für ihn im Moment nur Rosenkreuzer und die Leute von SZ.

Viel wichtiger war also, was er von sich hielt. Warum reagierte er nur so auf diesen Jungen? So langsam konnte er das nicht mehr mit einer einzigen – wenn auch intensiven – telepathischen Verbindung während Schuldigs erstem Orgasmus abtun.

Oder doch?

Glücklicherweise konnte er sich in ein Fachgeplänkel über Hubschrauber mit Herrn Jansen retten und seinen wirren Gedanken und Gefühlen vorerst entfliehen. Äußerlich betont cool und lässig, innerlich jedoch amüsiert und schon wieder merkwürdig berührt, beobachtete er, wie begeistert Schuldig sich der neuen Aufgabe widmete. Ein bislang unbekanntes Gefühl nistete unter seinem Brustbein: Er freute sich mit ihm. Es bereitete ihm Vergnügen, Schuldig glücklich zu sehen. Was war das nur, was dieser Junge mit ihm anstellte?

„Ich fliege!“ brüllte der gerade begeistert in das Mikro, dass den beiden anderen Insassen beinahe das Trommelfell platzte.

„Na, Hauptsache, du bringst uns auch sicher wieder runter“, kommentierte Brad trocken, und überließ dann Michael Jansen das Feld, während er selbst blicklos aus dem Fenster auf die Landschaft unter sich starrte. Für ihn war Fliegen in einem Helikopter nichts besonderes – das SZ-Hauptquartier oben in den Bergen war fast nur per Luft zu erreichen. Und auch das Rosenkreuz-Institut nutzte diese Möglichkeit, um ihre Leute rasch einsetzen oder wieder abziehen zu können.

Besonders waren einzig diese ungewollten Gefühle. Wenn er daran dachte, gleich wieder mit Schuldig allein zu sein, begann sein Herz zu pochen. Wenn er an den flüchtigen Kuss dachte, spürte er wieder dieses Kribbeln im Bauch. War es das, was in der Literatur als „Schmetterlinge im Bauch“ bezeichnet wurde? Hatte er etwa deswegen von Anfang an das Gefühl gehabt, Schuldig sei goldrichtig für ihn? Er hatte das nur auf die Zusammenarbeit im Team bezogen... womöglich hatte das jedoch ganz andere Ursachen...

Er verbot sich, weiter darüber nachzudenken. Das war doch völliger Blödsinn. Er wollte perfekte Arbeit für SZ abliefern, alles andere war unwichtig.
 

Schuldig schaffte es tatsächlich, das Fluggerät ohne Absturz wieder zu landen. Der Fluglehrer war zufrieden und verabschiedete sich per Handschlag. „Bis morgen dann!“

„Den Pilotenschein schaffst selbst du nicht an einem Nachmittag“, klärte Brad den Jungen beiläufig über die wahren Gründe ihres Ausflugs auf. „Dafür brauchst du den Wagen, ich kann dich nicht jeden Tag fahren. Ich hoffe, SZ lässt uns noch ein wenig Zeit mit unserem ersten Einsatz...“

Erneut spürte er dieses Herzklopfen, als sie auf den roten Golf zugingen. Und als er sich wieder nach erfolgreichem Kampf mit der Tür auf den Beifahrersitz gefaltet hatte, wusste er plötzlich auch, warum.

„Nein, Schuldig“, kam er der Frage mit der Antwort zuvor. „Unser Verhältnis ist rein dienstlich. Ich habe dich aus dem Institut geholt, damit du für mich arbeitest. Mehr nicht.“

Er sagte das absichtlich kühl und abweisend. In seinem Inneren sah es allerdings ganz anders aus. Er war aufgewühlt und verwirrt. Und er fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, Schuldigs Zunge mit der seinen zu umspielen...
 

"Pilotenschein?" Schuldig japste das Wort atemlos, seine Augen wurden dabei so groß, dass sie beinahe aus den Höhlen purzelten. Er sollte nun wirklich auch noch den Pilotenschein machen? Unfassbar...

Er tänzelte mehr hinter Brad zu seinem Wagen her, als dass er ging. Und vor lauter Übermut und überbrodelnder Freude war er drauf und dran, dem Amerikaner den nächsten Knutscher auf die Backe zu drücken - auch wenn er sich nicht erinnern konnte, jemals zuvor auf derartige Tuchfühlung bei irgendwem gegangen zu sein. Hier fühlte es sich allerdings richtig an.

Er hatte weder diese Überlegung zu Ende gedacht, noch saß er wirklich auf dem Fahrersitz, als er schon Brad Antwort auf das hörte, was er noch nicht einmal vollständig fertig bedacht hatte. Interessant... Er hätte es also wirklich getan. Und der Art nach zu urteilen, mit der Brad ihn abblitzen ließ, wäre es nicht nur ein dankbarer Teenager-Backenknutscher geworden. Schuldig schluckte und atmete scharf ein. Eigentlich war das schon witzig: Da bekam man die Antwort auf etwas, mit dem man noch nicht einmal in Gedanken wirklich gespielt hatte. Ein blödes Gefühl, echt. Und obendrein: Wo blieb denn da bitte der Spaß? Wie konnte Brad nur so leben, wenn er alles, was geschah, schon im Vornherein wusste? Das musste doch stinklangweilig sein! Vielleicht war er deswegen so ... verknöchert.

In diese Gedanken versunken hatte er den Wagen gestartet, der mit einem Husten angesprungen war, und hatte ihn zurück auf die Bundesstraße gelenkt. Hin und wieder wagte er es, einen Seitenblick auf seinen Beifahrer zu werfen. Hm. Wenn Brad gesehen hatte, was geschehen würde... Bedeutete das dann automatisch, dass es auch geschehen musste? Nicht zwingend, oder? Oder hatte der Amerikaner jetzt nur sicher gewusst, dass er ihm wieder näher kommen würde - aber nicht genau, wie weit? Nachdem er ja nun gar nicht näher an ihn herangekommen war... Himmel, war das alles verwirrend!

Entschlossen schob Schuldig den ganzen Fragenkatalog, der ihm durch den Kopf zog, ins hinterste Eck seines Bewusstseins, wandte dafür das Gesicht deutlich zu Brad und schnitt das Thema an, das eigentlich wichtiger sein sollte, als irgendwelche Gedankenspielereien über mögliche Variationen der Zukunft: "Sag mal... Pilotenschein. Nur für den Helikopter oder auch für Flugzeuge?" Das Glitzern in den giftgrünen Augen verriet, wie gern er bereit war, weiter zu lernen, um richtig fliegen zu können. Ein Helikopter war ja schon extrem geil, aber im Verhältnis zu einem Flugzeug auch extrem langsam...

Noch während er auf die Antwort wartete, fuhr er die Auffahrt zur Autobahn hoch und seufzte wieder leise, als er das Gaspedal voll durchtrat und der alte Golf erst vernehmlich ächzte, bevor sich die Tachonadel langsam nach rechts bewegte. Das war ein wirkliches Trauerspiel, dem er nur so lange zusehen würde, wie es sein musste.
 

So gesprächig Brad auf der Hinfahrt gewesen war, so schweigsam war er nun. Die kurze Vision, wie Schuldig ihn zaghaft und mit verlegenen, rosigen Flecken auf den Wangen gefragt hatte, ob er ihn richtig küssen würde, ging ihm nicht aus dem Kopf. Süß sah er aus, wenn er so unsicher war... Diese Schüchternheit stand ihm gut, genauso wie die vielen anderen Facetten seiner Persönlichkeit, auf die Brad bislang einen Blick hatte werfen können.

Und eigentlich war es kein Wunder, dass er Brads Nähe suchte – schließlich war er Schuldigs einzige Bezugsperson, er hatte ihn aus dem grausamen Drill von Rosenkreuz quasi „befreit“, und Schuldig war jung und hatte noch nicht viel Schönes erlebt, hatte noch keine Freiheit gehabt, sich auszuprobieren. Schuldig konnte er also keinen Vorwurf machen.

Kritisch hinterfragte er also nun sein eigenes Verhalten. Hatte er Schuldig irgendwie ermutigt, sich ihm... auf diese Art zu nähern?

Nein.

Unbewusst vielleicht?

Nein!

Er versuchte, an etwas anderes zu denken.

Schuldig hatte auf seine Zurückweisung nichts erwidert. War er verletzt, beleidigt? Brad warf ihm einen aufmerksamen Blick zu, der Junge sah allerdings nur nachdenklich aus. Gut. Nachdenken hatte noch niemandem geschadet.

Der Wagen gab Geräusche von sich, die Brad noch niemals an einem Auto gehört hatte. Er machte sich ernsthafte Gedanken, ob er vielleicht nicht doch lieber etwas mehr Geld in Schuldigs erstes Gefährt hätte investieren sollen. Vorsichtshalber warf er einen kurzen Blick in die Zukunft, was ihm jedoch nur garantierte, dass der Golf und damit auch seine beiden Insassen die nächsten paar Minuten unbeschadet überstehen würden.

Kurz bevor sie wieder auf die Autobahn fuhren, brach Schuldig die Stille zwischen ihnen.

„Mir reicht es, wenn du Helikopter fliegen kannst“, antwortete Brad ihm und betrachtete dabei kritisch das Armaturenbrett, das gefährlich vibrierte, während Schuldig dem Wagen Höchstleistung abverlangte. „Was du später mit deinem Geld und deiner Freizeit anstellst, ist mir egal.“

Obwohl ihm eigentlich die Idee gefiel, wenn Schuldig auch Flugzeug fliegen könnte – das würde sie noch unabhängiger machen. Für Langstreckenflüge waren Helikopter schließlich nicht sonderlich gut geeignet. Doch vorerst fehlte ihnen dazu Zeit und Geld. Brad hoffte so schon, dass SZ für einen Teil von Schuldigs Ausbildung aufkommen würde. Sein Kontostand hatte gerade ein trauriges Rekordtief erreicht.
 

Schuldig war nicht beleidigt oder verletzt. Jedenfalls nicht bewusst. Aber irgendwie nagte es schon an ihm, dass Brad ihn so brüsk zurechtgewiesen hatte, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ. Für ihn hatte es sich schon gut angefühlt, Brad näher zu kommen. So ganz verstand er nicht, warum es dem Älteren nicht ebenso ging. Doch er hielt sich eisern an ihre Abmachung, dass er nicht unaufgefordert in den Gedanken seines Chefs herumstöbern durfte, auch wenn er sicher war, dann die Antwort auf diese Frage in Null Komma Nichts zu finden.

Was der Amerikaner jedoch dann auf seine Frage bezüglich des Pilotenscheins antwortete, brachte Schuldig zu einem enttäuschten Stirnrunzeln, und er verkniff sich mit Mühe ein schweres Seufzen. Och Menno! Da hatte er mal was, was ihm wirklich Spaß machte, und dann stand er auch da vor lauter Einschränkungen. Ob das nun das Fahren anging oder jetzt eben das Fliegen...

Schuldig schaute verbissen auf das endlos scheinende graue Band der Autobahn und versuchte, das beängstigende Dröhnen des Golfs zu ignorieren.

Während die Landschaft an ihnen vorbeizog, überlegte der Telepath weiter. Später. Alles immer 'später'. Er wollte aber nicht bis 'später' warten, besonders wenn er nicht wusste, wie viel später dieses 'später' war. Aber vielleicht konnte man das ja auch ein wenig ... beschleunigen. Einen Versuch war es doch wert, oder?

Dieser Einfall hellte Schuldigs Miene wieder ein wenig auf und als er in die Tiefgarage ihres Hauses einbog, grinste er schon wieder.

Er parkte, stellte den Motor ab und wuchtete die Tür auf.

"Wie lange hab ich Zeit, um den Pilotenschein zu machen?", wollte er wissen, als sie beide den Wagen verlassen hatten und in Richtung Fahrstuhl gingen. Dabei wollte er nicht genauer definieren, wie er das meinte - auch wenn Brad sicher nicht danach fragen würde, weil es für ihn ja klar sein musste, wie er das meinte.

Schuldig grinste den Amerikaner schelmisch an, drückte auf den Rufknopf für den Aufzug und lehnte sich lässig gegen die Mauer. Oh ja, er freute sich auf die kommenden Tage...
 

Brad zögerte einen Moment mit der Antwort. Nicht, weil die Frage schwer zu beantworten wäre, sondern weil Schuldig dabei schon wieder so verschmitzt grinste. Er kam aber nicht darauf, was daran so witzig sein könnte und zuckte innerlich die Achseln. Wer konnte schon wissen, woran der Junge gleichzeitig noch dachte. Telepathen waren schließlich bekannt dafür, sich merkwürdig zu verhalten.

"So lang, wie SZ uns in Ruhe lässt. Also so schnell wie möglich." Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und sie traten ein. "Aber nimm dir bloß die Zeit, die du brauchst - kein Schummeln, bitte." Er sprach jetzt sehr ernst und blickte Schuldig dabei fest in die Augen. "Wenn du nicht rechtzeitig fertig wirst, machst du später weiter. Uns ist nicht geholfen, wenn du den Schein hast, und wir bei der ersten brenzligen Situation abstürzen."

Plötzlich hatte Brad ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Eine Vorahnung? In Bezug auf was? Hatte es mit dem Pilotenschein zu tun? Ausgelöst wurde es jedenfalls irgendwie durch Schuldigs smaragdfarbene Augen. Brad horchte nach innen, und die Vision traf ihn wie ein Keulenschlag, der ihm die Luft aus den Lungen presste. Unwillkürlich keuchte er auf.

//Er spürte einen stechenden Schmerz in der Schulter, so stark, dass er nicht mehr atmen konnte. Er lag auf dem Boden, und Schuldig beugte sich über ihn, die grünen Augen mit einem Ausdruck, den Brad in ihnen noch nie gesehen hatte. Eine Mischung aus Entsetzen und Sorge. Noch jemand schob sich in sein Blickfeld, aber Brad konnte sein Gesicht nicht erkennen, hatte aber das dringende Gefühl, dass das wichtig war. Er sah jedoch nur eine dunkle Gestalt. Seine Sicht verschwamm, und er versuchte, wieder ins Hier und Jetzt zu gelangen.//

Er war kalkweiß im Gesicht geworden und gegen die Wand der Fahrstuhlkabine getaumelt, wo er jetzt auf etwas zittrigen Beinen lehnte.
 

Es war das erste Mal, dass Schuldig so bewusst Zeuge einer von Brads Visionen wurde - und zuckte zusammen, als der Amerikaner sämtliche Farbe verlor und sich zitternd gegen die Stahlverkleidung des Aufzugs lehnte. Mit einem schnellen Schritt war er neben dem Älteren und hielt ihn an den Schultern fest, weil er immer noch die Befürchtung hatte, dass er ihm einfach umkippte.

"Was ist los?", wollte er leise wissen, doch die Besorgnis war deutlich in seiner Stimme zu hören. Sein Plan, den Pilotenschein für Flugzeuge gleichzeitig mit dem für Helikopter zu machen, verschwand in den hintersten Bereichen seines Denkens, und nur die Sorge und Furcht um seinen Boss hatte noch Platz in seinem Kopf.

Der Aufzug hielt mit einem Ruck in ihrem Stockwerk, die Türen schoben sich mit dem obligatorischen 'Pling!' auf, und Schuldig legte seinen Arm fest um Brad, um ihn so aus der Kabine zu führen. Er ging bewusst langsam und stützte den Älteren dabei, vielleicht sogar mehr als nötig, aber er wollte einfach auf Nummer sicher gehen.

Es dauerte unverhältnismäßig lange, bis er mit seinem Bündel vor der Wohnungstür stand und mit der freien Hand nach seinem Schlüssel kramte. Fuck! Wahrscheinlich hatte er den in der anderen Jeans... Das war ja mal wieder typisch!

Schuldig brummte leise, murmelte ein "Sorry!" zu dem immer noch wie betäubt aussehenden Amerikaner und machte sich dann daran, dessen Taschen nach dem Schlüssel abzuklopfen.

Er verbiss sich ein kleines, gemeines Lächeln, als er den Schlüsselbund in der Hosentasche ertastete. Nur gut, dass Brad im Moment keine Reaktion zu zeigen schien - Schuldig war sich sicher, er hätte für die Frechheit, die er sich jetzt gleich erlauben würde, zumindest eine Ohrfeige eingefangen. Aber nachdem Brad wie paralysiert an ihm lehnte, drohte ihm wahrscheinlich keine Gefahr, als er die Hand in die Hosentasche des Älteren schob und den Schlüssel herauszog. Er war sich vollkommen bewusst, in welcher Region er gerade seine Finger hatte, und er konnte nicht leugnen, dass ein wildes, aufgeregtes Kribbeln durch seinen Körper raste.

Dann aber war dieser Moment vorbei und Schuldig öffnete die Wohnungstür, um den Älteren in die sichere Umgebung zu bringen.
 

Es fiel Brad schwer, wieder zu sich zu kommen, und Schuldigs besorgtes Gesicht direkt vor seinem vermischte sich mit den Bildern aus der Zukunft.

"Alles okay", ächzte er mühsam, aber da standen sie schon vor der Tür des Appartements. Er ließ zu, dass Schuldig ihn stützte, denn er fühlte sich noch immer benommen und schwach auf den Beinen. Himmel, was war das gewesen? Er fühlte noch den Nachklang des beißenden Schmerzes in seinem Arm und konnte nur hoffen, dass es ihm gelingen würde, das Ereignis, was immer es auch wäre, das ihm diesen Schmerz zufügen würde, abwenden zu können. Seine Gedanken rasten, so dass er nur am Rande mitbekam, wie Schuldig hektisch nach dem Schlüssel suchte. Würde er gleich einen Herzinfarkt erleiden? Er hatte gehört, dass die Schmerzen dabei in alle möglichen Richtungen ausstrahlen konnten und die Leute immer jünger wurden, die davon betroffen waren. Oder ein Unfall? Aber - in der Wohnung?? Naja, die meisten Unfälle geschahen schließlich im Haushalt, statistisch gesehen. Vorsichtig warf er einen Blick in die unmittelbare Zukunft, ganz vorsichtig und in Erwartung einer neuerlichen Schmerzattacke... doch nichts dergleichen geschah.

Stattdessen bekam er vor lauter Zukunftsblickerei gar nicht mit, wie Schuldig in seine Hosentasche griff. Erst als die nach dem Schlüssel tastenden Finger seinen Schritt streiften und sein bestes Stück prompt die Berührung mit wohligen Schauern beantwortete, kam er schlagartig wieder in der Gegenwart an.

"Es geht schon wieder, danke", sagte er hastig und befreite sich etwas grob aus der stützenden Umarmung. Noch ein wenig taumelnd betrat er die Küchenzeile und füllte sich ein großes Glas mit Leitungswasser, das er fast in einem Zug austrank.

"Du hast eine Viertelstunde", bestimmte er in Richtung seines jungen Teamkollegen. "Dann steht unser Konditionstraining auf dem Programm."

Er bestand darauf, täglich mit Schuldig den Fitnessparcours auf dem alten Fabrikgelände zu absolvieren. Daran würde auch eine kleine Vision nichts ändern - egal, wie beunruhigend sie auch gewesen sein mochte.
 

"Wie bitte?" Schuldig glaubte, nicht richtig gehört zu haben. "Du willst noch raus?" Ihm klappte der Unterkiefer auf die Brust. Hatte sein Boss noch alle Latten am Zaun? Da war er gerade beinahe zusammengebrochen, und nun wollte er joggen gehen? Das war ein schlechter Witz, oder?

Inzwischen machte sich das tägliche Training auch bei dem jungen Telepathen bemerkbar, seine Kondition hatte sich mächtig verbessert, und er konnte schon beinahe mit dem Amerikaner mithalten. Allerdings war er wesentlich wagemutiger als Brad, was die Erkundung des alten Fabrikgeländes anging. Es gab kein Plateau, das ihm zu hoch zum Herunterspringen war, und keinen Gang, der ihm zu dunkel war.

Er forschte in Brads Gesicht und fand nichts als den absoluten Willen, trotz allem ihren Trainingsparcours zu absolvieren. Na wunderbar.

Schuldig runzelte die Stirn.

"Du stresst mich ganz schön!", maulte er, wandte sich um und marschierte in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Ehrlich mal, so viel Arbeit und Anstrengung auf einmal hatte er nicht erwartet. Zuerst den Führerschein, jetzt den Pilotenschein - bei dem er immer noch die feste Absicht hatte, seinen Boss zu überraschen! - und nebenbei noch das körperliche Training, von dem mentalen, das er sich selbst auferlegt hatte, ganz zu schweigen.

Der Telepath zog sich um, band seine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz, schlüpfte in seine Laufschuhe und kam wieder zurück in den Wohnbereich, wo er sich leise schnaubend auf die Couch fallen ließ, um auf Brad zu warten.



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  Anuri
2011-11-14T09:08:10+00:00 14.11.2011 10:08
Das kann ich gut verstehen. Geht mir bei meinen Geschichten zurzeit nicht anders. Aber so lange es immer noch weiter geht und immer weiter xP kann ich auch mal etwas warten :)
Ich glaube ich erinner mich noch wo wir waren… mal sehen ob ich recht habe xP

Siehste mal eine Kapitel vergessen, aber beim Lesen kam es sehr schnell wieder :)

Soo nun zum Kapitel.
Am Anfang gefällt die Formulierung mit Cool irgendwie nicht so.
Ich kann mir Schuldig richtig vorstellen xP

Armer Schuldig. Ich wäre nicht einmal über die Mauer gekommen, oder überhaupt bis dahin xP Obwohl ich mich nie vorm Sportunterricht drücken konnte (sagen wir selten).

Schuldige Freude ist süß. Man vergisst irgendwie auch immer wieder das er erst ein Teenager ist :)

Ich bin sehr gespannt was Brad da jetzt geplant hat.

Ich freu mich schon auf das nächste Kapitel :)

Liebe Grüße
Anuri
Von:  Battosai
2011-11-13T20:23:10+00:00 13.11.2011 21:23
So war fleißig und habe zuende gelesen. es war mal wieder ein Genuss das spiel mit den Leader und den kleinen schuldig mitzuerleben. Einfach nur toll wie Schuldig aufblüht und alles mitmacht, Betrunken, fahrschule, dann das harte Training (der arme *mitleid hab)
Und das Brad auch nicht mehr so distanziert ist.
Außerdem find ich es toll das du mir bescheid gegeben hast ^0^
Echt toll weil ich verpeil sowas sehr schnell xDDD
Von:  Battosai
2011-07-03T23:51:03+00:00 04.07.2011 01:51
da bin ich wieder ^0^
wie gesagte in mai-tai hat es in sich und dann gleich zwei ui ui da hat man schon gesehen wie es bei Schuldig reingehauen hat *lach*
man ich finde die Dialoge von Brad und schu einfach super wie diese denken und tun. Brad irgendwie vater aber auch vorgesetzter und bald wohl liebhaber? xDDDD na ob das mal gut wird
ich bin gespannt *G*
LG batto
Von:  Battosai
2011-07-03T23:19:30+00:00 04.07.2011 01:19
hey sry ich hab mich schon viiiiiiiiiiiel zu lang nicht mehr gemeldet schande über mich V.V
naja wenn das mal gut gehen wird shu mit einen mai-tai also einen mai -tai da ist ja fast nur Rum drin. Ich hatte damit shcon erfahrung also da bist du erstmal richtig beschwippst. Und schu kennst ja alkohol noch nicht so sehr...
Naja ich bbin gespannt was im nächsten kappi los sein wird *lach*

Von:  Anuri
2011-02-24T10:20:28+00:00 24.02.2011 11:20
und das natürlich ganz freiwillig xP Schenk auch immer gutaussehenden Typen, die an mir vorbei laufen mein ganzes Geld ;)

Keine Angst ich werde weiterhin Kommis hinterlassen und wenn ich mich tausend mal wiederhole ;) So lange es überhaupt weiter geht ist das okay! Nur aufhören zu schreiben ist nicht erlaubt!

Schuldige erste Abenteuer mit Alkohol…was soll man dazu sagen…armer Brad xP
Wie immer finde ich das Kapitel sehr gut geschrieben. :)
Ich mag die Art wie er die Charaktere darstellt und schreibt.
Zu bemängeln habe ich jetzt auch nichts…

Also weiter so! Ich warte auf das nächste Kapitel
Von:  Anuri
2011-02-21T18:45:23+00:00 21.02.2011 19:45
Bitte, bitte! Das mach ich doch immer wieder gerne.

Bald wiederhol ich mich nur noch xP
Also auch dieses Kapitel ist wieder gut geschrieben. Es ist schön und flüßig zu lesen.

Irgendwelche Kritikpunkte sind mir jetzt auch nicht aufgefallen... ich kann nur sagen weiter so!

Brad tut einem ja fast leid xP Schuldig ist wirklich total knuffig und diese Stimmungsschwankungen sind wirklich einmalig. Da nimmt er einfach nen alten Mann aus xP das ist der Schuldig den wir kennen.

Ich freu mich schon auf das nächste Kapitel <3
Von:  Anuri
2011-01-29T18:54:46+00:00 29.01.2011 19:54
Also hier jetzt endlich das Kommi xP

ich weiß nicht was ich groß dazu sagen soll...ich finde es ist euch wieder sehr gut gelungen. Es ließt sich schön und angenehm.

Zum Inhalt... Schu ist ja sowas von niedlich! Es ist echt süß wie wenig er von der Welt weiß. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass man bei Rosenkreuz halt nichts erwährt wie es dadraußen abläuft.

Also ich freu mich auf fortsetzung <3
Von:  Anuri
2011-01-20T09:03:06+00:00 20.01.2011 10:03
Okay...ein Kommi...
Ich hab so auslange Weile mal rumgeguckt und jetzt bin ich auch dank dieser FF wieder total im Weiß Kreuz Fieber ;)

Also jetzt mal zu der FF. Ich finde sie sehr gut geschrieben. Schuldig ist total süß mit seinen Stimmungsschwankungen, das passt auch irgendwie zu ihm. Ich wollte schon immer mal ne FF lesen wie es zu schwarz gekommen ist und jetzt hab ich die Möglichkeit. Ich hoffe ihr schreibt/playt was auch immer schnell weiter. Ich bin nämlich schon total gespannt wie es weitergeht!
Von:  Battosai
2010-12-17T23:08:16+00:00 18.12.2010 00:08
okaay dann geb ihc noch einmal ein kommi ab *lach*
schade das noch keiner ein kommi gegeben hat es ist eine tolle FF.
Ich mag sie sehr mal eine neue sichtweise von Schwarz wie alle zusammenkommt. WIe brad und Schuldig sich das erste mal trafen *O*
ich bin gespannt wie es weiter geht und ich denke Schuldig wird nicht einfach so "brav" bleiben *breit grinse*
hoffe du sagst mir bescheid wenn ein neues kappi hochgeladen wird weil ich bin total verpeilt und öfters merke ich sowas nicht (Leider T:T)
LG
Batto ♥


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