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Das Maleficium

von

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Das Urheberrecht für diese Geschichte und ihre Figuren liegt alleinig bei mir, dem Verfasser.
 

* * *
 

Ein Sternenmeer füllte sein Blickfeld aus wie ein Teppich aus dunklem Samt, in den eine kundige Hand unzählige Brillanten, gleich in tiefer Dunkelheit glitzernder Himmelskörper, eingesetzt hatte. Sie drehten und kreisten um einen Punkt, ein Zentrum, um das dieser ganze Kosmos rotierte. Arme und Nebel, Wolken und Galaxien, aus tausenden und abertausenden Gestirnen, bevölkerten diese Gebilde, deren Ausdehnungen sich erstreckten bis in Fernen, in die keine Menschenseele jemals würde vordringen können…

„Ist das schön…“, murmelte er und blinzelte dabei ungläubig.

„Nun komm schon, Dorian. Wir haben Arbeit vor uns“, ermahnte ihn Gaubert. Mit Mühe riss Dorian sich vom Anblick der Kristallkugel los. Er nickte der Wahrsagerin zu, einer älteren Frau mit einem buntgemusterten Kopftuch und einem zutraulichem Lächeln, dann kehrte er zurück ins Sonnenlicht, das an diesem Frühlingstag auf die Stadt Galdoria fiel.

Draußen vor dem Zelt, auf dem großen Marktplatz der Sanderstraße, warteten bereits die anderen. Gaubert, der ihn ermahnt hatte, stand mit verschränkten Armen da, umringt von Ludowig und Nikodemus, die Ausschau hielten nach den Wachen des Kaisers.

„Ich musste mich meiner glänzenden Zukunft vergewissern, das war alles“, sagte Dorian und hob entschuldigend seine bloßen Schultern, die aus seiner schon etwas abgerissenen Weste mit dem Livreekragen hervorschimmerten. Die wohl einst prächtigen und nun schon ziemlich abgenutzten Manschettenärmel hingen verbindungslos auf seinen Unterarmen, rutschten bei der Geste hinauf und wieder hinab, als er seine Arme wieder sinken ließ.

„Deine glänzende Zukunft wird aus einer Tracht Prügel von Meister Yannick bestehen, wenn wir unser Soll nicht erfüllen.“

„Na gut. Aber ihr werdet schon sehen…“, begann Dorian, und senkte seine Stimme bei diesen Worten, was ihr einen bedeutungsschweren Klang verlieh.

„ –du wirst eines Tages der König aller Diebe sein, ja, ja“, erwiderte die kleine Gruppe im Chor. Dabei schüttelten sie ihre Köpfe und bedachten ihn mit amüsierten Blicken. Dorian verschränkte die Arme und tippte mit den Spitzen seiner abgewetzten Schaftstiefel auf den staubigen Boden des Marktplatzes.

„Ihr sagt es. Und dann werdet ihr froh sein, wenn ihr meine Huld habt.“

„Bis dahin ist noch Zeit, euer Hoheit“, erwiderte Gaubert mit spöttischem Unterton. Dann setzte er sich in Bewegung, und die anderen folgten ihm. Auch Dorian ging los, den Kopf in den Nacken gelegt, und eine fröhliche Melodie pfeifend.

Sein Blick ging zum beinahe wolkenlosen Himmel, über den einige Seemöwen zogen und seine blaue Unendlichkeit durchmaßen. Dieser Himmel, der über der Stadt Galdoria lag, der Hauptstadt des galdorianischen Reiches.
 

Wie ein ausgetretener Pfad führte die Sanderstraße durch die Stadtmitte. Von ihr aus zweigten zahlreiche Gassen und kleinere Straßen ab und führten weg von der belebten Hauptstraße mit ihren Märkten und Schaubuden, an denen sich Scharen der Bürger vorbeibewegten. Ein Durcheinander herrschte hier aus wohlhabenden Einwohnern in Samtgewändern und höfischen Trachten, aus Handwerkern und Tagelöhnern, deren einfache Lederkluften von Schweiß und Staub erzählten, von den Wachen des Kaisers, deren Rüstungen in der Sonne glänzten, und auch etwas weniger seriösen Bewohnern dieser Stadt.

Von Bewohnern wie Dorian, Gaubert und dem Rest ihrer Truppe. Die jungen, beinahe noch halbwüchsigen Burschen streiften mit einer Mischung aus Wachsamkeit und leichtem Gemüt durch die Sanderstraße, bald hierhin, bald dahin stromernd. Mit den Händen in den Taschen und ein fröhliches Lied auf den Lippen, marschierten sie leichten Schrittes durch die Menschenmenge, die sich an den Ständen und vor den Läden drängte. Ihre unschuldigen Gesichter täuschten gekonnt darüber hinweg, dass sich ihre Hände manchmal auch in fremde Taschen verirrten, und dabei selten ohne Erinnerungsstück den Weg zurück an ihren angestammten Platz antraten.

„Habt ihr schon das Neueste gehört?“ begann Ludowig, ein hagerer Bursche mit vorhängenden Schultern, der kaum unter seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe hervorblickte.

„Erzähl halt“, gab Nikodemus knapp zurück. Die Hände des etwas dicklichen, zumindest aber stämmigen Burschen wanderten an einer reich verzierten Weste vorbei, dessen Besitzer gerade die Auslage eines Ladens betrachtete. Sie wanderten eilig weiter, als er den Blick eines Wachsoldaten auf sich spürte, den er in einiger Entfernung in der Menge erblickte.

„Das Maleficium soll in der Stadt sein, seit Tagen schon!“ Ludowigs Aufregung war nicht zu überhören, und seine Hände vollführten rastlose Gesten.

„Sag bloß, du willst es klauen“, lachte Dorian, der im Vorbeigehen eine Frucht vom Stande eines Obsthändlers in eine seiner vielen Taschen wandern ließ.

„Mann, das wäre es“ Ludowigs begeisterter Blick verlor sich in der Ferne. „Das wäre die Krönung einer jeden Diebeslaufbahn!“

„Dann würde dich Meister Yannick endlich für voll nehmen“, feixte Gaubert. Sein in vielfach geflickten Lederklamotten steckender, hochgewachsener Leib überragte alle anderen um einen halben Kopf. Dies und seine ernsten Züge verrieten, dass er der Älteste ihrer Gruppe war.

„Quatsch“, gab Ludowig zurück und winkte miesmutig ab. „Dann gründe ich meine eigene Bande, nein, besser- dann kaufe ich ein Anwesen im Mellenkamp-Bezirk, und lasse alle Banden der Stadt in meinem Auftrag stehlen!“

„Träum nur weiter“, sagte Gaubert kopfschüttelnd und bedachte ihn mit einem mitleidigen Lächeln. „Zerbrich dir lieber den Kopf darüber, wie wir auf unser Pensum kommen.“

„Das ist doch eine Kleinigkeit.“ Dorian blieb verschmitzt lächelnd stehen. Sein Blick ruhte auf einem dicken, kurzen Mann, der lebhaft mit einem Ladenbesitzer diskutierte. Sein in Rot und Purpurtönen schimmernder Wamst spannte über seinem Bauch, und bei jeder hektischen Bewegungen schwang der wohlgefüllte Geldbeutel am Gürtel hin und her. Dorians Augen wurden schmal, sein Mund öffnete sich dafür. Dann ging er, die Hände hinter dem Nacken verschränkt und dabei unschuldig pfeifend, auf den Mann zu. Die restliche Truppe hielt ein und beobachtete die Szene unauffällig, aber mit spürbarer Anspannung.

Dorian machte einen Bogen um den Mann, begutachtete den Stand eines Uhrmachers mit gespieltem Interesse, und ließ dabei immer wieder seinen Blick zu dem Mann schweifen, der nach wie vor ein lebhaftes Gespräch mit einem Ladenbesitzer führte.

Nickend und Interesse heuchelnd, ließ er seinen Blick über die Vielzahl aus tickenden, ratternden und andere Geräusche produzierenden Uhrwerken gleiten. Der Blick des Standinhabers traf ihn nach kurzer Zeit, und dieser schien seine Profession erraten zu haben.

„Suchst du etwas bestimmtes, Bursche?“ fragte ihn dieser mit erhobener Augenbraue und kaum verhohlenem Argwohn.

„Nein, danke, ich wollte nur sehen, wie spät es ist.“ Dorian steckte frech grinsend seine Hände in die Taschen und bewegte sich vom Stand des Uhrmachers weg. Dieser warf ihm noch einen skeptischen Blick zu, der erst nachließ, als Dorian außer Griffweite seiner Waren war. Dorian hingegen hatte sein Ziel schon im Visier, und näherte sich ihm in aller Harmlosigkeit.
 

„Die Preise für Bronze-Escutcheons sind exorbitant gestiegen, das macht keine Freude“, säuselte der dicke Edelmann mit näselnder Stimme. „Und ich habe eine ganze Garde damit auszurüsten, welch Unglück für meine Finanzen, nein, nein…“

Auf deine Finanzen kommt ein noch größeres Unglück zu, dachte Dorian, während er sich mit langsamen Schritten dem Mann näherte. Der Ladenbesitzer kam kaum zu Wort und beschränkte sich darauf, zu nicken und den verärgerten Ausführungen des Mannes zu lauschen.

Dorian fühlte die Blicke seiner Bandenmitglieder auf sich, und warf einen ärgerlichen Blick in die Menge. Seine Konzentration geriet ins Schwanken, wenngleich er sich geschmeichelt fühlte in solchen Momenten, an denen er ihnen sein Talent vorführen konnte. Jetzt nur nichts falsch machen, sagte er sich vor, und näherte sich dem dicken Mann mit der teuren Bekleidung und dem verlockend hin und her schwingenden Geldbeutel.
 

„Er wird geschnappt, diesmal wird er geschnappt“, flüsterte Ludowig, der vor Aufregung seine Füße nicht mehr still halten konnte und mit ihnen hin und her zappelte. Gaubert warf ihm einen zurechtweisenden Blick zu und räusperte sich dabei.

„Wirst du still sein“, sagte er, während er diese Worte mit dem Räuspern abschwächte. „Das bringt Unglück, davon während eines Beutezugs zu reden!“ zischte er ihm anschließend zu. Ludowig empfing noch einen Knuff in die Rippen von Nikodemus, dann hatte er sich wieder im Griff und bemühte sich wieder um demonstrative Unauffälligkeit.
 

Dorian drehte sich um, streckte die Arme aus, als ob er lebhaft gähnen würde, und machte einen Schritt rückwärts. Der füllige Edelmann, den er dabei anrempelte, wandte sich mit zorniger Miene zu ihm um.

„Was fällt dir ein, Bengel!“

Dorian hob die Hände und machte ein schuldbewusstes Gesicht.

„Ich bitte vielfach um Vergebung, werter Herr! Es tut mir so leid…“, klagte er voller Inbrunst, und klopfte dabei die Rundungen des Mannes ab, wie um sich davon zu überzeugen, dass dessen Rippen bei diesem Zusammenstoß heil geblieben waren.

„Finger weg, du Tölpel! Mir ist nichts passiert!“ knurrte er ihn an und schob seine allzu aufdringlichen Hände weg. Dorian verneigte sich in schneller Folge, und der dicke Edelmann reagierte mit einem genervten Gesicht auf diese Gesten der Unterwürfigkeit. „Nun geh schon, du Lump…“, sagte er voller Unmut und verdrehte dabei die Augen. Endlich gelang es ihm, Dorians tastende Hände wegzuschieben. Etwas in seinen Händen blitzte auf, und er griff zu. Die Hand des dicken Mannes schloss sich um Dorians Handgelenk, und drehte es nach oben. Seine Finger hielten den wohlgefüllten Geldbeutel, und Dorian betrachtete ihn, als wäre er vom Himmel gefallen und dabei rein zufällig in seiner Handfläche gelandet.

„Das ist ja seltsam… wie kommt der- “

Die Augen des Edelmannes weiteten sich, und Zornesröte stieg in sein Gesicht. Dorian beantwortete diese Reaktion mit einer Unschuldsmiene.

„Du elender- “, brachte der dicke Mann mühsam heraus. Sein Gesicht wirkte wie ein vor dem Platzen stehender Kessel, und sein sich vorwölbender Bauch begann zu zittern.

„Ich muss dann weiter.“Dorian grinste und wand seine Hand geschickt aus dem Griff des Mannes. Den Geldbeutel streifte er ab, um sich endgültig aus der Klaue zu befreien, und schon wirbelten seine Stiefel Staub auf.

„Haltet den Dieb!“ brüllte der Mann aus Leibeskräften, und sein Kopf nahm eine tiefrote Farbe an. Der Ladenbesitzer, in dessen Gegenwart dies alles passiert war, betrachtete ihn mit einer Mischung aus vordergründigem Erstaunen und leiser Schadenfreude. Dorian rannte und glaubte die schwerfälligen Schritte des Mannes hinter sich zu hören.
 

* * *
 

Herzlichen Dank fürs Lesen. Der Autor freut sich über jeden(auch kurzen)Kommentar. Aussagen wie "Schreib schnell weiter!" sind allerdings gegenstandlos, da ich diese Geschichte schon vor über einem Jahr fertig geschrieben habe und sehr bald die weiteren Kapitel posten werde.

„Oh nein!“ stieß Ludowig aus und bedeckte seinen Mund mit der Hand. Seine Kumpane machten sich zur Flucht bereit. Nur er stand noch da und sah, wie Dorian vor dem schwergewichtigen Edelmann floh, der ein erstaunliches Tempo an den Tag legte.

„Glotz nicht, komm lieber!“ schimpfte Gaubert und packte ihn an der Schulter. Nun kam Bewegung in die Bande und sie versuchte, Dorian einzuholen.
 

Dorian sprintete durch die Menge, rempelte Leute an und stieß manche von ihnen nieder, in der Hoffnung, sie mochten ein Hindernis für etwaige Verfolger bilden.

„Haltet- den- Dieb…“, ächzte der Edelmann, dessen Luftvorrat hörbar zur Neige ging. Schließlich blieb er stehen, und sein Keuchen drang durch die dichtgedrängte Menge auf dem Marktplatz bis hin zu Dorian, der daraufhin stoppte.

Er drehte sich um, warf seinem Beinahe-Opfer einen hämischen Blick zu und eilte sodann weiter. Zwei Wachen in polierten Rüstungen, die gerade noch bei dem fuchsteufelswilden Mann gestanden und seine Geschichte in aller Kürze gehört hatten, nahmen nun seine Verfolgung auf und versprachen, zähere Jäger zu sein.

Das Scheppern und Knirschen der Harnische drang hörbar durch die Menge, ebenso wie die Rufe der Wachen, mit denen sie sich eine Schneise im Gewühl schufen. Trotz der Rüstungen, die sie beim Laufen behinderten, verringerte sich der Abstand zwischen Dorian und seiner Bande kaum. Auch wenn er wusste, dass das Gewicht ihrer Rüstungen ihre Ausdauer begrenzte, so wusste er auch, dass die Gegenwart einer Wache auf geradezu übernatürliche Weise weitere anlockte. Und so traf er eine Entscheidung.

„He, ihr da! In die Fortyn-Gasse, aber schnell!“ schrie er mit aller Luft, die er entbehren konnte. Auf sein Kommando schlugen seine Kumpane einen Haken. Ludowig, der Schnellste von allen, musste von Gaubert in die andere Richtung gezerrt werden, und Nikodemus, der mühsam hinterher trappelte, bog vor ihnen keuchend in die besagte Gasse ein. Dorian, dessen weite, federnde Schritte ihn am Rest der Truppe vorbeiziehen ließen, gab nun das Ziel vor. Hinter ihnen ertönten immer noch zornige Rufe im Befehlston, sowie das Klappern der Rüstungen, die so gar nicht für Verfolgungsjagden auf dichtgedrängten Plätzen geeignet waren.

Die Gasse verengte sich, und die Häuser standen nun viel dichter beisammen als noch auf der breiten Sanderstraße. Bürger, in ihre Einkäufe oder auch Tratschereien vertieft, sahen sich einer daher stürmenden Meute gegenüber, die alles im Weg stehende entweder im letzten Moment umsteuerte oder grob niederrempelte. Jedes Mal riefen sie dabei ein höfliches „Verzeihung!“, bekamen als Antwort aber nur Verwünschungen hinterher gerufen. Und so erreichten sie das Ende der Gasse, an der diese von einem hohen Bretterverschlag zum Flussufer hin abgegrenzt wurde.
 

„Sie sind dahinten, da geht es nicht weiter“, japste eine der beiden Wachen zwischen zwei Atemzügen. Sie verlangsamten ihre Schritte und wähnten die Diebe bereits in einer Falle.
 

„Nicht das, nein, nicht das…“, jammerte Nikodemus, als Dorian eine Hand an die sich schief an der Fassade emporwindende Regenrinne legte.

„Immer noch besser, als im Kerker zu sitzen“, gab Dorian schulterzuckend zurück und begann zu klettern. Ihm schlossen sich Ludowig und danach Gaubert an. Nikodemus‘ Blick pendelte zwischen denen sich durch die Menge drängenden Wachen und seinen Kameraden, die an der Regenrinne die Fassade des Gebäudes erklommen, hin und her.

„Besser im Kerker, als tot, würde ich sagen… verdammt!“ fluchte er, packte dann ebenfalls die Regenrinne und zog sich mit schwerfälligen Bewegungen daran empor. Sie knarrte und ächzte unter seinem zusätzlichen Gewicht bedenklich, und mehrmals sah er die sorgenvollen Gesichter seiner Kameraden, die während des Kletterns in die Tiefe blickten.
 

„Vermaledeites Diebespack!“ schimpfte eine der Wachen und streckte ihnen seine drohende Faust hinterher. Putz und abbröckelnder Rost fiel ihnen entgegen, als die vier Diebe aus ihrem Blickfeld entschwanden.
 

Nacheinander erreichten sie das Dach und schließlich kam auch Nikodemus mit Hilfe seiner Kameraden über die Dachkante. Mit hochrotem Gesicht und zitternden Armen ließ er sich der Länge nach hinfallen. Dorian blickte derweil in die Tiefe, wo die Wachen nun einen Treppenaufgang suchten.

„Keine Zeit zum Ausruhen. Hier gibt’s sicher eine Treppe, und du willst doch nicht in den Kerker unter dem Kaiserpalast einziehen?“ spöttelte Dorian. Nikodemus lag da, alle Glieder von sich gestreckt, und rang nach Luft.

„Von mir aus… lieber im Kerker… als tot…“ Dann packten ihn Ludowig und Gaubert gemeinsam, und zogen ihn mit einem „Hauruck“ auf die Beine.
 

Vorsichtig erklommen sie den Dachgiebel über wacklige Tonziegel und balancierten auf dem First entlang. Dorian und Gaubert taten dies mit Eleganz und Sicherheit, während Ludowigs und Nikodemus‘ Bewegungen eher fahrig und unsicher wirkten. Sie alle jedoch bewegten sich ohne zu stürzen über den Giebel, überwanden einen Maueraufschwung, und erreichten so das benachbarte Dach. Immer wieder kletterten sie an Schornsteinen und Erkern höher, bis sie das Stadtviertel gewechselt und schließlich von einem der höheren Gebäude einen prächtigen Blick über die Stadt hatten.
 

Zu ihren Füßen lag die Stadt, die sich ihnen als ein Meer von Ziegeldächern in allen Rottönen, als ein Wald von Türmen und Türmchen und als eine Ansammlung von glanzvollen Anwesen, bescheidenen Fachwerkbauten und ärmlichen Häusern mit schäbigen Fassaden präsentierte. Und über alldem, im Zentrum der Stadt, thronte wie ein Herrscher unter der vielgemischten Schar seiner Untertanen der Palast des Kaisers. Weithin sichtbar und alles an Glanz und Pracht in den Schatten stellend, ragten seine weißen Türme, seine schroffen Zinnen und seine mächtigen Erker in den Himmel über dem galdorianischen Reich.

Dorian und seine Bande hatte ihr vorläufiges Ziel erreicht, ein leer stehender Uhrturm, in dessen ausgeweideter Spitze nun Tauben und andere Vögel brüteten. Einige wenige Zahnräder, teilweise verbogen und von blühendem Rost überzogen, kündeten von dem früheren Verwendungszweck dieses Turmes, in dem sich schon lange mehr gedreht hatte.

„Beim nächsten Mal- passt du- besser auf“, stöhnte Nikodemus, der sich zu Boden fallen ließ und immer noch nach Luft rang.

„Ihr habt mich abgelenkt, das war alles“, bemerkte Dorian schnippisch, und erklomm eines der Fenster. Morsche Läden hingen schief in ihren Angeln, und er balancierte vorsichtig auf dem Fensterbrett. Alles war mit den Ausscheidungen der über ihnen gurrenden Tauben bedeckt, und so musste er seine Schritte gewählt platzieren.

„Jetzt sind vielleicht wir schuld?“ fragte Ludowig und zog ein ärgerliches Gesicht. Er setzte sich auf eine der Stellen, an der das Mauerwerk fehlte. Sein Blick ging abwechselnd in die Tiefe, die hinter ihm gähnte, und dann wieder in den Dachstuhl über ihm, aus dem dutzende Tauben ein und ausflogen.

„Ruhe jetzt“, befahl Gaubert. Sein aufmerksamer Blick sondierte die umliegenden Dächer, doch es waren keine Verfolger sichtbar. „Dorian hat’s vergeigt, das kann jedem von uns passieren. Ende der Diskussion.“
 

Gaubert setzte sich zu Boden. Dann begannen Ludowig und Nikodemus ihre Taschen zu leeren. Auf einem Tuch zählten sie ihre ‚Verdienste‘ zusammen, und Gaubert rechnete konzentriert. Als der Einzige von ihnen, der mehr Zahlen beherrschte als er Finger an den Händen hatte, war dies seine Aufgabe. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und nach dieser Flucht hatte keiner von ihnen mehr die ruhige Hand, die notwendig war, noch mehr Geld mit den begüterten Bürgern dieser Stadt zu verdienen. Und so rief er wortlos den Feierabend aus, wofür besonders Nikodemus dankbar war. Auch die anderen waren müde, hatten sie doch einen arbeitsreichen Tag als fleißige Diebe hinter sich.
 

„Dorian! Was ist mit dir?“ rief Gaubert hinauf. Dorian, dessen Blick auf den orangeroten Ball gerichtet war, der im Meer vor Galdoria versank und die Dächer der Stadt in ein warmes, gelbrotes Licht tauchte, begann in seinen Taschen zu wühlen. Eine Halskette, eine stehengebliebene Uhr mit dünner Vergoldung, eine Handvoll Kleingeld, das war alles. Mit ausgestreckter Hand ließ er es Stück für Stück in die Tiefe fallen. Gaubert fing es routiniert auf und zählte dabei tonlos.

„Hm… knapp verfehlt. Meister Yannick wird nicht gerade erfreut sein“, brummte er,. Ludowig und Nikodemus saßen daneben, stritten darum, wer wohl die wertvolleren Gegenstände geklaut hatte, und beachteten seine Rechnereien gar nicht. Dorian hingegen saß hoch über ihnen, auf dem brüchigen Sims, und sein Blick ging über die Stadt. Er glitt über die Dächer und Fassaden, bis hin zur Stadtmauer und dem Hafen, der sich in die schmale Meeresbucht hineindrängte. Dorian sah die Schiffe, die langsam auf das Meer hinausfuhren, fernen Küsten und Ländern entgegen. Und sein Geist begleitete sie, als Kapitän einer stolzen Handelsfregatte, oder noch besser, als Kommandant eines Forschungsschiffes, das noch unentdeckte Lande suchen sollte, und all die Schätze und Geheimnisse, die es für wagemutige Abenteurer bereithielt...
 

„Dorian?“

„Hm…“

„Dorian, komm schon. Meister Yannick macht sich noch Sorgen.“

„Hm…“

„Dorian!“

Jetzt erst schreckte er aus seinen Träumen. Er blinzelte, und mit einem Male fröstelte es ihn auf seinen unbedeckten Oberarmen.

„Ja, ich komm ja schon“, erwiderte er, und schwang sich von dem Sims. Getrockneter Taubenkot wirbelte auf, als er landete, und er verzog die Nase. Seine Kameraden waren schon dabei, den leeren Uhrturm zu verlassen. Er blickte sich noch einmal um, in Richtung der Schiffe, die von hier klein wie Spielzeug wirkten, dann folgte er ihnen.
 

Im Dämmerlicht des Sonnenuntergangs suchten sie eine geeignete Stelle, um wieder den Boden zu erreichen. Sie fanden ihn in einem wackligen Baugerüst an einer frisch verputzten Fassade.

Ihr Weg führte sie in die Tympanonstraße, einer der größeren Verkehrswege, der von der zentralen Sanderstraße abzweigte. Die Schilder an den Fassaden aus Bronze und Kupfer, auf denen sich matt das Abendlicht spiegelte, verrieten die Niederlassungen verschiedenster Handwerksbetriebe wie Schmieden, Schneidern, Sattlern und Juwelieren. Die Inhaber dieser Gewerbe machten sich daran, ihre Läden zu schließen, wie sie im Vorbeigehen sahen. Fensterläden wurden geschlossen, Eisengatter herabgezogen und Türen versperrt. Auch der Strom der Bürger wurde schwächer, und die meisten von ihnen machten sich auf den Weg in ihren Heimatbezirk, wie auch die vier jungen Burschen, die diese Straße hinter sich ließen und in den Bucket-Weg abbogen.

Nach kurzer Zeit veränderten sich die Häuser, und mit ihnen das gesamte Erscheinungsbild dieser Gegend. Der Putz an vielen Fassaden war löchrig, Fensterläden hingen hier des Öfteren schief in ihren Rahmen, und auf den Straßen sammelte sich Unrat, der in anderen Bezirken kaum zu finden war.

Hier sah man keine Läden und keine Zunfttafeln an den Hauseingängen, sondern nachgedunkelte Holzschilder mit darauf abgebildeten Krügen oder Flaschen. Kneipen und Spelunken prägten das Bild. Vor so mancher lehnten benommene Gestalten an den Wänden, die ihr letztes Geld in den verschiedenen Etablissements angebracht hatten, und nun mangels Zahlungskraft an die frische Luft gesetzt worden waren.

Im Vorbeigehen wankten sie auf so manchen Passanten zu, um lallend Geld zu schnorren. So versuchten einige es auch bei Dorian und seiner Bande, die die betrunkenen Gestalten aber von einem zum nächsten schubsten, bis die traurigen Figuren mangels Gleichgewichtssinn an einer Mauer zu Boden sanken. Weiters schenkten sie ihnen keine Beachtung und steuerten pfeifend und scherzend ein bestimmtes Gebäude an.

Zischend erwachten die wenigen funktionierenden Gaslaternen in diesem Viertel zum Leben. Eine von ihnen stand vor einem Gebäude, das man, wären nicht die meisten Fenster vernagelt und würden sich nicht große Mengen an Schrott und Unrat vor den wenigen Zugängen auftürmen, als durchaus herrschaftlich eingestuft hätte. Die Laterne warf ihr flackerndes Licht auf die an vielen Stellen abgebröckelte Fassade und die wenigen nicht vernagelten Fenster, in denen mangels Glasscheiben dicke Vorhänge von innen die Räume dahinter abschirmten.

Dorian, Gaubert, Nikodemus und Ludowig traten durch die knarrende Tür ein und sperrten die beginnende Nacht aus.
 

Im Inneren erhellten leise surrende Glühdrahtlichter die Räumlichkeiten. Von Weitem ratterte der Bürstengenerator, der den Strom lieferte, und so das Licht über die einzelnen Zimmer verteilte.

Leichten Schrittes erklomm die kleine Gruppe die Treppe in den oberen Stock und wich dabei den fehlenden Stufen aus. Das obere Stockwerk war im Vergleich zu dem Unteren geradezu wohnlich. An vielen Stellen war das Mauerwerk in den unteren Räumen herausgebrochen, auch der Fußboden hatte einige klaffende Löcher. Die hohen Gewölbe und die Schatten an den Wänden, die von den Gemälden kündeten, die früher dort hangen, ließen vermuten, dass dies einst ein Verwaltungsgebäude oder etwas Ähnliches gewesen war. Doch diese Zeiten waren lang vorbei, und heutzutage hausten nur noch verarmte Bürger und Angehörige der stehlenden oder anderweitig nicht ganz gesetzestreuen Zunft im Bucket-Weg.
 

Sie erreichten den Hauptwohnraum in ‚ihrem‘ Haus. Ein langes Zimmer, fast ein Saal, in dem eine provisorische Küche sowie Schlafstätten aus selbst gezimmerten Stockbetten standen. Hier wohnten sie, und beim Betreten stieg ihnen schon der Duft von Suppe in die Nasen.

„Endlich, ich verhungere schon!“ frohlockte Nikodemus, der diesen Duft geradezu gierig durch seine Nase aufsog.

„Klar, genauso siehst du aus“, witzelte Ludowig und ließ dabei seinen Blick über die Körperfülle seines Freundes gleiten.

Über einen Kessel gebeugt, der auf einer zischenden Herdplatte stand, sahen sie einen älteren Mann von gedrungener Statur, dessen Schultern seine Körpermitte an Breite fast noch übertrafen. Als er sie eintreten hörte, wandte er sich zu ihnen um und hielt dabei einen Kochlöffel in der Hand.

„Da seid ihr ja, ihr Schlawiner! Und ich dachte schon, ich müsste alles alleine essen, ha, ha!“ Sein schallendes Lachen klang durch den Raum, und sein Bauch zitterte dabei wie das Fell einer geschlagenen Trommel. Ein Goldzahn schimmerte im Licht der Glühdrahtlampen hinter einem dichten Vollbart, der bis auf seine Brust reichte. Eine Lederkappe mit herabhängenden Schnallenverschlüssen bedeckte seine niedrige Stirn, und seine wachen Augen saßen unter einer Schweißerbrille, die er auf der Stirn sitzen hatte.

„Wir hatten einen kleinen… Umweg, Meister Yannick“, erklärte Gaubert nach kurzem Überlegen. Gauberts Blick streifte Dorian, der zur Decke blickte und unschuldig ein Lied pfiff. „Die Wachen waren wieder besonders aufmerksam“, fügte er pflichtschuldig hinzu.

„Der Teufel soll sie holen, diese Wichtigtuer“, polterte Meister Yannik und rührte im dampfenden Kessel. „Die sollen uns unsere Arbeit machen lassen, und wir lassen sie ihre machen, nicht wahr?“ Er brummte noch etwas in seinen Bart, dann wies er sie an, den Tisch zu decken und die Suppe auszuteilen.
 

Ludowig und Nikodemus holten mit eifrigen Bewegungen Geschirr und Besteck aus verschiedenen Schränken und verteilten es auf dem Tisch, der in der Mitte des ausladenden Raumes stand. Gaubert legte einstweilen Meister Yannick ihre ‚Einkünfte‘ des Tages vor. Dieser begutachtete jedes einzelne Stück mit glänzenden Augen, bevor er es in eine abschließbare Metallkassette wandern ließ. Dorian, die Hände in den Hosentaschen, sah ihnen interessiert zu.

„Nun ja, es ist nicht ganz so viel, wie du es uns aufgetragen hast…“, begann Gaubert leicht verlegen, als sie an das Ende der Zählung kamen. Yannick brummte etwas Unverständliches in seinen dichten Bart, und ein düsterer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Dieser legte sich jedoch schnell wieder, und er verschloss die Kassette.

„Ja, ja, ist nicht so schlimm. Es sind keine so guten Zeiten, da tragen die Leute nicht so viel Geld herum. Ein Krieg steht vor der Tür, da hat niemand das Geld so locker sitzen.“ Einen Moment lang nahm sein Gesicht eine abwesende Miene an, dann hellte es sich auf, so, als ob ihm etwas Wichtiges eingefallen wäre. „Genau, genau. Ich habe ja noch gar nichts gesagt.“ Er deutete in den hinteren Bereich des langen, über mehrere Treppenaufgänge ansteigenden Raumes. Dort, im Halbdunkel, wo keine Lampen brannten, hantierten zwei Gestalten an den Stockbetten und schienen Nachtlager für sich zu beziehen.

„Wer sind die?“ fragte Gaubert skeptisch. Es wunderte ihn, genauso wie auch Dorian, dass ihm die beiden ihnen nicht schon vorher aufgefallen waren.

„Ja, ja, sie sind heute eingetroffen, aus Mosarria, aus einer Stadt an der Grenze. Mit schönen Grüßen vom dortigen Gildenleiter. Sie bleiben fürs erste bei uns.“

„Was heißt, ‚bei uns‘?“ fragte Dorian ungläubig. Im nächsten Moment schien er diese respektlose Aussage Meister Yannick gegenüber zu bereuen. „Und aus welchem Grund?“ fügte er vorsichtig hinzu.

„Wie ich sagte, die Zeiten sind nicht besonders gut. Von den beiden habe ich erfahren, dass der Krieg in ihrer Provinz schon begonnen hat, und dass es dort für Diebe kaum noch Arbeit gibt. Ihr kenne ihren Gildenleiter ganz gut von früher, und er ist froh, wenn er zwei Mäuler weniger stopfen muss.“

Yannick nestelte dabei an seinem Bart herum, als wollte er noch etwas sagen, dann rief er stattdessen aber alle zu Tisch.

„Also, jetzt hört mal alle gut zu“, begann Yannick und räusperte sich geräuschvoll, als wollte er eine wichtige Rede beginnen. Ludowig, Nikodemus, Gaubert und auch Dorian saßen an ihren Plätzen um den Tisch verteilt und lauschten gespannt. Neben Yannick standen nun die beiden Neuankömmlinge, und er stellte sie ihnen mit lebhaften Gesten vor. „Ich darf euch vorstellen: das sind Nadim Wenzelstein und Iria Halloran, von der Gilde in Mosarria. Sie sind bis auf weiteres unsere Gäste, und es gelten natürlich alle Regeln der Gastfreundschaft für Gildengeschwister.“

Die beiden standen mit hängenden Schultern und müden Gesichtern vor ihnen, die von einer langen Reise kündeten. Dorian und auch die anderen betrachteten sie genau.

Nadim Wenzelstein, bei dem bei der Nennung seines Nachnamens ein leises Raunen durch ihre Runde gegangen war, war ein schmächtiger Bursche etwa in ihrem Alter. Sein Name war wohlbekannt in Diebeskreisen, und jeder kannte die Geschichten über die Dynastie, aus der er abstammte, allen voran Johann Wenzelstein, der als einer der begabtesten Diebe in der Geschichte ihrer Gilde galt. Er hatte eine Menge Nachfahren, doch dieser wirkte nicht ganz so, als würde er in seine großen Fußstapfen treten. Seine leicht krummen Beine machten nicht den Eindruck, als könnte er mit ihnen schnell laufen und Wachen entfliehen. Seine groß geratenen Hände schienen ebenfalls wenig geeignet, um unbemerkt in fremde Taschen zu fassen. Der nervöse Ausdruck auf seinen blassen Zügen verriet nicht jene Kühle und Beherrschtheit, die für einen erfolgreichen Dieb notwendig war. Während Yannick weitererklärte, fiel Dorians Blick auf Iria Halloran, die neben Nadim stand.

Dieses Mädchen, oder eher junge Frau, war etwas älter als sie. Ihr Gesicht wirkte erschöpft von der Reise, doch ihre Augen blickten klar und stolz. Auch wenn die Müdigkeit ihre Knochen beschwerte, so hielt sie das Kinn doch gerade, und ein gefasster Ausdruck um ihren Mund ließ den ehernen Entschluss erahnen, sich vom Leben und seinen Widrigkeiten nicht so leicht unterkriegen zu lassen. Ihr annähernd schwarzes Haar umrahmte ein zerbrechliches Gesicht, das schon so manches Leid gesehen zu haben schien. Dorians Blick verweilte länger darauf, als er eigentlich beabsichtigte, und wandte sich blinzelnd ab, als sie ihn direkt ansah und dabei die Brauen herab zog.

„…wie gesagt, sie sind für die nächste Zeit eure Gildengeschwister. Erklärt ihnen den Stadtbrauch und nehmt Rücksicht, sie haben eine lange Reise hinter sich. Und jetzt esst, bevor die Suppe kalt wird!“
 

Ein Schmatzen und ein Schlürfen hallten durch den Raum, und die dampfende Suppe, in der Brotkrumen, Kartoffelstücke und sogar einzelne Fleischbrocken schwammen, verschwand schnell von den Tellern. Nadim und Iria sprachen nichts bei Tisch; sie waren ganz konzentriert auf ihre Mahlzeit, und holten mehrmals nach. Sie wirkten, als wäre dies die erste warme Mahlzeit nach längerer Zeit für sie. Dorian beobachtete sie unauffällig, doch keiner von ihnen sah länger als einen Moment von seiner Schüssel auf.

Ludowig und Nikodemus, genauso wie Dorian und Gaubert, waren fertig mit dem Mahl und räumten ihr Geschirr weg. Nadim und Iria saßen immer noch bei Tisch und löffelten die letzten Reste mit Heißhunger weg. Danach zogen sie sich wieder in den Bereich mit den Stockbetten zurück und gaben sich auch sonst nicht gesprächig. Dorian sah ihn ihre Richtung, dann stieß er Gaubert an, der in einem Eimer die Teller abspülte.

„Was hältst du von den beiden?“

„Na ja, wir haben auch nicht gerade im Übermaß“, meinte er mürrisch und blickte kurz von seiner Arbeit auf. „Die hätten gern auch in Mosarria bleiben können.“

„Ja, aber das Mädchen? Die ist doch ganz nett“, bemerkte er gedankenversunken.

„Die? Sie ist ziemlich dünn, und hübschere hab‘ ich auch schon gesehen“, erwiderte Gaubert, und entleerte dabei den Eimer aus einem offenstehenden Fenster. Das Aufklatschen des Schmutzwassers erklang aus der Tiefe, gefolgt von einem ebenso überraschten wie wütenden Ausruf eines betrunkenen Nachtschwärmers.

„Ich finde, sie hat was“, gab Dorian zurück, verschränkte die Arme und legte den Kopf schief.

„Du kannst dich ihr ja anbieten, Gelegenheit gibt es ja ab jetzt genug“, meinte Gaubert schulterzuckend und schloss das Fenster, unter dem jemand wütend schimpfte. „Nachdem sie neu ist, weiß sie ja noch nichts von deinem Ruf als Schürzenjäger.“

Dorian wandte sich zu ihm um und blickte ihn entgeistert an.

„Ich und Schürzenjäger!? Wer behauptet sowas?“

Gaubert machte ein überlegendes Gesicht.

„Lass mich nachdenken… Petrina, Callo, Rosie- “

„Ja, ja, das reicht schon“, unterbrach Dorian ihn und hob die Hände. „Es ist nun mal nicht so leicht, die Richtige zu finden!“

„Ja. Vor allem für dich“, schmunzelte Gaubert und räumte das nun saubere Geschirr weg. Dorian schüttelte seufzend den Kopf, dann schnippte er mit den Fingern.

„Lassen wir das Thema. Wir wär’s mit ein bisschen Training?“

Gaubert schloss die Schranktür und blickte ihn mit erhobener Augenbraue an.

„Du willst wieder verlieren?“ fragte er ihn schelmisch.

„Wir werden sehen, wer hier verliert“, erwiderte Dorian und verschränkte abwartend die Arme.
 

Dorian streifte den Kupfer-Escutcheon über seinen Schwertarm, und sofort glühten die darin eingesetzten Glasscheiben auf. Er ballte probeweise die Faust, und ein geheimnisvoller Schimmer glitt über die Armschiene und kündete von ihrer verborgenen Energie. Gaubert legte die seine an, dann griffen beide nach den schartigen Eisenschwertern, die an der Wand hingen.

„Muss ich es dir nochmal erklären, oder hast du es dir gemerkt?“ fragte Gaubert in einem gespielt schulmeisterlichen Tonfall. Dorian, der wusste, was er erwartete, verdrehte die Augen.

„Also gut… die Escutcheons haben drei Aufgaben: erstens sammeln sie die Kampferfahrung, die wir erwerben, und verstärken mit ihnen unsere Kräfte. Zweitens lassen sie den… wie heißt es? Genau, den ‚Kreis der Konfrontation‘ oder auch ‚Kampfdom‘ entstehen, der sich um die beiden Kontrahenten aufspannt.“

„Und weiter?“ fragte Gaubert grinsend, der seine Rolle als Lehrmeister sichtlich genoss.

„Und weiter baut sich dieser Bereich um den Urheber und den nächststehenden Escutcheon-Träger auf“, zählte er mit leicht genervtem Tonfall auf. „Die beiden haben dann ihre Arena, in die kein unbeteiligter Kombattant eingreifen kann.“

„Nicht übel, ein bisschen hast du dir ja doch gemerkt“, sagte Gaubert spöttisch. „Und drittens?“

Dorian kratzte sich am Hinterkopf und überlegte scharf.

„Drittens, äh… genau, drittens können die Escutcheons mit speziellen Fähigkeiten erfüllt werden, die sich auf ihre Träger auswirken. Allerdings ist dies sehr kostspielig, und nur hochrangige Soldaten oder wohlhabende Leute können sich das leisten.“

„Sehr richtig. Wissen muss man das aber trotzdem, wenn man ein Krieger sein will. Also, worauf wartest du?“ rief ihm Gaubert herausfordernd entgegen, und ließ dabei seine Klinge von der einen Hand in die andere springen. Dorian verbreiterte seinen Stand, senkte seinen Körperschwerpunkt und hob seine Waffe. Ludowig und Nikodemus, die ahnten, was bevorstand, eilten herbei, um die beiden aus angemessener Entfernung zu beobachten. Auch Yannick, der sich gerade seine Pfeife mit Tabak stopfte, richtete seine Aufmerksamkeit auf sie.

„Schlagt nichts kaputt, und tut euch vor allem nicht weh“, rief er lachend. „In unserer Profession gibt es keinen Krankenstand, ha, ha!“

Wie zum Zeichen, dass ihr Übungskampf beginnen möge, hob er seine Pfeife, wie Dorian aus dem Augenwinkel sah. Dann richtete er wieder den Blick auf seinen Kontrahenten, und hob seinen rechten Arm, an dem der Escutcheon saß. Die Armschiene, die seinen Unterarm vom Handgelenk bis hin zum Ellbogen bedeckte, glänzte matt im Licht der Glühdrahtlampen. Dorian konzentrierte sich. Dann geschah es.
 

Ein Zischen klang durch seine Gehörgänge, als sich der Kampfdom aufspannte. Er wusste, dass niemand außer ihm dieses Geräusch hören konnte und sah mit an, wie sich eine Kuppel aus blauen, geometrischen Linien, mit ihm als Zentrum, auftat. Sie wuchs über ihm empor und schloss sowohl ihn als auch Gaubert in eine Arena aus blauen Linien ein. Alles außerhalb dieses Bannkreises schien diffus und weit weg, als würde das Licht der Umgebung durch einen erhöhten Widerstand in ihren Kreis dringen. Seinen ‚Gegner‘ sah er jedoch deutlicher als zuvor, geradeso, als würde eine Energiequelle seine Umrisse mit einem bläulichen Schimmern verstärken.

Dorian schritt auf seinen Gegner zu und landete einen Schwerthieb. Gaubert parierte gekonnt, und die Funken ihrer zusammentreffenden Klingen erhellten ihren von gefilterter Dunkelheit erfüllten Bannkreis einen Moment lang. Dann wich er wieder zurück.

Nun war Gaubert am Zug. Er holte weit aus, und Dorian nahm eine defensive Position ein. Der Hieb erschütterte seinen Arm bis ins Schultergelenk, und seine Klinge vibrierte noch einen Moment nach.

„Genau, gib’s ihm!“ jubelte Nikodemus von außerhalb des Kreises. Dorian sah seine Umrisse undeutlich außerhalb des Kampfdoms. Ärger legte sich über seine angespannten Züge, und er fühlte sich so ähnlich wie heute Vormittag auf dem Marktplatz, als damals schon Zuseher seine Konzentration gestört hatten.

„Woha!“ stieß er aus, als ihn eine heftige Attacke fast zu Boden beförderte. Gaubert hatte den Moment der Ablenkung genützt und eine Parade gelandet. Dorian taumelte zurück und rang um sein Gleichgewicht. Der Kampfdom erweiterte sich mit jedem Schritt, den er vor seinem Kontrahenten zurückwich, und die von blauglühenden Linien gezogene Kuppel wuchs über ihm in die Höhe.

„Regel Nummer Vier: lass dich nicht ablenken, denn im ‚Kreis der Konfrontation‘ kann dir niemand helfen!“ belehrte Gaubert ihn, und ein Grinsen voller Genugtuung wuchs auf seinem Gesicht.

„Ja, ja“, brummte Dorian und wechselte seine Position. Nun war er an der Reihe, und er bereite seinen Angriff gewissenhaft vor.

Seine Schritte beschleunigten sich, und das Schwert fühlte sich leicht an in seiner Hand. Schnell kam er seinem Kontrahenten näher, und im gleichen Maße zog sich der Kampfdom zusammen. Gaubert machte sich auf den Zusammenstoß gefasst, und Dorian erkannte an Veränderungen seiner Stellung einen Konterangriff, mit dem er ihm antworten würde.

„Ich versteh nicht, warum sie die Dinger nicht einfach verkaufen“, sagte Ludowig zu Nikodemus, der den Kampf mit wesentlich mehr Interesse verfolgte als sein Kamerad. Wieder schweifte Dorians Blick ab, und mit ihm seine Gedanken. Sein Angriff ging ins Leere. Gauberts Klinge fegte an ihm vorbei wie eine Sense, und Dorian fiel auf den Hosenboden. Gaubert blickte triumphierend auf ihn herab.
 

Dorian erwiderte seinen amüsierten Blick säuerlich, dann verdrehte er die Augen in Richtung Nikodemus und Ludowig.

„Aus denen werden sowieso keine großen Krieger mehr, und so ein Escutcheon bringt locker 200 Heller“, sagte Ludowig zu seinem Kumpan. Dorian stützte sich auf sein Schwert und kam so auf die Beine.

„Könnt ihr nicht mal ruhig sein?“ fuhr er die beiden verärgert an.

„Das Problem ist deine Konzentration, Dorian. Ich sage es immer wieder.“

Dorians aufgebrachter Blick traf nun Gaubert, richtete sich wieder auf Nikodemus und Ludowig, um sich schließlich zu Boden zu senken. Seine Kampflust wich, er gab sich geschlagen. Augenblicklich erlosch der Kampfdom. Die blauen Linien schwanden, und das Licht der Glühdrahtlampen traf wieder ungedämpft den Bereich um sie herum.

Gaubert sah zu, wie Dorian wortlos das Schwert in die Halterung an die Wand hing. Dann suchte er sich einen Schemel am Tisch und setzte sich hin. Ludowig und Nikodemus, die seine grantige Verfassung spürten, suchten lautlos das Weite. Gaubert, dessen nachdenklicher Blick immer noch auf Dorian ruhte, stellte sein Schwert ebenfalls weg, streifte den Escutcheon ab, um ihn in dem Schrank zu verstauen, und ging dann zu ihm.

„Beim nächsten Mal gewinnst du die Partie“, sagte er in einem ungeschickten Versuch, ihn aufzumuntern.

„Für mich ist es keine ‚Partie‘“, erwiderte Dorian und blickte ihn mit düsterer Miene an. Gaubert zog sich einen Schemel heran und setzte sich zu ihm.

„Was ist los mit dir, Dorian? Ich glaube, du nimmst das zu ernst.“

„Es ist für mich auch ernst“, beharrte er. Sein Blick glitt über den Escutcheon an seinem rechten Arm. Die vier Glasscheiben darauf waren leer bis auf die erste, in der ein leichter grüner Schimmer sich an dessen Rand abzeichnete; Gaubert wusste, dass sie sich mit der steigenden Kampferfahrung ihres Trägers füllte, und diese war noch beinahe leer.

„Das solltest du nicht so sehen. Vergiss nicht, wir sind Diebe, und darauf können wir stolz sein“, sagte er mit fester Stimme.

„Ich will aber… mehr sein, verstehst du?“ entgegnete Dorian mit einer Mischung aus Bedrückung und leiser Zuversicht. „Ich will nicht nur ein Dieb sein, ich will ein großer Dieb sein… einer, von dem man noch in Generationen sprechen wird.“ Seine Stimme hob sich, seine Brust schwoll an und sein verklärter Blick ging in eine unbestimmte Ferne. „Und dafür muss ich auch kämpfen können.“

Gaubert schüttelte sachte den Kopf, und sein besorgter Blick ruhte auf ihm.

„Du solltest zufrieden sein mit dem, was wir haben. Es geht uns gut hier. Wir haben jeden Tag zu essen, wir haben ein sicheres Dach über dem Kopf, und wir haben uns… das können nicht alle Bewohner dieser Stadt von sich behaupten.“ Dorians Blick ging zu Boden, und er schien ihn aus Trotz zu überhören. „Sieh dir die beiden an“, sagte Gaubert, und deutete auf Iria und Nadim, die auf ihren frisch bezogenen Stockbetten saßen, und deren Blicke mit einer Mischung aus Ermattung und Resignation ins Leere gingen. „Der Krieg hat sie aus ihrer Heimat vertrieben, und bald kommt er vielleicht zu uns.“

Dorian hob den Blick und sah ihn wieder an. Doch immer noch sprach kindlicher Trotz aus ihm.

„Und was geht mich das an?“

Gaubert überhörte die Schärfe in diesen Worten und antwortete in einem versöhnlichen Ton.

„Ich meine nur, wir alle haben Grund zur Zufriedenheit. Deine Träume von Ruhm und Ehre sind nichts Schlechtes, und ich vergönne sie dir. Aber etwas zum Essen auf dem Tisch zu haben und ein warmes Bett, das ist auch einiges wert. Du warst noch klein, beim ersten Krieg zwischen Galdoria und Mosarria, aber…“ Er schwieg einen Moment, und ein Reigen beklemmender Erinnerungen schien hinter seiner Stirn vorüber zu ziehen. Dann klarte sich sein Blick wieder. „Du hast damals deine Eltern verloren, in diesem verdammten Krieg, so wie wir alle. Aber du hast eine neue Familie gefunden, und das ist etwas Schönes. Vergiss das nicht.“
 

Gaubert nickte ihm noch einmal aufmunternd zu, und erhob sich dann von seinem Schemel. Dorian blickte ihm hinterher und sah, wie er sich Wasser in einen Trog einfüllte, um sein vom Übungskampf verschwitztes Gesicht zu waschen. Seit er sich erinnern konnte, war er wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Niemand seiner eigenen Familie hatte den großen Krieg vor bald zwei Jahrzehnten überlebt. Nicht Kampfhandlungen, sondern das davon ausgelöste Elend, die Hungersnöte und Krankheiten hatten ihnen alle die Familien genommen, um dann später, unter der Obhut ihres Patrons Meister Yannick, eine neue Familie zu formen. Sie war wichtig für ihn, und immer hatte er Gewicht auf die Worte von Gaubert gelegt.

Doch dieses Drängen, diese unterschwellige Gewissheit, dass sein Schicksal darüber hinaus ging, mit Taschendiebstählen sein Brot zu verdienen, diese Gewissheit ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Seufzend betrachtete er die in den Escutcheon eingefasste Glasscheibe. Sie war erst zu einem winzigen Teil gefüllt. Um es zumindest mit einer der Stadtwachen aufnehmen zu können, müsste sie voll sein. Von den drei weiteren ganz zu schweigen. Und so erhob er sich, um die Armschiene vorsichtig zu verstauen, und sich ebenso wie Gaubert sein Gesicht zu waschen.
 

Er rieb sich mit dem kühlen Nass das Gesicht ab, und die Erfrischung trat sofort ein. Seine nassen Haare tropften in den Zuber, und er sah sein eigenes, sich kräuselndes Spiegelbild im Licht der Glühdrahtlampen. Ein schelmisches Lächeln, umrahmt von hellbraunen Strähnen, bot sich ihm dar, dann machte er sich auf, um frisches Waschwasser zu holen.

Das Dach des Gebäudes hatte an mehreren Stellen große Löcher. Abgebrochene Balken des Dachstuhls ragten wie Rippen aus dem Tonziegeldach, und unter der größten Öffnung stand ihre Zisterne, mit der sie Regenwasser für den täglichen Gebrauch sammelten. Funktionierende Wasserleitungen gab es in allen besseren Vierteln der Stadt, nicht aber am Bucket-Weg.

Er tauchte den Eimer ein, und dieser füllte sich mit klarem Wasser. Die Sterne am unbedeckten Himmel spiegelten sich auf der Oberfläche, die sich nun leicht kräuselte. Dorian wartete geduldig, bis der Eimer voll war. Dabei bemerkte er die Gestalt, die am Rande des offenen Dachs saß. Er stellte den Eimer ab und ging auf sie zu.

„Dein Name war… Iria, richtig?“ Sie drehte den Kopf zur Seite und nickte, dann wandte sie sich wieder dem nächtlichen Panorama von Galdoria zu. Dorian stellte sich neben sie und verschränkte die Arme auf dem Rücken. „Ich hab‘ gar nicht mitbekommen, dass du hier rauf bist.“

„Ich wollte allein sein“, erwiderte sie knapp. Ihre Stimme verriet, dass ihr an diesem Gespräch nicht allzu viel lag.

„Dann hast du unseren Kampf also versäumt“, sagte er lächelnd und streckte die Brust raus.

„Pah, ihr mit eurem Kampf“, gab sie missmutig zurück. „In Pielebott, an der Grenze, wo wir wohnten… Es begann vor einer Woche“, erzählte sie zuerst zögerlich. Dorian, etwas irritiert von ihrer harschen Entgegnung zuvor, lächelte nicht mehr, sondern hörte ernst zu. „Soldaten kamen, zuerst wenige, dann immer mehr“, sprach sie weiter, und die zögerlichen Worte schienen die Erinnerung nur mit Mühe zu lösen. „Sie sprachen vom Krieg, und dass sie ihn schon erwarteten. Sie führten große Sprüche und wirkten so stolz…“ Im Halbdunkel sah er, wie sich ein Ausdruck aus Empörung und auch Abscheu auf ihrem Gesicht abzeichnete. „Sie prahlten, so wie ihr beide. Und zwei Tage später waren viele verwundet, und manche tot. Von Kämpfen habe ich genug.“

Schweigen kehrte ein in dem teilweise eingestürzten Dach, und Dorian sah sich betreten um. Ihre Worte hatten seinen Übermut betäubt. Unangenehm berührt trat er von einem Bein auf das andere.

„Dann bleibt ihr also länger bei uns?“ fragte er, um das zum Erliegen gekommene Gespräch weiterzuführen, und auch um von dem Gefühl abzulenken, dass ihre verbitterten Ausführungen in ihm wachgerufen hatten.

„Nicht länger als nötig“, erwiderte sie eilig. „Wenn dieser Krieg vorbei ist, gehen wir zurück. Es ist nur vorübergehend“, fügte sie hinzu, wie um sich selbst davon zu überzeugen.

„Dieser Krieg… ist sicher bald vorbei“, sagte Dorian. Seine Stimme klang nicht sonderlich überzeugt. Sein Blick ging über die in regelmäßigen Abständen von Gaslaternen beleuchteten Straßen, hob sich auf die in tiefer Dunkelheit liegenden Dächer und verlor sich schließlich am Horizont, in der Bucht vor Galdoria, auf die er heute schon vom Uhrturm hinabgeblickt hatte. Doch diesmal erfüllte ihn dieser Anblick nicht mit drängender Abenteuerlust. Diesmal flößte er ihm eine stockende Furcht ein vor einer Kriegsmacht, die weit weg war und doch schon ihre drohenden Schatten bis hierher warf und auf seine Träume und Pläne keine Rücksicht nehmen würde. Genauso wenig, wie sie auf das Schicksal der Flüchtlinge Rücksicht genommen hatte, die nun bei ihnen einquartiert waren. „Also dann… ich lass dich dann mal allein.“ Dorian achtete auf ein Zeichen des Widerspruchs bei Iria, doch es blieb aus. Dann hob er den gefüllten Eimer an, seufzte über dessen Gewicht und ging wieder die knarrende Treppe hinunter.

Die meisten Lampen waren verlöscht. Nur noch eine Einzige brannte an Yannicks Schreibtisch. Er brütete über seinen Aufzeichnungen, die er sehr gewissenhaft führte. Dorian betrachtete ihn von seinem Stockbett aus. Im Gegenlicht der einzelnen Glühdrahtlampe wirkte Yannicks Gesicht älter als sonst, die Falten wirkten tiefer und die einzelnen grauen Strähnen in seinem Bart zahlreicher.

Gaubert lag im Stock über ihm und schnarchte. Im gegenüberliegenden Stockbett lagen Nikodemus und Ludowig. Sie unterhielten sich leise und lachten hin und wieder auf, aber nur verhalten, um ihre Gäste nicht zu stören.

Nadim Wenzelstein lag schon eine Weile in seinem frisch überzogenen Bett und schlief tief und fest. Er vergrub sich förmlich in Decke und Polster, als hätte er derartige Annehmlichkeiten schon eine Weile nicht mehr in Anspruch nehmen können. Iria Halloran war erst vor kurzem vom Dach herabgekommen, um sich wortlos zur Ruhe zu legen. Die Formen ihres Körpers zeichneten sich nur undeutlich unter der Decke ab, geradeso, als suchte sie ihre Erscheinung zu verschleiern. Als wollte sie sich verstecken vor einer nicht greifbaren Bedrohung.
 

Dorian betrachtete seinen Escutcheon. Selbst im Dunkeln glomm das Metall schwach, als würde eine eigenständige Energie ihn von innen zum Glühen bringen. Er betrachtete die Glasscheibe, in der ein zarter Schein von Grün um dessen Ränder tanzte. Es war sehr wenig, wie ihm bewusst war. Die Wachen des Kaisers Modestus hatten zumindest eine, und viele mehrere der Scheiben ihrer Escutcheons aus Stahl oder sogar Gold gefüllt. Dies war ein Zeichen langjähriger Kampferfahrung und machte sie zu einem ernsten Gegner selbst für starke Kämpfer. Und von einem starken Kämpfer war er noch weit entfernt.

„Mist…“, fluchte er tonlos und legte den Escutcheon auf den kleinen Schrank neben dem Bett. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und starrte auf die vergilbte Matratze hinter dem Lattenrost oberhalb seiner Liegestatt. „Eines Tages werde ich ein großer Kämpfer sein… und der König aller Diebe. Das weiß ich genau…“, flüsterte er vor sich hin. Er schloss die Augen und im Nu war er verstrickt in einen Traum an der Schwelle zwischen Wachen und Schlafen. Einem Traum, in dem er, in voller Rüstung und mit einem prächtigen Schwert, seine Widersacher bekämpfte, in dem selbst die Garde des Kaisers ihn fürchtete und er durch fremde Länder zog und in Ruinen eindrang, um dort scheußliche Ungeheuer zu vernichten. Er sah sich selbst, über geöffnete Schatztruhen gebeugt, aus denen Gold und Juwelen glühten und sich auf seinem polierten Brustpanzer sowie in seinen geweiteten Augen spiegelten. Er sah sich auch in einem großen Haus, voller Marmor und Wandteppiche, von Dienerschaft umringt, mit herbeigebrachten Früchten in den Fingern seiner von Ringen geschmückten Hand- und nicht mehr in dem ärmlichen, verfallenen Haus am Bucket-Weg, einer der schäbigsten Gegenden von Galdoria, wo er letztendlich einschlief. Die sanften Wogen des Schlummers ebneten die Sandburgen seiner Wachträume ein und verteilten sie gleichmäßig im Sand seines traumlosen Schlafs.
 

Der Himmel war grau und seine Tränen flossen beständig. Sie trommelten gegen das Dach der Waggons, liefen in dichten Strömen die angelaufenen Scheiben hinab und bildeten tiefe Pfützen auf dem Bahnsteig.

Der Zug kam zum Halten, und der Ruck weckte die meisten der Passagiere. Stickige Luft ließ die Scheiben beschlagen. Säuglinge erwachten und schrien. Mütter versuchten sie zu beruhigen. Männer blickten nervös durch die überfüllten Abteile, in denen man vor zusammengedrängten Personen, übereinander gestapelten Koffern und Kisten und einigen hechelnden Haustieren kaum den Boden erkennen konnte.

Ein Mann saß da, und er war wach. Unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze glänzten Brillengläser. Nur sein Kinn und der von Falten zerfurchte Bereich um seinen Mund, der dicht von dunklen Bartstoppeln besetzt war, waren sichtbar unter der Kapuze. Neben ihm lehnte an der Wand des Zugabteils ein langer Gegenstand, fest in weißen Stoff eingewickelt.

Der Zug stand jetzt. Viele der Passagiere drückten gegen das Glas, ihre von Furcht erfüllten Blicke sahen aber nur den Regen, der gegen die Fenster peitschte. Dann erst sahen sie Gestalten in langen Mänteln. Sie waren alle gleich gekleidet. Mit herrischen Stimmen trieben sie die Familien, die alten Männer mit Gehstöcken, die Mütter mit schreienden Kindern in ihren Armen, und die jungen Väter mit ihren schweren Koffern ins Freie.

Sie gingen brutal und rücksichtslos vor. Bald war der Zug leer, und die unüberschaubare Menschenmenge versammelte sich auf dem Bahnhofsplatz. Auch der Mann mit der Kapuze stand im Freien. Der Regen trommelte ohne Gnade auf die Menschen, ließ Bäche seiner kalten Berührung über ihre verängstigten Gesichter laufen und durchnässte ihre Schuhe, die nervös in Pfützen traten.

Die Soldaten mit ihren langen Mänteln und ihren zur Schau gestellten Waffen bildeten mit harschen Befehlen mehrere Kolonnen. Oft schrien sie die verängstigten Flüchtlinge an, und manchmal stießen sie sie zu Boden, wenn Gebrechliche und Kranke nicht schnell genug reagieren konnten. Der Mann mit der Kapuze besah sich dies alles, sein langes Gepäckstück mit einem Riemen über der Schulter tragend. Sein teilnahmsloser Blick traf die Soldaten, die Ausweise und Gepäck kontrollierten.

Jene, die Glück hatten, durften in den Zug wieder einsteigen. Andere wurden weggetrieben. Erstarrte Blicke folgten den Kolonnen, die von den Soldaten mit Schreien und Hieben weggetrieben wurden. Einige Frauen begannen zu weinen und drückten ihre Kinder fester an sich. Ihre Männer standen daneben. Aus ihren Mienen sprach Hoffnungslosigkeit und stumme Resignation.

Der Mann mit der Kapuze kam an die Reihe. Die drei Soldaten, die seine Kolonne abfertigten, blickten ihn durch ihre hochgeklappten Visiere mit unverhohlener Geringschätzung an. Wortlos reichte er ihnen seine Papiere.

„Was haben wir hier…? Sarik Metharom, aus der Südprovinz von Mosarria, so, so…“ Er tauschte vielsagende Blicke mit seinen Kameraden an. Sarik Metharom verzog keine Miene, und hätte er es getan, so hätte man es unter seiner Kapuze im vom Regen getrübten Zwielicht kaum erkannt.

„Das Ding da…“ Ein weiterer Soldat deutete auf sein einziges Gepäckstück. „Das ist konfisziert. Ein Erlass vom Kaiser. Flüchtlinge können rein, zumindest ein gewisses Kontingent. Aber Freischärler werden mit dem Tod bestraft, und ihr wollt doch nicht mit einem verwechselt werden?“

Die Soldaten lachten, doch Sarik reagierte nicht. Er sagte nur ein einziges Wort. Seine tiefe, überraschend sanfte Stimme drang unter der Kapuze hervor, und sein unrasiertes Kinn bewegte sich kurz.

„Nein.“

Die Soldaten blickten sich an. Es war offensichtlich, dass sie nicht mit Widerstand gerechnet hatten. Sie verständigten sich durch Blickkontakt, dann winkten sie weitere Soldaten herbei, die zuvor noch mit strengen Blicken und offener Feindseligkeit die Kolonnen der durchnässten Flüchtlinge überwacht hatten.

„Wir haben hier einen ‚Sonderfall‘“, sagte der Soldat, der immer noch seinen Ausweis in der gepanzerten Hand hielt. Er steckte ihn ein und musterte ihren ‚Sonderfall‘ argwöhnisch. „Ihr macht hier weiter. Wir ‚kümmern‘ uns derweil um das ‚Anliegen‘ dieses Herrn.“

Sie deuteten ihm, zu folgen. Von insgesamt vier Soldaten umringt, ging Sarik in die befohlene Richtung. An ihren Armen glänzten die Stahl-Escutcheons ihrer Armee, und bei jedem von ihnen leuchtete eine der Glasscheiben in einem satten, vollen Grün. Aus seinem Augenwinkel sah er die Menschen aus dem Zug. Manche stiegen wieder in den Zug ein und klammerten sich dabei an ihre wenigen Habseligkeiten, als wären sie der letzte verbliebene Rest von Heimat, den sie noch hatten. Andere wurden in Gruppen weggeführt. Die Befehle der Soldaten hallten durch den strömenden Regen. Ihre Schritte klatschten durch tiefe Pfützen, und Angst war aus ihnen herauszuhören. Sarik wandte sich wieder ab von all dem Elend, und so kamen sie auf die Rückseite des Bahnhofsgebäudes, wo sie niemand sehen oder hören würde.
 

„So, du Witzfigur. Jetzt legst du alle deine Wertsachen ab, und dann darfst du vielleicht wieder einsteigen in den Zug“, sagte einer der Soldaten. Aus seinem Blick sprach jene Kälte und sadistische Belustigung, wie sie Soldaten zu Eigen wurde, die angesichts grausamer Erlebnisse im Krieg ihre Menschlichkeit vergessen hatten. Sarik hatte dies schon oft gesehen.

„Bist du taub? Oder sollen wir dich gleich umbringen?“ schrie ein anderer Soldat. Dann erfolgte ein Lachen, aus dem der Wille zur Einschüchterung, die Angst davor, durchschaut zu werden, und das Gefühl absoluter Macht einem wehrlosen Menschen gegenüber sprach. Sarik lüftete mit langsamen Bewegungen seine Kapuze. Sein Gesicht kam zum Vorschein.

Durch sein wirres, schwarzes Haar zog sich eine auffällige graue Strähne. Sein Gesicht war kantig, fast ausgemergelt. Tiefe Falten saßen um Mund und auf seiner Stirn. Er trug eine Brille, die nur ungenügend verschleierte, dass er nur ein Auge hatte. Das andere war bleich von einer Augenkrankheit, oder auch von einer Verletzung, man konnte es nicht genau sagen. Er hob leicht die rechte Hand. Sein Ärmel rutschte zurück, und der Rand eines Escutcheons wurde sichtbar. Er hob ihn weiter und näherte sich mit ihr dem langen Gegenstand auf seinem Rücken. Unruhe kam nun in die Soldaten, und sie zogen aus Vorsicht ihre Waffen.

„Keine falsche Bewegung!“ schrie einer von ihnen. Seine Hand am Schwert zitterte leicht. Aus seiner Stimme klang die Befürchtung, die überlegene Fassade zu verlieren.

„Ich mache niemals falsche Bewegungen“, flüsterte Sarik. Die Männer starrten ihn mit weit geöffneten Augen an.

„Zum letzten Mal, leg das Ding ab!“ brüllte einer der Männer, und seine Stimme überschlug sich fast. Sie kamen näher und hoben dabei ihre Waffen. Sarik verbreiterte seinen Stand, ging leicht in die Knie und schloss seine rechte Hand um das Ende des Gegenstands auf seinem Rücken. Ein singender Klang entwich seinem Escutcheon. Der Kampfdom spannte sich über ihn auf, umschloss die vier Soldaten und hüllte sie alle ein.
 

Der erste Soldat stürmte heran. Er zielte mit der Klinge genau auf sein Brustbein, und Sarik wandte sich ihm zu. Das weiße Tuch, das eben noch den Gegenstand eingehüllt hatte, flatterte durch den Regen wie ein sterbender Vogel, der langsam zu Boden sank. Sariks Waffe, eine schlanke Klinge von leichter Biegung und mit einem verbreiterten Ende, blitzte im Grau des fallenden Regens auf.

Der Hieb schlug dem Soldaten seine Klinge fast aus der Hand, und er taumelte mit einer Miene des Entsetzens zurück. Verwirrt und bestürzt zugleich starrte er den Mann an, der vor ihm stand und sein eigenes Schwert in beiden Händen und zu Boden gerichtet hielt.

„Tötet ihn, sofort!“ schrie der Soldat, und unterdrückte Panik klang aus seiner Stimme. Seine eigene Forschheit war für den Moment versiegt, und so ließ er seine Kameraden angreifen.

Sarik erwartete sie und reagierte erst im letzten Moment. Mit gefassten Bewegungen parierte er ihre Hiebe, und jedes Mal traf sie der prüfende Blick seines gesunden Auges, gerade so, wie der eines Lehrers, der die Fortschritte seiner Schüler überwacht. Wilde Schreie erklangen in der Arena, die die fünf Kämpfer einschloss, und das Aufeinandertreffen ihrer Klingen erhellte seine Ausdehnung für kurze Momente.

Wieder ließ Sariks Reaktion einen Schwerthieb ins Leere gehen, und der Konter folgte schnell wie ein Blitz in finsterer Nacht. Der Hieb spaltete die Rüstung des Soldaten von der Schulter abwärts. Dessen Herzschläge ließen das Blut in dunklen Bächen herauslaufen. Der Soldat sank zu Boden, und Sarik wandte sich den verbliebenen Herausforderern zu.

Diese sahen sich an und versuchten gar nicht mehr, ihre Furcht zu verbergen. Mit dem Mut der Verzweiflung griffen sie an. Ihre Hiebe sandten blecherne Geräusche durch die Arena.

Die blauglühenden Linien des Kampfdoms rotierten langsam um ihr Zentrum, um den einäugigen Mann, der mit seiner schlanken Klinge die Attacken der Soldaten abwehrte wie ein Lehrmeister, der eine Lehrstunde gab. Doch dieser Lehrmeister kannte kein Erbarmen, und seine Klinge war geschliffen. Und so sirrte sie an den hektisch fuchtelnden Klingen seiner Kontrahenten vorbei, schnitt schnarrend durch ihre Harnische und ließ sie sterbend zu Boden sinken.

Zwei der Soldaten lagen bereits tödlich verwundet im nassen Gras. Der dritte, von einem Konterhieb an der Kehle getroffen, sank röchelnd vor ihm zu Boden. Der verbliebene Soldat, der mit der lautesten Stimme und dem wenigsten Mut, stand hinter ihm und hielt fest mit beiden Händen sein Schwert, als bestünde die Gefahr, es könnte ihm aufgrund seines Gewichts entgleiten. Dann stürmte er mit hektischen Schritten los.

Sarik wandte ihm immer noch den Rücken zu. Er schwang seine Waffe in einer eleganten Bewegung und nahm eine neue Stellung ein. Dann drehte er sich in einer wirbelnden Bewegung, die seinen Mantel aufbauschte, und ließ so den Soldat an ihm vorbeitaumeln. Dessen Angriff ging ins Leere. Sariks Klinge blitzte auf und sandte einen grellen Schein durch die Arena, woraufhin der Soldat zu Boden sank. Sein Schwert entglitt ihm, und aus einer Wunde am Rücken floss Blut.

Er stand da, das Schwert in beiden Händen, den Griff vor dem Gesicht und die Spitze auf seinen letzten Widersacher gerichtet. Der Kampfdom schrumpfte zusammen, die blauglühenden Linien erloschen, und das Grau das verregneten Himmels fiel wieder ungefiltert auf die Szenerie aus vier toten Soldaten und einem aufrechtstehenden Mann. Dieser hob das weiße Tuch auf und wartete, bis der strömende Regen die makellose Oberfläche seiner Klinge reingewaschen hatte. Schwere Tropfen glitten über ihre Oberfläche und ließen die dunkle Flüssigkeit auf ihr im Boden versickern.

Dann wickelte er seine Waffe wieder in das Tuch. Der Escutcheon an seinem rechten Arm kam zum Vorschein. Drei volle Kreise aus schimmerndem Glas strahlten in einem satten Grün an der Armschiene, und der Vierte war zur Hälfte gefüllt. Er hängte sich die Waffe wieder auf den Rücken, dann beugte er sich über eine der verkrümmten Gestalten. Aus der Tasche des Soldaten nahm er seinen Ausweis wieder an sich. Seine Ohren vernahmen das Pfeifen des in Kürze abfahrenden Zuges, woraufhin sich seine Schritte beschleunigten. Dabei streifte er sorgfältig den Ärmel über seinen Escutcheon und verbarg so die grünleuchtenden Scheiben darauf.

Wieder saß er im Zug am Fenster, die Kapuze ins Gesicht gezogen, und blickte hinaus. Der Regen ließ allmählich nach, der Himmel begann sich zaghaft aufzuklaren. In der Ferne tauchten die Umrisse einer großen Stadt auf. Durch die Gläser seiner Brille erkannte er die unregelmäßigen Umrisse der Dächer, Türme und Festungsanlagen der Stadt Galdoria.

Die ersten Sonnenstrahlen glitten über die noch teilweise im Schatten liegenden Dächer der Stadt und blendeten Ludowig. Er ließ seine schlaksigen Beine über den Rand des Dachs baumeln und suchte aus dieser erhöhten Perspektive die Straßen und Alleen der Stadt ab. Leise, aber doch kraftvolle Geräusche drangen an sein Ohr: Geräusche einer Parade, eines stolzen Umzugs, dessen synchrone Schritte die erst vor kurzem erwachte Stadt ganz leicht erzittern ließen.

Dann wurde er fündig. Er stand auf, stemmte sich gegen den frischen Wind, der über Galdoria hinweg zog, und kniff seine Augen zusammen. In der Nähe des Hafens, unweit der Bastion der kaiserlichen Garnison, nahm der Umzug seinen Ausgangspunkt. Er war mindestens zwanzig Steinwürfe entfernt, wenn nicht noch weiter. Doch auch von hier aus konnte er schon das Glänzen der Rüstungen und die Anmut der im Gleichschritt marschierenden Kolonne erkennen und das Trapp-Trapp ihrer Schritte, das Knattern der Fahnen im Wind und die Trompetenstöße der Herolde hören. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, und eine plötzliche Windböe brachte ihn fast um sein Gleichgewicht. Bange blickte er auf den Bucket-Weg hinab, der mehrere Stockwerke unter seinen Füßen in der Tiefe lag. Dann schwang er sich vom Dachrand und lief mit eiligen Schritten die Treppe hinunter.
 

„Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft!“ rief Nikodemus aus und hüpfte von einem Bein auf das andere. Gaubert und Dorian standen mit betretenen Mienen und verschränkten Armen daneben. Ihre Gesichter drückten eine Mischung aus leisem Ärger und Missbilligung aus. Yannick hob seine Augenbinde und ein breites Lächeln glänzte unter seinem Bart.

„Sehr gut, Nikodemus! Deine Fortschritte sind beachtlich. Jetzt müsst nur noch ihr beide es schaffen!“

Gaubert und Dorian sahen sich an und runzelten die Stirn. Nikodemus bedachte sie mit einem hämischen Blick.

„Ihr solltet vielleicht weniger Schwertkampf üben, dann wäret ihr bessere Diebe, he, he!“

Besonders Dorians Miene verfinsterte sich. Yannick steckte den mit Kieselsteinen gefüllten Beutel wieder in eine der zahlreichen Taschen seiner schon ziemlich fadenscheinigen Weste. Dann zog er sich die Augenbinde wieder vors Gesicht und verschränkte seine Arme auf dem Rücken.

„Schluss mit dem Streit. Dorian, du bist an der Reihe. Zeig mir, was du gelernt hast, und erleichtere mich um mein mühsam erarbeitetes Vermögen“, sagte er mit gespielt feierlicher Stimme. Dorian ließ seine Fingergelenke knacken, dann fasste er die vorgewölbte Tasche seines Meisters ins Auge, in dem sich der Übungsgeldbeutel befand.

Nikodemus schnitt lautlose Grimassen und streckte ihm die Zunge raus. Erst auf eine erboste Geste Gauberts hin hörte er damit auf. Dorian warf ihm noch einen finsteren Blick zu, dann begann er auf Zehenspitzen die massige Gestalt ihres Meisters zu umrunden, der mit verbundenen Augen und auf dem Rücken verschränkten Armen dastand und ‚Opfer‘ spielte.

Die Dielen unter seinen Stiefeln verursachten nicht das leiseste Geräusch. Mit aller Behutsamkeit umrundete er seinen Meister, und schließlich erstarrte er, halb auf einem Bein stehend, in einer fluchtbereiten Position und streckte seine Hand aus. Seine Finger näherten sich der vorgewölbten Tasche. Seine Augen wurden groß, seine Zunge tastete konzentriert in seinem Mundwinkel umher. Ganz sachte glitten seine Finger in den Stoff, ertasteten den mit Kieseln gefüllten Beutel und zerrten mit aller Vorsicht an ihm. Bis Meister Yannicks breite Hand vorschoss und sich um seine schloss.

Nikodemus konnte ein Lachen nicht unterdrücken, als Dorian von der Hand des wesentlich größeren Mannes empor gehoben wurde. Gaubert schüttelte langsam den Kopf, während Dorian im eisernen Griff ihres Patrons zappelte. Dieser lüftete mit der anderen Hand seine Augenbinde und blickte ihn schmunzelnd an.

„Na ja! Es ist eben noch kein Meisterdieb vom Himmel gefallen!“ Danach, wie um diese Behauptung zu unterstreichen, ließ er Dorian los, der mit seinem Hosenboden auf den Dielen ihrer Behausung landete. Dieser blickte sich betreten um und sah einen Nikodemus voller Schadenfreude, Gaubert, der sich seufzend am Kopf kratzte, und Meister Yannick, der den Beutel in seiner Hand springen ließ und sich mit der anderen auf seinen Bauch schlug, der wie eine Trommel tönte. Genau in diesem Moment stürzte Ludowig die Treppe mehr herunter, als er ging.
 

„Leute, Leute! Es beginnt!“

Dorian stand mit behäbigen Bewegungen auf und putzte sich den Staub vom Hosenboden. Sein griesgrämiger Ausdruck verriet, dass er die Begeisterung von Ludowig nicht teilte.

„Was beginnt denn…“, fragte er gelangweilt. Ludowig konnte seine Füße nicht stillhalten und klatschte voller Übermut in die Hände.

„Der Umzug zum kaiserlichen Palast! Das kann nur wegen dem Maleficium sein, nur deshalb, jawohl!“

„Vielleicht ist heute auch der Krönungstag“, warf Gaubert ein.

„Nein, nein, der war vor einem Monat“, entgegnete Ludowig. „Es kann nur um das Maleficium gehen, kein Zweifel! Habt ihr die Geschichten nicht gehört?“ sagte er wiedermal.

„Nein, haben wir nicht“, erwiderten Gaubert und Nikodemus beinahe gleichzeitig. Auf Dorians Gesicht breitete sich ein interessierter Ausdruck aus.

„Ob Maleficium oder sonstwas, das ist eine gute Gelegenheit“, brummte Yannick und ließ sich auf einem Stuhl nieder, der unter dem Gewicht knarrte. „Es finden sich sicherlich eine Menge Leute ein. Sie werden sich von der Pracht der Prozession einnehmen lassen, mit anderen Worten: sie sind gut zu bestehlen. Und bei der Gelegenheit könnt ihr auch unseren Gästen die Stadt ein bisschen zeigen.“

Er deutete auf Nadim und Iria, die bei Tisch saßen und die Zeit für ein ausgiebiges Frühstück genützt hatten. Dorian ließ seinen Blick über sie schweifen.

Nadim, der am Tag zuvor noch sehr verschreckt und kränklich blass gewirkt hatte, sah heute wesentlich frischer aus. Etwas Farbe stand auf seinen Wangen, und sein Blick, gestern noch leer und in sich gekehrt, war nun voller Leben und Neugierde. Dann wanderte sein Blick weiter zu Iria.

Besonders ihr Haar fiel ihm auf. In der Nacht zuvor hatte es pechschwarz gewirkt, doch im ersten Licht des Tages, das zaghaft durch die offenen Fensterläden fiel, nahm es eine Reihe von Farben an. Es schimmerte an seinen Rändern fast bläulich, schien im weiteren Verlauf einen goldbraunen Glanz anzunehmen, um schließlich am Haaransatz in ein sattes Schwarz überzugehen. Doch es umrahmte immer noch das selbe ernste, von Verlust geprägte Gesicht wie am Vortag. Nur war jetzt die Ermattung darin dem Ausdruck unterschwelliger Stärke und zähem Gleichmut gewichen. Wieder verharrte sein Blick länger auf ihr als beabsichtigt.

„Und nun, raus mit euch allen! Seid fleißig und erleichtert die Geldbeutel der armen, wohlhabenden Bürger unserer prächtigen Stadt! Auf dass sie sich nicht mehr so abschleppen müssen mit ihren Reichtümern, ha, ha, ha!“ lachte Yannick schallend, und sie zögerten keinen Moment, diese Anweisung auszuführen.
 

Die Sonne durchflutete die Straßen und Gassen mit ihrem Licht. Es überzog die Berge von Unrat, die umher taumelnden Betrunkenen, diese letzten Überbleibsel der letzten Nacht, mit einem freundlichem Glanz, in dem all die Armut und das Elend, das am Bucket-Weg wohnte, gleich lebensfroher und fast schon ansehnlich wirkte.

Die neuformierte Truppe ging frohen Schrittes in Richtung Sanderstraße. Nadim und Iria gingen in ihrer Mitte. Die anderen versorgten sie mit allerlei Erklärungen über die Gepflogenheiten der Stadt und seiner Viertel, den einzelnen Straßenzügen, wo sich das Stehlen besonders lohnte, und wo mangels wohlhabender Einwohner weniger.

Bald bogen sie ein in die wesentlich breitere Sanderstraße, und hier war trotz des frühen Vormittags schon die halbe Stadt auf den Beinen. Dichte Trauben aufgeregter Menschen bildeten ein Spalier, das an den Rändern der Sanderstraße des großen Ereignisses harrte.

Iria fühlte sich sichtlich unwohl in diesem Gedränge. Nadim hingegen schien die Scheu des letzten Tages völlig abgelegt zu haben. Um seine Nase schlich ständig ein schelmischer Ausdruck, und seine Hände vollführten nervöse Bewegungen, als wären sie des Stillstands längst überdrüssig.

„Das ist hier ja viel größer als Pielebott!“ bemerkte er voller Erstaunen, als sein Blick über die Menschenmenge, über die prächtigen Fassaden der hohen Fachwerkbauten und die mannigfaltigen Läden der Sanderstraße entlang schweifte. „Ein ideales Revier für einen begabten Dieb wie mich, ja, ja!“ Nikodemus und Ludowig sahen sich an.

„Zeig uns doch, was für Diebeskünste in eurem Lande üblich sind“, sagte Nikodemus mit hochgezogener Augenbraue und einem verschmitzten Lächeln.

„Aber nur zu gern!“ Schon schlenderte er auf die dichtgedrängte Ansammlung von Zaungästen und Neugierigen am Rande der Sanderstraße zu.

Sein Blick ging bald hier hin, bald dahin. Seine Hände tasteten durch die Luft und wähnten sich schon in imaginären Geldtaschen. Er machte ein paar hektische Schritte, um dann wieder abwartend zu verharren. Dorian und seine Kameraden beobachteten ihn mit sichtbarer Skepsis. Doch Nadim ließ sich davon nicht im Mindesten stören. Wie ein stolzierender Vogel näherte er sich den hintersten Reihen der Zuschauer.

Sein Kopf bewegte sich ruckartig nach allen Richtungen und sondierte die Umgebung aufmerksam. Die wenigen Wachen, die sich unter der Menschenmenge bewegten, richteten ihr Augenmerk genauso auf die zu erwartete Prozession wie die Bürger dieser Stadt, die sie eigentlich bewachen sollten, und so wähnte Nadim sich in Sicherheit.

Mehrmals holte er aus, um jedes Mal seine Hand im letzten Moment wieder zurückzuziehen. Jede plötzliche Bewegung seiner ‚Opfer‘, die alle auf den Zehenspitzen standen und versuchten, über ihre Vordermänner hinweg einen Blick zu erhaschen, schien ihn mehr zu verunsichern. Er sah bald verstohlen nach der Bande, die ihn neugierig beobachtete, bald nach den ihm den Rücken zuwendenden Menschen. Schließlich wirkte es, als könnte er sich gar nicht mehr entscheiden, wenn er bestehlen sollte.

Sie sahen ihm eine Weile zu, dann machte Dorian den ersten Schritt. Mit nachsichtiger Miene schlenderte er, gefolgt von den anderen, auf Nadim zu. Im Vorbeigehen zog er einem kleinen, dicklichen Mann die Börse aus seiner Umhängetasche. Nadim, der seine Entschlossenheit komplett verloren hatte, sah sich dann im nächsten Moment der Bande gegenüber, die ihn skeptisch musterte. Nur Iria wirkte nicht überrascht.

„Es sind wohl zu viele Leute für einen ‚begabten‘ Dieb hier, nicht?“ spöttelte Dorian, und die anderen lachten verhalten. Nadim, der sich zwischen den sie umgebenden, lautstark rufenden und sich gegenseitig wegdrängenden Bürgern dieser Stadt nervös umsah, räusperte sich verlegen.

„Die Entscheidung ist schwierig, allerdings.“ Dann kehrte die Grimmigkeit von zuvor in seine blassen Gesichtszüge zurück. „Das wäre doch gelacht, äh, ha, ha!“ lachte er gezwungen, und wandte sich unter den zweifelnden Blicken seiner neuen Freunde dem nächstbesten Bürger zu.

Entschlossenen Schrittes trat er auf ihn zu. Seine Hand glitt in die Taschen von dessen groben Mantel. Sein Besitzer bekam dies in dem Trubel gar nicht mit. Nadim kramte in der geräumigen Tasche, doch er schien nichts zu finden. Weitere Menschen, ganz auf das zu erwartende Ereignis konzentriert, strömten herbei und drängten gegen Nadim. Dieser sah sich eingeklemmt zwischen den nachdrängenden Leuten und dem massigen Körper seines Opfers, in dessen Manteltasche seine Hand immer noch steckte. Verzweifelt versuchte er sich von der Strömung der Menschenmenge zu befreien, doch die Flut der drängenden und schubsenden Leute war zu stark. Endlich gelang es ihm, sich seinen Weg frei zu rempeln. Der Mann blickte überrascht auf seine Manteltasche, in der er gerade eine fremde Hand erfühlt hatte. Nadim kam schwer atmend auf sie zu, sichtlich halb zerdrückt von der Menschenmenge.

„In Pielebott… war das… einfacher…“, keuchte er und sah sich den hämischen Blicken der Bande gegenüber. Ludowig horchte auf. Er drehte sich um, und gleichsam verstummte das aufgeregte Gemurmel in der Menschenmenge, während ein Raunen und ein vielfaches Lufteinholen hörbar anschwollen.
 

Jetzt hörten es auch die anderen. Trommelschlag, der den Schritt vorgab. Hörner, in die triumphal gestoßen wurden. Sofort liefen sie los, suchten sich eine geeignete Stelle, an der sie das Vordach eines Ladens erklimmen konnten, und beobachteten von dieser erhöhten Position aus die Parade.
 

Zuerst kamen die Trommler, überwiegend kleinwüchsige Gestalten mit kunstvoll verzierten, weißen Uniformen, die dicke Pauken und Blechtrommeln vor sich hertrugen. Das Getrommel ging synchron mit ihren ausladenden Schritten, die den Takt für die ganze Parade vorgaben. Sie schwangen ihre Schlaginstrumente mit Inbrunst, und der Rhythmus steckte unwillkürlich alle Anwesenden an.

Dahinter marschierten die Herolde und Fahnenträger. Überwiegend von hohem Wuchs, trugen sie die Flaggen der einzelnen Stadtteile und des galdorianischen Reichs mit Stolz und Würde. Ihre Harnische schimmerten in der erstarkenden Sonne und ihre Epauletten glänzten golden.

Ihnen folgten die kaiserliche Garde, dem Stolz und Aushängeschild der galdorianischen Armee. Silberne Rüstungen mit goldenen Verzierungen und Abzeichen leuchteten im Morgenlicht. Bei ihrem Anblick weiteten sich Dorians Augen.

Er verlor sich in dem Anblick dieser ehrfurchtgebietenden Krieger, die ihre blankpolierten Rüstungen mit geradezu königlicher Würde trugen und die voller Stolz ihre Waffen und Escutcheons dem Volke präsentierten. In ihren selbstsicheren Gesichtern spiegelte sich das Bewusstsein um die Höhe ihres Standes sowie die Wichtigkeit ihrer Aufgaben für das Kaiserreich.

Dorian nahm nichts mehr wahr außer diesem erhebenden Anblick. In seiner Phantasie sah er sich mit ihnen marschieren, in ihren dichtgeschlossenen Reihen, selbst in einer ihrer prächtigen Rüstungen, ein gleißendes Schwert an der Seite und einen goldenen Escutcheon an seinem Arm, der wie eine Ordensspange von seinen Taten und seinem in Feldzügen erworbenen Ruhm kündete.

„Das ist es! Das muss es sein!“ Ludowig brüllte neben ihm, dass es ihn in den Ohren schmerzte. Aus seinen Träumen gerissen, wandte er sich zu seinem Freund um, der wie von Sinnen auf die Mitte der Parade deutete, in der vier Gardesoldaten eine Kiste gemeinsam auf Schultern trugen. Sie war vollkommen verhüllt von der Flagge Galdorias und ihre Formen waren nur zu erahnen.

„Da soll dieses Maleficium drin sein?“ fragte Gaubert, doch Ludowig nahm ihn gar nicht zur Kenntnis. Sein Blick war gebannt von der Parade und dem Gegenstand, dem sie gewidmet war. Sie sahen sie vorüberziehen, und alles um sie herum gerann zu einem Durcheinander aus Hurrarufen, aus winkenden Händen, die aus der Menschenmenge ragten, aus in der Sonne glänzenden Rüstungen, und aus im Gleichschritt unter wehenden Fahnen marschierenden Stiefeln.

Nach Momenten, die ihnen wie Ewigkeiten vorkamen, war die Parade vorüber. Allmählich lösten sie sich aus ihrer Erstarrung und begannen, das Dach des hinter ihnen liegenden Hauses zu erklimmen. Nadim und Iria folgten ihnen problemlos, und so kürzten sie den voraussichtlichen Weg der Parade ab, der die Zuschauermenge in einem schwerfälligen Gewühl mit Mühe folgte.
 

Über die Dächer und Giebel eilten sie dem Zentrum der Stadt entgegen, genau wie die Parade, die von Pauken und Hörnern begleitet und von dem Jubel und der Begeisterung der Menschen praktisch dem Palast entgegen getragen wurde.

Immer wieder blickten sie in die Tiefe und sahen die Menschen, die dieser Parade zujubelten. Aber bei allem Enthusiasmus für ihre Pracht stiegen Dorian düstere Gedanken während ihrer Jagd über die Dächer von Galdoria hoch. Sie trübten seine Stimmung und schmälerten seine Freude, doch er konnte sie nicht verdrängen. Ein Krieg mit dem Nachbarreich warf seine Schatten bis hierher, und diese Menschen klammerten sich an die Zurschaustellung militärischer Stärke wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Doch schließlich ließ dieser betrübliche Gedanke nach, und sie erreichten das Dach eines Hauses direkt am Platz vor dem Palast.

Ganz am Rande des Daches des Gebäudes, dessen Fenster allerlei Fahnen und Wimpeln gehisst trugen, harrten sie aus und sahen mit an, wie die Parade den Platz erreichte. Soldaten am Straßenrand drängten die Menschenmenge zurück. Die Parade selbst teilte sich mit disziplinierten Manövern in mehrere Teile auf, die jede für sich einen ihr zugeteilten Platz einnahm. Bald standen alle Abteilungen und Marschkolonnen in strenger Ordnung auf dem Platz aus weißen Steinornamenten und erwarteten ihren Kaiser.
 

Sämtliche Formationen waren zum Stillstand gekommen, und die Abteilung mit der in die Flagge gehüllten Kiste stand in ihrem Zentrum. Dorians Blick glitt über die Reihen der Gardesoldaten, traf die auf Podesten errichteten Lautsprecher, von denen dicke Kabelstränge wegführten, und erreichte schließlich die von Soldaten zurückgehaltene, in gespannter Erwartung verharrende Menge. Es war ein Meer aus Köpfen, mit und ohne Hüte, aus Perücken wie auch Glatzköpfen, das sich unter ihnen bis an den Rand des Platzes erstreckte.

Dann hob er den Blick auf die Fassade des Palasts, der sich wie ein Tempel aus weißem Marmor, aus hohen, verzierten Toren und in den Himmel ragenden Türmen seinen Anhängern präsentierte. Sein Augenmerk verharrte auf dem Balkon, der hoch über dem gut bewachten Tore hing. Ein schwerer Vorhang aus rotem Samt versperrte die Sicht in die dahinterliegenden Gemächer, und nur seine Phantasie konnte ihm sagen, was sich dahinter verborgen mochte, wie ein Kaiser wohl hausen würde. Er blinzelte, als mehrere Gardesoldaten mit besonders prächtigen Rüstungen durch den Vorhang traten und ihn mit würdevollen Bewegungen zur Seite schoben. Der Raum dahinter blieb im Zwielicht. Nur undeutlich konnte er Möbel und Wände darin erkennen. Schließlich kam eine Gestalt aus dem Raum und trat an den Balkon. Die Gardesoldaten nahmen schlagartig eine noch ehrerbietigere Haltung an, als hätte jemand ruckartig an einem Faden gezogen, der direkt durch ihre Rüstungen ging.

Die Gestalt trat an den Balkon, stützte ihre in weiße Handschuhe gehüllten Hände auf das Marmorgeländer und blickte mit sorgenvollem Blick in die Tiefe. Das Volk jubelte und die Wachsoldaten hatten alle Mühe, die begeisterte Menge zurückzuhalten. Dorian kniff seine Augen fester zusammen, um die Person besser erkennen zu können.

Kaiser Modestus der Dritte war ein Mann mittleren Alters, der seine Jugendzeit erst vor kurzem beendet hatte. Sein schwarzes Haar war sorgfältig gekämmt, auf seinem Scheitel nach hinten, an seinen Schläfen jedoch nach vorn, was seinem Antlitz zusammen mit seinem energischen Kinn einen drängenden Ausdruck verlieh. Auf seinem Haupt ruhte ein vergoldeter Lorbeerkranz, der einen seltsamen Kontrast zu der schlichten, weißen Uniform, die ohne jede Zeichen von Prunk auskam, bildete. Unter diesem Kranz, der mehr ein mühevoll zu tragendes Gewicht denn ein Zeichen der Hoheit für ihn zu sein schien, standen bekümmerte, fast traurige Augen unter dunklen Brauen. Sie wirkten deutlich älter als der Rest des Gesichts. Und nun tasteten sie über die Menschenmenge, die ihm voller Begeisterung zujubelte, und sie schienen zu fragen: Meint ihr wirklich mich?
 

„Das ist er, das ist Kaiser Modestus“, rief Ludowig aufgeregt. Es klang, als würde er seinen Kameraden eine überraschende Neuigkeit mitteilen.

„Der sieht aber alt aus“, meinte Nikodemus. „Dabei ist er noch keine Vierzig.“

„Wenn dein Vater vor einem Jahr gestorben wäre, würdest du auch älter aussehen“, entgegnete Gaubert.

„Mein Vater IST gestorben, genau wie auch deiner“, gab Nikodemus schnippisch zurück.

„Ja, aber davon haben wir alle nicht viel mitgekriegt.“

„Jetzt seid mal leise!“ fuhr Ludowig dazwischen. „Er fängt mit seiner Rede an!“

Dorian verfolgte diese Auseinandersetzung schmunzelnd. Sein Blick glitt wieder zu Nadim und Iria. Nadim langweilte sich sichtlich und schien sich insgeheim auch über sein Versagen sowie die Blamage zuvor zu ärgern. Iria hingegen beobachtete das Geschehen aufmerksam und konzentriert. Sie sagte kein Wort, doch es war ihr anzumerken, dass sie sich jedes Detail einprägte, als wäre dies von großer Bedeutung für sie.

Dann richtete er den Blick wieder auf den Balkon, von dessen Unterseite die Flagge Galdorias in gigantischer Ausführung viele Meter in die Tiefe hing und vom Winde sanft bewegt wurde. Einer der Gardesoldaten stellte ein Mikrofon vor den Kaiser, was dieser gar nicht zu bemerken schien. Dann wich er eilig zurück, als würde ihm seine Ehrfurcht vor ihrem Herrscher ein längeres Verweilen in seiner unmittelbaren Nähe nicht erlauben. Der Kaiser führte eine Hand zum Mund und räusperte sich, dann begann er zu sprechen.

„Mein geliebtes Volk von Galdoria…“ Seine Stimme wirkte jünger als seine Erscheinung. Sie schien einem halbwüchsigen Knaben zu gehören, und nach einer kurzen Pause, in der er offenbar seine Gedanken geordnet hatte, sprach er weiter. „Unser Reich macht eine schwierige Zeit durch, wie ihr alle wisst. Unser Nachbar, Mosarria, mit dem wir lange Zeit Frieden hatten, mobilisiert erneut seine Armee, um unsere Grenze zu bedrohen. Keinen Moment zweifle ich am Mut, an der Tapferkeit, und an der Opferbereitschaft unseres tapferen Heeres. Auch zweifle ich nicht an der Unterstützung, die es von euch erhält. Ihr, geliebtes Volk von Galdoria, seid der Körper, an dem der starke Arm unseres Heeres sitzt, das euch bis zuletzt verteidigen wird.“

Es entstand wieder eine kurze Pause. Modestus senkte sein Augenmerk, das ins Leere zu gehen schien. Zwei der Gardesoldaten auf dem Balkon wechselten besorgte Blicke, wie Dorian zu erkennen glaubte. Vereinzelte Stimmen klangen aus der Menschenmenge. Dorian konnte die Worte nicht verstehen, es schien aber eine leise Unruhe unter den Leuten zu erwachen. Dann sprach der Kaiser weiter, diesmal mit lebhafterer Stimme als zuvor.

„Wir haben aber einen Trumpf auf unserer Seite, mein geliebtes Volk! Tapferen Soldaten meiner Garde ist es gelungen, einen Schatz aus den Tiefen unseres Nachbarlandes zu bergen, der diesem Krieg die entscheidende Wendung wird geben können. Es ist das sagenumwobene Maleficium, das sich nun in unseren Händen befindet!“

Er deutete in die Tiefe, wo die Abteilung mit der Kiste stand, und erneut brandete Jubel im Volk aus. Dorian fasste die Kiste ins Auge, von der nicht mehr zu sehen war als die Flagge ihres Reichs, in die sie gehüllt war, um den Besitzanspruch zu unterstreichen.

Jeder kannte die Gerüchte und Erzählungen. Bis zurück in die Zeit des letzten großen Krieges vor bald zwei Jahrzehnten gingen sie, und sie kündeten immer von einer geheimnisumwitterten Macht, die damals auf dem Schlachtfeld zugunsten von Mosarria gewirkt haben soll. Damals hatte das galdorianische Reich eine Niederlage hinnehmen müssen. Aber auch der Sieg des Nachbarreiches war verlustreich gewesen. Es hatte nicht einmal genügend Mann für eine Besatzungsmacht aufbieten können nach diesem Krieg, in dem beide Länder fast ausgeblutet wären. Lange Jahre hatte schlimme Armut in beiden Ländern, dem Verlierer wie dem Sieger, geherrscht, und sie waren sich in einem bitteren Frieden voller Argwohn und Ablehnung gegenübergelegen. Modestus der Zweite hatte damals die Truppen befehligt, hatte sein Land aus der Asche der Niederlage zu dem heutigen Wohlstand empor geführt und den brüchigen Frieden mit dem Nachbarn gehalten. Doch Modestus der Zweite war seit einem Jahr tot, war verstorben an einer plötzlichen Erkrankung, und die Gerüchte um Gift und Verschwörung wollten kaum verstummen.

Nun führte sein Sohn das Reich. Auch wenn kaum einer der Untertanen die Politik hinter den Toren des Palastes verstand, so hatte niemand den Eindruck, er hätte den Frieden gefährdet oder gar den Krieg gewollt. Doch nun war er da, und viele erinnerten sich mit Schrecken an den damaligen Krieg, in dem zahllose Männer auf dem Schlachtfeld umgekommen und ungezählte Frauen und Kinder an Seuchen, an Hunger und am allgemeinen Elend zugrunde gegangen waren.

Vielerorts hatten sich unzufriedene Stimmen gesammelt, zuerst heimlich und später lauter, die mit dem Sohn des vormaligen Kaisers unzufrieden waren und sogar seine Abdankung forderten. Doch das Heer, das dem Kaiser die Treue hielt wie auch schon seinem Vater, unterdrückte diese Stimmen mit eiserner Faust, und so fühlte sich der Kaiser sicher auf seinem Thron.

All diese Gedanken gingen Dorian durch den Kopf, als er dem Kaiser lauschte, die Kiste mit dem mythenumwobenen Maleficium betrachtete und die neugewonnene Zuversicht der Menschen in dieser Stadt spürte.

„Mit dem Maleficium und seiner Macht an seiner Spitze wird unser Heer zum Sieg marschieren, das verspreche ich euch, geliebte Bürger! Es wird wieder Frieden geben, und diesmal wird es ein endgültiger sein. Selbst wenn ich dies durch die vollständige Unterwerfung Mosarrias sichern muss. Es wird so geschehen, das verspreche ich euch, bei dem Andenken an meinen Vater!“

Ein weiteres Male brandete Jubel auf, und das Volk schrie voller Begeisterung seinen Namen. Aus tausend Kehlen stieg er empor zu dem Balkon des Palastes und bis in den fast wolkenlosen Himmel über der Stadt, über der der Schatten eines kommenden Krieges hing.

Modestus schloss die Augen und verneigte sich leicht. Mit einem Male wirkte er müde, geradezu erschöpft, als hätte diese Rede ihm große Kraft gekostet und er die Begeisterung seines Volkes mit seiner eigenen Lebensenergie angefacht. Momente später trat er hinter den Vorhang zurück, der daraufhin eilig von den Gardesoldaten zugezogen wurde.

Dorians schaute wieder in die Tiefe. Die Kiste mit dem Maleficium wurde in den Palast getragen, und das unter dem aufmerksamen Blicken der Garde. Die Menschenmenge zerstreute sich langsam. Lichte Ströme der Bürger bewegten sich zurück in die Stadtteile, aus denen sie zu diesem denkwürdigen Ereignis herbeigeströmt waren.
 

Schweren Schrittes kehrte Kaiser Modestus in den Raum hinter dem Balkon zurück. Seine Beine fühlten sich wie Blei an, und die Erschöpfung zerrte an jedem seiner Schritte. Er durchquerte den Raum, kam an mehreren ebenso stummen wie ehrerbietigen Wachen vorbei und erreichte schließlich einen Salon neben seinem Arbeitszimmer, den er für weniger förmliche Besprechungen nutzte.

Der Raum hatte keine Fenster nach außen. Seine Wände waren mit schwerem Samt und goldenen Verzierungen beschlagen, die im Licht der an der Decke verteilten Glühdrahtlampen glänzten. Möbel aus massivem, nachgedunkeltem Holz standen an den Wänden. Stühle mit hohen Lehnen, breite, weich gepolsterte Feuilletons und Schemel zum Abstützen müder Beine waren in reicher Zahl vorhanden. In einer Ecke stand sogar ein Klavier, über dem jedoch ein Tuch hing, das nahelegte, dass es mehr aus dekorativen Zwecken im Raum stand denn als Musikinstrument.

In einer kraftlosen Bewegung ließ Modestus sich auf eines der Feuilletons fallen. Die weiche Polsterung fing ihn sanft ab, und er schwang seine Beine auf einen bereitstehenden Schemel mit derselben roten Polsterung. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Einen Moment später öffnete sich die Tür. Jemand, dessen Kommen er offenbar schon erwartet hatte, trat ein, flüsterte noch etwas zu einer Wache, die vor der Tür stand, und schloss sie dann lautlos.

„Wie haben sie es aufgenommen, Gildenstern? Was ist dein Eindruck?“ fragte Modestus müde und gähnte nach diesen Worten.

Jan Gildenstern trat nach vor, blickte mit förmlicher Miene ins Leere und räusperte sich verhalten. Das allzu legere Verhalten seines Kaisers schien ihn leicht verlegen zu machen, wenngleich seine ehrerbietige Haltung zeigte, dass er sich nicht in der Position fühlte, ihn in irgendeiner Weise zu tadeln.

„Meine Hoheit, daran besteht kein Zweifel; ihr habt das Vertrauen eures Volkes zurückerrungen“, sagte er mit ruhigen, wohlgewählten Worten.
 

Modestus öffnete die Augen und blickte seinen wichtigsten Minister an. Jan Gildenstern war nicht viel älter als er selbst, eine Dekade vielleicht. Aber schon hatte er seinen Platz behauptet im kaiserlichen Beraterstab, und er musste sich selbst gegenüber eingestehen, dass er sein Urteil am meisten schätzte von allen. Obwohl ihm die anderen Mitglieder des Stabes an Alter und auch an Erfahrung überlegen waren, so unterschied ihn doch etwas von den anderen.

Gildenstern erwiderte seinen Blick nicht. Eine Weile ließ Modestus den Blick auf dem Mann mit den kurzen, strohblonden Haaren verweilen. Seine Haare hingen in kurzen Strähnen über seine immer leicht gerunzelte Stirn und wurden zum Scheitel hin schütter; es wirkte fast wie eine Tonsur. Seine kargen, fast weltabgewandten Züge verstärkten den mönchshaften Eindruck noch. Seine Kleidung war ein schlichtes Gewand ohne höfischen Prunk. Nur der schimmernde Harnisch der Garde unter seinem Umhang war ein Zugeständnis an seinen Posten als Oberhaupt der Palastwache, wenngleich dieser Posten mehr repräsentativer Natur war. Ein schmaler Bart von ebenso hellblonder Farbe umgab seinen Mund, aus dem er schon so manch wertvollen Rat erhalten hatte.

Es war wohl genau das, was ihn unterschied, dachte sich Modestus in diesem Moment. Während der Rest des Beraterstabes ihn im Zweifelsfalle immer in seiner vorgefassten Meinung bestärkte und keiner von ihnen mit Schmeicheleien sparte, so scheute Gildenstern sich nicht davor, unangenehme Wahrheiten auszusprechen und dem Kaiser auch zu widersprechen, sollte er sich seiner Ansicht nach tatsächlich in ein Fehlurteil verrannt haben.

„Ich habe also das Vertrauen des Volkes zurückerrungen. Ich… oder das Maleficium. Seine Wirkung ist schon erstaunlich.“

„Es ist sicher nicht nur das Maleficium, eure Hoheit. Wenngleich seine Eroberung zu keinem besseren Zeitpunkt hätte stattfinden können“, sagte Gildenstern, und in seiner sonst so gefassten Stimme klang tatsächlich Erleichterung mit.

„Wie steht es eigentlich an der Front? Ich habe heute schon mit den Generälen gesprochen… aber ich möchte deine Einschätzung hören.“

Auf dieses Wort hin setzte Gildenstern sich in Bewegung. Die Arme auf dem Rücken verschränkt, begann er vor dem Kaiser auf und ab zu gehen. Sein Oberkörper war dabei leicht vorgeneigt, als ging er bergauf. Gildensterns Blick ging zu Boden, als müsse er auf Hindernisse achten, und der schwere Teppich unter seine Stiefeln schluckte ihr Geräusch vollkommen.

„Wenn ihr mit den Generälen schon gesprochen habt, dann wisst ihr, dass Mosarrias Truppen auf dem Vormarsch sind. Ihr wisst auch, dass sich unser Heer eine gedachte Verteidigungslinie zwischen den Ausläufern des Barantir-Gebirges und den Wäldern von Kerlon einnehmen will. Es gab zwar anfängliche Gebietsgewinne um die Stadt Pielebott, aber der Generalstab will von seiner Verteidigungsdoktrin nicht ablassen. Nach wie vor möchte er den Feind herankommen lassen und erst jenseits des Rhemarn-Flusses zum Kampf stellen.“

„Ja, das weiß ich.“ Modestus nickte müde, wie um zu zeigen, dass er in seinem momentanen Zustand einer bloßen Wiederholung von dem, was er ohnehin wusste, überdrüssig war.

„Der Generalstab ist sich sicher, dass das mosarraianische Heer auf diesem Weg seine Linien zu breit wird werden lassen und die Verteidigung ohne große Verluste gelingen wird.“

Er hielt einen Moment Inne, und Modestus hob eine Augenbraue.

„Ja?“

Gildenstern setzte seinen Weg fort, doch von nun an bedachte er den Kaiser mit eindringlichen Blicken, die ganz im Kontrast zu seinem bisherigen zurückhaltenden Auftreten standen.

„Ich halte das für vermessen, eure Hoheit. Das Heer von Mossaria hat den Krieg von damals noch gut in Erinnerung; es wird dieselben Fehler nicht zweimal machen. Es wird nicht auf Finten hereinfallen, die nur beim Manöver im Übungsgelände funktionieren. Wenn der Generalstab in Mosarria nur einen Funken Verstand und Geduld hat, so wird es diesen Plan durchschauen, und wir werden mit dieser Verzögerungstaktik noch mehr Boden und Städte preisgeben.“

„Was schlägst du vor? Du weißt, dass der Generalstab in unserem Reich seit jeher sehr eigenständig agiert, und ich ohne weiteres nicht ihre ganze Taktik ändern kann. Mein seliger Vater…“ Sein Blick verlor sich einen Moment in trüben Erinnerungen, dann richtete er sich wieder auf seinen Berater. „Mein Vater hat das eingerichtet, und ich kann die Statuten unseres Reiches nicht ohne weiteres abändern. Würdest du diesen Schritt empfehlen?“

Modestus blickte ihn erwartungsvoll an. Seine Unsicherheit leuchtete aus seinen Augen, und Gildenstern schwieg einen Moment, als würde er einen inneren Zwist ausfechten.

„Nein, euer Hoheit. Das kann ich nicht wirklich raten. Die traditionellen Strukturen unseres Heeres in Zeiten wie diesen aufzubrechen, könnte sich fatal auf die Moral der Truppen auswirken. Bevor wir diesen Schritt wagen, sollten wir erst die Möglichkeiten des Maleficium ausschöpfen. Seine Inbesitznahme hat einiges an Blut gefordert; wir dürfen es nicht ungenützt lassen.“

„Ja, das ist wahr. Aber was wissen wir denn überhaupt über seine ‚Möglichkeiten‘?“ fragte Modestus müde lächelnd.

„Nun, die eigentliche Forschung beginnt wohl erst. Leider ist es unseren Agenten nicht zugleich auch gelungen, die verbliebenen Aufzeichnungen des heiligen York mit zu entwenden. Sie wären sicher sehr hilfreich gewesen, aber was diese betrifft, so ist uns wohl jemand zuvor gekommen.“

„Nun ja… ich hoffe, unsere Gelehrten werden anderweitig das Potential dieses Gegenstandes erschließen können“, sagte Modestus in einem Ton, der weniger müde klang und eher seinem Titel als Kaiser entsprach und nichts anderes als Zustimmung erwartete.

„Gewiss, eure Hoheit. Unsere Gelehrten haben unmittelbar nach Ankunft des Maleficium ihre Forschungen begonnen. Bald werden wir deutlich mehr wissen. Eines muss ich aber anmerken…“, begann er zögerlich, bevor er mit festerer Stimme weitersprach. „Ich weiß, dass ihr persönlich Sorge getragen habt, was die Unterbringung des Maleficium in der Schatzkammer unter dem Palast angeht. Aber ich muss an dieser Stelle Bedenken äußern.“

„Und die wären?“

Gildenstern blieb stehen. Er wandte sich dem Kaiser zu, und seine im Rücken verschränkten Arme schienen seine Brust rauszudrücken. Er hob das Kinn an; fast wirkte dieses ganze Gehabe so, als wollte er eine Herausforderung aussprechen.

„Auch wenn der eigentliche Wert des Maleficium sich noch unserer Kenntnis entzieht, so gibt es keinen Grund, seine Sicherheit zu vernachlässigen. Es ist mir ein Anliegen, nachdem es unter meiner Weisung requiriert wurde, das Risiko möglichst niedrig zu halten. Es scheint mir, dass wesentlich höhere Sicherheitsmaßnahmen möglich wären, eure Hoheit.“

Modestus erwiderte seinen strengen Blick, der gegen Ende der Rede aber wieder an Sanftheit und Zurückhaltung gewann. Er ließ mehrere Momente verstreichen, bevor er ihm antwortete.

„Ich weiß deine Bedenken zu schätzen, werter Gildenstern. Aber sei beruhigt, das Maleficium ist in Sicherheit. Die Garde bewacht den Palast nach besten Kräften, und es gibt keinen Grund, mehr von ihnen als nötig an die Bewachung des Maleficium zu binden. Hat in den letzten Jahren jemand erfolgreich in den Palast eingebrochen? Eben.“ Er nickte seinem Berater zu, und angesichts der Überzeugung, die aus seinen Worten klang, senkte Gildenstern pflichtbewusst den Blick. „Mehr Gedanken macht mir da diese Bewegung im Volk, die sich gegen meine Herrschaft richtet.“ Nun legte sich ein Schatten der Sorge über seine Stimme. „Heute haben alle gejubelt, das ist wahr. Aber es gibt auch andere Stimmen, die heute zwar geschwiegen haben, die mir aber weniger freundlich gesonnen sind.“

„Ihr meint die Geschichten über eine Widerstandsgruppe im Volk.“

„Ist es wirklich nur eine Geschichte?“ entgegnete Modestus. Er vollführte dabei eine Geste der Ratlosigkeit. „Ich denke nur an die Sabotageakte an der nördlichen Bahnlinie und an die Flugblätter, die in den Städten Gilgit und Brimora verteilt wurden. Man könnte es als Kleinigkeiten abtun, aber wer weiß? Wenn sich der Krieg nicht bald zu unseren Gunsten wendet, könnten diese Provokationen auf fruchtbaren Boden fallen.“

Modestus schloss die Augen und lehnte sich wieder zurück. Der bloße Gedanke an derartige Schwierigkeiten schien seine Ermattung zu verstärken.

„Nun, wir sollten diesen Aufrührern nicht zu viel Beachtung schenken. Gleichwohl sollten wir sie nicht völlig aus den Augen lassen, denn, wie ihr sagt… wer weiß, was die Zeit uns noch bringt.“

Gildensterns Blick ruhte auf seinem Kaiser, der mit geschlossenen Augen, die Hände vor der Brust gefaltet und mit hochgelagerten Beinen dasaß. Er sagte nichts mehr, und seine erschlaffte Mimik legte den Schluss nahe, dass er schlief oder kurz davor stand, einzuschlafen.

„Eure Hoheit, ich empfehle mich.“ Modestus nickte ihm zu, ohne die Augen zu öffnen, und sein wichtigster Berater ließ ihn allein.
 

Über der Festung lag Nebel, der seine feuchten Finger nach den hohen Türmen ausstreckte, mit ihnen über die weißen Mauersteine tastete und in die Kleidung der Wachen vor dem Tor kroch.

Ein blasser Mond leuchtete durch die Wolken, drang aber kaum durch den dichten Bodennebel. Es war bereits weit nach Mitternacht; aber der Herr der Festung erwartete Besuch.

Den Wachen, die das Tor flankierten, war der Widerwillen auf ihren Gesichtern anzusehen. Es war feucht und kalt in dieser Nacht, und der ‚Gast‘ ließ auf sich warten. Doch der Schlossherr hatte befohlen, bis zu seiner Ankunft auszuharren. Die Scheinwerfer auf der Mauerkrone durchdrangen den Nebel nur schwach. Ihre Kegel reichten nicht weit vor das Tor. Der Nebel schien nicht nur das Licht, sondern auch den Schall zu schlucken. So hörten sie das Brummen seiner Maschine erst im letzten Moment.

Sie rollte aus dem Nebel auf sie zu, und ihr Scheinwerfer schnitt eine schmale Bahn von Licht in den Nebel. Die Haltung der Wachen straffte sich. Die Maschine rollte langsam an ihnen vorüber und so erkannten sie den Sohn des Schlossherrn. Das Tuckern des zweirädrigen Gefährts, dessen langgezogene Form an eine kampfbereite Echse erinnerte, hallte in ihren Ohren nach der Stille der Nacht. Im Vorbeifahren erkannten sie das Gesicht des Gastes unter seiner Windschutzbrille. Lange, blonde Haare wurden von ihr festgehalten, und von dem breiten Schwert auf seinem Rücken tropfte kondensierte Nässe des Fahrtwindes.

„Euer Sohn ist soeben eingetroffen, Fürst“, murmelte eine der Wachen in das Funkgerät, das sie an ihrer Rüstung trug. Die beiden Wachen wechselten einen vielsagenden Blick, als das Tuckern der Maschine im Hof heiser wurde und schließlich erstarb.
 

Hargfried von Lichtenfels stellte das Gefährt ab und wuchtete es auf den Ständer. Der Motor blubberte noch ein paar Momente, dann kehrte wieder die nächtliche Stille in den Innenhof der Burg zurück. Gedankenverloren fuhr Hargfried mit der Hand über den noch warmen Motor, dann nahm er seine Windschutzbrille ab.

Er strich sich sein langes, blondes Haar aus dem Gesicht. Seine stahlblauen Augen sahen sich um, als sähe er diesen Ort zum ersten Male. Dann erst schien er die Burg seines Vaters wieder zu erkennen, die Burg, in der er aufgewachsen war. Er lachte leise, es klang aber nicht fröhlich.

Quer über sein Gesicht, von seiner Stirn bis hinab zum Kinn, zog sich eine auffällige Narbe. Aber nicht sie entstellte eigentlich sein ansonsten makelloses Gesicht, vielmehr war es der Ausdruck um seinen schmallippigen Mund und in seinen Augen, der sein wohlgeformtes Äußeres abstoßend machte und die Menschen um ihn herum zurückweichen ließ. Dieser Ausdruck kündete von dem Vulkan, der unter der Oberfläche seiner beherrschten Fassade lauerte. Nur die wenigsten wussten, dass er diese Narbe nicht vom Schlachtfeld davongetragen hatte, sondern sich während einem seiner Anfälle selbst beigebracht hatte.

Er trug die Rüstung, die ihm sein Vater anlässlich seines Ritterschlags geschenkt hatte. Dies lag schon mehrere Jahre zurück, in einer glücklicheren Zeit als der jetzigen. Das Metall machte leise Geräusche bei jedem Schritt, die von der Güte der Gelenkverbindungen zeugten. An seinem rechten Arm saß ein Escutcheon, von derselben Machart wie die Rüstung und auch genauso edel ausgeführt. Zwei volle Kreise leuchteten in einem hellen Grün, und ein dritter schien bald voll zu sein wie der Mond, der über der nächtlichen Burg hing.
 

Seine Schritte hallten durch die Korridore der Burg. Sein Schatten flackerte an den Wänden im Schein der Glühdrahtlampen, die in ihrer Form den althergebrachten Harzfackeln nachempfunden waren. Er schritt vorbei an langen Gobelins, die von der Geschichte ihres Fürstengeschlechts kündeten. Hargfried beachtete sie jedoch nicht, ebenso wenig wie die Gemälde seiner Ahnen, die prächtigen Turnierrüstungen und die wenigen Bediensteten, die zu dieser Stunde noch auf den Beinen waren. Diese verneigten sich bei seinem Anblick, um dann mit leisen Schritten das Weite zu suchen. Geradeso, als ob sie etwas ahnen würden.
 

Fasolt von Lichtenfels saß im Salon der Festung, an einem der besser geheizten Orte. Die hohen Fenster und die massiven Steinmauern machten es fast unmöglich, für gleichmäßige Wärme innerhalb der Burg zu sorgen. Deshalb trug er einen gefütterten Mantel über seiner Standestracht. Als sein Sohn den Raum betrat, schien die Temperatur abermals zu sinken. Fasolt blickte von seinem Buch auf und legte es zur Seite.

„Hargfried. Da bist du ja.“

Sein Sohn ging an ihm vorbei, schenkte ihm einen verschmitzten Blick und trat an eines der hohen Fenster, durch dessen in Zinn gefasstes Glas der Mond zu sehen war.

„Ja, da bin ich…“, antwortete er mit einer sanften Stimme, die seiner Jugend angemessen schien. „War ich denn überhaupt weg?“ fügte er leise lachend hinzu. Sein Vater ignorierte diese sinnfreie Erwähnung und sprach weiter.

„Wie sieht es an der Grenze aus, mein Sohn? Respektieren die Truppen von Mosarria immer noch unser Gebiet?“

Seine Stimme klang, als erwartete er keine offene Antwort, sondern eine klare Betätigung.

„Ja, Vater. Ihre Lager sind mehrere Meilen von der Grenze entfernt, und ihre Marschlinie umgeht unser Gebiet vollständig“, erklärte er in einem zuvorkommenden Tonfall, der fast wie der eines Kindes wirkte und nicht wie der eines jungen Mannes. Sein Vater, ein Mann mit dunklen Haaren und ernsten Augen, dessen Gesicht von einem schmalen Bart umrahmt wurde, blickte ihn mit einer Mischung aus Nachsicht und Bedauern an.

„Das ist gut. Unser Herzogtum hat seit jeher gute Beziehungen zu allen Nachbarn, und immer waren wir neutral…“

„Oh ja, Vater, das waren wir…“, erwiderte er in einem nicht ernst klingenden Ton, und abermals tönte seine schwindende geistige Gesundheit durch diese Worte. Fasolt atmete geräuschvoll ein und seufzte, bevor er weiter sprach.

„So wie die Dinge stehen, gibt es keinen Grund zur Sorge um das Herzogtum. Deshalb möchte ich dir nochmal empfehlen, dich… zu erholen. Ich kenne sehr erfahrene Gelehrte in der Stadt, die dir gern helfen würden- “

„Helfen? Wobei denn?“ entgegnete Hargfried scharf. Er blickte seinen Vater nun direkt an, und aus seinen eisblauen Augen sprach mühsam unterdrückter Zorn. Wie um ihn abzuschwächen, glätteten sich die Züge seines Vaters und nahmen einen nachsichtigen Ausdruck an.

„Wir beide wissen, dass du Hilfe brauchst. Es war nicht leicht für dich, nach dem Tod von Sieglinde, deiner Mutter- “

Die Stimme versagte dem Fürsten von Lichtenfels, und er senkte den Blick. Hargfried tastete bei diesen Worten nach der auffälligen Narbe auf seinem Gesicht. Seine Miene nahm einen verlorenen Ausdruck an.

„Mutter…“, sagte er leise, und seine Augen schienen ein Gespenst der Vergangenheit zu erblicken. Dann wurde der Ausdruck in ihnen wieder fest. „Es geht mir gut, Vater. Damals…“ Wieder betastete er die Narbe, die eine stumpfe Schneide in seinem bis dahin hübschen Gesicht gezogen zu haben schien. „Damals war ich verwirrt. Das bin ich nun nicht mehr, Vater. Glaub mir, es geht mir gut.“ Ein Lächeln, durch dessen Ritzen Lichtstrahlen aufkeimenden Wahnsinns fielen, breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Bist du dir sicher? Diese Stimmen, von denen du damals gesprochen hast… Sie sind verstummt, nicht wahr?“ fragte er mit einem Ausdruck, als fürchtete er die Antwort.

„Ich höre sie nicht mehr, Vater. Du machst dir wirklich umsonst Sorgen“, erwiderte Hargfried.
 

Hinter seinem nach außen hin fröhlichem Gesicht tobten wieder die Dämonen der Vergangenheit, die Geister, die ihm Ungeheuerliches zuflüsterten. Die ihn zu Dingen drängten, die ihm beängstigend, geradezu furchtbar, vorkamen… und die ihm zugleich, je länger er sie hörte, immer richtiger, immer notwendiger erschienen. „Aber wegen etwas anderem mache ich mir Sorgen. Im Moment respektieren sie unsere Grenze, aber wir sind nur ein kleines Herzogtum, und wer weiß, ob sich Mosarria uns nicht doch irgendwann einverleiben will?“

„Das bezweifle ich. Seit jeher haben wir ein gutes Einvernehmen mit diesem Reich, und wir waren… immer neutral…“ Sein Blick fiel auf seinen Sohn, und schleichende Unruhe warf seine Stirn in Falten.

„Das Maleficium soll sich in Galdoria befinden, so erzählt man sich“, sagte Hargfried im Plauderton, hinter dessen Fassade ungezügelte Neugier tobte.

„Wie gesagt, wir mischen uns da nicht ein“, bekräftigte sein Vater, und Hargfried merkte ihm sein Unbehagen an. Er zweifelte nicht daran, dass seine Gegenwart das auslöste.

„Ich bin trotzdem dafür, dass wir es uns holen. Wenn es erst in unserem Besitz ist, wird es sicher niemand mehr wagen, unsere Grenzen zu bedrohen“, lachte Hargfried, als wäre ihm ein besonders gelungener Scherz geglückt.

„Das ist nicht dein Ernst. Damit würden wir erst recht riskieren, in diesen unseligen Krieg hineingezogen zu werden. Das kannst du nicht ernst meinen“, wiederholte er, und aus seinem Blick schwand die Hoffnung, sein Sohn könne das verstehen.

„Warum nicht? Warum nicht…?“ flüsterte Hargfried. Seine Stimme erstarb, Verzweiflung machte sich auf seinen verloren wirkenden Zügen breit. Wieder lärmten die Dämonen hinter seiner Stirn, jene Dämonen, die nach dem Tod seiner Mutter aufgetaucht waren und seither wie ein boshafter Schatten über seiner Seele lagen. Jene Dämonen, die ihm immer wieder Dinge einflüsterten, gegen deren Stimmen keiner der Ärzte am Hofe seines Vaters ein Mittel gewusst hatte und die zu einem unterschwelligen Gast in seinem Kopf geworden waren.

Hargfrieds Blick glitt empor. Er traf das Gemälde an der Wand des Salons, das ihn, seinen Vater und seine Mutter zeigte. Seine Mutter, deren Gesicht er noch so deutlich in Erinnerung hatte. Ihre Augen, ihr Lächeln… das auf immer aus seinem Leben entschwunden war. Das nur noch als kaltes, totes Bild an der Wand existierte. Sein Blick traf wieder seinen Vater. Dieser bewegte seine Lippen, doch er hörte ihn nicht. Er hörte stattdessen die Stimmen, die flüsterten, die verlangten, die schrien, unablässig, fordernd.

Seine Hände wanderten an seine Schläfen. Heute war es besonders schlimm, so schlimm wie schon lange nicht mehr, so schlimm wie seit jenem Tage nicht mehr, an dem er mit einer Glasscherbe versucht hatte, sein eigenes Gesicht zu zerschneiden.
 

„Hargfried? Hargfried, mein Sohn!? Was ist mit dir?“

Aufkeimende Panik klang aus Fasolts Stimme. Er sprang auf, ging auf seinen Sohn zu und packte seine Hände, die zitternd an seinen Schläfen lagen. Seine Augen waren halbgeschlossen und aus seinem Mund klang leises Wehklagen. Fasolt redete auf seinen Sohn ein, doch dieser erwiderte seinen Blick nicht, sondern starrte ins Leere, während die Stimmen in seinem Kopf schrien, befahlen und verlangten.

Der Lärm ihrer durcheinander tönenden Rufe wurde immer schlimmer. Hargfried öffnete seine Augen und sah seinen Vater, der ihn schüttelte, der auf ihn einredete, dessen Worte aber nicht mehr zu ihm drangen, als spräche er au großer Entfernung. Hargfrieds getrübter Blick ging zum Gemälde an der Wand, wo er seine Mutter sah, deren Mund sich bewegte, die ebenfalls zu ihm sprach und einstimmte in den Wirbel all der Befehle und Rufe in seinem Kopf, die immer unerträglicher wurden.

Er schrie, er jammerte, er weinte, aber der Schmerz ließ nicht nach, die Rufe wurden nicht leiser, ihre Worte verloren nichts von dem Hass, vor dem sie trieften. Sein gesamter Horizont gerann zu einem Chaos boshafter Worte, tückischer Verlockungen und mahnender Schelte. Sie schlugen über ihm zusammen wie Wellen eines Meeres aus fieberndem Wahn, und inmitten dieses Sturms aus lachenden und verhöhnenden Stimmen schwamm eine Planke, an die er sich klammern konnte, die Linderung vor den furchtbaren- den furchtbaren und unerträglichen- Qualen versprach. Er gehorchte dieser Stimme und nahm sein Schwert vom Rücken.
 

Sein schleppender Gang führte ihn aus dem Salon. Seine Füße wogen wie Blei an seinen Beinen und seine Arme schmerzten. In der rechten hielt er immer noch sein mannshohes Schwert, das er am Boden scharrend hinter sich her zog. Es hinterließ eine Spur dunklen Bluts, das bis auf das Gemälde ihrer Familie gespritzt war.

Er blickte auf die Steinplatten, über die er schritt, und sein Kopf war völlig leer. Keine Stimmen mehr und keine Schmerzen. Das, was er getan hatte, blieb hinter einem dicken Vorhang verborgen, den sein Wahnsinn über all das ausgebreitet hatte, was soeben passiert war. Er schritt vorbei an leblosen Körpern, ihren ausdrucklosen Gesichtern und wich ihren anklagenden Blicken aus. Es schien ihm, als galten diese Blicke jemand anderen, demjenigen, der all dies getan hatte, doch die tröstliche Einsicht, dass unmöglich er dies gewesen sein konnte, legte sich wie eine lindernde Hand auf sein fiebriges Gemüt.
 

Die kalte, feuchte Nachtluft strich über sein Gesicht, woraufhin er wohltuende Linderung empfand. In der spürbar kälteren Luft als innerhalb der Burg merkte er erst, dass sein Gesicht tränenüberströmt war. Er betastete sein Gesicht und betrachtete die aufgefangenen Tränen wie rätselhafte Kleinodien, deren Herkunft er sich beim besten Willen nicht erklären konnte.

Er fühlte sich so frei wie lange nicht mehr. Eine gewaltige Last schien von seinem Herzen gefallen zu sein, die ihn über Monate und Jahre hin gequält und gepeinigt hatte. Er atmete tief durch; die fahle Mondscheibe hinter Fetzen bleicher Wolken schien ihn anzulächeln, und er lächelte zurück. Hargfried lächelte und begann schließlich zu lachen. Tränen stiegen ihm erneut in die Augen, aber diesmal vor Lachen. Sein Blick senkte sich, traf sein treues Gefährt und schließlich sein Schwert, dessen Spitze eine Spur im Kies des Innenhofs hinterlassen hatte. Er sah Schlieren dunklen Bluts daran, die sich langsam von seiner makellosen Oberfläche lösten, um im Kies zu verschwinden. Und er begann zu ahnen, dass ein Verbrechen geschehen war.

„Da ist er! Mein Gott, er ist wahnsinnig, seht, was er getan hat“, rief eine Stimme über den Hof.

Jetzt erst erreichten Hargfried wieder die Geräusche seiner Umgebung. Die Stimme klang bestürzt, geradezu schockiert, und über alle Maßen erschüttert. Hargfried drehte sich um.

Mehrere der Burgwachen kamen auf ihn zu. Sie näherten sich ihm mit gezogenen Waffen, und aus den Mienen unter ihren hochgeklappten Visieren sprach jene Fassungslosigkeit, mit der Hargfried selbst immer aus seinen Alpträumen aufgewacht war. Sie schienen Angst vor ihm zu haben; ja, er erkannte Angst in den Mienen dieser Männer, die er so gut kannte, in deren Mitte er doch aufgewachsen war.

„Alberich, Kunibert, Lothelm… was ist passiert?“ fragte Hargfried mit sanfter Stimme. Sein Augenmerk wanderte über die Männer, die ihn mit erhobenen Waffen einzukreisen versuchten und aus deren Gesichtern Angst und auch Abscheu sprach.

„Er ist nicht er selbst…“, begann einer von ihnen. „Er ist…“ Aufwallender Ekel verzerrte sein Gesicht und raubte ihm die Worte. „Bringen wir es zu Ende, Männer, bei Gott…“, flüsterte er erstickt.

Hargfried sah sich um, sein verzweifelter Blick tastete über diese Männer, die er so gut- so gut!- kannte- und die ihn jetzt töten wollten.

„Was ist mit euch, was habt ihr vor?“

Die Männer, deren fester Entschluss, ihn zu töten, aus ihren Gesichtern leuchtete, und die sich doch scheuten, den ersten Angriff zu landen- er sah sie, und seine Stimme klang wieder wie die des kleinen, verängstigten Jungen, der so oft Schutz und auch Zuflucht bei diesen Männern gesucht hatte.

Der Erste griff an, aber der Wachsoldat wagte es nicht, den Kampfdom aufzuspannen, der dann in dem folgenden Kampf die Unmöglichkeit zur Umkehr besiegeln würde. Mit einem gezwungenen Schrei und sichtbaren Widerwillen holte er aus und hieb auf Hargfried ein. Dieser riss sein Schwert empor. Funken sprühten durch die Nachtluft. Das Klirren der Waffen hallte von den Mauern des Innenhofs wieder wie eine vielfach verstärkte Anklage, die Hargfried schmerzhaft in den Ohren klang.

„Nein, nein, was- “

Schon sah er sich von den anderen bedrängt. Mit dem schweren Schwert in einer Hand wehrte er ihre Angriffe ab. In den kurzen Momenten der Schlagabtausche sah er ihre verzerrten Mienen, aus denen Entsetzen und Abscheu sprach. Die Bestürzung und auch die Überraschung wichen mit jedem parierten Hieb aus Hargfried und wurden verdrängt von gerechtem Zorn und Vergeltungsdrang.

„Ihr wart es… ihr wart es!“ brüllte er sie nun an und nahm sein Schwert in beide Hände. Er ging nun in die Offensive, und sie wichen unter seinen kraftvollen Hieben zurück. „Ihr habt meinen Vater ermordet!“ schrie er mit sich überschlagender Stimme. Die Wachen wichen unter seinen von purem Zorn geleiteten Angriffen zurück. Doch dann verharrte er in der Bewegung.

Sie waren es nicht. Den Mörder deines Vaters findest du woanders.

Hargfried erstarrte. Fast hätte er sein Schwert fallengelassen. Die Stimmen, die immer durcheinander geschrien hatten, die ihm tausend teuflische Gedanken eingeflüstert hatten, die er nie voneinander hatte unterscheiden können; sie sprachen nun mit einer Stimme, und ihr Klang traf ihn wie ein Sonnenstrahl in eisiger Nacht.

„Wer… wer bist du?“ fragte er mit zittriger Stimme. Die Wachen sahen sich an, doch Hargfried achtete ihrer nicht mehr.

Ich führe dich zum Mörder deines Vaters. Du wirst deine Rache erlangen. Durch mich.

„Du weißt… wer das getan hat?“ rief er fast panisch aus und blickte sich um, als hoffte er den Urheber dieser Worte in seiner Umgebung zu erblicken.

Ja. Ich führe dich zu ihm.
 

Hargfried schwang sein Schwert im Kreis herum, und die Wachen wichen vor dieser durch ihre Reihen pflügenden Sense zurück. In derselben Bewegung sprang er auf sein Gefährt und startete es. Er ließ das Hinterrad durchdrehen, welches den Kies des Innenhofs als scharfkantige Geschosse auf die Wachen prasseln ließ. Diese beschirmten ihre Augen vor dem Hagel mit ihren Armen. Hargfried donnerte durch das Tor und hinterließ in der Dunkelheit aufleuchtendes Auspufffeuer; die Wachen liefen im selben Moment auf die bereitstehenden Fahrzeuge am anderen Ende des Innenhofs zu.
 

Die Wälder des Herzogtums von Lichtenfels zogen an ihm vorbei als Schemen im Nebel, wie ein Spalier aus mahnenden Gestalten, die ihre Zweige nach ihm ausstreckten und ihn damit ergreifen wollten.

Der Scheinwerfer seines Gefährts gab sich alle Mühe, den Nebel zu durchdringen, aber die Schneise aus Licht, die er schlug, blieb schmal und kurz. Er raste die Straße entlang und forschte dabei in Gedanken nach der Stimme, die zuvor so klar und verständlich zu ihm gesprochen hatte.

„Wer ist der Mörder meines Vaters? Sag es mir!“ schrie er gegen den Fahrtwind an, der ihm Tränen in die Augen trieb und sein langes, blondes Haar zerzauste.

Ich führe dich zu ihm. Vertraue mir einfach.

„Das werde ich tun, das verspreche ich!“

In seine Tränen, ausgelöst von der kalten Nachtluft, die ihm ins Gesicht peitschte, mischten sich Tränen der Freude und der Hoffnung. „Ich werde ihn finden, und ich werde ihn zur Strecke bringen, das schwöre ich!“ Voller Kampflust nahm er eine Hand von der Lenkstange und ballte sie zur Faust- als ein weiteres Gefährt von hinten heran rauschte und ihn dabei fast zu Sturz brachte.
 

Sein erschrockener Blick ging zur Seite. Ein Gefährt, ähnlich dem seinen, hatte zu ihm aufgeschlossen, und ein Paar Augen blitzten ihn durch das herabgezogene Visier einer Rüstung an. Einer Rüstung von der Art, wie sie die Wachen seines Vaters trugen. Seines nunmehr toten Vaters.

„Was wollt ihr?“ schrie er dem anderen Fahrer zu. Kurz darauf schloss ein weiteres Gefährt zu ihm auf, nun von der anderen Seite. Eingeklemmt zwischen seinen Verfolgern raste er über die nächtliche Landstraße des Herzogtums, das nun sein Feind geworden war. „Ihr wollt verhindern, dass ich den Mörder meines Vaters finde!? Ihr steckt mit ihm unter einer Decke!“ schrie er und nahm sein Schwert vom Rücken.

Mit einer Hand lenkte er, während er mit der anderen sein schweres, beidhändiges Schwert gegen seine Verfolger schwang. Dadurch geriet er aus dem Gleichgewicht und fuhr wilde Schlangenlinien. Auf diese Weise rammte er den Verfolger zu seiner Linken, der seinerseits die Lenkstange verriss. Hargfried sah aus dem Augenwinkel, wie sich das Gefährt krachend in das Unterholz bohrte, wo der Lichtkegel seines Scheinwerfers schließlich zurückblieb. Dann wandte er sich seinem verbliebenen Verfolger zu.

Immer noch hielt er in der Rechten sein Schwert, während er sich mit der Linken abmühte, das Gefährt auf der Straße zu halten. Sein Verfolger hielt eine Fahrzeuglänge Abstand, nachdem er gesehen hatte, wie sein Kamerad ins Unterholz abgedrängt worden war. Hargfried merkte dies und bereitete eine Finte vor. Aus heiterem Himmel bremste er ab, hob sein langes Schwert und ließ seinen Verfolger auf ihn auffahren.

Der Wachsoldat auf dem anderen Gefährt zog erschrocken den Kopf ein, als die massive Klinge über ihn hinweg zog. Dabei kollidierten ihre Fahrzeuge. Funken lösten sich vom schrammenden Metall, jagten durch die Dunkelheit und verloren sich im Nebel hinter ihnen.

„Ihr könnt mich nicht aufhalten!“ schrie Hargfried dem Wachsoldaten entgegen, der verzweifelt mit seinem Gefährt rang, das ebenso drohte, von der Straße abzukommen. Hargfried selbst schien an diese Möglichkeit allerdings keinen Gedanken zu verschwenden.
 

Der Wachsoldat blickte von dem Tunnel aus eng aneinander stehenden Bäumen und grauen Pflastersteinen auf, durch den sie im Licht ihrer Scheinwerferkegel rasten, und sah Hargfried ins Gesicht.

Seine langen Haare, nass vom Nebel und zerzaust vom Fahrtwind, hingen ihm wirr ins Gesicht, und er lachte.

„Ich werde ihn finden, und dann werde ich ihn bestrafen!“ schrie dieser ihm gegen den brausenden Fahrtwind zu. Der Soldat schaute wieder gerade aus, und die am Straßenrand stehenden Bäume kamen seiner Fahrtlinie bedrohlich nahe. Zähneknirschend zog er am Bremshebel, woraufhin sich die ineinander verkeilten Fahrzeuge voneinander lösten. Er geriet auf das grasbewachsene Bankett jenseits des Pflasters. Sein Gefährt sprang und bockte unter seinem Gesäß wie ein ungezähmter Hengst. Nur mit Mühe brachte er es zum Stehen und verhinderte dabei eine Kollision mit den die Straße säumenden Bäumen.

Das Gefährt stand, und er lehnte sich schwer atmend auf die Lenkstange. Durch sein Visier sah er die Rückleuchten Hargfrieds im Nebel verschwinden und glaubte sein Lachen zu hören. Ein Lachen, aus dem triumphierender Wahnsinn sprach. Seine Gedanken wanderten zurück zu seinem abgedrängten Kameraden, woraufhin er umkehrte.
 

Hargfrieds langes Haar peitschte im Fahrtwind über sein Gesicht, wodurch er die Straße durch seine tränenden Augen kaum noch erkannte. Aber er war jetzt erfüllt von einer Bestimmung, wie er sie noch nie gefühlt hatte. Sein Leben hatte einen Sinn, und er würde alles dafür geben, alles auf sich nehmen.

„Du hast gesagt, du führst mich zu diesem verfluchten Mörder“, rief er gegen den Fahrtwind und den Lärm des Motors an. Und tatsächlich antwortete ihm die Stimme.

Ja. Das tue ich. Dafür aber… brauchst du das Maleficium.

„Das ist es?“ fragte er verwundert in die neblige Nacht. Seine Stimme wurde verschluckt vom Rauschen des Windes und vom Brummen des Motors. Doch sein Verstand war klar wie lange nicht mehr, und an einer Gabelung riss er die Lenkstange herum. Gerade noch packte er die Kurve und lenkte sein Gefährt auf sein neues Ziel.

Er ließ die Gabelung hinter sich. Das Poltern des Motors wie auch die Rücklichter seines Gefährts verschwanden im Nebel dieser finstersten Nacht seit langem, die sich somit wieder senkte über die Gabelung und das Hinweisschild, welches sprach: 55 Meilen bis zur Hauptstadt von Galdoria.
 

Dorians Blick glitt über die Straßen von Galdoria. So, wie er das schon oft getan hatte von der Spitze des leeren Uhrturms aus, von dem Fenstersims, auf dem er auch heute wieder saß.

Er sah die Straßenzüge, flankiert von verschiedensten Häusern; großen, stolzen und kleineren, unscheinbareren. Aber sie alle bildeten zusammen diese Stadt, seine Heimat, seit er denken konnte. Dorian sah die unterschiedlichen Viertel, die man von hier oben gut unterscheiden konnte. Er sah die besseren Viertel, in denen die Häuser oft Erker hatten und kleine Türme; die Dächer glänzten im Licht der Abendsonne und waren immer in makellosen Zustand. Und er sah die weniger vornehmen Viertel; dort schienen die Dächer von stumpfer Farbe, wie ausgewaschen von Sonnenschein und Regen. Vielerorts klafften Löcher in den Dächern in diesen Vierteln und man konnte in düstere Dachstühle hineinblicken, die von der Armut der Bewohner kündeten. So wie ihr Haus am Bucket-Weg, das sich kaum von den danebenstehenden unterschied, außer eben, dass es das Ihre war.

Seine ersten Erinnerungen waren mit diesem Haus verbunden. Damals war es noch eine bessere Gegend gewesen, aber die Krankheiten, die nach dem Krieg die Stadt heimgesucht hatten, hatten damals viele Opfer gefordert, und manch Straßenzug sah sich zu jener Zeit fast völlig entvölkert. Wie der Bucket-Weg, in dem sie nun lebten.

Gaubert, der ein paar Jahre älter war, hatte sich von Anfang an um ihn gekümmert, zusammen mit Meister Yannick, der ihnen allen ein Dach über den Kopf verschafft hatte. Meister Yannick sprach nur selten über seine Vergangenheit. Sie wussten nur, dass der Krieg damals auch ihm die Familie, Frau und Kinder, genommen hatte. Und dass sie nun seine neue Familie, seine neuen Kinder, waren.

Sein Blick fand schließlich bis an den Hafen, der der Stadt vorgelagert lag, dort, wo die zentrale Sanderstraße begann. Das Meer glänzte ähnlich wie gestern im Licht der schwindenden Sonne, deren orangeroter Ball immer größer zu werden schien, je näher sie dem Horizont kam. Wie gestern sah er auch jetzt Schiffe ablegen und in die Ferne ziehen, doch heute verlieh dies seinen Gedanken und Träumen keine Flügel.

Heute dachte er daran, was ihm Iria gestern Nacht erzählt hatte. Es waren nur wenige Worte gewesen, doch es gelang ihm nicht, sie so leicht zu vergessen. Die Abenteuer in fernen Landen schienen mit einem Male den Glanz des Unbekannten, Aufregenden für ihn verloren zu haben, und er dachte an seine Kindheit am Bucket-Weg, die trotz der Armut doch voller schöner Erinnerungen war. Das Bedürfnis, sich in gefährlichen Abenteuern zu beweisen, war nun einer Furcht um seine Heimat, sein Zuhause gewichen. Eine Gefahr, eine sehr reale, war dabei, all dem nahe zu kommen. Nur solange er sie in weit entfernten Ländern wähnte, war sie reizvoll gewesen, hier jedoch erschien sie ihm als etwas Düsteres, Beklemmendes.

Er drehte den Kopf zur Seite und hörte Gaubert, Nikodemus und Ludowig, die unten im Uhrraum saßen und die Einkünfte des Tages zählten. Nadim war ebenso dabei, und seine Stimme war die Lauteste. Nach seinem nicht gerade erfolgreichen ersten Tag in dieser Stadt schien er sein Ansehen bei seinen neuen Freunden durch das Erzählen haarsträubender Geschichten seiner früheren Beutezüge wiederherstellen zu wollen.

Dorian lauschte mit einem Ohr und lächelte. Seine Erzählkunst schien wesentlich ausgeprägter zu sein als sein Diebeshandwerk. Iria war auch bei ihnen; doch sie beteiligte sich kaum an den Gesprächen. Sie schwieg die meiste Zeit und es wirkte, als würde sie etwas ausbrüten, als würde sie etwas mit sich herumtragen, von dem sie fürchtete, es könnte ihr entweichen, würde sie zu viel sagen.
 

Schabende Geräusche rissen Dorian aus seinen Gedanken, und im nächsten Moment schwang Iria sich auf das Mauerstück neben ihm. Er blickte sie erstaunt an. Ihr schelmischer Blick schien sagen zu wollen ‚nicht schlecht für ein Mädchen, was?‘

„Schöne Aussicht hier.“ Sie ließ ihren Blick über das Panorama der vor ihnen ausgebreitet liegenden Stadt schweifen.

„Ja, das kann man sagen“, erwiderte Dorian und ließ seine Beine baumeln.

„Vor allem hat man seine Ruhe. Nadims Geschichten…“, sie rümpfte die Nase, „ich habe sie wohl schon zu oft gehört.“

„Na ja, er hat es auch nicht leicht, mit seinem Familiennamen“, sagte Dorian in einem fragenden Ton, und zuckte mit den Schultern.

„Die Wenzelsteins waren über Generationen begnadete Diebe“, seufzte sie, „aber scheinbar ist Talent doch nicht vererblich.“

„Du bist auf jeden Fall besser als er, das habe ich heute gesehen“, meinte Dorian und zwinkerte ihr zu. Sie lächelte und wandte sich ab. Dorian konnte noch ihr verlegenes Gesicht im Abendlicht erkennen.

„Danke. Jemand muss uns ja ernähren.“ Bei der Erwähnung von diesem ‚Jemand‘ verfinsterte sich ihr Gesicht jedoch. Ihre Augen wurden traurig, und Dorian, dem dies nicht entging, fühlte sich einen Moment lang schuldig.

„Wie groß war denn eure Gruppe… in Pielebott?“ fragte er sie, obwohl alles in ihm davon abriet, dieses Thema anzuschneiden. Er tat es trotzdem, und ihre Reaktion klang gefasst.

„Mit unserem Meister waren wir zu siebt. Wir haben ein schönes Haus, am Rand von Pielebott. Bei uns kommen viele Reisende durch, es ist ein guter Platz zum Stehlen.“

Dorian sah sie von der Seite an und konnte ihrem Blick klar entnehmen, dass all diese Beschreibungen in einer glücklicheren Vergangenheit lagen und niemand wissen konnte, wie es nun um diese Stadt stand. Sie erzählte weiter nichts; er vermied es auch, nachzufragen. Es verstrichen einige Momente, in denen das Stimmengewirr hinter ihnen sowie Geräusche von den Straßen sich mit dem beständigen Gurren der Tauben und dem sanft durch den leeren Dachstuhl streichenden Wind zu einer ruhigen Melodie verbanden.

„Was würdest du sagen, wenn ich das Maleficium stehlen wollte?“ fragte sie ihn und unterbrach damit die Stille, die bis dahin geherrscht hatte. Dorian sah sie an, verzog das Gesicht und legte den Kopf schief.

„Das ist jetzt ein Scherz, oder?“

Sie baumelte mit ihren Beinen und grinste dabei spitzbübisch.

„Wer weiß? Traust du es mir nicht zu?“

„Ich weiß nicht… sicher bist du eine gute Diebin, aber… ich kann mich nicht erinnern, dass schon mal jemand in den Palast eingebrochen wäre UND mit seiner Beute entkommen konnte.“

„Na und?“ gab sie trotzig zurück. „Nur, weil es noch keiner geschafft hat, bedeutet das doch nicht, dass es unmöglich ist.“

„Na ja, ich glaube, du stellst dir das zu einfach vor- “

„Was heißt ‚einfach‘?“ schnitt sie ihm das Wort ab und funkelte ihn mit ihren Augen wütend an. „Sag doch gleich, du traust es einem Mädchen nicht zu!“

Unwillkürlich wich er eine Handbreit vor ihr auf dem brüchigen Sims zurück. Kleine Brocken lösten sich aus dem Mauerwerk und fielen in die Tiefe. Er blickte ihnen nach, wie sie in den Straßen von Galdoria verschwanden, und wandte sich wieder an Iria.

„Das ist nicht wahr! Ich traue es eigentlich niemanden zu, den ich kenne“, antwortete er in einem besänftigenden Tonfall.

„Das ist typisch für die meisten Leute.“ Der Ärger verflüchtigte sich aus ihren Zügen, und es legte sich wieder die leicht betrübte Stimmung über ihr Gesicht, die er an ihr kannte, seit er sie am Vortag zum ersten Male gesehen hatte. „Nur weil es noch keiner gewagt hat, habt ihr Angst davor“, sagte sie leise, und es klang, als wären diese Worte nicht so sehr an ihn gerichtet, sondern eher an die ganze Welt da draußen, die sich unter ihren in der Leere baumelnden Füßen ausbreitete.

„Versteh doch, der Palast ist das bestbewachte Gebäude von Galdoria. Es gibt dort jede Menge Wachen, die Palastgarde, viele verschlossene Tore…“ All diese Dinge zählte er auf und machte dabei ein Gesicht, als wartete er darauf, dass ihm noch ein Dutzend Hindernisse einfallen mochte.

„Gerade das macht es ja interessant.“ Ein verschmitztes Lächeln breitete sich wieder auf ihrem Gesicht aus. Dorian blickte sie an, und mit diesem Gesicht traute er ihr wahrhaftig alles zu.

„Was würdest denn du mit dem Maleficium anfangen, solltest du es tatsächlich ‚in deinen Besitz bringen‘?“

Diese letzte Formulierung sprach er gewählt und bedacht aus: er imitierte ein bisschen die Adeligen, die sie auf den Straßen vor den nobleren Läden schon belauscht hatten. Diese Redensweise würde ihren leicht kränkbaren Stolz am wenigsten anrühren, dachte er sich, und würde ihr auch den wenigsten Zweifel seinerseits an diesem für ihn unsinnigen Ziel vermitteln.

„Ich weiß nicht genau…“, erwiderte sie zögernd. „Ich würde meine Heimatstadt damit beschützen, wahrscheinlich.“

„Dieses Ding hat den großen Krieg vor zwanzig Jahren entschieden, erzählt man sich“, begann er in einem nachdenklichen Tonfall, „große Feldherrn, oder was weiß ich, können damit etwas anfangen; aber nicht so unwichtige Leute wie wir“, sagte er kopfschüttelnd. Iria blickte wieder in die Tiefen unter ihnen, wo das geschäftige Leben des Tages allmählich zum Erliegen kam. Wie jeden Tag machten sich auch jetzt, bei Anbruch der Dämmerung, die Ladeninhaber daran, ihre Läden und Buden zu schließen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würden die Gaslaternen in den Straßen eine nach der anderen entflammen und wie jede Nacht den aussichtslosen Kampf gegen die Dunkelheit antreten, die aufs Neue die Stadt in ihren schwarzen Mantel einhüllte.

„Vielleicht“, sagte sie so leise, dass Dorian sich fragte, ob dieses Wort überhaupt an ihn gerichtet war.

„He, ihr da oben! Ihr Turteltäubchen“, rief Nikodemus zu ihnen hinauf. Dorian konnte das unterdrückte Lachen der anderen hören. „Kommt dann halt mal runter. Außer, ihr wollt dort oben übernachten.“

„Wir sollten gehen“, sagte Iria eilig und schwang sich vom Sims des brüchigen Mauerwerks. Behände landete sie in der Tiefe und schloss sich den anderen an, die sich bereits anschickten, den Turm über die umliegenden Dächer zu verlassen.

„Ich komm‘ gleich nach“, rief er ihnen hinterher. Dann wandte er sich noch einmal dem Anblick der Stadt unter ihm zu. Die Sonne war bereits zur Hälfte im Meer versunken; das Wasser glänzte an der Stelle, als würde das schimmernde Gold eines versunkenen Schatzes unter der Oberfläche leuchten und nur darauf warten, dass ein wagemutiger Schatzsucher danach seine Hand ausstreckte.

Ein wagemutiger Schatzsucher, wie er einer so oft schon in seinen Tagträumen gewesen war. Der mehr als nur eine Handvoll Kleingeld oder mal eine Uhr erbeutete, und das auch auf eine wesentlich ruhmvollere Weise. Er schüttelte über sich selbst den Kopf, über sich und seine Feigheit, die ihm nun wie ein Stachel im Selbstbewusstsein steckte. Immer schon träumte er von fernen Ländern und aufregenden Abenteuern; doch angesichts des nahenden Krieges wollte er nicht mehr als sein Zuhause bewahren, das ihm all die Jahre über Zuflucht gewährt hatte. Und auch dem abenteuerlichen, eigentlich schon kindischen Plan von Iria, im Palast einzubrechen, gelang es nicht, seine Fantasie zu beflügeln. Vielmehr machte er sich stattdessen Sorgen um seine Sicherheit.

Ein schöner Abenteurer bist du, dachte er sich betrübt. Eine Bitterkeit, wie er sie selten verspürte, breitete sich über seine Gedanken aus, und nicht einmal der Anblick der im Meer versinkenden Sonne konnte sein Gemüt aufhellen. Den Schatten des heraufziehenden Krieges konnte er nicht verdrängen, ebensowenig das Gefühl, ein unbedeutendes, winziges Zahnrad im Räderwerk der Geschichte zu sein. So sehr er sich nach einem abenteuerlichen Leben voller Ruhm sehnte, so sehr wollte er in Wahrheit sein ärmliches, aber doch zufriedenes Leben davor bewahren, vom Sturm der Geschichte weggeblasen zu werden wie vertrocknetes Laub an einem windigen Herbsttag.

Wenn ich nur ein großer Kämpfer wäre, dachte er, und eine quälende Bitterkeit schnürte ihm einen Moment lang die Kehle zu. Dann könnte ich für meine Heimat kämpfen. Dann könnte ich… etwas ändern.

Schließlich wandte er sich vom Anblick der Stadt und der sinkenden Sonne ab und folgte seinen Kameraden, die schon unterwegs zum Bucket-Weg waren.
 

Der volle Mond stand am nächtlichen Firmament über Galdoria. Seine bleichen Strahlen durchfluteten so manche Gasse und Straße mit seinem elfenbeinernen Licht; andere hingegen tauchte er in tiefe Schatten, schwärzer als die Nacht.

Kaum Menschen waren auf den Straßen zu dieser Zeit. Zumeist waren dies Betrunkene, oder Bürger, deren Beruf sie schon in den frühesten Morgenstunden zur Pflicht rief, wie beispielsweise die Bäcker dieser Stadt. Oder es waren die Stadtwachen, die mit behäbigen Schritten durch die Straßen patrouillierten. Ihre Wege führten sie bevorzugt durch die gut beleuchteten Straßenzüge und nur selten in die weniger vornehmen Viertel dieser Stadt; als ob sie samt ihren Rüstungen, den Waffen und ihren glimmenden Escutcheons die besonders tiefen Schatten dieser Stadt mieden. Und so zogen sie ihre Runden mit langsamen, schweren Schritten, aus deren Geräuschen die Gedanken an das Dienstende und dem darauffolgenden friedlichen Schlummer klangen.

Doch nicht alle Schritte waren schwer von der Erwartung weicher Federkissen; einige wenige Schritte waren schnell, nahezu lautlos, und kündeten zugleich von einer Energie wie der einer gespannten Armbrustsehne. Diese Schritte ließen kaum Raum zwischen ihren Berührungen des steinernen Pflasters, der Ziegeldächer, der mit Marmorplatten ausgelegten Innenhöfe und der weißen Steinplatten vor dem kaiserlichen Palast.

Diese Schritte hatten keine Zeit zu verlieren, sondern fühlten sich gedrängt, getrieben, einem Ziel entgegen. Für diese Schritte war die Nacht keine Zeit der Ruhe, für diese Schritte war die Nacht ihr Element, ihre wahre Heimat.
 

Ein Gebäude, am Rande des Platzes vor dem Kaiserpalast. Das Mondlicht fiel darauf und bildete an seinen Kanten tiefe Schatten. Es war etwa ein Steinwurf bis zum Palast und seinen Nebengebäuden, um die in regelmäßigen Abständen die Palastgarde ihre Kreise zog. In einem besonders düsteren Schatten stand eine Gestalt.

Eine vorbeigehende Person hätte sie übersehen. Der lange, graue und von schwarzen Flecken überzogene Mantel hing fast bis zum Boden und verhüllte so die Konturen seines Trägers weitgehend. Eine Kapuze hing herab, verhüllte die obere Hälfte des Gesichts, und ließ nur eine feingeschnittene Nase und schimmernde Lippen erahnen. Der weite Mantel war um die Hüfte zusammengebunden und gerafft. Ein vorbeigehender Bürger hätte die Gestalt nicht erblickt, die eins war mit dem Schatten, die verschmolzen war mit der Finsternis. Sie hätte die Reihe an kurzen Dolchen am breiten Gurt, der unter dem Mantel saß, ebenso wenig gesehen wie die mit Leder und Metall umbundenen Unterarme, an denen geheimnisvolle Gerätschaften saßen, die ihren düsteren Verwendungszweck nur ahnen ließen.

Ein derartiger Beobachter hätte nur mit größter Aufmerksamkeit gemerkt, wie die Gestalt, gleich einem lebendig gewordenen Schatten, sich von ihrer Stelle löste und loslief. Mit Grazie und Eleganz lief die Gestalt; ihre weichen Stiefel berührten den Boden mit der Sanftheit und der Geschwindigkeit einer Katzenpfote. Sie näherte sich dem Palast, und der Kopf unter der Kapuze schnellte nach links und rechts, als wollte sie der geduldig abgewarteten Gelegenheit nicht recht trauen. So überwand sie die freie Fläche mit größtmöglicher Geschwindigkeit, und ihr Mantel flatterte wie ein entflohener Schatten über den Platz aus weißen Steinplatten.

Die Gestalt erreichte ein Nebengebäude des Palasts und suchte augenblicklich Schutz zwischen den Säulen, die das Dach stützten. Sie schmiegte sich in den Zwischenraum, und einem freien Auge wäre es so vorgekommen, dass die Umrisse des schwarzgrau gefleckten Mantels sich ihrem Hintergrund angepasst hätten. Diese Illusion wurde von der nun eintretenden völligen Regungslosigkeit der Gestalt noch verstärkt.

Die Zeit verstrich, und eine Patrouille der Palastgarde ging vorbei. Erst als das leise Gespräch zwischen den beiden Soldaten in der Dunkelheit verklungen war, bewegte sich die Gestalt wieder.
 

Die Wache stand neben dem Tor, und ihre Müdigkeit schien noch stärker an ihrem Leib zu zerren als das Gewicht der schweren Stahlrüstung. Von Zeit zu Zeit schloss sie kurz ihre Augenlider. Hinter diesen erblickte sie wohl bereits ein verlockendes Schlafquartier. Ein leises Pfeifen erklang und schreckte sie aus ihrem Wachtraum. Ihr Blick wandte sich von links nach rechts, doch in der Nähe der Pforte, die sie bewachte, sah sie niemanden.

Die Lichtkegel der Glühdrahtlampen an der Außenmauer des Palasts drangen nicht weit in die Dunkelheit vor; nicht viele Meter entfernt herrschte die Finsternis, die die Stadt Galdoria umklammert hielt und die der Mond nur schwach erhellte. Wieder erklang das leise Pfeifen. Am schwarzen Himmel konnte man keine Vögel entdecken und auch am Boden waren keine zu sehen, die zu dieser Nachtstunde hätten zwitschern können. Die Palastwache legte ihre gepanzerte rechte Hand an das Schwert, das an ihrer Seite hing. Die grün glühenden Scheiben auf dem Escutcheon leuchteten auf, als sie auf die Quelle des Geräuschs zu ging.

Die Wache ging ein paar Schritte, woraufhin das Pfeifen verstummte. Bis hierher reichte das Licht der Glühdrahtlampen gerade noch, und die an dieses Licht gewöhnten Augen der Wache sahen nichts außer einer anderen Wache, die ein gutes Stück weiter ihre ruhigen Bahnen entlang der Fassade zog. Die Wache blinzelte, gähnte kurz und drehte sich um- als sich ein Kampfdom zischend um sie herum aufspannte.
 

In einer fahrigen Bewegung riss sie ihr Schwert aus der Scheide. Eine sich langsam drehende Kuppel aus blauen, glühenden Linien hüllte sie ein.

Der Blick der Wache glitt am Rande des Kreises entlang, auf der Suche nach dem Kontrahenten. Hinter den geometrischen blauen Linien erschienen alle Einzelheiten der Umgebung wie hinter einem dunklen Schleier, das Innere der Arena war dafür in einen ätherischen Schein getaucht, der jedes Detail der weißen Pflastersteine betonte und der seinem suchenden Blick nun seinen Kontrahenten offenbarte.

Der Mantel der Gestalt flatterte auf, als sie auf die Wache zustürmte. Diese hob schreiend ihr Schwert und holte aus. Der Hieb der wuchtigen Klinge ging an der schnellen Ausweichbewegung des Angreifers jedoch vorbei und dessen Hand schob seinen Schwertarm zur Seite. In derselben Bewegung, die so schnell war, dass die Wache nur einen kurzen Blick auf das Gesicht unter der Kapuze erhaschen konnte, ging die Gestalt zum Gegenangriff über.

Die eine Hand blockierte immer noch den Schwertarm der Wache. An der anderen glitt eine schmale Klinge aus der ledernen Umhüllung des linken Arms und schnellte vor wie eine giftige Schlange. Zielsicher fand sie in einen Spalt zwischen den Rüstungsplatten der Palastwache, und ein gequältes Stöhnen entwich deren verzerrtem Mund. Der Angreifer umfasste die Palastwache und trieb die Klinge noch tiefer in ihren Leib, dann ließ sie sie zu Boden sinken.

Er dämpfte noch den Fall des zuckenden Körpers; der Kreis der Konfrontation erlosch, ebenso wie das Leben der Palastwache. Die blauen Linien, die ihre Arena eingegrenzt hatten, verschwanden, und ließen die vom Mond schwach erhellte Dunkelheit wieder auf die Szene fallen, in der der unbekannte Angreifer den Körper seines besiegten Gegners in den Zwischenraum zweier Säulen zerrte.

Geduckt wie ein flüchtendes Raubtier lief die Gestalt zur Pforte, die die Wache hätte schützen sollen. Aus dem breiten Gurt um ihre Hüfte zog sie verschiedene Werkzeuge, die sie im Licht der Glühdrahtlampen musterte. Einmal noch bewegte sich die Kapuze nach links und rechts, dann machte sie sich ans Werk.

Ein Metallstift stocherte kratzend im Schloss der schweren Holztür. Die Gestalt arbeitete schnell und konzentriert; einige Momente später erntete sie den Lohn ihrer Mühen und das Schloss gab nach.
 

Die Gestalt zog die schwere Holztür hinter sich zu und entfernte sich so schnell wie möglich von ihr und dem gut beleuchteten Raum um sie herum. Sie suchte Deckung hinter einem an der Wand stehenden Turnierharnisch, in dessen Schatten sie in die Hocke ging.

Das Augenpaar unter der Kapuze glitt konzentriert über den sich ihnen darbietenden Korridor. Ein dicker Samtteppich lag auf den Steinplatten und führte an mehreren weiteren Türen vorbei. Massive Anrichten standen an den Seiten des Korridors, und über ihnen hingen Gemälde vergangener Fürstengeschlechter. Glühdrahtlampen hingen in kurzen Abständen und tauchten alles in ihr Licht. Hier gab es wenig Schatten und praktisch keine Dunkelheit. Ab hier wurde es wirklich gefährlich, begriff die Gestalt, und schob ihre Kapuze zurück.

Zum Vorschein kam der Kopf einer Frau. Dichtes, schwarzes Haar hing, zu einem kurzen Zopf zusammengeflochten, aus ihrem Kragen. Die braunen, wachsamen Augen ließen den Korridor keinen Moment unbeobachtet, die kleinen Falten um sie herum zeugten von ihrer Anspannung. Ihre Haut war dunkel, fast olivfarben, wie die der Bauern, die bei jedem Wetter im Freien arbeiteten. Sie hatte nichts von der noblen Blässe, die all die Gemälde königlicher Damen in dem Korridor zeigten, sie war gealtert und gegerbt, weniger von den Lebensjahren, sondern mehr vom Wetter, von Sonne, Kälte und Sturm. Von den Stürmen des Herbstes wie auch des Lebens, so schien es.

Die Frau betastete ihren linken Arm, an dem ihr Escutcheon saß. Er war eingehüllt in Leder, so dass die grün glühenden Scheiben in tiefer Dunkelheit keinen Verrat an ihrer Trägerin begehen konnten. Sie betrachtete kurz den Stachel, der aus der umgestalteten Armschiene ragte. Dabei ballte sie die Faust ihrer feingliedrigen Hand. Das Leder um die Armschiene knirschte leise, und sie atmete tief durch. Sie wartete noch mehrere Momente, lauschte nochmal auf Schritte, auf sich öffnende Türen oder andere Anzeichen gefahrverheißender Gegenwart, dann trat sie den Weg an durch die Korridore des kaiserlichen Palastes, um mit der bisher gefährlichsten Aufgabe ihres Lebens zu beginnen.

Lange Zeit wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Doch nach Stunden, die ihm wie die Ewigkeit erschienen, gab er den Kampf gegen seine Ruhelosigkeit auf. Dorian öffnete die Augen und setzte sich auf.

Es herrschte Dunkelheit in dem Wohnraum, in dem sie schliefen; aber keine vollständige. Durch die unregelmäßigen Spalten in den verzogenen Fensterläden fiel das Mondlicht herein. Die hellen, schmalen Streifen zerstreuten sich wie Bäche silbrigen Lichts und breiteten sich so über den Raum aus. Sein an die Dunkelheit gewohnter Blick glitt über die Möbel dieses ihm so vertrauten Raums; im Mondlicht erschienen sie ihm nicht mehr alt und abgewohnt, sondern wie mit einem besonderen Glanz überzogen, als wären sie in einer wehmütigen Erinnerung eingefroren.

Es war still, bis auf die Geräusche der Schlafenden. Er hörte das leise, gleichmäßige Atmen seiner Kameraden und das immer wieder aufschreckende, dann wieder ruhig schnaubende Schnarchen von Meister Yannick, der wie immer in einer Hängematte, unweit seines Arbeitstisches, schlief. Das kaum merkliche Schwingen der Hängematte unter dem Gewicht seines massigen Körpers brachte die Leinen, an denen sie befestigt war, leise zum Knirschen.

Dorian lag da und lauschte all diesen Geräuschen. Er hörte sie beinahe jede Nacht, sie waren ihm so vertraut wie sein eigenes Gesicht. Ebenso der Geruch der morschen Balken, die im Gemäuer dieses Hauses steckten. Er erinnerte sich an letzte Nacht, an seine Gedanken, bevor er eingeschlafen war; er hatte von einem herrschaftlichen Haus geträumt, das ihm sein Ruhm als Abenteurer eingebracht hatte. Dieser Traum, der ihm damals so lebendig, so greifbar und erstrebenswert vorgekommen war, dieser Traum hatte den Glanz verloren. Und das Haus, in dem er jede Nacht schlief, seit er denken konnte, dieses Haus kam ihm nun so idyllisch und beschaulich vor, dass er sich einen Moment lang schämte, sich etwas anderes gewünscht zu haben. Und er wusste, würde er jemals zu Abenteuern in ferne Länder aufbrechen, dies hier wäre der Ort, zu dem er dann wieder zurückkehren würde.
 

Die Mischung aus all den Eindrücken, die er seit längerem wieder bewusst aufgenommen hatte, wiegte ihn in einen oberflächlichen Schlaf, in ein angenehmes Dösen- bis ihn eine knarrende Diele weckte.

Er hielt den Atem an und setzte sich auf. Seine Augen erkannten in der von schmalen Streifen hellen Mondlichts durchsetzten Dunkelheit eine Gestalt, die langsam und dabei möglichst alle Geräusche vermeidend auf die Tür zu schlich. Er überschaute die Betten um sich herum; Ludowig und Nikodemus schliefen bereits, er hörte auch das leise Atmen von Gaubert aus dem Stock über ihn. Auch Nadim lag in seinem Bett, fest in seine Decke gewickelt. Meister Yannicks Hängematte knirschte immer noch leise; aber Irias Bett, das war nun leer.

Dorian wartete, bis die Gestalt bei der Tür hinaus war, dann sprang er aus seinem Bett. Vorsichtig und hektisch zugleich schlüpfte er in seine Kleider, dann schlich er in Richtung Tür und umging dabei alle knarrenden Dielen, von denen er wusste. Kurz vor der Tür blieb er stehen, und aus einem spontanen Impuls heraus streifte er sich seinen Escutcheon über und ergriff sein altes Übungsschwert.

Der Gedanke, ein Einbrecher könnte sich in ihr Haus verirrt haben, erschien ihm zwar selbst absurd, doch es war schon einmal passiert. Damals hatten sie den ahnungslosen Einbrecher bestehlen können, und dieser war, entgegen seiner Absicht, mit weniger gegangen als gekommen. Und dies könnte ja wieder eine derartige Gelegenheit sein, dachte er sich, als er, mit dem Schwert in der Rechten, leise die Tür aufdrückte.

Im Treppenhaus brannte das einzelne Licht einer Glühdrahtlampe, und in ihrem schwachen Schein erkannte er die Gestalt. Es war tatsächlich Iria, die sich in den Mantel gehüllt hatte, mit dem sie vor zwei Tagen in der Stadt eingetroffen war.

„Ich dachte schon, wir hätten einen Einbrecher“, sagte Dorian laut. Iria zuckte zusammen. Sie zog den Kopf ein, als würde ihr ein Hieb drohen, und drehte sich zu ihm um. Dorian schwang sein Schwert mit einer gelangweilten Miene und legte es sich dann über die Schulter; sein Gefühl, es unnötig mitgeführt zu haben, wurde überdeutlich.

„Verrate mich bitte nicht“, sagte sie leise und gepresst. Ein Schimmer von Schuldbewusstsein glänzte in ihren zusammengekniffenen Augen.

„Verraten? Was denn verraten?“

Irias Augen wurden groß, sie machte ein verärgertes Gesicht, als sie merkte, was sie unüberlegter Weise gesagt hatte.

„Ich meine- ich wollte nur- “, begann sie in einem Versuch, Dorians Eindruck wegzuwischen. Doch sie kam nicht dazu. Ihr Blick traf Gaubert, der durch die Tür ins Treppenhaus trat. Dorian wandte sich ihm zu, und Gaubert bemerkte das Schwert in seiner Hand und den Escutcheon an seinem Arm.

„Und was hast du heute noch vor?“

„Ich dachte, wir hätten einen Einbrecher im Haus, aber es war nur sie“, erwiderte er schulterzuckend und deutete mit der Schwertspitze auf Iria, die etwas verloren und sichtlich nervös am unteren Ende der Treppe stand.

„Ach so. Wenn du mal ‚für kleine Mädchen‘ musst, dann empfehle ich dir den Raum da drüben“, sagte Gaubert zu Iria, die nervös von einem Fuß auf den anderen trat. „Es ist nicht besonders hübsch, aber besser, als auf die Straße zu gehen. Die ist nicht besonders sicher um die Zeit, vor allem nicht für ein Mädchen“, erwähnte er beiläufig. Irias Gesicht verdüsterte sich augenblicklich.

„Was heißt, ‚für ein Mädchen‘?“ entgegnete sie scharf. „Glaubst du, ich kann nicht auf mich selbst aufpassen?“ sagte sie und funkelte ihn dabei wütend an. Gaubert machte ein überraschtes Gesicht.

„Na ja, ich mein ja nur! Um diese Zeit sind nur Betrunkene, Halsabschneider und die Wachen des Kaisers auf den Straßen unterwegs. Und mit allen dreien sollten wir uns lieber nicht abgeben.“

Iria wollte schon etwas erwidern, als noch jemand durch die Tür trat. Diesmal war es Nadim, und auch er war angekleidet, wie alle anderen.

„Was ist hier los?“ fragte er mit großen Augen in die Runde. Dorian schüttelte nur den Kopf, Gaubert zuckte gähnend mit den Schultern und Iria wurde rot. Sein Blick fiel auf sie, und seine Augen schienen noch größer zu werden. „Du willst doch nicht etwa-!?“

Iria schüttelte den Kopf, ihr Gesicht nahm einen furchtsamen Ausdruck an, und sie hob beschwichtigend ihre Hände.

„Sei bloß still!“ zischte sie ihn mit unterdrückter Wut an. Dorian und Gaubert sahen sich an, und Nadim plapperte munter drauflos.

„Aber, aber- du hast gesagt, du nimmst mich mit, wenn du losziehst, um das- “

„Halt um Gottes Willen den Mund, Nadim!“ stieß Iria aus. Ihre Stimme nahm einen verzweifelten Ausdruck an.

„ -um das Maleficium zu stehlen, du hast es versprochen!“ führte Nadim den Satz zu Ende und stützte mit einer säuerlich-enttäuschten Miene die Hände in die Hüften. Iria schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dorian und Gaubert bekamen beide große Augen, und wandten sich dann an Nadim.

„Sie will was?“ fragten sie im Chor.

„Seit Tagen redet sie schon davon, seit wir Pielebott verlassen haben. Dabei schafft sie das niemals ohne mich. Seit Generationen besteht meine Familie aus hervorragenden Dieben“, erklärte er voller Stolz und tippte sich dabei auf die Brust. „Und sie ist letztendlich ein- “

„Ein was!?“

Der Ärger von vorhin wurde nun durch einen anderen, noch giftigeren, ersetzt, und sie schritt drohend die Stufen hinauf. Nadim setzte eine klägliche Miene auf und wich vor dem Treppenansatz, dem sie sich näherte, zurück.

„Na ja, versteh doch, ein Mädchen kann nicht allein auf einen so gefährlichen Diebeszug gehen- “

„Und warum bitte nicht?“ fragte sie mit allem Nachdruck. Selbst Gaubert und auch Dorian, der immer noch sein Schwert in der Rechten hielt, wichen vor ihr einen Schritt zurück. Nadim stieß mit dem Rücken gegen die Wand und hob abwehrend die Hände.

„Sicher gibt es auch gute Diebe, die Mädchen sind, du bist zum Beispiel eine“, stotterte er gequält lächelnd, bei dem Versuch, ihrem Zorn zu entgehen. „Aber du weißt ja, welch bedeutende Diebe sich unter meinen Vorfahren befinden, und mit meiner Hilfe hast du wesentlich bessere Chancen“, fuhr er fort, und sein Stolz von vorhin kehrte zurück. Ein weiteres Male öffnete sich die Tür, und nun kamen auch noch Ludowig und Nikodemus hinzu. Gaubert schüttelte seufzend den Kopf und griff sich an die Stirn.

„Jetzt fehlt ja nur noch Meister Yannick…“
 

„Was ist denn das hier für ein Auflauf?“ fragte Nikodemus, hinter dem der ihn einen Kopf überragende Ludowig hervorblickte.

„Dorian ist auf Einbrecherjagd, und Iria will das Maleficium aus dem Palast stehlen“, sagte Gaubert und zählte so die Irrsinnigkeiten dieser Situation auf.

„Ach, wenn‘s weiter nicht ist“, begann Ludowig und trat hinter Nikodemus hervor. „Aber wo ist jetzt dieser Einbrecher?“

„Iria ist der Einbrecher. Dachte ich zumindest“, antwortete Dorian und zeigte auf sie. Ludowig machte ein verwirrtes Gesicht.

„Ich dachte, sie will das Maleficium stehlen?“

„Das will sie auch.“

„Und wer ist dann der Einbrecher hier?“

„Es gibt keinen Einbrecher“, erwiderten nun alle, außer Ludowig, im Chor, und verdrehten dabei die Augen. Dieser machte ein betroffenes Gesicht, sein Kopf versank dabei zwischen seinen Schultern.
 

„Jetzt mal im Ernst: du willst also in den Kaiserpalast einbrechen?“

Iria, in ihren Mantel gekleidet, stand nun inmitten von Gaubert, Ludowig, Nikodemus, Dorian und auch Nadim, der immer noch einen leicht verschreckten Eindruck machte. Der Blick ihrer misstrauischen Augen wanderte von einem zum Nächsten und sie machte den Eindruck eines in die Enge getriebenen Tieres, das bereit zur Flucht war.

„Ja, ich werde es holen. Versucht bloß nicht, mich aufzuhalten.“

„Hier hält niemand irgendwen von einer Diebestat ab“, entgegnete Gaubert in einem ernsten, aber auch versöhnlichen Ton. „Aber in den Palast einzubrechen ist was anderes, als Leute auf der Straße zu bestehlen. Wieso hast du nichts gesagt?“

„Ihr wärt sicher dagegen gewesen“, meinte sie trotzig. Gaubert stützte die Hände in die Hüften, zog eine Augenbraue hoch und musterte sie skeptisch.

„Wir haben hier eine Regel: wir halten zusammen, egal, was kommt. Ich kann dich als Ältester unserer örtlichen Diebesgruppe jedenfalls nicht allein gehen lassen.“

Sein Blick glitt über ihre kleine Gruppe. Er sah seine Kameraden, seine Freunde, mit denen er schon so manche Diebestat vollbracht hatte. Er sah auch Nadim Wenzelstein, hinter dessen oft aufschneiderischen und manchmal auch zerstreuten Miene sich der Geist seiner stolzen Ahnen und deren Diebesdynastie verbarg, und er sah Iria Halloran, die ihn mit einer Mischung aus Abwehr und leisem Trotz anblickte, und in deren dunklen, zusammengekniffenen Augen ein unbändiger Wille glühte. Sie würde gehen, mit oder ohne sie. Sie würden sie schon auf einem Stuhl festbinden müssen, das erkannte er an ihrer Stimme und vor allem an ihrem Blick, der mehr auf dieses Ziel brannte, als sie offen sagen wollte.

Dann gingen seine Gedanken wieder zurück zu der Gruppe aus Dorian, Nikodemus und Ludowig, für die ihm Meister Yannick die Verantwortung übertragen hatte. Schon öfter hatten sie in Läden, in die Häuser wohlhabender Bürger und einmal sogar in das Zensus-Amt eingebrochen, aber der Palast war eine andere Größenordnung. Seine Sorge um die Sicherheit seiner ihm anvertrauten Diebesbrüder rang mit der Verlockung, die dieses außergewöhnliche Ziel auf ihn ausübte. Zu ihr gesellte sich die ebenso berechtigte Sorge um Iria, die jetzt auch zum Kreis seiner ihm anvertrauten Diebesgeschwister gehörte. All diese Beweggründe rangen miteinander und schlossen letztendlich einen Kompromiss.

„Also gut, also gut. Entweder gehen wir alle zum Palast, oder keiner; was sagt ihr dazu?“

Er blickte in die Runde. Nikodemus‘ Gesicht erstrahlte vor Aufregung. Dorian legte zuerst den Kopf schief, doch nach einem Blick zur ungeduldig abwartenden Iria nickte auch er. Nadim wurde ganz bleich, um Momente später einen roten Kopf zu bekommen. Dann rang er unter dem Druck seiner Familiengeschichte sichtlich nach Luft und nickte ebenso. Ludowig sah sich um, blinzelte unschlüssig, und nickte dann auch, nachdem er sich der Zustimmung seiner Freunde versichert hatte. Dann richtete Gaubert den Blick wieder auf Iria, deren Miene sich löste und aus deren Augen leise Dankbarkeit sprach.

„Dann wollt ihr mir… helfen?“

„Eines nach dem anderen“, wandte Gaubert ein und verschränkte die Arme. „Ich sagte, du gehst sicher nicht allein zum Palast. Wir gehen mit dir, und wenn wir keine Chance sehen, hineinzugelangen, dann ziehen wir wieder ab. Aber sicher lassen wir niemand ins Verderben laufen. Wir reden hier schließlich vom Palast und nicht von einer Bäckerei, aus der wir Brötchen klauen.“
 

Schnell wurden Mäntel und Jacken zusammengerafft, und schon eilte die bunte Schar durch die nächtlichen Straßen von Galdoria, unter trüben Gaslaternen und dem allgegenwärtigen Licht des Mondes, der in dieser Nacht ihr einziger Zeuge war.

Gaubert und Iria liefen voran; ihnen folgten dicht auf den Fersen Ludowig und Dorian. Nadim und Nikodemus hatten alle Mühe, Schritt zu halten. Nikodemus wegen seiner Körperfülle und Nadim wegen plötzlich aufkeimenden Zweifeln, die seine sonst so flinken Füße mit Bleigewichten zu versehen schienen.

„Hätten wir nicht Meister Yannick was sagen sollen!“ rief Dorian zu Gaubert und rang dabei nach Luft.

„Der hätte uns nur für verrückt erklärt“, erwiderte Gaubert im vollen Lauf, „es hätte bloß eine Tracht Prügel gesetzt. Besser, ihn nicht zu beunruhigen.“

Dorian nickte nur und konzentrierte sich auf seine Schritte, die Gaubert und Iria folgten und dabei den Löchern im Pflaster auswichen. Nach einer ganzen Weile erst merkte er, dass er immer noch sein Schwert in der Hand hielt. Bei einem kurzen Halt, bei dem Gaubert nach patrouillierenden Wachen Ausschau hielt, steckte er es durch den breiten Gurt an seiner Hüfte. Das schartige Metall würde das Leder kaum beschädigen, dachte er; der miserable Zustand seiner Waffe beunruhigte ihn aber zugleich. Auch wenn die offene Auseinandersetzung mit einer der Palastwachen ohnehin aussichtlos wäre, so ließ ihn doch der reichlich unvernünftige Gedanke nicht los, heute wäre der Zeitpunkt, auf den all seine Kampfübungen hingezielt hätten. Heute, so spürte er es in der Gänsehaut auf seinen Oberarmen, war der Tag, an dem das Abenteuer begann. Heute war der Tag, an dem er, Dorian Alberink, der Welt zeigen würde, was in ihm steckte.

Diese Gedanken erfüllten ihn mit Euphorie, die von ihrem heimlichen Weg durch die nächtliche Stadt und ihrem unerhörtem Ziel noch zusätzlich angefacht wurde. Er schwankte ständig zwischen den Gefühlswallungen; einen Moment lang fühlte er sich als der Held, in dessen Rolle er sich immer geträumt hatte, und im nächsten überkam ihn wieder eine lähmende Furcht, die von seinen weichen Knien und den Gedanken an seine veraltete Waffe sowie seine untauglichen Kampfkünste genährt wurde. Dieses Wechselbad machte diese Nacht in seinem Empfinden zu etwas ganz Besonderem, und der Mond, der groß, voll und bleich über ihnen hing, erschien ihm wie ein abwartender Zaungast, wie ein gespanntes Publikum, das sich an dem Heldenepos, der heute beginnen mochte, ergötzte. Oder auch an der Tragödie, die unaufhaltsam auf sie alle zukam.

Unter Gauberts vorausschauender Führung umgingen sie alle Wachsoldaten auf ihrem Weg, die nach ihrem Vorhaben, jetzt, mitten in der Nacht, hätten fragen können. So erreichten sie schließlich den Rand des großen Platzes vor dem Kaiserpalast.

An einer Hausecke standen Gaubert und Iria. Sie flüsterten miteinander. Dorian lief es kalt den Rücken hinunter, es fröstelte ihn. Die Luft war angenehm warm, doch die angespannte Erregung stellte die Haare an seinen Unterarmen auf und schien alle Wärme aus seinem Körper zu vertreiben.

„Es ist niemand zu sehen. Wo sollen wir überhaupt rein?“

Iria erwiderte nichts auf diese kaum hörbaren Worte. Ihr Blick tastete das Nebengebäude des Palastes ab, und Dorian erkannte von der Seite den drängenden Ausdruck in ihren Augen. Dieser Ausdruck hatte in schwächerer Form schon die letzten Tage in ihren Augen gestanden. Er erinnerte sich an ihre harmlose Plauderei, wo sie über das Maleficium gescherzt hatten. Obwohl es erst am letzten Abend gewesen war, so kam es ihn jetzt wie aus einem anderen Leben vor.

„Da drüben“, flüsterte Iria und deutete auf eine Pforte im matten Licht der Glühdrahtlampen. „Die Tür da. Sie ist unbewacht. Das ist unsere Gelegenheit.“

Dorian schreckte auf bei diesen Worten; ihr Plan, vorher noch kühn und unwirklich, kam ihm mit einem Male bedrohlich real vor. Sie würden nun wirklich in den Palast eindringen, ging ihm durch den Kopf. Unbewusst hatte die leise Hoffnung in ihm gelebt, sie würden eine dichte Bewachung vorfinden, die ihr Unternehmen von vornherein vereitelt hätte. Doch dies geschah nicht, und er kämpfte gegen seine wieder erstarkende Angst. Um sich abzulenken, betrachtete er seine Kameraden.

Sein Blick fiel zuerst auf Nikodemus. Seine gedrungene Gestalt war selbst in der Dunkelheit kaum zu übersehen. Sein Augenmerk huschte hin und her, als befürchtete er, es könnte ihm etwas Wichtiges entgehen. Seine Hände tasteten an seinem Gürtel entlang, als wüsste er offenbar nicht, was er mit ihnen anstellen sollte. Es gelang ihm, seine Aufregung gut zu verbergen, wenngleich seine unruhigen Füße ständig den Eindruck machten, die bevorstehende Flucht bereits einzuleiten.

Weniger gut gelang dies Ludowig. Der wesentlich größere Bursche stand neben ihm, wartete die immer noch andauernde taktische Beratung zwischen Gaubert und Iria ab und machte dabei ein Gesicht, als würden sie über eine für ihn gedachte Foltermethode diskutieren. Während Dorian die Luft als kalt empfand, standen dicke Schweißperlen auf Ludowigs Stirn. Er nickte die ganze Zeit leicht vor sich hin, als würde er zu einer wichtigen Prüfung antreten und die mühsam gelernten Antworten im Geiste noch einmal wiederholen. Sein Blick ging zu Boden, als ginge ihn dies alles nichts an, und seine leicht zitternden Knie legten nahe, dass ihm dieser Fall auch bedeutend lieber gewesen wäre.

Schließlich fiel Dorians Blick auf Nadim. Von allen machte er den jämmerlichsten Eindruck, wenngleich er noch stärker dagegen ankämpfte, wie Dorian an seinen vor Anspannung weiß gewordenen Fingerknöcheln, an seinem abwechselnd blassen und dann wieder hochroten Kopf und vor allem an seinen Augen ablas. Das innere Ringen war in ihnen so offensichtlich, dass Dorian echtes Mitleid mit ihm bekam. Hinter diesen wie vor Fieber glänzenden, nervösen Augen fand der Kampf zwischen seiner Familienehre als Mitglied einer bedeutenden Dynastie von Dieben und seiner quälenden Furcht statt. Dorian zweifelte keinen Moment: würden sie sich alle zugleich umdrehen und demonstrativ wegschauen, in dem Fall würde nicht mehr als eine Staubwolke von Nadim Wenzelstein, dem Nachfahren großartiger Diebe, zurückbleiben.

„Also gut: wagen wir es“, sagte Gaubert etwas lauter, dass es alle verstehen konnten. Sein Blick traf sie noch einmal, um sich von ihrer Bereitschaft zu überzeugen.

Es traf Dorian wie ein Blitz; nachdem es ihn vorher gefröstelt hatte, wurde ihm nun schlagartig heiß. Das Schwert an seinem Gürtel schien ihn fast zu Boden zu zerren, und er hatte echte Zweifel, ob er noch die Kraft für einen weiteren Lauf wie vorhin eben haben würde.

Dann setzten sie sich in Bewegung. Iria lief voraus, Gaubert folgte dicht hinter ihr. Nadim, mit der Kraft der Verzweiflung, lief als Nächster los, als würde er ahnen, dass ihn jedes Zögern nur den kläglichen Rest seines verbliebenen Mutes rauben würde. Ludowig und Nikodemus folgten ihm. Der lange Ludowig mit schlaksigen, ungelenken Schritten und Nikodemus mehr watschelnd als laufend. Dorian blickte ihnen hinterher und bemerkte nun erst, dass sich seine Füße nicht bewegten. In einem Akt der Überwindung löste er sie vom Boden und lief seinen Freunden nach.

Er war völlig außer Atem, als er seine Freunde erreichte, die sich im Schatten einer Wandsäule verbargen, hinter die das Mondlicht nicht reichte und den das trübe Licht der Glühdrahtlampen nicht störte.

Wieder flüsterten Gaubert und Iria. Dann lief sie los, und es schien Dorian, dass Gaubert versucht hatte, sie noch zurück zu halten. Doch sie war bereits bei der Tür. Ihr wacher Blick ging nach links und rechts. Dorian blickte sich von ihrer Deckung ebenfalls um, doch keine der Wachen war in Sichtweite. Dann stieg ihm ein schwacher Geruch in die Nase.
 

Iria drückte den gusseisernen Griff der massiven Holztür. Als sie sich öffnete, übertraf ihr Erstaunen darüber ihre Entschlossenheit für einen Moment. Dann kehrte ihre ernste Miene wieder zurück und sie öffnete die Tür langsam. Sie warf einen Blick in das Innere, dann winkte sie auch schon die anderen herbei.
 

Dorian sah sich um; in der Finsternis hinter dieser Säule konnte man kaum die Hand vor dem Gesicht erkennen. Doch der Geruch leitete ihn tiefer in die Dunkelheit. Gaubert und die anderen waren schon auf dem Weg zur Pforte, als Dorian in der Finsternis mit dem Fuß gegen einen Gegenstand stieß. Er kniff die Augen zusammen und bückte sich. Der Geruch war nun stärker… der Geruch von frischem Blut. Dorian schreckte zurück, als er die Umrisse eines Palastwächters erkannte, der regungslos und mit dem Gesicht nach unten in der Dunkelheit lag. Angewidert wich er zurück, dann lief er zur Pforte, durch die bereits die anderen hindurchgetreten waren.
 

Dorian folgte den anderen durch die Pforte, und das Licht aus den vielen Glühdrahtlampen blendete ihn einen Moment lang. Seine Entdeckung wühlte ihn auf, er wollte seine Freunde warnen; doch er hatte Hemmungen, seine Stimme zu erheben und die Stille zu stören, die ihr einziger Schutz war innerhalb dieser Gemäuer, in denen sie keine erwünschten Gäste waren.

„Leute… he, Leute“, zischte er stattdessen. Doch die anderen, die auf Zehenspitzen über den dicken Teppich schlichen, und das unter den strengen Augen längst verblichener Fürsten und Gräfinnen, die von den Gemälden links und rechts des Korridors herab starrten, schenkten ihm kein Gehör. Nur Nikodemus drehte sich um und fuchtelte mit den Händen Richtung Pforte.

„Mach die Tür zu!“ zischte er zurück. Dorian blinzelte in einer Mischung aus Verwirrung und Nervosität, dann lief er die paar Schritte zurück und drückte die offengelassene Tür zu. Dabei ertönte ein sattes Geräusch, das ihm unerhört laut vorkam. Er war sich sicher, im nächsten Moment von schwer bewaffneten Wachen umgeben zu sein; doch nicht einmal seine Freunde horchten auf, die schon die Biegung am Ende des Korridors erreicht hatten. Nachdem er sich davon vergewissert hatte, dass die Tür gut verschlossen war, eilte er ihnen nach.

Der Teppich schluckte das Geräusch seiner hastigen Schritte, und die Angst, von seinen Freunden getrennt zu werden und alleine durch diese Gänge irren zu müssen, beschleunigten sie noch zusätzlich. Er zwang sich, geradeaus zu schauen, um nicht den vorwurfsvollen Blicken ihrer stummen Zeugen begegnen zu müssen, die von links und rechts auf ihn herabblickten. Der rissige Firnis der mannshohen Ölgemälde schien in Bewegung zu geraten, so kam es ihm aus dem Augenwinkel vor, und er glaubte, die Ahnen der Kaiserdynastie bereits um Wachen rufen zu hören. Endlich erreichte er seine Freunde am anderen Ende des Korridors, wo sich dieser in eine neue Richtung erstreckte.

„He, Leute, ich muss euch was Wichtiges sagen“, flüsterte er in einem drängenden Ton. „Vorhin, da draußen, da ist eine von den Wachen gelegen, und zwar tot, glaube ich…“

Er ging auf seine Freunde zu, die nun auf einem Platz versammelt standen. Sie alle schienen etwas zu betrachten, das ihre Aufmerksamkeit von den möglichen Gefahren hier auf etwas anderes lenkte. Gaubert drehte sich schließlich zu ihm um und gab den Blick frei auf ihre Entdeckung. Sein Gesicht war ernst.

„Draußen also auch?“ erwiderte er in einem fragenden Ton. Dorian blinzelte verwirrt, dann trat er vor, um besser sehen zu können.
 

Am Rande des Korridors, neben einer prächtig verzierten Anrichte, lag ein zusammengerollter Teppich. Er wirkte wie beiläufig abgelegt, so, als würde er hier liegen, weil er sonst nirgends Platz gehabt hätte- nur, dass ein Paar Stiefel an ziemlich leblosen Füßen an der einen Seite herausragte.

„Vielleicht macht der da drin ein Nickerchen…“, meinte Ludowig, um daraufhin einen mahnenden Klaps an den Hinterkopf von Nikodemus zu bekommen.

„Ich glaube, wir sind nicht die einzigen ‚Besucher‘ heute Nacht“, sagte Gaubert in einem sorgenvollen Ton. Dorian, der seinen Augen auch diesmal nicht recht traute, blickte sich verwirrt um, als läge die Lösung für dieses Rätsel irgendwo in ihrer unmittelbaren Nähe.

„Da, da draußen, da… da lag auch einer! Was geht hier vor?“ fragte er mit stockender Stimme. Alle sahen ihn an, und in seiner Verwirrung gelang es ihm nicht, ihre Blicke zu deuten.

„Einerseits ist es ein Vorteil für uns, aber andererseits… will jemand von euch umkehren?“ fragte Gaubert in die Runde. „Ich hätte Verständnis dafür.“

„Ich gehe auf jeden Fall weiter“, sagte Iria als Erste. Sie schien am wenigsten beeindruckt von dem makabren Fund. Immer noch leuchtete Entschlossenheit aus ihren Zügen, und der Anblick der getöteten Palastwachen hatte ihn nur unwesentlich geschmälert. Gauberts Blick traf nun den Rest der Gruppe.
 

Dorian zog sein Schwert aus dem Gurt. Das Gewicht in der Hand beruhigte ihn ein bisschen, wenngleich er den Gedanken, es auch verwenden zu müssen, vermied. Endlich gelang es ihm, den Blick von der in den Teppich eingewickelten Wache abzuwenden, und er sah sich Gaubert gegenüber, der ihn fragend anblickte.

„Können wir weitergehen?“ fragte Dorian; allerdings nicht so sehr deshalb, um ihr Ziel weiterzuverfolgen, sondern in erster Linie, um diese Stelle zu verlassen, die ihn allzu sehr daran erinnerte, was selbst mit kampferprobten Männern passieren konnte.

Ludowig und Nikodemus wirkten nicht mehr ängstlich, zumindest nicht nach außen. Dorian hatte sie oft um ihre Eigenschaft, sich kaum von den äußeren Umständen ablenken zu lassen, beneidet. Dies war ihm selbst in der Vergangenheit immer schwer gefallen. Die beiden jedoch machten jetzt einen gefassten Eindruck und schienen nicht viel nervöser zu sein als bei einem ihrer früheren Einbrüche. Sehr wohl machte der getötete Soldat Eindruck auf sie, doch die in Aussicht kommende Beute verlieh ihren Gesichtern eine gewisse Festigkeit, um die Dorian so sehr rang.

Nadim stand dicht bei Iria; fast schien es, als wollte er sich an ihr festhalten. Seine offene Furcht von vorhin war nun einer Lähmung gewichen, die seine Schritte und Gebärden mechanisch lenkte und die so ähnlich war wie bei Schlachtvieh, das seinem Schicksal mit stoischem Fatalismus entgegensah.

„Also gut, wenn keine Einwände kommen, dann sollten wir hier nicht weiter rumstehen“, sagte Gaubert schließlich. Er ging wieder voran, und sein Blick streifte ein letztes Mal den regungslosen Körper in dem Teppich.
 

Leise schlichen sie weiter, und immer wieder machten sie kurz Halt, um mit offenen Mündern zu lauschen. Ihr Weg führte sie an etlichen Türen vorbei, aber bei keiner von ihnen wagten sie es, sie zu öffnen. Es gab auch keine Anzeichen von Wachen, weder lebendigen noch toten.

Dorian, mitten in dem Pulk aus in geduckter Haltung schleichender Diebe, deren rasende Herzschläge ihre Schritte noch zu übertönen schienen, hielt immer noch sein altes Schwert in der Hand, an dem er sich festhielt und ohne dessen Halt er den Verlust seines Gleichgewichts befürchtete.

„Wohin gehen wir eigentlich?“ hörte er von weiter vorn. Es war Gaubert, der sich an Iria wandte, deren energische Schritte sie alle glauben machte, ihr wäre der Weg bekannt. Sie schüttelte als Antwort nur den Kopf, machte aber auch keine Anstalten, den bereits eingeschlagenen Weg zu verlassen.

Dorian blickte sich um. Sie gelangten nun auf eine Empore, von der man aus über das Geländer auf einen Saal hinab blicken konnte. Es gelang diesem Anblick, ihn für einige Momente von ihrer misslichen Lage abzulenken.

Zwei breite Treppenaufgänge führten von der Empore in weitem Bogen hinab, um sich weiter unten zu einer Treppe zu vereinen. Staunend trat er ans Geländer heran. Das Blattgold der Treppenbrüstung schimmerte im warmen Licht der Glühdrahtlampen, und der rote Samtteppich auf den Stufen war hier besonders prächtig. Das feurige Rot verband sich mit dem goldenen Glänzen der Verzierungen zu einer majestätischen Pracht, die ihn für diesen Moment seine Angst vergessen ließ.

Dann ging sein Blick weiter und fiel auf das Mosaik vielfarbiger Fliesen auf dem Boden des Saales. An seinen Rändern standen marmorne Statuen in würdevollen Posen, und über ihnen, an den Rändern der rundumlaufenden Empore, hingen die verschiedenen Flaggen des galdorianischen Reichs in besonders edlen, goldgeränderten Ausführungen in die Tiefe. Dorian staunte mit weitgeöffneten Augen und ebensolchem Mund.

„So wohnt also ein Kaiser…“, hauchte er. Eine Berührung an der Schulter riss ihn aus seiner Starre. Er drehte sich um und sah Nikodemus, der in die andere Richtung deutete.

„Jetzt komm schon. Die wissen, wo es weitergeht. Oder glauben es zumindest.“
 

Ihr Weg, angezeigt von einer weiteren toten Wache, führte durch einen steinernen, schmucklosen Treppenabgang tiefer in den Palast hinein.

Dorian blieb vor der Wache stehen. Wer immer sie auf dem Gewissen hatte, dieser Jemand hatte diesmal nicht einmal mehr den Versuch gemacht, den Körper zu verbergen. Er lehnte am Rande des aus roh gemauerten Wänden bestehenden Ganges. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und von einem Spalt an seiner Rüstung an seinem Unterleib führte eine dunkle Spur in eine breite Lache auf dem Boden. Er machte den Eindruck, dass man ihn nur an der Schulter stoßen müsste, um ihn zu wecken, und es war für Dorian schwer zu begreifen, dass das nicht der Fall war.

Die Schritte seiner Kameraden verhallten am Ende des Gangs, und die Aussicht, zurückzufallen, beschleunigte seine Schritte. Schnell schloss er wieder zu ihnen auf, doch es gelang ihm nicht, seine düsteren Gedanken hinter sich zu lassen. Er hatte in der Vergangenheit schon Leichen gesehen: Obdachlose, erfroren in harten Wintern, oder andere Personen vom Rande der Gesellschaft, die nach einem Überfall zurückgeblieben waren in der Gosse, in der man sie um ihren kargen Besitz wie auch um ihr Leben beraubt hatte. Doch immer war ihr tatsächliches Ableben weit weg gewesen und nicht erst unmittelbar bevor, wie bei diesen Soldaten des Kaisers, deren Körper noch nicht ausgekühlt waren.

Und so folgte er seinen Kameraden, angeführt von Iria und Gaubert, tiefer in dieses Gewölbe, das nun keinerlei Zier mehr besaß, sondern nur noch kalte Zweckmäßigkeit ausstrahlte. Der Vergleich mit einem Kerker drängte sich in Dorians Gedanken, und obgleich er von derartigen Orten bis jetzt nur gehört hatte, so sah er sich im Geiste bereits in einem gefangen.

Glühdrahtlampen hinter milchigen Gläsern erhellten den Gang, der leicht abwärts führte. Die groben Wände aus Mauersteinen glänzten feucht in ihrem Licht; an einigen Stellen tropfte Wasser von der Decke und sammelte sich in kleinen Pfützen. Die Luft selbst schmeckte feucht und abgestanden. Das unter der Stadt verlaufende Kanalsystem war nicht weit, das spürten sie an der feuchten Luft und an dem unterschwelligen Rauschen ferner Wassermassen, die sich in den Eingeweiden des Felsens unter ihren Füßen hindurch wälzten.

„Was ist das…“, hörte Dorian Gaubert erschreckt rufen. Dieser beschleunigte seine Schritte. Auch die anderen gaben jegliche Heimlichkeit auf und liefen los. Dorian, der von dem Grund für diese Aufregung nichts ahnte, versuchte, über die Köpfe seiner Freunde hinweg einen Blick in den Gang zu erhaschen.

„Der ist auch tot“, flüsterte Nikodemus aufgeregt. Mitten im Gang lag abermals eine leblose Wache des Kaisers. Diesmal jedoch war es keine subtile Verletzung, die ihn aus dem Leben gestoßen hatte. Bei diesem Körper zog sich ein klaffender Schnitt quer über die Brust und hatte seinen Brustharnisch geöffnet. Ströme dunkler Flüssigkeit vermischten sich mit der Nässe auf dem Boden, und ein unangenehmer Geruch stieg ihnen allen in die Nase.

Dorian starrte auf das farblose Gesicht des toten Soldaten. Er hörte, wie Nadim einige Schritte weg eilte und sich geräuschvoll erbrach. Auch Ludowig und Nikodemus entfernten sich und verbargen ihre von Ekel erfüllten Gesichter. Nur Iria und Gaubert blieben bei ihm.

Schauder legte sich um seine Knochen wie eine eiskalte Berührung, und Dorian fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Doch es gelang ihm nicht, den Blick von der getöteten Wache abzuwenden. Seine Nase füllte sich mit dem beißenden Geruch, einer Kombination aus Abwässern und Blut. Schon fühlte er ein Würgen in seiner Kehle, als Gaubert ihn endlich wegzog.

„Sieh dir das lieber nicht zu lange an.“

Iria war gleich hinter ihnen, und er hörte auch die Schritte der anderen, die einen Bogen um den Körper machten. Dorian blickte krampfhaft zu Boden und konzentrierte sich auf die dunklen, feuchten Steine, die unter ihm vorbeizogen. Das Bild des toten Soldaten jedoch war wie eingebrannt in seinem Blickfeld, die hemmungslose Gewalt, derer er an diesem Körper ansichtig geworden war, erfüllte ihn mit Abscheu. Das Schwert in seiner Hand kam ihm plötzlich wie ein unreiner Gegenstand vor, den er am liebsten weggeworfen hätte, doch zugleich fand er nicht die Kraft in sich, sich von dieser Waffe zu trennen, die ihm ebenso einen Funken Halt gab.

Gaubert sagte nichts, sondern ging an der Spitze ihrer schweigsamen Gruppe voran. Niemand äußerte mehr den Gedanken an eine Planänderung oder gar Flucht. Es war vielmehr so, als würden sie auf einem reißenden Fluss treiben, der keine Umkehr ermöglichte, als gäbe es jetzt nur noch einen einzigen Weg aus diesem Alptraum: strikt geradeaus, in die tiefste Dunkelheit dieses Tunnels, geleitet von der vagen Hoffnung, auf ein Licht zu stoßen, das hinter ihnen gar nicht mehr vorstellbar war.

Ihre Umgebung änderte sich, und die Gewissheit, ihrem Ziel nahe zu sein, wie immer dieses aussah, wurde übermächtig in ihnen. Sie gelangten aus dem steinernen Gang in einen weiten Raum, einen Saal, der weitaus höher war als die bisherigen Räumlichkeiten. Er musste tief unter dem Palast sein und war unterteilt von hohen Wänden aus eisernen Gitterwällen, die sich über ihnen bis in eine Dunkelheit fortsetzten, in die kein Licht reichte. Undeutlich erkannten sie im trüben Licht der Lampen Tore, ebenfalls aus verflochtenen Gitterstäben, die wie drohende Hände aus Torbögen ragten und den Zugang zu den einzelnen Bereichen regelten. Sie waren offen, und ihre mit Spitzen versehenen Ränder hingen in den Torbögen wie Lanzen, bereit, sich auf Eindringlinge zu stürzen. Mit einem Male wurde die Stille zerrissen, und zwar von Waffengeklirr.

Sie alle erstarrten, direkt unter dem ersten Tor. Vor ihnen schälte sich ein Kampfdom aus dem Zwielicht, das in dem Raum herrschte. Eine Kuppel aus blauen Linien rotierte einen halben Steinwurf entfernt hinter dem nächsten der Tore, und der Funkenflug aufeinanderprallender Waffen erhellte ihn immer wieder für kurze Augenblicke.
 

„Verfluchter Narr!“ zischte Sarik Metharom, der die Angriffe seines Gegners mit seiner Klinge abwehrte. Sein Kontrahent, ein junger Mann in einer Rüstung, dessen lange, blonde Haare über sein verzerrtes Gesicht hingen, kämpfte wie besessen. Er führte sein langes Schwert mit beiden Händen, und wenngleich seine Attacken nicht allzu schnell und voraussehbar waren, so lag doch eine Wucht hinter ihnen, die von glühender Verbissenheit zeugte.

„Du wirst es nicht bekommen!“ schrie Sariks Angreifer diesem entgegen. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und Strähnen seines langen Haares klebten an seinem Gesicht, auf dem ein vergnügtes Grinsen und ein Ausdruck wilden Hasses miteinander rangen. Abwechselnd errangen diese beiden Mienen die Oberhand und verliehen seinem jugendlichen Gesicht, über das sich eine auffällige Narbe zog, einen verstörenden Ausdruck. Er schwang sein Schwert mit einer Wut, als gälte es, Blutrache zu verüben, und Sarik gelang es bald, dieses Ungestüm zu nutzen und eine Finte anzubringen.

Sarik senkte seinen Stand und machte sich bereit, einen weiteren wuchtigen Hieb zu parieren. Sein Gegner holte wieder mit aller Kraft aus, und es wirkte, als läge ihm mehr daran, seine Wut auszuleben und seine Kraft zu verbrauchen, denn seinen Gegner zu vernichten. Doch dieses Mal tat Sarik einen schnellen Schritt zur Seite. Sein Gegner hatte alle Mühe, sein Schwert abzufangen, das sonst auf dem Steinboden aufgeprallt wäre.

Sarik nutzte diesen kurzen Moment und ging zum Gegenangriff vor. Mit wesentlich weniger Kraft, aber dafür mit der ruhigen Hand des erfahreneren Kämpfers drang er auf ihn ein, und dem Recken in der Rüstung gelang es nur mit äußerster Not, seinen Beidhänder hochzureißen und so den Hieb gegen seinen Kragen abzufangen. In diesem verzweifelten Manöver verlor er das Gleichgewicht. Von der Masse seiner Waffe und seiner Rüstung beschwert, stürzte er nach hinten. Sein älterer und erfahrener Gegner stand über ihm und hielt sein Schwert in Richtung Boden. Der fragende Blick seiner Augen zeichnete sich hinter der Brille ab, und seine Stimme war erstaunlich gefasst.

„Wer bist du, Knabe?“

Der Kämpfer mit dem blonden Haarschopf und dem vernarbten Gesicht, auf dem sich nun eine verstörende Mischung aus Ärger, Verzweiflung und Belustigung abzeichnete, starrte den ihm überlegenen Gegner an- dann rollte er sich aus seiner liegenden Position nach hinten, stemmte sich mit den Händen ab und landete in einer hockenden Stellung mehrere Schritte entfernt. Dabei hob er sein Schwert und zielte mit dessen Spitze auf sein Gegenüber.

Sarik, der seine Waffe zum Zeichen der Deeskalation zu Boden gerichtet hielt, beobachtete, wie die widersprüchlichen Ausdrücke auf dem Gesicht des jungen Mannes miteinander rangen, bis letztendlich ein überheblich wirkendes Lächeln die Oberhand gewann. Der junge Mann stand auf und legte sich sein Schwert über die Schulter. Die andere Hand stützte er in die Hüfte, und wo vorhin noch blinde Kampflust ihn getrieben hatte, nahm er jetzt eine würdevolle Haltung an.

„Ich bin Hargfried von Lichtenfels“, sagte er voller Stolz. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde weich wie das eines Kindes, das auf eine Belohnung für eine gut vollbrachte Tat wartete.

„So, so. Aus dem Herzogtum Lichtenfels.“

Sariks misstrauischer Blick wanderte immer wieder kurz in die Richtung seines Ziels, das er knapp vor sich sah. Doch gleichzeitig wollte er seinem bizarren Widersacher keinen Moment unbeobachtet lassen. „Und nun sagt mir- “, begann er, doch seine Worte wurden von einem Rasseln unterbrochen, das sich durch die Weite des Raumes fortpflanzte und von den Wänden gespenstisch widerhallte. Das Gittertor in den inneren Bereich des Saals, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, fiel herab, und seine Spitzen fanden in vorbereitete Vertiefungen, in denen sie einrasteten.

Beide Kämpfer warfen sich einen entsetzten Blick zu, dann eilten sie zu dem herabgefallenen Gitter und zerrten an den Stäben. Sie gaben jedoch keine Handbreit nach, und für diesen Moment vergaßen sie alle Feindseligkeiten von eben.
 

„Nichts wie weg, sonst bringen die uns auch noch um!“ schrie Ludowig mit brüchiger Stimme. Das Bedürfnis zu fliehen überwältigte ihn, seine Schritte hallten durch den Saal. Nikodemus und auch Gaubert folgten ihm. Dorian klang das Schwertergeklirr in den Ohren. Die Gewalt, die vorhin nur erahnbar gewesen war und in den Verwundungen der toten Soldaten leise gedroht hatte, diese Gewalt war nun hör- und greifbar in Form der beiden Männer, die sich mit erbitterten Mienen bekämpften, nur ein Dutzend Schritte von ihnen entfernt. Seine Angst, die er vorhin noch mit aller Selbstbeherrschung, die er aufbieten konnte, zurückgehalten hatte, durchbrach nun den mühsam errichteten Wall, überflutete seinen Verstand und lähmte seine Beine. Das Schwert in seiner Hand fühlte sich kalt, schwer und fremd an, und der Gedanke, Ähnliches zu tun wie das, was er vorhin gesehen hatte, war nun der Fernste auf der Welt.

„Kommt schon, ihr beiden!“

Der panische Schrei von Gaubert riss ihn aus seiner Erstarrung. Er drehte sich um, und Iria stand gleich hinter ihm. Sein eigener Schrecken spiegelte sich in ihren Augen, dann wanderte sein Blick weiter zu Gaubert, der im Tor stand, und zu Ludowig und Nikodemus, die kopflos flohen. Endlich gelang es ihm, seine Lähmung zu überwinden und loszurennen. Dabei ergriff er wie automatisch Irias Hand und zog sie gegen den schwachen Widerstand, den sie aufbot, mit sich. Sie stolperte, als würden ihre Füße erst langsam verstehen, welcher Gefahr sie entgingen, und allmählich stimmte sie in seinen Laufschritt ein.

„Schnell!“ rief Gaubert, dessen Blick zwischen Ludowig, Nikodemus und ihnen beiden hin und her pendelte. Offensichtlich rang er mit dem Impuls, zu fliehen, sowie mit der Verantwortung, die er auch für Iria und Dorian hatte. Dann, ganz plötzlich, hob sich sein Blick gerade nach oben.

Dorian, der nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, erkannte das Entsetzen in Gauberts Augen. Das Gitter des Tores, unter dem Gaubert stand, löste sich aus der Verankerung und näherte sich ihm mit der Geschwindigkeit eines fallenden Steins.

Gaubert fiel nach dem Sprung zu Boden, das Gitter schlug klirrend auf dem Steinboden auf. Seine Spitzen saßen in Vertiefungen im Stein, und keine Macht der Welt- schon gar nicht Dorians Hände, die verzweifelt an ihnen zerrten- konnte es nun wieder heben; diese Erkenntnis traf sie wie der Griff einer eiskalten Hand.

„Verdammt, was ist das hier…“, rief Gaubert fassungslos. Er sprang auf und zerrte ebenso an den Gitterstäben, die allein schon durch die Last ihres Gewichtes unverrückbar an ihrem Platz saßen.
 

„Wir müssen hier raus“, stieß Dorian zwischen zusammengebissenen Zähnen aus, während er mit aller Kraft an den Gitterstäben zerrte. Sein Schwert lag auf dem Boden, achtlos weggeworfen und völlig nutzlos in ihrer ausweglosen Situation. Er sah nicht, dass Iria, die eben noch genau wie er an den Stäben gezerrt hatte, einen Schritt zurück trat und mit erstarrter Miene auf die andere Seite sah.

Gaubert zerrte und zog ebenso an den Stäben, schließlich trat er mit den Füßen gegen sie. Doch nichts fruchtete. Seine Kameraden, Ludowig und Nikodemus, standen am Eingang zum Saal, und ihre angsterfüllten Mienen drückten die Scheu, sich dem Tor zu nähern, ebenso aus wie auch ihr Bedürfnis, von diesem Ort zu fliehen. Dann drehten sich beide um. Aus dem Gang, durch den sie hierher gelangt waren, drangen die Schritte vieler Stiefel an ihre Ohren.

Gaubert drehte sich ebenfalls um. Dann wandte er sich wieder den beiden zu, die direkt vor ihm standen und für die er doch nichts tun konnte.

„Mach, dass du wegkommst. Mach schon, lauf… Es bringt nichts, wenn sie dich auch schnappen!“

„Ich lass euch hier nicht zurück!“ entgegnete Gaubert, und Panik glänzte in seinen Augen. Dann wandte er sich wieder um. Die Geräusche der herannahenden Wachen wurden immer lauter. Ludowig und Nikodemus machten hektische Gesten, dann liefen sie los. Gaubert schüttelte den Kopf, als würde er sich mit allen Sinnen gegen das Unvermeidliche wehren.

„Lauf weg, verflucht!“ schrie Dorian nun so laut, dass Iria zusammenzuckte. Tränen der ohnmächtigen Wut stiegen in seine Augen. Gaubert trat einen Schritt zurück.

„Wir… wir kommen zurück, und dann, dann holen wir euch raus“, stammelte er, danach lief er los. Er verschwand in der Düsternis des Gangs, der sie hierher geführt hatte. Dorians Finger verkrampften sich um die Gitterstäbe, dabei presste er die Stirn an das unerbittliche Metall. Der Blick seiner tränennassen Augen verfolgte die Flucht seiner Freunde, und er hoffte, eine der Gabelungen, an denen sie zuvor achtlos vorbeigelaufen waren, würde zumindest ihnen die Freiheit zurückgeben, die für ihn und Iria hier endete.
 

Die beiden Männer standen vor dem heruntergelassenen Gitter, und der Kampfdom um sie herum erlosch. Ihre Augen forschten hinter der eisernen Verflechtung vor ihnen nach dem Gegenstand, der sie beide hierher geführt hatte. Für einen Moment tauchte in den Augen der beiden dasselbe begierige Glänzen auf, das diese so unterschiedlichen Männer für diesen Moment sehr ähnlich wirken ließ. Doch dieser Moment verstrich, und sie wandten sich wieder mit Mienen voll tiefem Argwohn einander zu.

„Wir sind gefangen, wie es aussieht.“

Hargfrieds Stimme klang, als hätte er eine gelungene Posse mit angehört. „Ihr habt euch mir aber noch nicht vorgestellt, werter Herr. Mit wem durfte ich vorhin die Klinge kreuzen?“

Der herausfordernde Blick des jungen Mann traf ihn, und das Leuchten in seinen Augen ließ Sarik zweifeln, dass er sich dem Ernst ihrer Lage bewusst war.

„Ich bin Sarik Metharom, Offizier von Mosarria“, sagte er nach einem kurzen Moment des Überlegens, der ihm bewusst machte, dass dieser verwirrte junge Mann zwar gefährlich war, aber nicht auf Seiten einer kriegführenden Partei stand.

„So, so, ein Offizier aus Mosarria…“, erwiderte Hargfried. Sein riesenhaftes Schwert ließ er dabei auf seiner Schulter wippen und machte dabei ein vergnügtes Gesicht, während Sarik sich in Richtung der herbeiströmenden Wachen wandte. Schlagartig wurde das Gesicht des jungen Mannes aber wieder ernst, und er deutete mit dem Zeigefinger seiner linken Hand auf Sarik. „Seid Ihr im Bunde mit den Mördern meines Vaters?“ fragte er ihn mit tiefer Stimme, aus der zähneknirschende Wut sprach. Sarik, dessen gelassenes Äußeres nicht anmerken ließ, dass er innerlich einen Plan für diese ausweglose Situation schmiedete, machte eine wegwerfende Bewegung, und sein gesundes Auge schielte dabei nach den Wachen, die den von Gittern eingefassten Bereich dieses Saales umstellten.

„Du bist ja nicht ganz bei Trost…“, sagte er leise und schätzte ab, ob hinter den Gitterstäben die größere Gefahr lauerte- oder nicht eher auf seiner Seite der Stäbe.

Gleich nach dem Auftauchen der beiden Eindringlinge hatte sie den Schutz der Finsternis gesucht, der sich hier oben, an der Decke des hohen Saals, bot. An den Gitterstäben hängend, die hier fugenlos mit dem Stein abschlossen, hatte sie gesehen, wie die beiden Männer zu kämpfen begonnen hatten.

Ihr Plan, zu warten, bis sich die beiden Männer gegenseitig geschwächt hätten und schließlich einer gefallen wäre, hatte sich leider nicht erfüllt. Dann waren weitere Personen in diesen verliesähnlichen Saal gekommen, die wie jugendliche Diebe wirkten. Diese mussten die Aufmerksamkeit der Wachen erregt haben, denn die schleusenartigen Zugänge zum Zentrum des Saales waren nun wie von Geisterhand geschlossen. Es gab keinen Grund mehr, in Deckung zu verharren, und so ließ sie sich in die Tiefe fallen.
 

Die beiden Männer wirbelten herum, als die Frau ein dutzend Schritte von ihnen entfernt auf dem Boden landete. Dorian und Iria wichen vor den Gitterstäben zurück, durch die sie die Blicke einer Hundertschaft der Palastgarde auf sich fühlten. Furcht und mehr noch Scham erfüllte sie. Was immer ihnen von diesen anderen Personen drohte, es konnte kaum schlimmer sein als das, was sie draußen erwartete. Dorian hob sein Schwert wieder auf; aber weniger deshalb, weil er dachte, sich damit verteidigen zu können, sondern mehr, weil ihn der Gedanke überkam, es würde sein Vergehen noch verschlimmern, hier einen Gegenstand fremder Herkunft einfach liegen zu lassen.

„Ganz schöner Betrieb heute“, sagte die Frau, die sich langsam aufrichtete. Ein langer Stachel ragte aus der Armschiene an ihrem linken Arm und schimmerte matt im Licht der Glühdrahtlampen.

Die beiden Männer wandten sich ihr zu, begingen aber keine feindliche Handlung. Der Jüngere, ein Mann mit langen, blonden Haaren, starrte sie mit einer Mischung aus Trotz und kindlichen Ärger an, als hätte ihm diese Person einen liebgewonnenen Gegenstand streitig gemacht. Der Andere, ein älterer Mann mit einer Brille und einem blinden Auge, blickte sie kühl und abschätzend an, und Dorian hörte förmlich, wie er diese Frau, sie beide und die generelle Situation einschätzte. Dorians Gedanken hingegen hatten den Punkt erreicht, wo ihr Toben und ihr panisches Durcheinander sich gegenseitig lahm gelegt hatten und ihn die kaiserliche Streitmacht hinter ihnen, die Tatsache, dass sie gefangen waren, und der Umstand, dass diese Personen ihn womöglich noch vor den Soldaten töten würden, erstaunlich wenig kümmerte. Eher war es so, dass er sich Schutz von diesen fremden Kriegern erhoffte, und der naive Glaube, aus dieser ganzen Sache heil rauskommen zu können, verstärkte sich in ihrer Gegenwart. Er blickte Iria an, die neben ihm stand, und fragte sich, ob sie das Ganze genauso empfand. Doch ihre Miene war wächsern und starr, er konnte nichts in ihr lesen.
 

„Gut gemacht, Leutnant“, sagte der Oberst der Palastgarde zum diensthabenden Offizier. „Das Sicherheitssystem hat gut angeschlagen, und sie haben auch schnell reagiert. Trotzdem muss geprüft werden, wie diese Personen so leicht in die Schatzkammer gelangen- “

Der Soldat erstarrte mitten im Satz, als sich die Warnleuchten, die stumm und unsichtbar an den Wänden verteilt im ganzen Saal saßen, zum Leben erwachten und Strahlen roten Lichts in alle Richtungen ausgossen. Das rote Flackern tauchte die glänzenden Harnische der Palastgarde in ein ungesundes Licht. Dutzende fragende Gesichter wandten sich nach allen Seiten.

Der Oberst lief zum Gitter, und der Leutnant folgte ihm.

„Das kann nicht sein… Jemand ist beim Maleficium!? Öffnet sofort die Tore!“
 

Das rhythmische Aufleuchten der Warnleuchten tauchte den bis dahin düsteren Saal jetzt in ein lebhaftes rotes Licht, das die Mienen aller veränderte. Hargfried schwang sein Schwert nach allen Richtungen, als würde er unsichtbare Gegner bekämpfen. Die anderen wichen vor ihm zurück und merkten, dass seine drohenden Gesten nicht ihnen galten, er aber nichtsdestotrotz eine Gefahr für sie in seinem unüberlegten Handeln darstellte.

„Da sind sie, die Mörder meines Vaters! Kommt nur her, ihr Teufel!!“ schrie er gegen die Warnleuchten an. Sarik betrachtete ihn noch kurz kopfschüttelnd, dann trat er an das Gitter, das sie vom inneren Bereich der Schatzkammer trennte, und blickte zwischen die Stäbe hindurch. Im roten Schein der Warnleuchten erkannte er eine Reihe von Kisten, von denen eine erhöht auf einem Podest stand. Ihre Position sprach für ihren speziellen Status, und er ahnte, was sich in ihr befand. Er hatte aber nicht die geringste Ahnung, wie sich jemand den Zugriff zu ihr verschafft hatte. Während die selbst im roten Licht der Warnleuchten nur schwer erkennbare Gestalt den Truhendeckel öffnete, fragte er sich Wird es wirklich jemand wagen…?
 

Die Gestalt, deren Konturen zur Gänze von einem wallenden, die Farbe wechselnden und zugleich auf irritierende Weise durchsichtigen Mantel verwischt wurden, langte in die Truhe. Das Gesicht war nicht erkennbar, aber das frohlockende Grinsen war spürbar, ja fast hörbar. Sie hob den Gegenstand aus der Truhe, setzte sich mit ihm auf die Stufe des Podests und legte ihn auf seinen Schoß. Dabei nahm sie keine Kenntnis von den durcheinander rufenden Wachen, die im Begriff waren, die Tore zur Schatzkammer zu öffnen.
 

Der Mann mit der auffälligen Narbe schimpfte und drohte immer noch den Warnleuchten. Dorian aber, und auch Iria, ebenso wie der ältere Mann und auch die Frau, die so plötzlich vor ihren Augen aufgetaucht war; sie alle sahen mit an, wie die Gestalt, die es irgendwie bis in den innersten Bereich des Saales geschafft hatte, den Gegenstand auf ihrer Schoß betrachtete. Für Dorian sah der Gegenstand aus wie ein altes, dickes Buch, dessen Einband mit Metallbeschlägen verziert war. Sein Blick traf dann den Mann neben ihm, der die Szene wie er gebannt verfolgte, der vorhin im Angesicht der Gefahr so ruhig gewirkt hatte, dessen Augen sich nun aber weiteten, um dabei langsam und tonlos zu flüstern:

„Das Maleficium…!“

Dorian hielt den Atem an, blinzelte verwirrt und wollte den Mann schon mit Fragen bestürmen; doch seine Stimme versagte. Wie von einem Zwang gelenkt blickte er wieder durch die Gitterstäbe, durch die er sah, wie die Gestalt das Buch aufschlug.
 

Die Gestalt, deren diffuse Umrisse sich beständig dem Auge aller Betrachter entzogen, öffnete das Buch. Seine nahesten Zeugen, Dorian, Iria und die ihm unbekannten Menschen um ihn herum, sie alle hielten den Blick auf ihn geheftet, und es war ihnen, als würden sie ihn lachen hören, als würden sie einen Ausruf des Triumphes hören, wenngleich ihre Ohren keinen Laut vernahmen. Und doch hing der Rausch eines endlich zur Erfüllung gekommenen Drängens spürbar in der Luft. Diese Erleichterung, die sie fühlten, ließ sie die kaiserliche Streitmacht vergessen, die sich in ihrem Rücken befand und im Begriff war, die herunter gelassenen Tore zu öffnen, um der Eindringlinge habhaft zu werden.
 

Die Gitter hoben sich; von der Ferne hörten sie Winden sich drehen und Ketten rasseln, und sogleich setzten sich die schweren Schritte der Palastgarde in Bewegung. Dorian sah das Gitter an sich vorbeiziehen. Durch das vorbeigleitende metallene Geflecht warf das aufblitzende grelle Licht zuckende Schatten auf sein Gesicht. Er schloss die Augen und ließ sich instinktiv zu Boden fallen.

Ebenso taten es Iria und die anderen Personen um ihn herum, die dem folgenden Ereignis am nächsten standen; die Palastgarde jedoch, die forsch und von dem Gedanken erfüllt, die Schmach des Eindringens dieser Diebe ungeschehen zu machen, vorstürmte, geriet in die volle Wucht des Geschehens, das vom Maleficium ausging.
 

Die massiven Buchdeckel des Maleficium öffneten sich, und sein Finder bekam weite Augen. Er sah das, was er sich so oft erträumt hatte, was sein ganzes Wesen und sein ganzes Drängen erfüllt hatte. Er sah nun die Seiten des Werkes, für das er alles zu geben bereit war. Er ahnte aber nicht, dass er genau das jetzt tun würde.
 

Strahlen blendenden Lichts entstiegen den Seiten, brachen aus wie ein Vulkan aus weißer Glut und überfluteten die Schatzkammer mit Helligkeit. Dorian spürte dies selbst noch durch seine zusammengepressten Augenlider. Er drehte den Kopf weg, öffnete die Augen ein Stück und sah undeutlich, wie die Wachen die Hände vor ihre Gesichter hielten, wie manche flohen und viele zu Boden sanken. Dann rollte über sie ein Donner hinweg, der keine physische Beschaffenheit hatte, den er aber bis ins Mark und bis in die Tiefe seiner Seele spüren konnte. Es fühlte sich an, als würde eine ganze Kavalleriekohorte in wildem Galopp über sie hinweg stürmen, und er fühlte auf der Oberfläche seiner Seele die schmerzenden Huftritte und das Getrampel schnaubender Rösser.
 

Die Gestalt im innersten Kreis der Schatzkammer blickte auf die Seiten des Maleficium, und ihre Augen wurden erfüllt vom Glanz, von den Verheißungen, von der überwältigenden Macht, die es ihm anbot, die es ihm entgegenhielt wie ein Geschenk, das nur für ihn allein bestimmt war. Licht strahlte aus den Seiten empor, und die Symbole und Lettern auf ihnen erschienen ihm in einer Deutlichkeit wie Sterne am tiefschwarzen Firmament. Es überflutete seinen Verstand und seinen Geist; die Gestalt konnte nicht anders, als das Geschenk anzunehmen. In seinem Taumel spürte er nicht mehr, wie das Maleficium den Preis für diese Macht verlangte, und war somit nicht imstande, diesen ihm zu verweigern. Er bekam alles vom Maleficium, alles, was er sich erträumt hatte- und im selben Moment begann sein Verlust, der durch nichts mehr zu stoppen war.
 

Dorian bewegte den Kopf auf die andere Seite und lüftete ganz vorsichtig die Hand vor seinen Augen. Das durchdringende Strahlen hatte etwas von seiner Blendwirkung verloren, und er erkannte wieder Einzelheiten seiner Umgebung. Rund um ihn herum lagen mehrere Personen auf dem Boden, die unter dem Gewitter des gleißenden Lichts ihre Köpfe unter ihren Händen verbargen, als spürten sie, dass hier eine Macht waltete, die größer war als sie alle. Dann sah er die Gestalt im Kern dieses Vorgangs.

Seine Konturen zeichneten sich blass im wogenden, wabernden Kern dieses Kreisels aus Licht, dieses Strudels aus flirrenden Schemen ab. Er hielt immer noch den Gegenstand, den der Mann zuvor das Maleficium genannt hatte, in Händen. Die Umrisse der Gestalt lösten sich auf, so erschien es Dorian.
 

Der Blick der Gestalt verlor sich immer tiefer in den Seiten des Maleficium, seine Seele forschte in ihnen nach alldem, was er schon immer gesucht hatte, und bei all dem war er sich nicht bewusst, dass dieser Gegenstand seine Klauen schon fest um ihn geschlungen hatte. Diese Gestalt war bereit, alles zu geben, selbst seinen eigenen Namen, so sehr war er schon betört. Sein eigener Name, der Name Scavo, selbst dieses vertrauteste aller Wörter schien ihm in diesem Moment unbedeutend und wäre beinahe dem Vergessen anheimgefallen, als sich die Macht des Maleficium ihm offenbarte.

Scavo sah die Lettern an sich vorbeimarschieren wie stolze Lanzenträger, wie Grenadiere eines mächtigen Heeres. Er sah ihre Reihen, ihre Kolonnen, und sie füllten ganze Schlachtfelder, die bis an den Horizont eines fernen Landes reichten, in dessen dunstigen Ebenen sich ihre Fußspuren verloren. Er sah sie marschieren und hörte den gleichmäßigen Atem ihrer Schritte und ihrer Rufe, die zusammen ein Ganzes bildeten, in dem die Seele des Krieges, in den sie zogen, enthalten war und welchem sie einhellig entgegen strebten wie ein Schwertarm, der sein Ziel unerbittlich verfolgte.

Der Geist des Maleficium ging auf ihn über, und sein Verstehen erweiterte sich um Welten, die mit dem Wissen und der Weisheit des Maleficium ausgefüllt wurden. Ein untrennbares Band wurde geschmiedet, sein Schicksal wurde in diesem Augenblick besiegelt.
 

Dorian versuchte aufzustehen, doch es war ihm, als müsste er gegen einen Sturmwind ankämpfen, der ständig drohte, ihn von seinen wackligen Beinen zu fegen. Ebenso versuchten es die anderen um ihn herum, die die gleiche Mühe hatten. Das Strahlen aus dem Zentrum des Saals nahm nun einen pulsierenden Charakter an. Wie ein schlagendes Herz flutete es in kurzen Abständen den ganzen Saal mit einem unerträglichen Glänzen, das ihm in den Augen brannte und die Luft zum Atmen raubte.

Die Männer der Palastgarde lagen allesamt im Staub. Einige wenige, die der ersten Welle des Ausbruchs hatten entfliehen können, krochen auf den Ausgang zu. Der Rest lag aber in erstarrter Haltung zu ihren Füßen, und Dorian fragte sich, ob dies ein Alptraum oder Wirklichkeit war.

Dann drehte er sich wieder um und stemmte sich gegen den Sturmwind, in dem ein rhythmisches Sausen dröhnte, das wie ein Schrei aus tausend Kehlen klang. Nur mit Mühe hielt er sich in den Böen aus Licht und Klang auf den Beinen, eine Annäherung an die Gestalt schien ihm unmöglich. Dann mischte sich ein schattenhaftes Flackern in das grelle Licht.

Zuerst erschienen ihm die Schemen nur wie unscharfe Schattenspiele an einer Wand, dann gewannen sie an Klarheit. Reiter auf prächtigen Pferden stürmten an ihm vorbei, ihnen folgten Kolonnen aus Speerträgern, Schwertkämpfern, aus Fußsoldaten in fremdartigen Rüstungen. Er verbarg sein Gesicht vor den schrecklichen Bildern, und Angst brannte ihm wie siedendes Wasser in der Kehle.

Er presste die Augenlider zusammen, doch die Bilder wichen nicht. Seine starren Beine fühlten sich wie kalte, nutzlose Stümpfe an. Lautlos verfluchte er sie und die Unfähigkeit, zu fliehen. Der Schrecken all des gesammelten Leids, all der bewaffneten Auseinandersetzungen, all der Feldzüge aus blinder Eroberungswut; sie strömten über ihn hinweg wie eine Flut unreinen Wassers, das ihm das Atmen erschwerte und jeden Mut nahm. Er fühlte sich so winzig klein inmitten dieses Geschehens, das ihm wie ein bereits im Vergessen begriffener Alptraum schien und das doch so greifbar echt wie eiskalter Hagel auf ihn hernieder prasselte. Plötzlich durchzuckte ein heißer Schmerz seinen rechten Arm, woraufhin er die Augen öffnete.

Die Schemen und die Schatten längst vergangener Schlachten, die wie eine Luftspiegelung durch den Raum tanzten und sich auf ihren Gesichter spiegelten, schienen einen Wirbel um den Escutcheon an seinem rechten Arm zu bilden. Wie um einen herausragenden Stein in einem wilden Gewässer, so drehten und brachen sich die Ströme flackernden Lichts um seinen Arm. Die Glasscheiben im Escutcheon begannen in grellen Farben zu blinken und zu flackern. Gleichzeitig fühlte sich das Metall brennend heiß auf der Haut an.

Die Panik drohte ihn endgültig zu übermannen, und er zerrte am Escutcheon wie von Sinnen. Seine Beine gehorchten ihm immer noch nicht. So zog er mit umso größerer Kraft an der Armschiene, die in diesem Moment schmerzhaft in seine Haut einzuwachsen schien. Die Pein wurde unerträglich, und seine Augen, in denen der Irrsinn die Oberhand zu gewinnen drohte, tasteten nach dem Schwert, das auf dem Boden lag. Der Plan, sich in letzter Konsequenz den Arm abzuhacken, reifte wie ein krankmachendes Geschwür in seinem vom Schrecken durchfluteten Verstand. Als sich der Schmerz der Grenze des Vorstellbaren näherte, sahen seine zitternden Augen, wie sich die vier Scheiben zur Gänze mit einem satten grünen Schein füllten.

Iria wedelte mit den Händen vor seinem starren Gesicht, und nach einigen Momenten kam wieder Leben in seine leeren Augen. Er sah sie an, dann stolperte er rückwärts. Dabei fiel er über etwas; im Liegen sah er, dass es einer der Soldaten war.

Es war still, gespenstisch still. Das Leuchten, das vorhin den Saal erfüllt hatte und ihm in den Augen gebrannt hatte, als würde er im Zentrum eines Gewitters stehen, war verloschen. Stattdessen herrschte wieder das Zwielicht von zuvor, in das die Warnleuchten unruhige Schatten warfen.

„Was… was… was war das…“, stammelte er. Der Blick seiner tränenden Augen traf die leblosen Körper der Palastwachen, in dessen Mitte er auf dem Hosenboden saß. Niemand von ihnen rührte sich, und er konnte auch keine Bewegungen, die auf Atem schließen ließen, erkennen. Doch er wollte gar nicht näher prüfen, ob sie lebendig waren und nur zum Schein tot, und so rappelte er sich mühsam auf.
 

„Ich habe keine Ahnung“, sagte Iria als Antwort auf seine Frage. Ihr Blick wirkte traurig, als hätte sie einen unwiederbringlichen Verlust hinnehmen müssen. Nur langsam klarte sich Dorians Verstand. Sein Blick tastete durch den Raum, über die Anzahl verstreut liegender Wachen, in das Innere des Saals, und an die Stelle, an der die Gestalt das Maleficium geöffnet hatte. Die Mosaiksteine seiner Erinnerung fielen eines nach dem anderen an ihren Platz, und die nächsten Fragen tauchten auf.

„Wo sind die anderen? Wo sind Gaubert und… wo sind sie?“ fragte er sie leise, seine Stimme zitterte dabei. Sein fahriger Blick traf sein Schwert, das auf dem Boden lag, und er bückte sich danach. Er hob es auf, als könnte er mit dieser Geste einen kleinen Teil seiner gewohnten Realität wiederherstellen. Dabei fiel sein Blick auf den Escutcheon an seinem Arm. Die Scheiben darauf leuchteten mal schwach, mal stark, mal alle zugleich, dann wieder einzeln. Sein verständnisloser Blick traf dann Iria. Sie schüttelte nur den Kopf und schaute dann in Richtung des Zugangs zu diesem Saal.

„Wir sollten gehen“, sagte sie mit schwacher Stimme, die doch einen drängenden Unterton in sich hatte. Dann lief sie los, und er folgte ihr mit unsicheren Schritten.
 

Iria lief voraus. Sie sprang über die regungslosen Körper der Palastwachen hinweg, als wären sie nur vom Wind umgerissene Baumstämme, die ihnen eine höhere und unverständliche Macht in den Weg gelegt hätte. Dorian folgte ihr, und sein Blick irrte flüchtig durch den Saal. Außer den bewegungsunfähigen Palastwachen war niemand zu sehen, weder der Mann mit der Brille, noch der andere mit dem langen Haar, ebenso wenig die Frau mit dem Stachel an ihrer Armschiene. Und auch Nadim war in dem Chaos zuvor verschwunden. Dorian blieb am Eingang zum Saal noch einmal stehen, und da erschien ihm dieser Ort wie ein Friedhof. Er verdrängte die Frage, ob die im Saal verstreut liegenden Wachen wirklich tot waren; Nadim war jedenfalls nicht unter ihnen, genauso wenig wie einer der Fremden. Irias Schritte verhallten in dem steinernen Korridor, und er riss sich los von dem beklemmenden Anblick, um ihr zu folgen.

„Iria! Iria!! Wo willst du überhaupt hin?“

Endlich gelang es ihm, sie einzuholen. Wie schon zuvor, so lief sie durch diese Katakomben, als wären sie ein vertrauter Ort für sie, als würde sie hier jeden Fußbreit kennen. Sie bog an mehreren Gabelungen ab, die ihm auf dem Herweg gar nicht aufgefallen waren. So sicher sie sich ihres Weges war, so sehr widerstrebte ihm der Gedanke, noch tiefer in diese Gewölbe vorzudringen. Er wollte nur raus und zurücklaufen in den Bucket-Weg, wo ihr Haus, ihr Zuhause, war.

Endlich brachte er sie zum Halten, und sie sah ihn herausfordernd an.

„Wo willst du eigentlich hin?“

Ihr Gesicht war noch entschlossener als zuvor. Während das rätselhafte Ereignis vorher Dorian jegliche Zuversicht geraubt hatte, so merkte er an ihr nichts von der Angst, die seine Schritte beschwerte.

„Das Maleficium… er ist damit vor uns raus. Ich muss ihn finden!“ sagte sie mit fester Stimme. Dorians Augen wurden weit, sein Unterkiefer begann unkontrolliert zu zittern und seine Arme hoben sich zu einer Geste der Fassungslosigkeit.

„Nadim und die anderen sind weg, wir sind hier in wer weiß was geraten, und du denkst an dieses Ding!?“ schrie er nun fast. Seine Stimme überschlug sich vor Empörung. Iria hingegen verschränkte die Arme, ihr Blick wurde noch düsterer, als er eben noch gewesen war, und wandte ihm den Rücken zu.

„Ich habe keinen von euch gebeten, mitzukommen“, sagte sie leise und voller Ingrimm. Dorians Hand schnellte vor, packte sie an der Schulter und riss sie unsanft zu sich herum.

„Ich weiß nicht, wie es da ist, wo du herkommst“, bellte er sie voll unverhohlenem Zorn an, „aber wir lassen hier keine Kameraden einfach so zurück!“ Seine Stimme verlor ihre Wut, aber nichts von ihrer Eindringlichkeit. „Wir müssen sie suchen… und dann müssen wir sehen, wie wir hier wieder rauskommen.“

Iria wollte etwas erwidern, und das scharfe Glänzen in ihren schmalen Augen ließ vermuten, dass es eine energische Entgegnung sein würde- als das Geräusch schwerer Stiefel an ihre Ohren drang.
 

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, setzten sie ihre Flucht fort. Diesmal, geradeso, als wären seine Kräfte zurückgekehrt, lief Dorian voran, und Iria war es, die alle Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Aufgeregte Rufe, das Scheppern stählerner Rüstungen und das Geräusch mehrerer Schwerter, die gezogen wurden, hallten von den steinernen Wänden wieder und vermischten sich zu einem unheilvollen Klangteppich, der dicht hinter ihnen und manchmal sogar ein Stück vor ihnen zu ertönen schien. Dieser beschleunigte ihre atemlosen Schritte noch mehr und ließ sie jeden Überblick in diesen gleichförmigen Gewölben verlieren.

Längst wussten sie nicht mehr, ob sie überhaupt in Richtung des Herweges liefen oder nicht eher wieder zurück, doch das unerbittliche Herannahen ihrer Verfolger vereitelte jeden klaren Gedanken. Das Einzige, das sie auf ihrer kopflosen Flucht registrierten, war, dass die Luft immer feuchter wurde und der Geruch vorbeiströmender Abwässer immer intensiver.

Dorian bekam das Gefühl, im Kreis zu laufen, so ewig gleich erschienen ihm die aus groben Steinen gemauerten Gewölbe- bis sie an eine Treppe kamen, die vom Gang abzweigte und in die Tiefe führte. Er blieb vor ihr stehen und blickte sich um. Das Geräusch vorbeirollender Wassermassen war hier lauter als noch zuvor. Iria wäre fast an ihm vorbeigelaufen, und er packte ihre Schulter, um sie aufzuhalten. Sie stieß seine Hand weg und funkelte ihn finster an.

„Finger weg! Wenn du das nochmal machst- “

„Schnell, hier lang!“ unterbrach er sie, und schon lief er die Treppe hinab. Iria schnaubte empört, blickte zurück in den Gang, durch den bereits die Echos der herannahenden Schritte tanzten, und folgte ihm.
 

Die Treppe war lang, feucht und an vielen Stellen mit einem glitschigen, grünlichen Film überzogen. Dorian hatte Mühe, auf den rutschigen Stufen das Gleichgewicht zu bewahren, bis sie endlich wieder auf ebenen Boden mündete. Er blieb abrupt stehen, und Iria wäre fast in ihn hineingelaufen. Sie wich ihm kopfschüttelnd aus, dann sah auch sie, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund öffnete sich, ohne dass ihn ein Wort verließ.

Vor ihren Füßen rauschte ein Strom aus trübem Brackwasser vorbei, der sich in diffuser Dunkelheit fortsetzte. In weiten Abständen waren Glühdrahtlampen in die hohen Wände eingelassen, das schmutzige, angelaufene Glas ließ aber nur wenig Licht hindurch. In diesem erkannten sie die hochaufragenden Säulen, die dieses Gewölbe tief unter der Stadt stützten, sahen die reichen Verzierungen, deren Konturen durch die faulige Luft verblasst waren, und nahmen die kühnen Torbögen wahr, durch die sich die Wassermassen wälzten.

„Das ist ja wie… ein unterirdischer Palast.“

Iria wagte es nur zu flüstern angesichts der majestätischen Architektonik, die an diesem Ort vergessen ruhte und von den scharfen Abwässern schon weitgehend zerfressen war. Ihr Blick suchte immer noch das Ende der Kuppelgewölbe über ihnen, die von den mächtigen Säulen gestützt wurden, deren Formen sich in der Dunkelheit verloren- als klatschende Schritte auf sie zu kamen.
 

Dorian hob sein Schwert und kniff die Augen zusammen, um ihren Angreifer erkennen zu können. Iria suchte Deckung in seinem Rücken und hielt sich unwillkürlich an seinen Schultern fest- dann erkannten sie, dass es Nadim war, der durch das nur knietiefe Wasser auf sie zugewatet kam. Seine Bewegungen waren voller Hast und sein Gesicht zeigte die Erleichterung, die ihr unverhofftes Zusammentreffen in ihm auslöste.

„Da seid ihr ja, Mann, bin ich froh!“

Dorian ließ das Schwert sinken. Sein Blick wanderte zu Irias Händen, die seine Schultern hielten. Augenblicklich löste sie die Berührung und lief an ihm vorbei auf Nadim zu. Dabei wich sie seinem Blick aus, als reute sie dieser Moment der Nähe, den ihre Erschrockenheit herbeigeführt hatte.

„Wie kommst denn du hierher?“ fragte Dorian, während sie Nadim über den Rand des steinernen Flussbeckens hoch half.

„Dieses Ding, als es hochging, da dachte ich, mein lieber Mann, da dachte ich- “, sprudelte es aus ihm hervor. Das Gewicht seiner nassen Stiefel zerrte sichtlich an ihm. Iria rümpfte die Nase über den intensiven Geruch, den er bei seiner nassen Unternehmung angenommen hatte. „Dieses, dieses Ding, unglaublich, das war so gespenstisch… Jedenfalls, ich bin bei der ersten Gelegenheit weggelaufen, ich dachte, jetzt holen uns alle Teufel…“, erzählte er und machte dabei wirre Gesten, die von den verschiedenen Eindrücken, die durch seinen Kopf geisterten, kündeten.

„Hast du Gaubert und die anderen irgendwo gesehen?“

Dorian, der es leid war, die Geschichte zu hören, die er selbst miterlebt hatte, unterbrach ihn mit diesen Worten.

„Nein, die habe ich nicht gesehen…“, antwortete Nadim kleinlaut und blickte zu Boden, als würde er sich für seine Flucht aus der Schatzkammer schämen.

„Er weiß auch nichts darüber, du siehst doch, dass er um sein Leben gelaufen ist“, sagte Iria und legte ihm schützend eine Hand auf die Schulter. Nadims Miene hellte sich augenblicklich auf. Dorian, der sich bessere Auskunft von ihm erhofft hatte, runzelte die Stirn und verschränkte die Arme. Iria erhob sich, und Nadims Blick verlor gleich etwas seiner Zuversicht. Er streckte ihr noch die Hand entgegen, doch anstatt ihm aufzuhelfen, ging sie ein paar Schritte weg und starrte in die Dunkelheit, als könnte sie diese mit einem entschlossenen Blick vertreiben.

„Ihr könnt sie gern suchen, ich wünsche euch dabei viel Glück. Aber ich bin wegen dem Maleficium gekommen, und- “

Ihre Worte versiegten, als spürte sie den Verrat, den sie an Dorians Freunden damit beging; jenen Leuten, die sie aufgenommen hatten in ihrer Mitte und sie nicht alleine hatten ziehen lassen. Gleichzeitig merkte Dorian das brennende Verlangen nach dem Maleficium in ihr, für das sie selbst das schwerste Opfer bringen würde, wie er kaum noch zweifelte.

Dorian schüttelte den Kopf, atmete geräuschvoll aus und legte sich sein Schwert über die Schulter.

„Wir wissen nicht, wo Gaubert und die anderen sind, und genauso wenig wissen wir, wo dieses… dieses Maleficium ist.“

Aus den letzten Worten klang tiefer Gram über diesen Gegenstand heraus, der all das Unglück über sie gebracht hatte.
 

Nadim, der immer noch auf dem Boden saß, blickte ihm ratlos hinterher, dann kämpfte er sich ungelenk auf die Beine. Iria blickte Dorian hinterher, der am Rande des Abwasserkanals losmarschierte, das Schwert auf seiner rechten Schulter, welches ihm Zuversicht in dieser aussichtlosen Situation zu geben schien, und folgte ihm. Ebenso tat es Nadim, der, nass bis zu den Knien und leise schlotternd, hinter Iria nach schlurfte und dabei den Kopf hängen ließ, als hätte er abermals bei einer Diebestat vor Publikum versagt.

Dorian ging voran, die anderen folgten wortlos. Niemand wusste, welcher Weg richtig oder falsch war, welcher sie wieder ans Tageslicht führen würde oder noch tiefer in diese Gewölbe unter dem Palast. Sie alle spürten deutlich, dass sie hier unten nichts anderes erwartete als der Zorn der Palastgarde, die den Dieb des Artefakts in ihren Reihen vermutete, wo sie doch nicht weniger verwirrt waren als es die Wachen sein mussten, die nun die Gewölbe unter dem Palast durchstreiften.
 

Dorian ging voraus und dem trüben Zwielicht entgegen, gegen das die schwachen Glühdrahtlampen wohl schon seit vielen Jahren einen aussichtslosen Kampf führten. Die hohen und einst prächtigen Kuppeln hingen nur undeutlich erkennbar über ihnen in der Dunkelheit und überschauten dabei ihren einsamen Gang durch diese feuchten Gewölbe. Nur das gleichmäßige Plätschern der Abwässer neben ihnen war ihr Begleiter in dieser düsteren Stille, in die sich die Geräusche ihrer Schritte wie freche Eindringlinge mischten.

„He, Dorian… Warte einen Moment“, sagte Iria und lenkte ihre Schritte neben die seinen. Nadim ging einige Schritte hinter ihnen, und das Gewicht seiner nassen Kleider schien seinen Blick zu Boden zu ziehen. Iria drehte sich kurz zu ihm um, bevor sie Dorian mit einem verlegenen Blick wieder ansah.

„Was gibt’s“, erwiderte Dorian knapp, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Sein fester Blick suchte das Zwielicht zu durchdringen, als könnte er ihm das Wissen um das Schicksal seiner Freunde mit genügend Entschlossenheit abringen.

„Wegen vorhin… was ich über die anderen gesagt habe“, begann sie zögerlich. Leise Scham klang aus ihren Worten. „Es tut mir leid. Und ich… ich möchte dir helfen, sie zu finden.“

Er begegnete ihrem zaghaften Blick, um sich dann wieder ihrem Weg mit entschlossener Miene zu widmen, über den er doch genauso wenig Ahnung hatte wie Iria oder Nadim.

„Ich wüsste nicht, wie du mir jetzt großartig helfen willst“, antwortete er kühl und mit unterschwelligem Ärger in der Stimme. „Ich dachte, das Maleficium ist dir so wichtig“, fügte er in einem versöhnlicheren Ton hinzu, als spürte er das Bedürfnis, seine harschen Worte von vorhin abzuschwächen.

„Es ist mir schon wichtig… aber deine Freunde sind mir auch wichtig. Ihr wolltet mich nicht alleine gehen lassen, und dafür bin ich ihnen dankbar.“

Bedauern und auch ein leiser Selbstvorwurf klangen in diesen Worten mit, wie ein Geständnis, das nun zu spät kam und ihr Gewissen drückte. Dorian erwiderte nichts, sondern blieb an einem geschwungenen, steinernen Steg stehen, der über den gleichmäßig rauschenden Strom aus Abwässern hinüberführte. Er überlegte einen Moment, um ihn dann zu beschreiten. Weniger deshalb, weil er einen bestimmten Weg verfolgte, den er doch selbst nicht kannte, sondern mehr, um sich von seinem eigenen Schuldgefühl abzulenken, das ihm in den zaghaften Worten von Iria widergespiegelt wurde.

Er selbst hatte für diesen irrwitzigen Plan gestimmt, und nun stand er in der Versuchung, die Schuld für dieses Desaster allein Iria aufzubürden; doch er selbst hatte ihren Bestrebungen nie widersprochen, und auch ihn hatte der Ehrgeiz und die Verlockung, einen so wertvollen Gegenstand zu entwenden, gereizt, wie er sich nun schmerzhaft eingestehen musste. Und so lenkte er seine Schritte umso forscher über die schmale, steinerne Brücke, um nicht nur diesen düsteren, feuchten Gewölbe zu entfliehen, sondern auch den Selbstvorwürfen, mit denen ihn das Verschwinden seiner Freunde belegte.

Auf der anderen Seite des Abwasserbeckens erkannte er einen Torbogen, der aus diesem Kanal herausführte. Schwaches, gelbliches Licht erhellte den Bereich dahinter, und die Hoffnung, einen Ausweg zu finden, weckte Zuversicht in ihm. Diese schwand aber wieder, als Schritte durch dieses Tor klangen und mit ihnen aufgebrachte Rufe, die von keinem seiner Freunde stammen konnten.

Dorian erstarrte und lauschte gebannt. Die Schritte kamen schnell näher, und schließlich trat eine der Palastwachen aus dem Zwielicht. Deren Bewegungen zeigten, dass die Wache eigentlich dem Verlauf des Abwasserkanals folgen wollte, doch ihr Blick traf die drei Gestalten, die auf dem steinernen Übergang standen und fast schon die andere Seite erreicht hatten.

Seine Füße waren wie gelähmt. Dorians Hände begannen augenblicklich zu zittern, als sich sein Herzschlag beschleunigte. Das Schwert in seiner Hand wurde immer schwerer, in seinem Kopf schrie eine Stimme „Lauf!“, und ebenso hörte er solche Worte von Nadim und Iria hinter sich, doch seine Füße verharrten immer noch wie versteinert an ihrem Platz.

„Schnell weg!“ rief Iria, und zerrte an Dorians Schulter, doch seine Lähmung war stärker. Mit geweiteten Augen sah er den kaiserlichen Soldaten, der auf sie zu lief und aus dessen kaltem Blick sein grimmiges Vorhaben sprach.

Iria zerrte mit aller Kraft an Dorian. Nadims Schritte verklangen in der Dunkelheit hinter ihnen, doch Dorian rührte sich nicht vom Fleck. Das Entsetzen hielt ihn in angstvoller Erstarrung gefangen; schließlich gab sie es auf und lief weg.

Wenige Schritte vor ihm blieb der kaiserliche Soldat stehen, baute sich zu voller Größe auf und richtete sein Schwert auf Dorian. Ein Netz aus blauen, sich kreuzenden Linien spannte sich zischend auf und hüllte sie ein in eine Kuppel, die alles eindringende Licht filterte.

Verwirrung und Angst tobten durch Dorians Kopf und jagten sich gegenseitig. Er öffnete seinen ausgetrockneten Mund und wollte um Hilfe rufen, doch kein Wort verließ seine Kehle. Das Schwert entglitt seinen schwitzenden Händen um ein Haar. Die ihn einen ganzen Kopf überragende Wache stürmte auf ihn zu und holte mit ihrem deutlich größeren Schwert aus. Auf ihrem Gesicht zeigte sich die Gewissheit, nun einen unterlegenen Gegner zu zerschmettern.

Dorian, immer noch in der Lähmung seiner Angst gefangen, sah das Schwert herannahen, erkannte die blitzende Schneide im Zwielicht des Kampfdoms und glaubte sogar die Reflektion der blauen Linien, die diesen bildeten, auf ihrer Oberfläche zu erkennen- als ein klirrendes Geräusch, begleitet von Funkenflug, ihn aus seiner Erstarrung riss.
 

Die Wache taumelte zurück, die Entschlossenheit auf ihrem Gesicht unter dem hochgeschobenen Visier war ersetzt durch Fassungslosigkeit. Jene Fassungslosigkeit, die jetzt auch Dorians Verstand überflutete. Er sah sein gehobenes Schwert direkt vor seinen Augen, mit dem er den kraftvollen Hieb des kaiserlichen Soldaten abgewehrt hatte. Dann wanderte sein Blick weiter zum Escutcheon an seinem Arm, dessen Glasscheiben blinkten und flackerten, deren Farbe sich von Grün zu allen anderen Farbtönen wandelte, um dann wieder ihre ursprüngliche Färbung anzunehmen. Ihre Zahl veränderte sich ständig, einzeln und dann wieder alle zugleich flackerten sie in unstetem Rhythmus auf. Bis sie endlich Ruhe fanden und drei von ihnen voll, hell und satt glühten.

„Was ist das…?“ stammelte er ratlos, dann hob er den Blick. Die Wache stürzte sich in genau diesem Moment auf ihn, und er sah ihr Schwert auf ihn herab sausen wie eine blitzende Guillotine. Wie von selbst hob er den Arm und parierte die Attacke. Die Wucht seiner eigenen schartigen Klinge brachte den kaiserlichen Soldaten aus dem Gleichgewicht. Mit dem Gewicht seiner schweren Rüstung ringend, taumelte er zurück, und seine geweiteten Augen wechselten zwischen seiner eigenen Waffe und dem Knaben, dem er sich gegenüber sah.

„Du kleiner Wicht wagst es…!“ zischte er wütend. Dann begann er seinen von ihm wohl unterschätzten Gegner abwartend zu umkreisen. Dorian, der endlich wieder die Herrschaft über seine Füße hatte, wich vor ihm zurück, und sein banger Blick wechselte immer wieder zu seinem Escutcheon, auf dem drei Scheiben in einem satten Grün glühten. Seine Ratlosigkeit über diese Erscheinung vermischte sich mit seiner Furcht vor dem Angreifer, und diese Mischung verlieh seinen Füßen eine Behändigkeit, die sich völlig von der zuvor wirksamen Lähmung unterschied und ihn zur Flucht drängte. Doch hinter sich spürte er die Begrenzung des Kampfdoms ebenso wie die beklemmende Gewissheit, dass nur das Ende dieses Kampfes oder sein Angreifer diese Barriere auflösen konnten.

Abermals attackierte ihn der Soldat, diesmal jedoch überlegter und gezielter. Dorian duckte sich in einem Reflex, der ursprünglich aus den Ohrfeigen seines Ziehvaters Yannick entstanden war, doch jetzt waren seine Bewegungen weitaus geschmeidiger als damals. Sie schienen ihn mit sich zu ziehen, anstatt dass er sich als ihr Urheber fühlte. Die Schwertklinge des Angreifers ging immer wieder ins Leere; zwischen diesen Ausweichmanövern erkannte Dorian die wachsende Verunsicherung auf dessen Gesicht.

Seine Bewegungen und das Gefühl, das von dem Escutcheon ausstrahlte und sich über seinen gesamten Körper übertrug, verliehen Dorian eine Leichtigkeit, die er bis jetzt nur von ihren Hetzjagden über die Dächer Galdorias kannte oder den gelungenen Taschendiebstählen, die er seit klein auf ausführte, und er begann, dieses Gefühl zu genießen. Er begann ein Katz-und-Maus-Spiel mit seinem Widersacher, und manchmal ließ er die wesentlich schwerere Klinge seines Gegners an seiner abprallen.

Doch auch der kaiserliche Soldat erhöhte seine Anstrengungen, wodurch es Dorian immer schwerer fiel, seinen Angriffen auszuweichen. Schließlich verstrickten sie sich in einen heftigen Schlagabtausch. Der Funkenflug ihrer aufeinanderprallenden Klingen erhellte den Kampfdom und warf unruhige Schatten an seine Begrenzungen.

Die Hitze der Auseinandersetzung stieg Dorian in den Kopf und breitete sich in seinen Gliedern aus. Dabei verdrängte sie jeden Rest von Furcht und Zurückhaltung; schließlich ging er in die Offensive über. Seine kurze, schartige Klinge fand einen Weg durch den Wall aus blitzendem Stahl, den sein Gegner vor ihm zu errichten suchte, stieß durch seine Deckung und drang zielsicher zwischen zwei Lamellen seiner Unterleibspanzerung ein.

Von aufloderndem Überlebenswillen erfüllt, legte Dorian alle Kraft in seine Schritte, drang weiter gegen seinen Gegner vor und schob die Klinge bis zur Parierstange in seinen Körper hinein. Seine Ohren, in denen das Blut rauschte, hörten gar nicht, wie die Waffe des kaiserlichen Soldaten klirrend den Boden traf. Mit dem Ellbogen seines linken Arms stieß er seinen Gegner von sich und zog dabei seine Klinge aus ihm heraus. Von ihr floss eine dunkle Spur zu Boden, der kaiserliche Soldat stürzte nach hinten. Das Scheppern seiner Rüstung klang nur undeutlich an Dorians Ohren. Der Kopf der Wache verrutschte in ihrem Helm und verdeckte so seine leeren Augen, die zur Seite starrten. Dorians Schultern hoben und senkten sich, er rang nach Luft, und das Netz aus blauen Linien, das ihre Arena begrenzt hatte, erlosch um sie herum.
 

Das leise Tropfen von Dorians Schwert traf den Steinboden unter ihm; es klang ihm in den Ohren wie das Pochen des Herzens in seiner Brust. Die Hitze verebbte langsam, das Ringen nach Luft wurde ihm leichter. Sein Blick traf den kaiserlichen Soldaten, der vor ihm lag. Dessen reglose Hand war auf das Schwert gerichtet, das wenige Schritte von ihm entfernt lag. Sein Schwert lag einfach da, ohne Besitzer, ohne die Hand, die es geführt hatte, bewegungslos und kalt… wie der Soldat, der durch Dorians Hand gestorben war.

„Wahh!!“ schrie er auf, als ihn eine Hand an der Schulter berührte. Er fuhr herum, und Iria wich vor seinem Schwert zurück, von dem noch Blut tropfte. Dorian begegnete ihrem traurigen, fragenden Blick, dann sah er wieder sein Schwert, mit dem er so oft geübt hatte, und hörte dabei das Lachen von Gaubert bei ihren Übungskämpfen, wie auch die vergnügten Spötteleien von Ludowig und Nikodemus, all die vertrauten Laute aus einer glücklichen, unschuldigen Zeit… eine Zeit, in der noch niemand durch seine Hand getötet worden war.

„Du bist… dir ist nichts passiert!“ sagte Iria in verwirrtem Tonfall. Nadim näherte sich ihnen vorsichtig. „Du hast ihn besiegt…“ Irias scheuer Blick traf den toten Soldaten. „Wir sollten sehen, dass wir wegkommen. Es kommen wahrscheinlich noch mehr, und du wirst nicht immer so viel Glück haben“, sagte sie eilig und lief voraus. Dann blieb sie stehen und gab ihm mit einem fragenden Blick zu verstehen, dass Eile angebracht war.

Nur zögernd setzte er sich in Bewegung, als Nadim an ihm vorbeilief. Er schloss eilig zu Iria auf und betrachtete dabei abermals sein Schwert. All die unschuldigen Erinnerungen, die er mit ihm verband, an Gaubert, an ihre Übungskämpfe, an das Haus am Bucket-Weg… das vergossene Blut schien sie wegzuwaschen und zu verschmutzen, er erkannte es nicht wieder. Seine Hand öffnete sich unwillkürlich, woraufhin es klappernd zu Boden fiel.

„Nun komm schon!“ hörte er die furchtsamen Worte von Iria, die schon ein Stück vorausgelaufen war. Der Strom der Abwässer wälzte sich behäbig an Dorian vorbei, und genauso langsam wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Sein Blick mied den leblosen Körper des Soldaten beharrlich, stattdessen hob er dessen Schwert auf und betrachtete es, als könnte es ihm Aufschluss darüber geben, was mit seinem Besitzer geschehen, wie er aus dem Leben geschieden war, und ob wirklich ER das getan hatte.

„Komm endlich, verdammt!!“ rief ihm Iria entgegen. Das Geräusch mehrerer Stiefelpaare, das aus dem Torbogen zu seiner Linken heraustönte, drang an seine Ohren. Endlich setzte er sich in Bewegung. Dabei hielt er das Schwert des toten Soldaten fest, als hätte er die Frage nach dem Schicksal seines früheren Trägers und ob tatsächlich ER etwas damit zu tun haben konnte, noch nicht ausreichend beantwortet bekommen.
 

Kaiser Modestus der Dritte saß in einem eilig übergeworfenen Schlafrock auf seinem Bett, das vom Schlaf noch matte Gesicht hinter seinen Händen verbergend. Ein leitender Offizier der Palastwache stand vor ihm, und gleich daneben Modestus‘ wichtigster Berater, Jan Gildenstern.

Es hätte einer Person im Schlafrock vor zwei komplett angekleideten Personen peinlich sein können; aber hier war es umgekehrt. Der Offizier stand in seiner Rüstung vor seinem Kaiser im Schlafrock und redete hastig und unablässig. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die zum Teil von seinem hochgeklappten Visier freigegeben wurde. Sein Blick ging über den Kaiser hinweg. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. Seine Augenlider blinzelten unablässig, als müsste er direkt in grellen Sonnenschein sehen, und nicht in das trübe Licht im Schlafgemach seines Kaisers.

Gildenstern stand daneben und ließ ihn reden. Er blickte zu Boden, nur hin und wieder nickte er zu den Ausführungen des Offiziers. Sein Gesicht trug mildes Bedauern, als würde er eine familiäre Tragödie einer ihm nicht sonderlich nahestehenden Person anhören, bei der er sich gemüßigt fühlte, entsprechend Anteil zu nehmen, wenngleich es ihn nicht wirklich berührte. Nur das zeitweise im trüben Licht der einzelnen Glühdrahtlampe erkennbare Zucken seiner hohlen Wangen, herrührend von seinen aufeinander knirschenden Zähnen, zeigte seine wahre Ansicht dieses Geschehens. Doch er war schon zu lange am Hof des Kaisers tätig, um noch seine Emotionen offen zu zeigen.

„Ihr sagt, die Verfolgung der Diebe ist bereits im Gange?“ fragte Modestus und nahm dabei seine blaugeäderten Hände vom Gesicht. Dabei kam sein blasses und in Falten liegendes Antlitz zum Vorschein, das deutlich zeigte, dass man ihn aus tiefem Schlaf gerissen hatte.

„Jawohl, Euer Hoheit. Meine Männer sind den Eindringlingen auf der Spur“, erwiderte er in einem zackigen, gehetzten Tonfall. „Es scheint, dass diese Verbrecher versuchen, über die Kanalisation zu fliehen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis wir sie gefasst und das Maleficium sichergestellt haben, Euer Hoheit.“

Der Offizier, der die ganze Zeit schon in starrer, durchgestreckter Haltung dastand, bog sich noch weiter durch, und seine Rüstung machte ein blechernes Geräusch dabei. Gildenstern blickte immer noch mit auf dem Rücken verschränkten Händen zu Boden; jetzt schüttelte er ganz sachte den Kopf, als hätte er von einem Prüfling eine nicht nur falsche, sondern eine völlig falsche Antwort gehört.

„Also gut, Major Bruckstein“, begann Modestus in einem frischeren Ton und erhob sich dabei. „Ich habe keine Zweifel, dass Ihnen und Ihren Männern bewusst ist, wie wichtig das Maleficium für unser Reich ist. Wegtreten.“

Gildenstern nickte leicht bei dem letzten Wort, und geradeso, als wäre dies die erforderliche Bestätigung, salutierte der Offizier noch einmal vor seinem Kaiser, um nach einer zackigen Kehrtwende das Schlafgemach zu verlassen. Er schloss die Tür betont behutsam hinter sich, als könnte diese Vorsicht die Tragödie in seinem Verantwortungsbereich irgendwie mildern. Kaum hatte er den Raum verlassen, wandte sich der bis dahin teilnahmslos wirkende Gildenstern an Modestus.

„Euer Hoheit, bei allem gebotenen Respekt, dies war absehbar.“ Das Wort ‚absehbar‘ hatte Mühe, zwischen seinen zusammengepressten Lippen hindurch zu schlüpfen, und wie um dessen Schärfe etwas abzumildern, fügte er noch einen Satz hinzu. „Ich habe Euch ausführlich beraten, Euer Hoheit, die Sicherheitsmaßnahmen für das Maleficium nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.“

Modestus ging vor seinem breiten Himmelbett, dessen herabhängende Vorhänge aus schwerem, rotem Brokat angefertigt waren, auf und ab. Dabei bewegte sich sein Schlafmantel unter seinen energischen Schritten, denen jetzt keine Müdigkeit mehr anhaftete.

„Mein lieber Gildenstern, ich habe die Sicherheit des Maleficiums sicher nicht auf die leichte Schulter genommen. Auf die Palastwache ist Verlass, sie haben mir immer treu gedient.“

Gildenstern, der ihn bis jetzt mit schmalen, glänzenden Augen angesehen hatte, senkte den Blick wieder und machte angesichts dieses Widerspruchs eine ehrerbietige Miene. Dann hob er erneut seine Stimme und gab sich hörbar alle Mühe, den Unmut hinter diesen Worten abzuschwächen.

„Der Krieg mit Mosarria verläuft nicht so, wie unsere klugen Generäle sich das vorstellen. Mosarria hat seine Lehre gezogen aus dem Krieg damals, im Gegensatz zu unserem Generalstab, Euer Hoheit. Der Abtransport für das Maleficium war für den übermorgigen Tag angesetzt. Es hat sich herumgesprochen. Das Maleficium wird erwartet, Euer Hoheit. Seine Unterstützung für unsere Truppen ist fix eingeplant, und eine Schwächung der Moral in der Armee könnte sich als fatal erweisen, Euer Hoheit.“

Gegen Ende seiner Rede gewannen seine Worte wieder an Schärfe, die er mit dem ‚Euer Hoheit‘ wieder abschwächte. Im fahlen Licht der einzelnen Glühdrahtlampe neben dem Bett des Kaisers wirkte Gildensterns Gesicht noch blasser als sonst; sein schütteres, hellblondes Haar wirkte fast weiß.

„Es wird sich nichts verzögern, Gildenstern. Ihr habt Major Bruckstein gehört, seine Männer durchkämmen bereits das Kanalsystem. Diese dreisten Diebe werden nicht weit kommen, das kann ich Euch versichern.“

Gildenstern hob den Blick und sah Modestus unverwandt an; sein Blick war fragend, beinahe herausfordernd. Dann gewann seine Selbstbeherrschung wieder die Oberhand, und mit ihr das Wissen um seine Position am Hofe des Kaisers. Er senkte ihn wieder und deutete dabei eine Verneigung an.

„Nun, Euer Hoheit… ich werde dann die Bemühung unserer zweifellos gewissenhaften Palastwache observieren. Sollte es Neuigkeiten geben, so werde ich sie Euch schnellstmöglich überbringen. Euer Hoheit“, sagte er abschließend, wiederholte dabei die leichte Verneigung und verließ das Schlafgemach seines Kaisers in kontrollierter Eile. Modestus blickte eine Weile auf die Tür, als wollte er sich davon vergewissern, dass er wahrhaftig den Raum verlassen hatte. Danach atmete er hörbar durch; sein Gesicht hellte sich auf, als hätte er eine langerwartete und erfreuliche Nachricht erhalten.

„Nimm das, du verfluchter Mörder!“

Hargfrieds schrille Stimme gellte durch die von fahlem Licht erfüllten Gewölbe. Sein riesenhaftes Schwert beschrieb einen vertikalen Halbkreis, der die Wache des Kaisers von den Füßen hob und einen schnell verblassenden Bogen stählernen Schimmers in der trüben Kanalluft hinterließ. Dabei bahnte es sich knirschend den Weg durch die Panzerung des Soldaten, und sein Körper schlug mehrere Meter entfernt polternd auf. „Ihr elenden Mörder!“ schrie er wie von Sinnen. Mit vor Wahnsinn funkelnden Augen sprang er auf seinen bereits besiegten Gegner und ließ seine Klinge wie einen zerstörerischen Blitz auf ihn herab fahren.

Hargfried von Lichtenfels atmete schwer; er rang förmlich nach Luft, während er sich vornübergebeugt auf sein Schwert stützte, das in der getöteten Palastwache und dem Steinboden unter ihr steckte. Dann richtete er sich jäh auf und strich sich eine lange Haarsträhne aus seinem schweißnassen Gesicht. Die Linien des Kampfdoms verschwanden um ihn herum, und das Licht der fernen Glühdrahtlampen fiel etwas heller auf sein fieberndes Gesicht.

Er wandte den Kopf hin und her und hatte dabei einen Ausdruck auf seinem schweißglänzenden Gesicht, als erwarte er weitere Gefahren, in deren Gegenwart er sich schutzlos fühlen müsste. Dabei sah er die drei anderen Wachen, die er zuvor getötet hatte, und ein nervöses Lächeln streckte seine Mundwinkel, während seine Augen aber nach wie vor Furcht widerspiegelten. Dabei zog er sein Schwert aus der vor ihm liegenden Wache. Ihr Körper bewegte sich dabei einen makabren Moment lang, als wäre noch Leben in dem aufgespießten Körper. Doch seine blutüberströmten Gesichtszüge blieben starr, und Hargfried begann zu lachen.

„Ich werde euch alle finden, habt ihr gehört? Bis ich den Mörder meines Vaters erwischt habe, oh ja…“

Sein Blick traf seinen Escutcheon, der plötzlich zu vibrieren begann. Lebhafte Schimmer krochen über das Gold, brachten es noch mehr zum Glänzen und konzentrierten sich schließlich in der dritten der vier Glasscheiben, die einen Moment lang prächtig aufleuchtete, um dann, nach dem Weichen des jähen Scheins, in einem satten, vollen Grün zu glimmen.

Er begann fröhlich zu lächeln wie ein Kind, das seine erste Holzeisenbahn bekommt. Ein unreifes Kichern entwich seiner Kehle, bevor er laut aufschrie, seine Hände und das Schwert emporreckte, und seine vor Fieber glänzenden Augen auf das schwarze Firmament über ihn richtete.

„Vater! Vater…“, schrie er heiser, und seine Stimme versagte ihm schließlich. Ein trockenes Schluchzen mischte sich mit dem aufgeregten Lachen in seiner Brust, und er flüsterte mit geschlossenen Augen. „Ich werde dich rächen, Vater…“

Sie öffneten sich schlagartig, als sich weitere Schritte und das Gerassel von Rüstungen und Waffen ihm näherten. Mit geröteten Augen blickte er durch die schweißnassen Strähnen auf seinem Gesicht, dann lief er los und ließ die vier getöteten Palastwachen im Dämmerschein des Kanalgewölbes zurück.

„Der Mörder, er muss der Dieb gewesen sein…“, sann er flüsternd nach, während er durch die düsteren Gewölbe des Kanalsystems schlich. Seine Gedanken hatten die eben im Kampf getöteten Wachen längst verlassen, und drehten sich nun um einen neuen Fixpunkt. Eifrig sponnen sie Fäden aus Hass und Rachgier um ihn, so wie eine Auster immer neue Schichten um einen tiefsitzenden Fremdkörper webt, der schmerzt, quält und peinigt, und so gewann dieser neue Fixpunkt im Chaos seiner wahnsinnigen Gedanken an Größe und Kraft.

„Dieses Buch… dieses Maleficium…“

Er sprach das Wort aus wie etwas Erheiterndes, wie etwas Aufmunterndes.

„Er wollte es, er hat es bei meinem Vater gesucht, deshalb hat er ihn getötet, ja, ja…“

Das nervöse Gemurmel schwoll auf seinen feuchten Lippen an, um dann wieder in lautloses Nachsinnen überzugehen. Daraufhin war wieder das Strömen des Kanals neben ihm das einzige Geräusch nebst seinen Schritten, die durch diese trüb erleuchteten, tropfenden Korridore hallten. Sein Blick suchte die Dunkelheit ab, suchte nach dem Weiterweg, suchte nach Hinweisen, die es doch geben musste, die ihn zum Mörder seines Vaters führen würden, dessen Gegenwart er so deutlich spürte. Aber er sah wieder das Wasser neben sich, das seinem Rachefeldzug keinerlei Aufmerksamkeit schenkte und mit geradezu unverschämter Interesselosigkeit an ihm vorbeiströmte.

Irgendwann errang der Zorn die Oberhand in seinem zerrütteten Geist, und er schrie den Flusslauf aus trübem Brackwasser neben dem steinernen Pfad an. Er tobte und fluchte und schlug mit seinem langen Schwert ergebnislos auf die Wasseroberfläche ein, solange, bis ihm die Arme erlahmten und er das Interesse an seinem stummen Begleiter verlor. Hargfried setzte seinen Weg wieder fort, und ebenso begann wieder seine flüsternde Anklage, seine stumme Herausforderung an den Mörder seines Vaters, dessen Nähe er so deutlich fühlte.

Der Gang weitete sich und seine Decke verlor sich endgültig in tiefschwarzer Düsternis, die keine der Glühdrahtlampen zu durchbrechen vermochte. Er gabelte sich auch auf; vor ihm erstreckten sich insgesamt drei Verläufe, in denen das Brackwasser plätschernd seinem unbekannten Ziel entgegenfloss.

Er hielt die Nase in die Luft und horchte genau; bis sich ein breites Grinsen auf seinem von der auffälligen Narbe gezeichneten Gesicht formte. Schließlich ging er in die Richtung, in der das beständige Plätschern am Lautesten erklang.

Bald schmeckte die Luft weniger abgestanden, er glaubte sogar, einen leichten Zug auf den vom Fieber glühenden Wangen zu spüren. Auch das Wasser neben ihm schien seine Fließgeschwindigkeit zu erhöhen, geradeso, als fühlte es die Annäherung an sein Ziel. Und so gelangte er an eine weitere Gabelung, doch diesmal hatte er keinen Zweifel an seinem Weg, der ihn geradeaus führen würde, wo ein eisernes Gitter das Wasser zerteilte. Allerlei Unrat hing in den Gitterstäben fest, Schaum bildete sich in den Wirbeln um sie. Auf dem Steg neben dem Flussbett sah er einen gerade mannshohen Durchlass im Gitter, der auf die andere Seite führte. Er lächelte hoffnungsvoll und beschleunigte dabei seine Schritte.

Er stoppte jedoch, als aus einem Seitenarm der Gabelung eine andere Gestalt auf den Durchgang zukam. Sie bewegte sich geschmeidig und schnell; ihre Bewegungen waren wie die eines Panthers auf der Jagd. Hargfried blieb stehen und nahm sein Schwert vom Rücken. Ein Zucken ging durch sein Gesicht, das Fieber glänzte in seinen Augen auf.

„Das… das ist der Mörder meines- nein, nein…“, verbesserte er sich und schüttelte dabei schuldbewusst den Kopf, „der Mörder ist der mit dem Maleficium, aber das… das…“, zischte er wütend, „-ist vielleicht sein Komplize!“

Die Gestalt- sie hatte ihn offenbar gehört- drehte sich um. Hargfried erkannte das Gesicht einer dunkelhaarigen Frau unter der Kapuze. Sie duckte sich, und mit einem schneidenden Geräusch schnellte ein Stachel aus ihrer Armschiene.
 

Hargfried, sein Schwert mit beiden Händen über seine Schulter haltend, rannte auf sie zu, und noch im Lauf spannte sich der Kampfdom auf, der sie beide einhüllte und die Arena ihres Aufeinandertreffens bildete.

Die Frau spannte ihre geduckte Haltung noch mehr an, wie eine zum Angriff bereite Raubkatze, und der Stachel ihrer Armschiene schimmerte matt im Licht der Glühdrahtlampen. Hargfried kam wenige Schritte vor ihr zu stehen und glaubte eine Spiegelung ihrer Waffe in ihren Augen zu erkennen, die mit einem ebenso fragenden wie drohenden Ausdruck auf ihn gerichtet waren.
 

Sie standen sich nun gegenüber, mit erhobenen Waffen, und die Kuppel aus blauen, geometrischen Linien drehte sich langsam um das Zentrum, das die beiden Kombattanten unter ihrem Dach darstellten. Nur wenig Licht drang durch die Begrenzung dieser Kuppel, und sein Inneres war erleuchtet von den scharf gezogenen Linien, die einen blaustichigen Schein auf die beiden warfen.

Erwartungsvolle Ungeduld hielt ihre Knie und ihre Ellbögen angespannt, die wie Bogensehnen auf das Losschnellen harrten.

„Ich kenne dich“ sagte die Frau, ohne ihre Haltung nur einen Fingerbreit zu lockern. Ihr abschätzender Blick glitt über seine Rüstung, seine Waffe, und verharrte schließlich auf seinem Gesicht. „Du bist Hargfried von Lichtenfels, der Sohn unseres Herzoges.“

Hargfried senkte das Schwert und lächelte ungläubig, dabei neigte er den Kopf zur Seite und machte ein Gesicht, als hätte er einen Witz gehört und aus irgendeinem Grund die Pointe versäumt.

„Unseres Herzogs?“ fragte er zurück und betonte dabei das erste Wort mit allem Nachdruck. „Wer bist du? Kommst du auch aus Lichtenfels?“

„Ja, ich komme aus der Provinz Oldenburg…“, begann die Frau zögerlich, als überlegte sie, wie viel sie ihm gegenüber äußern sollte. „Mein Name ist Brynja Peinhild“, sagte sie schließlich, ohne ihre kampfbereite Haltung aufzugeben. Hargfried hingegen stand ihr jetzt in aufrechter Haltung und mit gesenkter Waffe gegenüber. Sein fragender Blick ruhte auf ihr, so etwas wie hoffnungsvolles Wohlwollen lag in seinen Augen.

„Dann weißt du vielleicht etwas von den Mördern meines Vaters?“ fragte er in einem vorsichtigen, beinahe bittenden Ton, so wie ein Kind, das einen Erwachsenen um etwas fragt.

„Der Herzog, ermordet?“ wiederholte sie flüsternd. Ihr angespannter Blick ging einen Moment zur Seite. Der Kampfdom rotierte immer noch um sie herum und tauchte ihre von Argwohn geprägten Züge in ein bläuliches Licht. „Davon weiß ich nichts.“

„Tatsächlich? Dann steckst du vielleicht mit ihnen unter einer Decke!“

Alle Sanftheit wich aus seinen Zügen. Mit erstaunlicher Schnelligkeit wirbelte er sein Schwert herum und eröffnete den Kampf.
 

Brynja nutzte ihre Schnelligkeit und ihre Gewandtheit, und diese beiden Eigenschaften, unterstützt durch das geringe Gewicht, das sie bei sich trug, retteten sie mehrmals vor den wuchtigen und zugleich überraschend schnellen Hieben ihres Gegners. Hargfrieds Schwert war größer als sie selbst, zusätzlich zerrte noch die vollständige Rüstung aus poliertem Stahl an seinem Körper; doch jede seiner Bewegungen, seiner Finten und seiner Angriffe verrieten, dass er ihr Gewicht seit vielen Jahren gewohnt war, ebenso wie sein Schwert, das unhandlich groß wirkte und das er doch mit gefährlicher Behändigkeit führte.

Mit grazilen Verrenkungen rettete sie ein ums andere Mal ihren Leib aus den Linien seiner knapp vorbeisirrenden Waffe, und schließlich fand sie eine Lücke in seiner Deckung. Das Gewicht seiner eigenen Klinge brachte ihn für einen Moment an den Rand des Ungleichgewichts; in dieser Sekunde erreichte sie ihn mit schnellen Schritten. Seine Rüstung ließ keine offensichtliche Schwachstelle erkennen, und so stieg sie auf seinen gebeugten Oberschenkel, stieß sich ab, und landete einen kräftigen Tritt an seine Brust.

Von der Gegenkraft dieses Tritts davon geschleudert, vollführte sie einen Rückwärtssalto, an dessen Ende sie in geduckter Haltung auf dem Steinboden landete. Dabei sah sie, wie Hargfried nach hinten geschleudert wurde und auf dem Rücken landete. Das blecherne Geräusch seiner aufschlagenden Rüstung hallte durch den Kampfdom. Brynja versteifte ihre Haltung, um federgleich vorzuschnellen.
 

Hargfried lag nur einen Moment auf dem Rücken, dann riss er mit einer Gewandtheit, die man dem Träger einer vollständigen Rüstung kaum zugetraut hätte, die Beine hoch und führte eine Rolle rückwärts aus. Dabei ließ er sein Schwert nicht los, sondern wehrte damit einen Augenblick später die heran schnellende Brynja ab, die mit ihrem Stachel nach seinem Gesicht hieb.

Stolpernd kam er auf die Beine und wehrte den Stachel, der wie eine Giftschlange nach seinem Gesicht stieß, mit dem Griff seines Schwertes und seinen gepanzerten Unterarmen ab. Doch sie drang weiter auf ihn ein, stellte ihr Bein zwischen die seinen, blockierte so sein Ausweichmanöver und setzte zu einem tödlichen Stoß an.

Mit der Rechten packte sie ihn an seinem stählernen Kragen, um ihm mit der Linken den Stachel in die weniger gut geschützte Halspartie zu rammen. Hargfrieds Augen wurden groß in diesem Moment, schon sah er den Stachel dicht vor seinem Gesicht aufblitzen, der sich wie ein Giftzahn in seinen Hals bohren würde- als Brynja mitten in der Bewegung erstarrte.
 

Ein heißer Schmerz brannte in ihrem Escutcheon. Dieser Schmerz lähmte ihren Arm und machte es ihr unmöglich, den beabsichtigten Todesstoß auszuführen. Ihre ungläubigen Augen tasteten über die Waffe und ihren Arm, der plötzlich nicht mehr gehorchte. Hargfried erkannte die Gelegenheit und versetzte ihr einen harten Stoß mit dem Griff seines Schwertes an die Brust.

Brynja stürzte ächzend nach hinten. Ihre Lungen fühlten sich leer und zusammengequetscht an, und sie kämpfte sich mit panischen Bewegungen und dabei nach Luft ringend auf die Beine. Doch Hargfried stand schon über ihr und holte mit seiner riesenhaften Klinge aus, um sie mit einem kraftvollen Hieb auseinander zu hacken- als er mitten im Hieb einhielt und sein Gesicht eine schmerzverzerrte Grimasse wurde.
 

Hargfried sank auf die Knie, biss die Zähne zusammen und betrachtete seinen Escutcheon, von dem eine sengende Hitze ausging, die auf seinem Arm wie Feuer brannte. Brynja kam taumelnd auf die Beine und wich vor ihm zurück. Im selben Moment versiegte der Schmerz, und sein Arm gehorchte ihm wieder.
 

Die beiden standen sich wieder gegenüber, wie schon zu Beginn des Kampfes. Nur diesmal war die Entschlossenheit in ihren Gesichtern getrübt. Ein fragender, misstrauischer Ausdruck schlich durch ihre Blicke, die sie sich gegenseitig zuwarfen. Warum hat mein Gegner mich nicht getötet, dachten sie beide in unwissender Eintracht, als die Gelegenheit allzu gut war?

„Du suchst das Maleficium, richtig?“ sagte Brynja schließlich, um sich von ihrer eigenen Ratlosigkeit über ihre Unfähigkeit, im entscheidenden Moment den tödlichen Stoß anzubringen, abzulenken.

„Ja. Genau wie du, vermute ich?“

Die letzten Worte klangen weniger wie eine Frage, sondern eher wie eine Feststellung voll säuerlichem Widerstreben, als wäre er wieder ein Kind, dem jemand sein Lieblingsspielzeug streitig machte.

„Erraten“, erwiderte sie knapp und schenkte dem beleidigten Ton in seinen Worten keine Beachtung. „Ich habe es aber nicht, genauso wenig wie du. Dieser… diese Person, die vor uns in der Schatzkammer war, sie hat es, da bin ich sicher. Welchen Zweck hat es also, wenn wir uns bekämpfen?“

Sie gab sich alle Mühe, ihre Stimme selbstbewusst klingen zu lassen und nicht den Anschein von Schwäche zu erwecken; doch zugleich klang leise und unbeabsichtigt die Hoffnung heraus, diese Auseinandersetzung, von der sie annehmen musste, in ihr zu unterliegen, zu beenden.

Hargfrieds Blick pendelte zwischen ihr und dem Durchlass hin und her, der sich undeutlich hinter dem Wall aus greifbarer Dunkelheit abzeichnete und die Annäherung an sein Ziel verhieß. Schließlich ließ er seine Waffe sinken und gab den Kampf auf. Die Linien des Kampfdoms schwanden und zogen sich in den Boden zurück, aus dem sie vorher erwachsen waren.

Brynja blickte ihn immer noch voller Argwohn an. Das nun wieder ungefiltert auf sie fallende Licht der Glühdrahtlampen erschien ihr einen Moment lang unangenehm hell. Ihr Gegenüber blickte jetzt zu Boden, und seine nunmehr teilnahmslose Miene machte einen abwesenden Eindruck, geradeso, als rechne er gar nicht mehr mit einem Angriff seiner Gegnerin, mit der er sich doch eben noch einen Kampf auf Leben und Tod geliefert hatte.

„Ich will das Maleficium finden… der Mörder meines Vaters hat es jetzt. Ich werde ihn finden, und dann werde ich ihn rächen.“

Unter der Oberfläche seiner Stimme loderte ein brennendes Verlangen nach Genugtuung, die nach außen aber wie die eines Kindes klang, das von dem Bedürfnis geleitet wurde, einem ihm zugefügten Schmerz mit seinem Schutzbefohlenen zu teilen. Er blickte sich verloren um, als hätte er wenig Hoffnung, diesen Schutzbefohlenen, aus dessen Obhut er auf ungewollte Weise entkommen war, zu finden. Dann änderte sich seine Miene völlig, und Brynja sah erstaunt mit an, wie der eben noch weinerlich wirkende junge Mann überheblich grinste. „Dann suchen wir halt gemeinsam“, sagte er mit fester Stimme und legte sich sein Schwert auf die Schulter. Dabei schenkte er Brynja ein einnehmendes Lächeln, was diese mit einem Stirnrunzeln erwiderte. „Wir beide sind es ihm schuldig, als Bürger von Lichtenfels“, rief er nun mit feierlichem Klang, der kaum glauben ließ, dass er sich mit der Person, an die er diese Worte richtete, vor Momenten noch einen erbitterten Kampf geliefert hatte.

„In Ordnung…“, erwiderte Brynja leise und voller Zurückhaltung. Hargfried nickte ihr lächelnd zu, dann setzte er sich in Bewegung und durchschritt den Durchlass im Gitter, das den vorbeifließenden Strom teilte. Brynja folgte ihm mit mehreren Schritten Abstand und ließ ihn dabei keinen Moment aus den Augen. Sein Gang war federnd und unbeschwert; er schien sich keiner Gefahr bewusst, sondern anzunehmen, dass sie sich an ein Versprechen gebunden fühlte.

Brynja folgte ihm und wog dabei die Argumente gegeneinander ab, ob sie ihn hinterrücks zu meucheln versuchen sollte, oder ob sie dies nicht besser auf später verschob, um solange seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dann erinnerte sie sich wieder an ihr unerklärliches Unvermögen, ihn zu töten, als Gelegenheit dazu war, und dass ihn allem Anschein nach das gleiche rätselhafte Unvermögen erfasst hatte. Sie betastete ihren Escutcheon, von dem diese seltsame Erscheinung ausgegangen war, wie sie schwören hätte mögen, und rief sich das bruchstückhafte Wissen, das sie über das Maleficium hatte, in Erinnerung.

Fürs Erste werde ich ihm trauen, sagte sie sich, auch wenn er augenscheinlich dem Irrsinn nahe ist. Und so folgte sie ihm durch dieses Gewölbe, dessen Rauschen stärker wurde, und aus dem ihnen eine frischere Luft als zuvor entgegenwehte. Sie hörte dabei seine flüsternden Monologe, von denen sie kaum etwas verstand, die aber genug aussagten, um ihr seinen aufkeimenden Wahnsinn deutlich zu machen.
 

Das ungewohnte Gewicht schmerzte ihn bald in der Hand, also nahm Dorian das Schwert der toten Palastwache in die andere. Immer noch hetzte er hinter Iria und Nadim hinterher und lauschte während des Laufens auf die Geräusche ihrer Verfolger. Doch seine eigenen Schritte übertönten das vorhin noch wahrnehmbare Geräusch, und so wagte er es keinen Moment, stehenzubleiben.

Iria lief voran, Nadim folgte ihr dicht auf den Fersen. Dorians Blick wechselte immer von den beiden zu dem Schwert, das er nun trug. Die Stimme der Vernunft riet ihm, es wegzuwerfen, doch seine erneut hochwallende Furcht, die ihm wie aufsteigende Galle im Rachen brannte, wehrte sich gegen diesen Gedanken. Das Wissen, etwas Furchtbares getan zu haben, breitete sich wie lähmender Nebel in seinem Verstand aus, und er kämpfte darum, in diesem Nebel nicht die Orientierung zu verlieren. Das Schwert in seiner Hand war das Einzige, an das er sich in diesem Nebel festhalten konnte, und der von seiner Angst geleitete Entschluss, es nicht wegzuwerfen, machte es ihm leichter, das stärker werdende Schuldgefühl zu unterdrücken. Ihm war tatsächlich so, dass seine Tat weniger schwer drückte, wenn er den Gegenstand, der zuvor solch eine Bedrohung gewesen war, vor Augen behielt, wie als stumme Rechtfertigung für seine Tat.

„Sind sie immer noch hinter uns her?“ rief ihm Iria zu. Ein gutes Stück vor ihm machten sie und Nadim Halt, nicht nur, um auf Dorian zu warten, sondern auch, um sich in diesem Labyrinth aus gleichförmigen Gewölben und Kanälen, in denen Brackwasser in breiten Becken plätscherte, zu orientieren.

„Keine Ahnung“, ächzte Dorian, der atemlos bei ihnen stehenblieb. Er stützte sich auf seine Knie und wartete, bis sich seine Lungen wieder ohne Schmerz füllten. Dabei hielt er das Schwert in der Linken. Selbst jetzt brachte er es nicht über sich, es loszulassen, als würde dies seine Tat noch verschlimmern.

„Hier finden wir nie raus“, sagte Nadim mit verzagter, schwacher Stimme. In geduckter Haltung und mit nervösen Bewegungen ließ er den Blick über die einzelnen Möglichkeiten der Gabelung, an der sie nun standen, schweifen. Dabei machte er auf ihn den Eindruck, als sähe er sich von ihren Häschern längst umringt, als gäbe es in Wahrheit gar keine Chance mehr zur Flucht.

„Sie scheinen unsere Spur verloren zu haben.“

Aus Dorians Stimme klang vorsichtiger Optimismus, und er lauschte mit offenem Mund nach den Schritten, die sie zuvor gehört hatten. Doch nun vernahmen sie nur noch das gleichmäßige Plätschern des Kanals neben ihnen, sowie das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, das von ihren immer noch pochenden Herzen durch ihre Körper gejagt wurde.

„Na dann, da haben wir wohl noch mal Glück gehabt“, sagte Iria mit so leiser Stimme, als scheute sie sich, die Stille mit ihren Worten zu durchbrechen.

Dorians Atem hatte sich wieder beruhigt, er hatte auch seine Gedanken wieder soweit unter Kontrolle, dass er eine Entscheidung, was die Abzweigung betraf, fällen konnte. Er ging voraus, und die beiden folgten ihm.
 

„Das war wohl nichts“, schnaubte Iria. Dorian stand vor dem Gitter, durch das der Strom trüben Wassers ungehindert durchfloss, das aber keinen Durchgang für sie bot. Als würde er an ihrer Echtheit zweifeln, so zerrte er probeweise an den Stäben. Doch sie rührten sich nicht. Eine jähe Erinnerung an die Gitterstäbe in dem großen Saal, die sie damals endgültig von Gaubert und den anderen getrennt hatten, kam ihm, woraufhin er sie abrupt losließ.

„Wir werden es woanders probieren“, sagte Dorian mit fester Stimme, wie um sich selbst und den beiden neuen Mut zu machen. Er zwang sich, weite, sichere Schritte zu machen, die von der schrecklichen Erinnerung an den Kampf zuvor ablenken sollten. Das trübe Licht der vereinzelten Glühdrahtlampen vergönnte ihm nur eine kurze Sichtweite. Mit jedem Schritt wich das Dunkel vor ihm zurück und hinterließ eben jene fahl beleuchteten Gemäuer, durch die sie die ganze Zeit schon irrten.

Früher schon hatte er gespenstische Geschichten über das Kanalsystem tief unter der Stadt gehört und von den armen Seelen, die sich dort unten verlaufen hatten. Doch dass er nun selbst zu diesen gehörte, versetzte ihm einen Kloß im Hals und lähmte seine Gedanken, die er vorher schon nur mit größter Mühe wieder zum Fließen gebracht hatte. Einen kurzen Moment lang vermisste er jene Klarheit und Selbstsicherheit, die ihm in dem Kampf mit der Palastwache unerwartet überkommen war, doch im selben Moment mischte sich die Erinnerung an den toten Körper und das Blut auf seiner Klinge dazu, und er schob diesen Gedanken wieder von sich. Aus Trotz dazu beschleunigte er seine Schritte, um aus dieser Sackgasse wieder herauszukommen- als sich eine Gestalt aus dem trüben Zwielicht schälte.
 

Es war eine einzige Person, die ihnen in dieser Sackgasse entgegenkam und ihnen so den Weg abschnitt. Dorian erstarrte, wodurch Nadim und Iria in ihn hineinliefen. Dann machten sie dieselbe Beobachtung wie er. Dorian spürte, wie sich ihre Finger in seine Schultern krallten, während sie über diese hinweg die Gestalt sahen, die ruhigen Schrittes auf sie zukam.

Dorians Herz schlug schmerzhaft heftig, beinahe vergaß er auf das Atmen. Wie ein Fisch öffnete er den Mund und schnappte nach Luft. Seine Augen fixierten die Person, die weder Gaubert noch einer seiner anderen Freunde sein konnte. Dafür war diese Gestalt zu groß, war der einzige Gedanke, den er in diesem Moment fassen konnte.

Er spürte, wie Iria und Nadim seine Schultern losließen, hörte, wie sie hinter ihm zurückwichen, und wollte ihnen schon folgen. Doch der jähe Gedanke, dass sie in einer Sackgasse waren, drängte sich zwischen seine Furcht und sein Verlangen zu fliehen. Er hob sein Schwert und erkannte dabei, dass diese Person kein kaiserlicher Soldat war.

„Wer sind sie?“ rief Dorian die Gestalt an, deren Konturen jetzt dem fahlen Zwielicht weit genug entkommen waren, um ihn erkennen zu lassen, dass sie keine Rüstung, sondern nur einen weiten Mantel trug. Doch das Gesicht blieb undeutlich im Gegenlicht der Glühdrahtlampe, das schräg von hinten auf die Gestalt fiel. Dorian konnte nur das dunkle Haar und die Brille im Gesicht des Mannes ausnehmen, sowie das Schwert, das an seiner Seite hing. Außerdem sah er den rechten Arm, der durch einen Schlitz des Mantels gehängt war und in dieser bequemen Stellung verharrte, ohne Anstalten zu machen, zum Schwert zu gleiten.

„Du bist doch der Knabe aus der Schatzkammer…“, sagte die Gestalt mit ihrer tiefen, sanften Stimme. Ihr Klang beruhigte Dorian augenblicklich, wenngleich seine Hände immer noch leicht zitterten. Sie drehte den Kopf leicht zur Seite. Aus diesem Winkel fiel genügend Licht auf das Gesicht, sodass Dorian in ihm den Mann erkennen konnte, der in dem großen Saal direkt neben ihm am Gitter gestanden und der den Gegenstand dahinter als das Maleficium erkannt hatte.

„Sie… sie sind vorhin… auch dort gewesen!“

Dorian gab sich alle Mühe, seine Stimme fest klingen zu lassen und seine Furcht zu verbergen.

„Allerdings“, sagte der Mann, der nun wenige Schritte von ihm entfernt stand und dessen Arm immer noch in dem Schlitz hing, als wäre sie gebrochen und müsste gestützt werden. Dorians Blick wechselte zwischen dem Gesicht mit der Brille, dem blinden Auge und dem Arm, der bequem im Mantel hing und der weiterhin keine Veranlassung sah, sich in die Nähe der Waffe zu bewegen.

„Was wollen sie?“

Dorian nahm die Waffe nun in beide Hände, so schwer kam sie ihm mittlerweile vor, und suchte in seiner Erinnerung danach, wie der Kampfdom zu öffnen war. Doch diese früher so leichte Tätigkeit kam ihm jetzt nahezu unmöglich vor.

„Die Frage ist eher, was wollt ihr drei hier? Das hier ist kein Ort für Kinder.“

„Ich bin kein Kind!“ gab Dorian wütend zurück, und seine Stimme kam ihm selbst unangenehm laut vor.

„So, so. Wie heißt du, Knabe?“ fragte der Mann ungerührt. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Dorian von seinem erblindeten Auge stärker beobachtet als von seinem gesunden, das einen eher abwesenden Eindruck machte.

„Mein Name ist Dorian Alberink“, antwortete er mit aller Selbstsicherheit, die er aufzubringen vermochte. „Und wir wollen hier nur raus“, fügte er in einem schwächeren, fast zittrigen Ton als Antwort auf seine vorige Frage hinzu.

„Nun, ich bin Sarik Metharom.“

Der Mann legte seinen Kopf leicht schief, sodass sich das matte Licht der Glühdrahtlampen auf seinen Brillengläsern spiegelte. Dorian erkannte das mit Bartstoppeln überzogene Kinn des Mannes, sowie die graue Strähne in seinem dunklen Haar. „Und fürs Erste will ich ebenso hier raus wie ihr. Ich vermute, ihr drei kennt den Weg ebenfalls nicht?“

Dorian wurde bewusst, dass ein Kampf gegen diesen Mann, der ihm großen Respekt einflößte, ohne dass er auch nur sein Schwert gezogen hätte, aussichtlos war. Und so ließ er die eigene Waffe sinken.

„Ja, wir haben uns verirrt…“, sagte er mit leiser Stimme.

„Es ist hier nicht ungefährlich. Die Palastwachen durchsuchen diese Kanäle, und so weitläufig sie auch sind, bald werden sie auch euch gefunden haben.“

Dorian machte ein missmutiges Gesicht, wollte etwas erwidern, wollte ihm sagen, dass er bereits eine der Wachen getötet hatte, und dass er sehr wohl auf sich aufpassen konnte- doch die Worte wollten seine Kehle nicht verlassen. Sie blieben dort stecken, und mit ihnen all seine karge Zuversicht. Das Schwert zu erheben und einen Kampf zu beginnen, dies kam ihm nun völlig unmachbar vor, geradeso, als hätte den Kampf vorhin eine andere, wesentlich mutigere Version seiner selbst ausgefochten.

„Was sollen wir tun…“, flüsterte er mehr zu sich selbst. Er hörte, wie sich Nadim und Iria von hinten näherten, die wohl aus dem Umstand, dass dieser Mann sie nicht angegriffen hatte, den Schluss zogen, dass er es gar nicht mehr tun würde.
 

Sarik Metharom bewegte den Kopf leicht hin und her, als würde er eine längst feststehende Entscheidung treffen. Dann hob er seine linke Hand, wie um auf eine offensichtliche Tatsache hinzuweisen. Seine Rechte, die immer noch schlaff im Schlitz seines Mantels hing, ließ er stecken.

„Kommt mit mir. Bei mir habt ihr größere Überlebenschancen.“

Dorian nickte ihm zu, und nachdem Sarik den Blick noch einen Moment auf ihm hatte ruhen lassen, um sich des Ernstes dieses Entschlusses zu vergewissern, wandte er ihnen den Rücken zu und ging los.
 

„Wir können doch nicht einfach mit dem mitgehen!“ zischte ihm Iria ins Ohr. Dorian drehte den Kopf weg und machte ein missmutiges Gesicht.

„Hast du eine bessere Idee?“

„Aber wir wissen gar nichts über ihn!“ entgegnete sie, und ihr finsterer Blick durchbohrte ihn förmlich. Er begegnete diesem mit weit heruntergezogenen Augenbrauen und einer Entschlossenheit, von der es ihm vorkam, als hätte sie sich von diesem so erstaunlich ruhigen Mann auf ihn übertragen.

„Und wir wissen genauso wenig über diese Kanäle, oder was wir als Nächstes überhaupt anfangen!“ sagte er, daraufhin setzte er sich in Bewegung. Sie folgte ihm, voller Trotz zwar, aber doch so, dass sie nicht von seiner Seite zurückfallen konnte. Nadim ging hinter ihnen und schien immer kleiner zu werden. Er machte den Eindruck, als wäre er bereit, sich auf einfach alles einzulassen, das sie aus diesen Gewölben heraus und in Sicherheit führen konnte.

Iria sagte nichts mehr, sondern funkelte ihn nur wütend an. Doch Dorian merkte dies gar nicht mehr, sondern heftete den Blick auf den Rücken dieses Mannes, der ruhigen Schrittes voranging und der die einzelnen Abzweigungen mit klarem Blick musterte, obwohl er ihren Verlauf ebenso wenig zu kennen schien wie sie. Doch seine Ruhe in dieser gefährlichen Lage übertrug sich auf ihn. Alleine schon der Blick auf seine hoch aufragende Statur und das Schwert, das an seiner Seite hing, als wäre es eine natürliche Verlängerung seines Körpers, flößten ihm die Gewissheit ein, dass das Überleben und ihre Flucht allen Widrigkeiten zum Trotz möglich war.

Der Blick von Hargfrieds stahlblauen Augen verlor sich in der Tiefe des Abgrunds, der sich vor seinen Füßen öffnete. Der frische Wind bewegte seine Haare, und die aufgehende Sonne warf seinen Schatten lang und klar in das Kanalgewölbe hinter ihm.

Er stand bis zu den Knien im Wasser, das zwischen diesen hindurch strömte und einen Schritt weiter in die Tiefe fiel. Hargfrieds Blick war gebannt von diesem Schauspiel, diesem Vorhang aus trübem Wasser, der in der aufgehenden Sonne in allen Farben des Regenbogens glänzte. Das Licht schien ihn reinzuwaschen, wodurch der Wasserfall, der sich aus dem Kanalrohr in den kleinen See am Fuße des Felsens ergoss, wie ein Gebirgsbach schillerte und nicht mehr wie die trübe Brühe wirkte, die zwischen seinen Knien hindurch rauschte.
 

Brynja Peinhild stand am Rande des Kanalbeckens und betrachtete ihren ‚Begleiter‘ missmutig. Einen Moment überlegte sie, ihm einen Stoß zu versetzen, um sich endgültig seiner zu entledigen; doch dann kamen ihr Zweifel, ob das Leben des offensichtlich verrückten Sohns des Herzogs nasse Füße wert war.

Ihre Abneigung gegen das Adelsgeschlecht ihres Heimatlandes drohte im nächsten Moment wieder überhand zu nehmen, doch das Geräusch herannahender Schritte lenkte ihre Aufmerksamkeit weg vom Tunnelende, durch welches das Licht der aufgehenden Sonne hineinfiel, und zurück in das Gewölbe, durch das sie bis jetzt geirrt waren. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, und sie betastete ihre Armschiene, aus der immer noch der Stachel ragte. Undeutlich erkannte sie mehrere Schemen im Halbdunkel. Aus der zwanglosen Ordnung zueinander erkannte sie, dass es sich um keine Soldaten des Kaisers handelte. Wenngleich ihr bewusst war, dass deren Auftauchen nur mehr eine Frage der Zeit war.

Hargfried von Lichtenfels bestaunte immer noch den Wasserfall, der in den kleinen See am Fuße des Felsens fiel, auf dessen Fundament der Palast und ein Teil der Stadt ruhte. Brynja blickte immer noch den Gestalten entgegen, die vorsichtigen Schrittes auf sie zu kamen. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass von dieser Position keine Flucht möglich war, außer-

„Welch ein herrlicher Anblick!“ rief ihr Hargfried zu, der sich in ihre Richtung wandte, die Arme ausstreckte und einen Moment lang den Eindruck erweckte, er würde sich in die Tiefe fallen lassen.

„Ja, verdammt herrlich.“

Brynja schüttelte den Kopf über das Gebaren dieses jungen Mannes, der sich wie ein Kind über dieses Schauspiel im Licht der Morgensonne freute, und darüber ihre gefährliche, wenn nicht gar aussichtlose Situation zu vergessen schien.
 

„Es ist wirklich wunderschön“, murmelte Hargfried ergriffen, ohne ihrer rüden Antwort Beachtung zu schenken. Dann wandte er sich wieder dem Ausblick zu, der ihm dichte, sattgrüne Wälder zeigte, durch die das dunkle Gelb der aufgehenden Sonne hindurch glühte wie eine Feuersbrunst, die hinter noch unversehrten Sträuchern und Bäumen lodert. Darüber zeigte sich ein blaugrauer Himmel mit nur wenigen Wolken, der einen lauwarmen Frühlingstag versprach. Er atmete tief die frische Luft ein, die ihm dieser Himmel schenkte und die die reinste Wohltat war nach dem langen, endlos anmutenden Gang durch die von stickiger Luft erfüllten Kanalgewölbe. Ein Ausruf riss ihn aus diesen angenehmen Eindrücken, die sich wie Balsam über seine fiebernde Seele legten, und so drehte er sich um.
 

Dorian ging einige Schritte entfernt hinter dem Mann namens Sarik Metharom. Dicht hinter sich hörte er die Schritte von Nadim und Iria. Er spürte förmlich ihre furchtsamen Blicke und auch ihr Misstrauen diesem Mann gegenüber, besonders von Iria.

Er war sich selbst nicht ganz sicher, ob sein schwer erklärbares Vertrauen diesem Unbekannten gegenüber nur aus ihrer aussichtlosen Situation resultierte, oder ob es eher die natürliche Autorität dieses Mannes war, die ihn in seinen Bann gezogen hatte. In jedem Fall spürte er zwar Furcht vor den Palastwachen, nagende Ungewissheit um das Schicksal seiner Freunde und nicht zuletzt Angst um sein eigenes Leben, das hier genauso schnell zu Ende gehen konnte wie das des Soldaten, der durch seine Hand gestorben war; aber er spürte keine Angst vor diesem Mann. Es gäbe genügend Gründe dafür, aber keiner war triftig genug, um das in so kurzer Zeit entstandene Vertrauen, das er in sich spürte, zu zerstören. Und nach all der Ungewissheit und der Verlorenheit, die die letzten Stunden auf ihm gelastet hatte, gab er sich diesem Gefühl der Zuversicht wider alle Vernunft hin.

Dorian stoppte seine Bewegung annähernd synchron mit der von Sarik. Ebenso kamen Nadim und Iria hinter ihm zum Halt. Sarik schien etwas zu sehen; Dorian erkannte in seinen Bewegungen eine gewisse Anspannung, wie eine Vorbereitung auf eine mögliche Konfrontation. Ganz anders, als er ihnen vorher begegnet war, und Dorian fühlte die Gewissheit, dass er im Gewölbe vor ihnen etwas erblickt hatte, das er als echte Bedrohung einstufte.

„Was ist da?“ fragte Dorian. Jetzt erst merkte er die Veränderung. Die Luft war deutlich frischer als die ganze Zeit zuvor. Sie atmete sich leicht und angenehm wie an der Oberfläche und hatte nur mehr wenig vom bis jetzt allgegenwärtigen Fäulnisgeruch. Auch das Licht war anders, und als er zu Sarik aufschloss, sah er den Schein der Sonne, der am Ende des Kanalgewölbes durch die Öffnung hereinfiel.

„Kommen wir hier endlich raus?“ hörte er die bange Frage Nadims, der diese Veränderungen ebenfalls bemerkt hatte und zusammen mit Iria an seine Seite trat.

„Die Sonne! Wir sind in Sicherheit!“ rief Iria mit erleichterter Stimme, die jetzt, von frischer Luft gestärkt, einen ganz anderen Klang hatte. Dorian sah ihr hoffnungsvolles Gesicht von der Seite. Er dachte daran, dass sie in Wahrheit noch längst nicht in Sicherheit waren, verstand aber, dass für Iria dieser erste Hoffnungsschimmer, die Aussicht, diese düsteren Gewölbe verlassen zu können, im Moment genauso schwer wog wie das Gelingen ihrer Flucht.

Auch in ihm keimte die gleiche Hoffnung auf, die er auf ihrem Gesicht gesehen hatte, und sie wurde durch die endlich wieder erquickende Luft und das erste Tageslicht seit langem- seit Ewigkeiten, wie ihm vorkam- bestärkt. Doch dann sah er im Gegenlicht der aufgehenden Sonne die Umrisse zweier Personen am Ende des Kanalgewölbes.
 

„Schon wieder diese Leute…“, zischte Brynja. Sie ballte ihre linke Faust und befühlte mit der Rechten die kurzen Dolche, die an dem breiten Gurt um ihre Mitte verteilt saßen. Der Mann, der sich in der Schatzkammer nach dem Kampf mit Hargfried als Sarik Metharom vorgestellt hatte, setzte sich nach kurzem Halt wieder in Bewegung.

Doch er machte keine Anstalten, einen Kampf zu beginnen, und so wartete sie ab. Daraufhin sah sie drei weitere, jüngere Personen, die ihm folgten, und einen Augenblick später kam ihr die Erinnerung. Dies waren die halbwüchsigen Diebe gewesen, die zu ihnen gestoßen waren, bevor der Eindringling, der ihnen allen zuvor gekommen war, die Kräfte des Maleficium entfesselt hatte.
 

„Jetzt gibt es einen Kampf, jetzt gibt es einen Kampf“, jammerte Nadim mit weinerlicher Stimme. Er hielt sich an Irias Ärmel fest, was diese mit einem nervösen Blick quittierte. Sarik ging langsam auf die beiden Personen zu. Dorians Augenmerk richtete sich auf die Nähere von den beiden, die Frau, die er vorher schon in dem großen Saal gesehen hatte. Sie kam ihnen mit kurzen Schritten entgegen, und ihre Haltung verriet, dass sie eine Konfrontation erwartete.

Er sah jetzt auch den Mann in der Rüstung und mit den langen Haaren, der durch das Kanalbecken watete. Dorian konnte im Gegenlicht ihre Gesichter nicht genau erkennen, doch etwas sagte ihm, dass gleich etwas passieren würde, das ihrem Abenteuer eine neue Richtung geben würde. Nadims angstvolle Miene und Irias angespannte Haltung verrieten ihm wenig Zuversicht für dieses Zusammentreffen, doch bei aller Gefahr, die diese Situation verhieß, spürte er selbst eine schwer erklärbare Zuversicht, was den Ausgang betraf.
 

„Ich bin nicht hierhergekommen, um mit irgendjemanden von euch zu kämpfen“, begann die Frau mit eindringlicher Stimme. Der Mann mit den langen Haaren, der immer noch im Wasser stand, blieb auf ihrer Höhe stehen. Dorian erkannte seinen Gesichtsausdruck, der aber nichts Feindseliges an sich hatte, sondern eher aufrichtig interessiert und geradezu leichtfertig wirkte.

„Ich genauso wenig“, antwortete Sarik neben ihm, und Dorian schaute zu ihm auf. Sein Gesicht war immer noch ausdruckslos, geradezu undeutbar, doch etwas darin bestärkte ihn in seiner Zuversicht. Sicher, dachte Dorian, wird ihm etwas einfallen, und es wird kein weiteres Blutvergießen geben. Sicher wird er-
 

„Da sind sie! Wir haben sie!“

Aufgeregte, vielstimmige Rufe hallten durch das Kanalgewölbe. Das Trappeln etlicher Stiefel begleitete diese Rufe; Dorian erkannte das charakteristische Geschepper von kaiserlichen Rüstungen im vollen Lauf.

Unwillkürlich wich er zurück. Ohne den Blick von den herannahenden Palastwachen zu nehmen, ging er rückwärts in Richtung der ihm fremden Personen, die er in diesem Moment nicht mehr als Bedrohung empfand. Seine Wahrnehmung wurde ausgefüllt von den Soldaten, die auf beiden Seiten des Kanals auf sie zu kamen. Ihre gezogenen Waffen, die entschlossenen Mienen und ihre energische Bewegungen ließen keinen Zweifel an ihrer Absicht.

„Tötet sie nicht gleich“, hörte Dorian einen von ihnen sagen, dessen Rüstung sich geringfügig von denen der anderen unterschied und so wohl einen höheren Rang bezeichnete. „Sicher können sie uns etwas über ihren Komplizen verraten.“

Die Frau mit dem Stachel an der Armschiene wich ebenfalls zurück, und hinter ihren ernsten Augen schien sich eine schwierige Entscheidung abzuspielen. Der Mann in der aufwändigen Rüstung hingegen zog sein langes Schwert, das er auf dem Rücken trug, und sein Gesicht war nun voller Angriffslust. Dorian versuchte die Anzahl der Soldaten abzuschätzen, doch es waren mehr, als er in der Eile erkennen konnte.

Sarik Metharom wich ebenfalls zurück; jetzt entstand erstmals seit vorhin Unruhe in Dorian, die zu Panik werden drohte. Die Soldaten kamen langsam, aber sicher, näher, und aus ihren Bewegungen sprach die Gewissheit, ihre Opfer in einer Falle zu wissen.
 

Platschende Schritte rissen Dorian aus seiner Starre. Er drehte sich um und sah, wie die Frau mit dem Stachel an der Armschiene in wenigen weiten Schritten den Rand der Öffnung erreichte. Dorian öffnete vor Staunen den Mund, als sie ihre Arme ausbreitete und sich in einer eleganten Haltung in die Tiefe stürzte. Wie ein Falke, der seine Schwingen spreizt, so hing sie in seiner Wahrnehmung einen Moment lang über dem Abgrund, um dann zu verschwinden. Er wandte sich wieder um, aber niemand außer ihm schien es bemerkt zu haben.

„Ihr wollt mich aufhalten? Ihr wollt den Mörder meines Vaters vor meiner Rache bewahren?“ schrie der junge Mann mit den langen Haaren der Traube nur zögerlich vorrückender Soldaten entgegen. Dorian beobachtete fassungslos, wie der Mann in der Rüstung mitten im Wasser des Kanals auf die Palastwachen zuschritt und sie anschrie. Aus seinen Worten klang selbstgerechter Zorn und nicht der mindeste Zweifel, dass das Schicksal, das Glück, oder zumindest das Wohlwollen der Götter auf seiner Seite war. Die Soldaten wechselten Blicke miteinander, und selbst ihr Anführer schien unschlüssig zu sein, wie sie mit diesem Gegner verfahren sollten.

Dann öffnete sich der Kampfdom um den jungen Ritter und schloss alle Soldaten im näheren Umkreis links und rechts des Kanals ein. Der Mann schwang sein riesenhaftes Schwert, und all seine Gesten und Bewegungen drückten eine spielerische Kampflust aus, die sich von dieser zahlenmäßig überlegenen Gegnerschar nicht im Mindesten beeindrucken ließ. Sariks düsterer Blick war auf den jungen Mann geheftet; aus seinen Augen und der gerunzelten Stirn sprachen Verständnislosigkeit über diesen hitzköpfigen jungen Mann, wie auch ein gewisses Bedauern über dessen unzweifelhaft tragischen Schicksal, das ihn im Angesicht dieser vielfachen Übermacht ereilen würde.

„Wie auch immer… er wird sie eine Weile aufhalten“, sagte er schließlich, wie um den auf seiner Miene sichtbaren Gedanken abzuschließen. Dann wandte er sich an Dorian, Iria und Nadim. „Könnt ihr schwimmen?“

Die drei sahen sich an; Verwirrung spiegelte sich angesichts dieser unerwarteten Frage auf ihren Gesichtern.

„Was mich betrifft, nicht so besonders…“, sagte Dorian schließlich, der offenen Wasserflächen in seinem bisherigen Leben eher ausgewichen war. Auch Nadim und Iria zuckten nur missmutig mit den Schultern.

„Dann frage ich eben anders“, fuhr Sarik lakonisch fort, als die ersten Schwerthiebe blechern durch den Kanal klangen. „Wollt ihr sterben?“

„Nein!!“ antworteten die drei nun schlagartig und im Chor. Dorians angstvoller Blick wechselte zu dem jungen Ritter, der mit seinem langen Schwert die bis jetzt vorsichtig agierenden Soldaten noch auf Distanz hielt. Tatsächlich reagierten die vordersten der Soldaten zögernd, beinahe erschrocken auf seinen Kampfesmut, doch die hinter ihnen nachdrängenden Palastwachen zeigten klar, dass dies nur ein Zeitgewinn war, und selbst dem stärksten Krieger erlahmten irgendwann die Arme.

„Wenn ihr nicht sterben wollt, dann folgt mir.“

„Folgen? Wohin?“ rief Dorian ihm hinterher. Sarik blieb kurz vor dem Rand der Öffnung stehen und drehte sich um. Dorian glaubte, sein blindes Auge zwinkern zu sehen.

„Aaargh!!“

Dorian, Nadim und Iria sprangen auseinander, als der junge Mann mit dem großen Schwert zwischen ihnen im Wasser landete. Erschrocken wichen sie zurück und liefen zu Sarik. Der Mann betastete die Beule in seinem Brustharnisch, dann rappelte er sich mit Hilfe seines Schwertes wieder auf. Die Soldaten waren deutlich näher als zuvor, und wenngleich schon mehrere von ihnen erschlagen im Wasser lagen, so rückten die Restlichen mit noch größerem Ingrimm vor.

Dorian blickte entsetzt in die Tiefe, die sich unter der Öffnung des Kanals erstreckte. Er sah, dass das Wasser mehrere Atemzüge brauchte, bis es die Oberfläche des kleinen Sees unten, am Fuße des Felsens, auf dem der Palast ruhte, traf. Dann ging sein Blick zu Nadim und Iria.

Nadim war blass, sein Gesicht war geradezu wächsern. Es war weniger Angst oder Aufregung, die sich auf seinem Gesicht zeigte, sondern eher die Abwesenheit jeglichen Empfindens, die seine leere Miene prägte. Es sah für Dorian aus, als hätte das Feuer seiner Angst allen Brennstoff verbraucht und nur die Asche einer stillen Verzweiflung zurückgelassen.

„Entweder wir springen oder wir sterben!“ rief Sarik gegen den Kampflärm an, der hinter ihnen erklang. Dabei packte er Dorian und Iria an den Armen. Iria ergriff instinktiv Nadims Hand, und dieser verzog nur kurz sein aschfahles Gesicht dabei.

„Oder auch beides!“ schrie Dorian zurück, der wusste, was kommen würde, und der doch nicht die Kraft hatte, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Schließlich wurde er von Sarik, der jetzt sprang, mitgerissen. Ebenso wie Iria und auch Nadim, die sich verkrampft an den Händen festhielten.

Der Boden löste sich von Dorians Füßen, die Schwerelosigkeit ergriff seinen Körper. Sie zog ihn mit sich, tauchte ihn ein in einen Vorhang aus glänzendem Wasser, und die ganze Welt stellte sich auf den Kopf. Er verlor seine Freunde und den fremden Mann aus dem Blickfeld, das ausgefüllt wurde von Licht und Schatten, immer abwechselnd; feuchte Finger tasteten dabei über sein Gesicht und in seine Kleidung.

Er konnte aber das Schreien seiner Freunde hören, und auch er wollte schreien, doch die feuchten Finger tasteten in seine Kehle, und so blieb sein Schrei stecken. Das Entsetzen des Fallens wurde ersetzt von der Furcht, zu ertrinken, zu ersticken an den feuchten, kalten Fingern, deren Griff sich nur langsam lockerte- bis er einen harten Schlag spürte.

Der Schlag traf seinen gesamten Körper zugleich und schmerzte ihn besonders in der Schulter des rechten Arms, dessen Hand sich immer noch um den Griff des Schwertes verkrampfte. Und auch jetzt konnte sie es nicht loslassen, als läge in diesem leblosen Gegenstand die Rettung aus dieser Lage. Er strampelte mit den Beinen dem trüben Licht entgegen, das durch die Wasseroberfläche brach, doch die Strömung zerrte an seinem Körper und seiner Kleidung, und trieb ihn fort.

Unter ihm war alles dunkel, über ihm aber war das trübe Licht, das nicht näher zu kommen schien. Er sah niemanden um sich herum, und die Luft in seinen Lungen wurde schal und säuerlich. Seine Beine schlugen noch heftiger aus. Er wünschte sich, er könnte das Schwert loslassen, dessen Gewicht ihn mit sich zog, doch er konnte das nicht, er konnte genauso wenig verhindern, dass sich ein dunkler Schleier um seine Gedanken legte, bis er letztendlich den Druck und die Enge in seinen Lungen nicht mehr spürte-
 

Hargfried kämpfte tapfer, geradezu entfesselt, und legte all seine Energie in die Hiebe. Weitere Soldaten fielen unter seinen Angriffen, doch noch mehr strömten nach; die Kraft rann aus seinen Armen wie Sand aus einer Sanduhr.

Die ihm entgegentretenden Palastwachen bildeten eine Phalanx, die ihn immer näher an die Öffnung drängte. Schon stand er nur noch drei Schritte vor dem Abgrund, in welchem das Wasser des Kanals in die Tiefe fiel.

Mit einem gellenden Schrei führte er einen Halbkreishieb aus, der die Soldaten zurückweichen ließ und ihm einen Moment zum Atmen verschaffte. Mit fahrigen Bewegungen drehte er sich um, und sein Blick tastete über die fernen Baumkronen, die man von der Öffnung aus sehen konnte.

„Vater!? Warst das du?“ schrie er in den Abgrund. Die Soldaten sahen sich an und zögerten. Hargfrieds Brust begann zu zittern, ein Schluchzen stieg in ihm hoch. Der Schrei von eben hallte in seinem Kopf wieder und rief eine verschüttete Erinnerung wach. Hinter seinen Augen flimmerten Bilder, schreckliche Bilder, von einem Salon voller Blut, von sterbenden Menschen, deren Schreie anklagend durch die Gänge der Burg hallten und die ihn in den Wahnsinn trieben- die Schreie seines Vaters…

„Vater, ich rette dich!!“ brüllte er mit brüchiger Stimme, bevor ihn die Palastwachen ergreifen konnten. Dann stürzte er sich in die Tiefe.
 

Die Wände zogen an ihm vorbei, wie vorüberhuschende, stumme und zugleich schreiende Zeugen, die alles gesehen hatten.

Scavo sprang über die leblosen Körper hinweg, als wären sie Baumstämme in einem finsteren Wald. Er ließ die Schatzkammer hinter sich, die wie ein zu Asche zerfallendes Stück Papier aus seinem Bewusstsein schwand. Das Maleficium in dem Beutel auf seinem Rücken lenkte von nun an alle seine Schritte.

Das tropfende, kalte Gewölbe erschien in seinem verengten Blickfeld wie ein tiefer Schlund, wie der Rachen eines mythischen Leviathans, der seine Opfer verschlingt und auf eine endlose Reise durch seine Eingeweide schickt.

Die Last auf Scavos Rücken zerrte und zog an ihm, aber nicht zu Boden, sondern einem Ziel entgegen, in dessen Richtung diese Macht, der er sich ergeben hatte, ihn zwang. Sie verlieh seinen Füßen die Schnelligkeit des Windes und fachte das sehnsuchtsvolle Feuer in seinem Inneren immer weiter an.

Gemäuer voller düsterer Gemälde, farbloser Wandteppiche und glänzender Kristallleuchter säumten seinen Weg. Wie glühende Hagelkörner auf nackter Haut, so fühlten sich all die Eindrücke für ihn an. Gestalten in Rüstungen schwenkten Waffen, die in seinem Sichtfeld wie Grashalme im Wind hin und her tanzten, und versperrten ihm den Weg.

Scavo erhob seine Stimme, die er selbst nicht hörte, und seine zu einer Klaue verkrampfte Hand, die er nicht mehr spürte. Das Maleficium, das in seinem Rücken wie ein glühender Metallklumpen brannte, entfaltete seine Kraft. Dessen Energie durchströmte seine Knochen, höhlte sie aus wie versengende Glut und trat an seinen Fingerspitzen aus, die sich wie in heiße Asche getaucht anfühlten.
 

Die Wachen stürzten zu Boden oder wichen an die Wände zurück, als sich die Erscheinung ihren Weg durch die Korridore des Palastes bahnte. Eingehüllt in erstickenden Nebel, wirkte sie wie ein dampfender Kugelblitz, wie ein Phantom aus der Unterwelt. Die Wachen, die von seiner vergiftenden Ausstrahlung nicht gleich zu Boden gestreckt wurden, ließen ihre Waffen fallen und drängten sich an die Wände.

Ihre Körper zitterten, aus ihren zusammengekniffenen Augen flossen Tränen der Verzweiflung, als sie die Gegenwart des Todes spürten, der an ihnen vorbeischritt wie eine Wolke aus Grabesgeruch. Die Furcht grub tiefe Gräben in ihre Seelen, die sich erst langsam wieder mit dem Gefühl, noch lebendig zu sein, füllten, nachdem die Erscheinung an ihnen vorbei war und den Palast verlassen hatte.
 

Die Morgendämmerung legte einen trübroten Schleier über die erwachenden Gebäude der Stadt, über die wenigen bereits schaffenden Seelen und über alle, die diesem Morgen schon bald mit neuem Mut begegnen würden. Doch einige wenige von denen, die schon auf den Beinen waren, verließ jeder Mut, als sie einer gespenstischen Erscheinung begegneten, die sich wie eine unheilschwangere Gewitterwolke an ihnen vorbei bewegte.

Die ganz wenigen, die es wagten, den Blick direkt auf diese Erscheinung zu richten, sanken, von der Angst und dem Entsetzen gelähmt, die diese Erscheinung in ihre Seelen pflanzte, zu Boden. Dabei erahnten sie eine menschlich anmutende Gestalt im Zentrum dieser wandelnden Rauchsäule aus greifbar gewordenen Drohungen.
 

Die Wachen am Westtor spürten die Annäherung einige Momente vor ihrem Eintreffen.

Vor kurzem hatte sie die Nachricht erreicht, alle Personen, die die Stadt verlassen wollten, genauestens zu kontrollieren. Ihre Augen musterten alles, was sich dem Tor näherte und an ihm vorbeikam, mit strengem und aufmerksamem Blick.

Einer von ihnen hob den Blick über die wenigen Menschen, die schon auf den Beinen waren, und sah es dann. Augenblicklich glitten seine Hand zum Schwert an seiner Seite und die andere an das Funkgerät an der Rüstung. Er rief etwas seinen Kameraden zu, doch seine Stimme versagte ihm plötzlich; ein Würgen schnürte ihm die Kehle zu.

Die Erscheinung näherte sich ihnen in zügigem, aber nicht hektischem Tempo. Einem der Torwachen gelang es noch, seine Waffe zu ziehen, doch dann ereilte ihn bereits der Fluch, der wie ein Pesthauch die Erscheinung umwehte und mit seinem giftigen Geruch ihre Seelen genauso wie ihre Körper betäubte.

Ein fragendes Krächzen klang aus dem Funkgerät des Wachsoldaten, der mit verdrehten Augen und offenem Mund, aus dem Speichel floss, auf dem Boden lag. Die Erscheinung bewegte sich an ihnen vorbei wie eine Gewitterwolke, die einen zuvor noch blauen Himmel mit ihren schmutzigen Farben besudelte. Als sie auf der Straße, die sich Richtung Norden wand, verschwand, kehrte langsam wieder das Leben in die Wachen zurück, und auch die Farbe in ihre Gesichter, in denen immer noch der Schrecken dieser Begegnung saß.
 

Tief im Wald, abseits der Straße, inmitten dichtem Gebüsch und knisterndem Unterholz, bahnte sich eine Gestalt den Weg durch den verwilderten Bewuchs.

Ihre Umrisse waren nur undeutlich erkennbar. Sie wurden verdeckt von rußigem Qualm, der aus seiner Kleidung, vielleicht sogar aus seiner Haut, kommen mochte. Jeder Schritt war schleppend und schwer; überall, wo die Gestalt hintrat, zerfielen die Gräser und Büsche zu schwarzem Staub, als würde eine vorüberziehende Macht alles Leben aus ihnen saugen und nur Asche hinterlassen.

Die Gestalt, aus der dunkle Rauchschwaden in die vom Morgenlicht erhellten Baumkronen stiegen, blieb schließlich stehen. Mit zögernden Bewegungen ließ sie sich auf einem Baumstumpf nieder, als würde ihr jede Regung des Körpers schwerfallen. Der Baumstumpf verwandelte sich unter ihrem Gewicht innerhalb weniger Augenblicke in ein graues, verkrustetes Etwas, das wie Abfall aus einer Metallgießerei aussah und nicht mehr wie ein Teil der belebten Natur.

Ein langgezogenes Wehklagen, wie das Rufen eines einsamen Wolfs, entstieg der Kapuze, die sie mit einer zittrigen Bewegung zurücksinken ließ. Darunter zum Vorschein kam das Haupt eines Menschen, doch eines, das tiefe Veränderungen in den letzten Stunden erfahren hatte.

Die Haare, einst voll und wallend, waren nun dünn und trocken wie Stroh. Sie hingen wie abgedorrte Rinde herab, jede Farbe war aus ihnen gewichen. In der Haut schien kein Blut mehr zu pulsieren, sie war fahl wie Pergament. Tiefe Falten zogen sich durch ein einst junges Gesicht, und Venen von unnatürlich dunkler Farbe zeichneten sich unter seiner Oberfläche ab. Immer noch stieg Qualm von der Gestalt auf, der jedoch allmählich schwächer wurde, als wäre ein frisch entzündetes Feuer nun endlich niedergebrannt und würde das Ergebnis dieses Verbrennungsprozesses zeigen.

Die Gestalt ließ den Kopf sinken, und die leeren, blassen Augen schlossen sich. Mit einer Hand tastete sie in den Beutel auf ihrem Rücken und zog den darin befindlichen Gegenstand heraus. Es war ein schweres Buch, mit dickem, ledernen Einband und angelaufenen Metallbeschlägen. Die Gestalt hielt das Buch vor sich, und seine Augen öffneten sich einen Spalt.

Sein Blick ruhte auf dem Einband, ebenso gierig wie angstvoll, als könnte es den Inhalt dieses Buches von außen ergründen. Schließlich legte sich die Gestalt das Buch auf die angezogenen Beine und schlug es auf.

Es blätterte durch die Seiten, welche an ihr vorbeizogen wie unwirkliche Trugbilder, wie irreführende Luftspiegelungen- bis sie schließlich bei einer Seite stoppte. Die Augen der Gestalt weiteten sich, und ein Zittern ging durch ihre ganze Erscheinung.
 

Das eben noch mattgrüne Licht, das durch die Baumkronen auf den Waldboden fiel, verdüsterte sich, als bewegte sich in diesem Moment die Hand eines Riesen vor die aufgehende Sonne. Die Geräusche der Vögel verstummten, das Surren der Insekten erstarb. Alles Leben, auch die Farben der Büsche und Bäume, wichen zurück vor der Gestalt auf dem Baumstumpf.
 

In diesem Bereich des Waldes schwand nun jedes Sonnenlicht aus den Baumkronen. Selbst der Wind wagte es nicht mehr, die Zweige und Äste zu bewegen. Stattdessen fiel durch die dichten Baumkronen ein silbriges Licht, wie das des Mondes, das jetzt den Waldboden und die Pflanzen darauf in einen kränklichen Schein tauchte.

Die Gestalt auf dem Baumstumpf schreckte zurück, als sich wenige Schritte vor ihr ein durchsichtiger Schemen erhob, der dem Augenschein nach aus dem Erdboden selbst wuchs. Dessen flirrende Umrisse hatten aber nichts von seiner groben Beschaffenheit, sondern wirkten eher wie ein loderndes Feuer, aus dem jede Wärme entwichen war.

Es ragte über der Gestalt auf, und seine Höhe erreichte fast die der niedersten Baumkronen. Die Gestalt legte den Kopf in den Nacken, während sie immer noch mit beiden Händen das Maleficium festhielt. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet, als es erkannte, was es getan hatte, und dieses Entsetzen wich nur langsam der Resignation in das eigene Schicksal, das, trotzdem es herbeigesehnt war, sich nun schrecklicher als alle Vorstellung herausstellte.

Die Erscheinung beugte sich über die Gestalt, die winzig und nichtig vor ihr erschien. Nur der Oberkörper war zu sehen, der aus einem diffusen Nebel knapp über dem Erdboden ragte. Es war gehüllt in eine Rüstung aus Platten, bedeckt mit altertümlichen, fremdartigen Symbolen, die nie in der Realität zusammen auf einem Kleidungsstück zu sehen waren und die in Wahrheit aus allen Kulturen der Menschheit- bestehenden, vergangenen und ausgelöschten- zusammengesetzt waren. Sie bildeten ein buntes und doch farbloses Chaos, eine Ansammlung aller Symbole und Bildnisse, die ihrem Träger je gewidmet worden waren in der Historie der Menschheit.

Und über all dem ragte ein Kopf, eingehüllt von einem Helm, in dessen Tiefe ein Gesicht lauerte, ein knöchernes Gesicht, ohne Haut, ohne Menschlichkeit. Aus den leeren Augenhöhlen drohte nichts als Dunkelheit, so dicht und greifbar, dass sie auf eine ganz eigene Art strahlte.
 

„Wer- wer bist du?“ fragte die Gestalt, die ganz eingetaucht war in das kalte Licht, das dem grauweißen Feuer entsprang, aus dem dieses Wesen geboren war. Seine Worte verloren sich im lautlosen Sturmwind, der von dem Wesen ausging und der alle Gräser und Büsche um sie herum zu Boden drückte, als wollte er auf diese Weise allen Lebewesen um sich herum die Unterwerfung aufzwingen. Außer diesem einen Wesen, über das es sich nun beugte. Jetzt bewegte es seine bleichen Kiefer, die wie Waffen im Dunkel des Helms verborgen lagen.

„Ich habe viele Namen…“

Die Stimme klang wie die Fanfaren einer Geisterarmee und zugleich wie Hörner von den Türmen einer Totenstadt. In ihnen hallten die Schritte zahlloser im Gleichtritt marschierender Krieger wieder, ebenso wie das Wiehern dampfender Streitrösser und das Rattern sich eilig drehender Räder antiker Kriegsmaschinen.

„Du- du bist- “, begann die Gestalt, die längst wusste, mit was sie es zu tun hatte und an wem sie ihre Seele verkauft hatte.

„Ich bin Upuaut, und auch Ningirsu. Ich bin Ištar, und ebenso Rudâu. Ich bin Kartikeya und Camulos, Bishamon und Ares, und wie immer mich die Menschen auch sonst noch genannt haben. Ich bin der Gott des Krieges, und du… “

Seine Stimme verhallte; es klang wie Wind, der durch einen in einen düsteren Himmel ragenden Schornstein fährt.

„Mein Name ist Scavo.“

„Scavo…“, wiederholte das Wesen. Eine leichte Belustigung schwang durch die in Wellen über Scavo hinweg strömende Bosheit, die in dieser Stimme wohnte. „Du bist nun der Träger meines Gefängnisses. Befreie mich, und du bekommst noch mehr von meiner Macht. Noch viel mehr…!“

Wieder brauste die Stimme auf. Scavos Haare wehten in dem Sturmwind, der, angefacht von dem Atem des Kriegsgottes, über ihn hinweg fuhr und die Gebüsche um ihn herum noch weiter niederdrückte. Eine Mischung aus Entsetzen und verzweifelter Glückseligkeit gerann auf seinem farblosen Gesicht zu einer bitteren Flüssigkeit, die in Form brennender Tränen über seine Wangen lief. Sein Mund verzerrte sich zu einem angsterfüllten Lachen, das stetig anschwoll und bald die ganze Lichtung füllte, und das fast herankam an den sturmartigen Atem dieses Wesens.

Der Pakt war endgültig geschlossen, und mit ihm jegliche Wiederkehr versperrt.

Berührungen streiften sein Gesicht, und ihre Wärme war ein Labsal nach all den kalten Umarmungen, die seine Kleider durchnässt und seine Haut aufgeweicht hatten. Er öffnete die Augen. Sonnenstrahlen, die zwischen sanft rauschenden Baumkronen durchdrangen, stachen ihn wie Glassplitter aus Licht. Er blinzelte und versuchte, sich aufzurichten. Alles drehte sich; Brechreiz, verbunden mit einem schalen Geschmack im Mund, ließ ihn würgen.

„Er ist wach, endlich.“

Die Erde brauchte einen Moment, um in die Waage zu kommen. Als es soweit war, blickte Dorian sich um und erfasste seine Umgebung.
 

Iria kniete bei ihm. Ein Stück weiter saß Nadim im Sand. Der bange Ausdruck von Nadim wurde durch die Erleichterung, ihn lebend zu sehen, aufgehellt. Dann hörte er das Rauschen, das die ganze Zeit im Hintergrund schon da gewesen war, das aber erst jetzt durch seine Ohren hindurch und in seinen Verstand eindrang.

Er spürte Sand mit grobem Kies durchsetzt unter seinem Gesäß wie auch zwischen den Fingern. Sein trüber Blick traf den Fluss, der an ihnen vorbeirauschte. Er blinzelte, und in seinen brennenden Augen schien das Wasser die Farbe mehrmals zu wechseln, bevor es sich auf ein Graubraun einigen konnte.

„Das Wasser… Wir sind vorher- “, begann er, doch seinem noch trägen Verstand gelang es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen.

„Wir sind gestürzt“, sagte Iria und half ihm so auf die Sprünge. Dabei machte sie eine Kopfbewegung zur Seite, außerhalb von Dorians Gesichtsfeld. „Wegen ihm“, fügte sie hinzu, und ein leiser Vorwurf mischte sich in ihre Erleichterung.

Dorian wollte den Kopf soweit drehen, um zu sehen, was sie meinte, doch augenblicklich befiel ihn wieder das Schwindelgefühl. Ebenso meldete sich der rasende Kopfschmerz zurück, der zuvor nur als verschwommene Erinnerung existiert hatte.

„Wo… sind die anderen“, brachte er hervor und versuchte aufzustehen. Iria stützte ihn, denn sonst wäre er wohl gleich wieder auf seinem Hosenboden gelandet.

„Nadim war als erster hier“, erklärte sie, während sie ihn bei den ersten Schritten stützte. Nach wenigen Schritten rang er sich aus ihrem Griff frei, machte ein trotziges Gesicht und ging selbstständig auf unsicheren Beinen weiter. „Ja, und dieser Sarik… Er war auch schon hier.“

Dorian sah sich genauer um. Sie standen am Rande eines Flusses, der sich in engen Mäandern durch den Wald wand. Das Laubdach über ihren Köpfen färbte das Licht der schon hoch stehenden Sonne in alle Grüntöne. Der grobe Kies der Sandbank, an der sie sich befanden, ging nach wenigen Metern in Schilf und Brennnesseln über, die schließlich zu Waldboden wurden, auf dem niedrige Gebüsche und Farnsträucher zwischen mächtigen Baumstämmen wuchsen.

Schließlich sah er einen Mann, der im Wald zwischen den Bäumen mit dem Rücken zu ihnen stand. Ein paar Schritte entfernt von ihm hing ein Mantel, von dem Wasser herabtropfte, an einem Ast. Der Mann drehte den Kopf zur Seite; da erkannte ihn Dorian. Es war Sarik Metharom, oder eben die Person, die sich ihnen unter diesem Namen vorgestellt hatte. Jetzt, ohne seinen Mantel, sah Dorian das ärmellose Lederwams, das er trug und aus dem sehnige Arme herausragten. An der Seite trug er sein Schwert, und am Unterarm seines rechten Arms erkannte er einen Escutcheon.

Dorian blickte an sich herab. Er sah seinen eigenen, der fest und unbewegt an seinem Unterarm saß, und den selbst die Kraft des Flusses, in dem er beinahe ertrunken war, nicht hatte lösen können. Langsam drehte er ihn um und hielt dabei den Atem an. Undeutliche Erinnerungen an die Konfrontation mit der Palastwache stiegen in ihm hoch. Sie fühlten sich an wie vergessene Wunden, die nach langer Zeit erneut schmerzten. Im fahlgrünen Licht der Baumwipfel über ihm erkannte er die Färbung der Glasscheiben zuerst gar nicht. Dann sah er näher hin und bemerkte, dass sie alle zugleich pulsierten, dass in ihnen allen ein schwaches Licht in schwer trennbaren Farben an- und abschwoll. Die Farben wechselten, ebenso wie ihre Intensität; schließlich ließ er den Arm seufzend sinken.

„Und wo sind wir hier?“

Seine fragende Stimme übertönte das Rauschen des Flusses nur unerheblich, und sein verwirrter Blick richtete sich auf Iria.
 

Sarik kam, den Mantel über die Schulter geworfen, zu ihnen ans Ufer zurück. Mit weiten Schritten überwand er den Schilfgürtel und gelangte so zu ihnen. Nadim blickte ihn von der Seite skeptisch an, und auch Irias Blick verfinsterte sich. Aus Dorians Augen hingegen leuchtete Neugier sowie die Hoffnung, sie bei diesem Mann stillen zu können.

„Auch wieder unter den Lebenden?“ fragte Sarik und brach einen Zweig ab, der aus einer Ansammlung Treibgut am Wasserrand ragte.

„Ja, gerademal.“

„Bei dem Sturz hätten wir draufgehen können“, sagte Iria, und das mit nur wenig Verständnis in der Stimme. Sarik blickte sie einen Moment durch seine Brille an, die er bei dem Sturz wohl gerettet hatte, um dann in die Hocke zu gehen und mit dem Stock etwas in den Sand zu zeichnen.

„Wären wir geblieben, so wären wir jetzt tot“, sagte er und blickte von seiner Zeichnung im Sand auf. „Oder in den kaiserlichen Folterkammern.“

Er blickte sie nur einen Moment an, um sich dann wieder der Zeichnung im Sand zu widmen. Iria schüttelte ratlos den Kopf, ihre Stimme verriet aufkeimende Verunsicherung.

„Aber- Wir haben doch nichts getan. Verfolgen sie uns immer noch?“ fragte sie leicht verschämt.

„Mit etwas Glück halten sie uns für ertrunken, was ja wirklich fast geschehen wäre“, antwortete er seufzend und mit müder Stimme, als würde er sich über etwas ganz anderes den Kopf zerbrechen. „Ihr mögt nichts getan haben, aber der Palast sieht dies wohl anders.“

Irias argwöhnischer Blick traf Dorian und auch Nadim, bevor er wieder auf Sarik fiel.

„Sie wissen… vom Maleficium?“ fragte sie heimlich und leise, als könnte sie damit ein Geheimnis ausplaudern.

„Ja“, antwortete er und erhob sich dabei. „Das Maleficium war der Grund, warum ich in den Palast eingedrungen bin. So wie auch ihr, vermute ich?“

Irias Züge wurden finster und verschlossen. Einen Moment lang mutete sie wie ein Kind an, das sich einer als ungerecht aufgefassten Bestrafung gegenübersah.

„Was geht das sie an?“ schnauzte sie ihn an, wandte sich ab und ging mit verschränkten Armen am Flussufer entlang, wobei sie den verdutzt dreinschauenden Nadim passierte.

„Wir wollten das Maleficium stehlen, das stimmt“, sagte Dorian an ihrer Stelle, wie um ihr Geständnis zu vollenden. Dabei sah er zu Boden, während Sarik ihn immer noch aufmerksam beobachtete. „Sie hatte die Idee… und ich war einverstanden. Ebenso wie Ludowig, Nikodemus und Gaubert… Haben sie sie vielleicht gesehen?“

Sarik atmete tief ein, um dann den Kopf zu schütteln. Dabei schlüpfte er in seinen nunmehr fast trockenen Mantel.

„Nein. Außer euch drei habe ich niemanden mehr gesehen nach dem Sturz.“ Dann wandte er sich wieder der Zeichnung im Sand zu. Dorians Ungewissheit um seine Freunde wurde zu einer bleiernen Schwere in seinem Verstand, die sich wie eine bereits in der Vergangenheit liegende Verwundung anfühlte. Das machte es nicht weniger schmerzhaft, aber zumindest konnte er diesen Schmerz wie etwas schon Gewohntes zur Seite schieben, um sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.

„Was tun wir jetzt?“

„Ich werde den Dieb des Maleficium verfolgen“, antwortete Sarik, ohne von der Zeichnung im Sand aufzuschauen. Das Wort ‚Ich‘ betonte er besonders; es klang wie eine unausgesprochene Herausforderung. Danach hob er den Blick wieder auf Dorian, wie um zu sehen, auf welche Weise er reagierte.

„Wir können nicht einfach zurück in die Stadt. Sie haben uns gesehen… Sie werden uns suchen“, sagte Dorian, und in seinem Verstand fügten sich die unschönen Steine dieses Mosaiks zu einem bitteren Muster zusammen.

„Leicht möglich. Der Dieb ist entwischt, also werden sie sich an uns, die sie für seine Komplizen ansehen, halten.“

„Aber- Wir wissen doch gar nicht, wer er ist!“ entgegnete Dorian mit unbeabsichtigt lauter Stimme. Er sah sich um, wie um nach Hilfe Ausschau zu halten, doch er sah nur Nadim, der immer noch im Sand saß und teilnahmslos in die Fluten starrte, sowie Iria, die nach wie vor mit trotziger Miene auf der Sandbank auf und ab ging. „Die können uns doch nicht verantwortlich machen- “ Er erstarrte mitten im Satz, als ihm dessen Zwecklosigkeit bewusst wurde. Sie waren auf ähnliche Weise in den Strom der Ereignisse geraten wie in den Fluss, an dem sie jetzt standen, der sie jedoch- im Gegensatz zu den Ereignissen- wieder freigegeben hatte. Dem Ertrinken waren sie entronnen, doch die eigentlichen Schwierigkeiten begannen erst.

Sarik war immer noch in seine Zeichnung im Sand vertieft, die nun wie eine Landkarte wirkte.

„Warum wollten Sie das Maleficium stehlen?“ fragte Dorian nach einigen Momenten; seine eigene Stimme kam ihm dabei unbeabsichtigt forsch vor.

„‘Gestohlen‘ haben es die Männer eures Kaisers“, antwortete Sarik mit nachsichtiger Stimme, wie einem Schüler gegenüber, dessen Irrtum unverschuldet war. „Das Maleficium ist das Eigentum von Mosarria. Ich hole es zurück.“

Dorian blinzelte ungläubig.

„Sie sind aus Mosarria? Dann… sind Sie unser Feind?“

Der Fluss hinter Dorian spiegelte sich in Sariks Brillengläsern; diese Spiegelung konnte jedoch nicht über den ernsten, fast traurigen Ausdruck in seinem gesunden Auge hinwegtäuschen.

„Habe ich versucht, euch zu töten? Die Palastwachen tun das mit jedem, der ihnen dieses Artefakt streitig macht, und sie machen dabei keinen Unterschied nach der Herkunft“, erklärte er, und seine Stimme nahm einen fast schon erheiterten Ausdruck an, der jedoch schnell wieder schwand. „Wir kommen aus verschiedenen Ländern. Siehst du mich deshalb als Feind an?“

Dorian, für den Feinde immer etwas weit Entferntes und unbeschreiblich Böses waren, konnte nichts erwidern. Dieser Mann war weniger Feind für ihn als die Palastwachen, denen sie zuvor entkommen waren, musste er sich eingestehen.

„Und wohin gehen Sie jetzt?“ fragte Dorian, um die Stille zu durchbrechen, und auch um sein Gefühl zu vertreiben, etwas Dummes gesagt zu haben.

„Ich folge dem Maleficium, wie es mein Auftrag ist“, antwortete er beiläufig und zeigte dabei auf die Zeichnung im Sand. „Das hier ist der Fluss Rhemarn, hier sind wir, vermute ich zumindest, und hier liegt die Ortschaft Brimora. Er ist dort hin.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

Ein amüsiertes Lächeln schlich durch die dichten Bartstoppeln um Sariks Mund.

„Du hast einen Escutcheon. Ist es dir noch nicht aufgefallen?“

Dorian blickte seine Armschiene an, mit der er nur noch bittere Erinnerungen verband.

„Ja. Ich habe gegen eine Palastwache gekämpft. Er war eigentlich ziemlich leer, aber plötzlich nicht mehr, und ich konnte sie… besiegen.“

„Das meine ich nicht“, erwiderte Sarik und schüttelte den Kopf. „Das Maleficium beeinflusst alle Escutcheons im Umkreis, vor allem, wenn es unvorsichtigerweise geöffnet wird. Der Einfluss geht aber noch weiter. Sieh her.“

Unwillkürlich richtete Dorian den Blick auf seinen Unterarm, den Sarik von sich streckte. Er erkannte die vier Glasscheiben auf der Armschiene, die ähnlich wirre Farbenspiele zeigten wie auf seiner eigenen. Dann begann Sarik, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Bei einer ganz bestimmten Himmelsrichtung leuchteten alle Scheiben zugleich. In kräftigen Farben glühten sie auf, wo zuvor nur ein mattes Schimmern gewesen war.

„He, das ist- “, rief er verblüfft und deutete auf die Armschiene.

„Das funktioniert bei dir sicher auch.“

Dorians Blick heftete sich auf den Escutcheon an seinem Arm. Als müsste er die Reaktion befürchten, so langsam hob er ihn und bewegte ihn den gedachten Horizont entlang, ganz vorsichtig. Und tatsächlich, in derselben Richtung, in der auch Sariks Arm verharrte, erglühte das Farbenspiel mit unvermuteter Heftigkeit. Bewegte er ihn weiter, erstarb es, bewegte er ihn zurück, war es wieder in voller Pracht da.

„Wie ist das möglich?“

„Wir waren am nächsten, als dieser Tor das Maleficium öffnete“, sagte er und verbarg seinen Escutcheon unter dem Ärmel seines Mantels. „Unsere Armschienen sind ab nun verbunden mit seiner Macht.“

„Das ist… unheimlich“, sagte Iria, die alles mit an gesehen hatte. „Es wird uns also zu ihm führen?“ fragte sie vorsichtig. Sarik, nach einem Moment des Zögerns, nickte.

„Ja, das wird es.“

„Können wir mit Ihnen kommen?“ fragte sie geradeheraus, was Dorian ehrlich erstaunte. Sarik blickte sie einen Moment lang abschätzend an, dann verwischte er mit dem Stiefel die Zeichnung im Sand.

„Wenn ihr mir nicht zur Last fallt“, antwortete er knapp. Dann wandte er sich ab und ging los. Nach wenigen Schritten blieb er stehen und drehte den Kopf zur Seite. „Du, mit dem Namen Dorian… Vergiss dein Schwert nicht.“

Dorian sah sich einen Moment lang ratlos um, dann sah er das Schwert der Palastwache einige Schritte entfernt im Sand liegen. Bis hierher hatte er sich daran geklammert, und wie der Fluch seiner Tat schien es ihn verfolgt zu haben. Mit nicht geringem Widerstand hob er es auf und betrachtete es. Der Kampf und das Blut glitten an seiner Erinnerung vorbei wie ein Alptraum, der zwar im Begriff war, vergessen zu werden, der aber auch versprach, einen bleibenden Schimmer seines Grauens zu hinterlassen.

„Warum erinnern Sie mich daran?“ fragte er, als ihm bewusst wurde, dass er in ihrer Gruppe der Einzige außer Sarik war, der eine Waffe führen konnte. Auf Sariks Gesicht, das ihnen zur Hälfte zugewandt war, zeigte sich ein verhaltenes, beinahe schon schelmisches Lächeln.

„Wie du vorhin gesagt hast… Eigentlich bin ich euer Feind.“

Dann ging er mit weiten Schritten los. Nach einem vielsagenden Blick, den Dorian mit Iria wechselte, bemühten sie sich, mit ihm Schritt zu halten.

Die kleine Gruppe ging wenige Schritte hinter Sarik. Dorian, in ihrer Mitte, ließ den Blick über seine Wegbegleiter schweifen.

Nadim, der die Zeit seit ihrer Ankunft an dieser Sandbank größtenteils geschwiegen hatte, sprach immer noch kaum. Seine Miene war in sich gekehrt, sein Gesicht die meiste Zeit auf den Waldboden gerichtet. Nur hin und wieder hob er den Blick, als müsste er sich vergewissern, dass es immer noch sein Schicksal war, durch einen ihm unbekannten Wald zu marschieren. Dann richtete er ihn wieder zu Boden und betrachtete seine Schritte, die ihm einem ungewissen Ziel entgegen trugen. Dorian erinnerte sich daran, wie vorlaut er in ihrer Runde gewesen war, an jenem Tag im Uhrturm, welcher so lange zurückzuliegen schien.

Iria hingegen blickte meistens geradeaus, auf ihren Führer durch diese ihnen unbekannte Gegend. Aus ihrem Blick sprach nicht unbedingt Vertrauen diesem Mann gegenüber, eher die Bereitschaft, seine Anwesenheit hinzunehmen, wenn sie versprach, sie ihrem Ziel näher zu bringen. In diesem Moment wurde Dorian klar, wie wenig er über die Wälder um die Stadt Galdoria wusste. Sein ganzes Leben hatte er in dieser Stadt verbracht, und so oft er sich auch in Tagträumen über Abenteuer in fernen Landen verloren hatte, so war doch der Impuls, seine Heimatstadt zu verlassen, nie stark genug gewesen, um ihn diesen fernen Landen zumindest ein paar Schritte näherzubringen. Dies wurde ihm nun bewusst, und er schämte sich dafür.

Jetzt betrachtete er selber den Mann, dem sie vertrauten, was diesen Ort anbetraf, wenngleich seine Heimat wesentlich weiter von diesen Wäldern entfernt war als Dorians. Wie auch die von Nadim und Iria, wie ihm einfiel, und er genierte sich für seine unbedachten Worte zuvor, die, wenn er es näher betrachtete, auch die beiden betroffen hatten.

„Iria, Nadim…“, begann er zaghaft. Das Schwert, das er sich wieder durch seinen breiten Gürtel gesteckt hatte, war länger als jenes, das er in den Kanälen unter dem Palast zurück gelassen hatte. Es streifte am Waldboden, und so schob er es sich zurecht. „Was ich vorher gesagt habe… das war dumm. Es tut mir leid.“

„Was denn?“

„Na ja, das mit den Feinden und so“, sagte er und schob sich abermals das Schwert im Gurt zurecht. „Weil ihr doch auch aus Mosarria kommt.“

„Ach, das“, erwiderte Iria und winkte ab. „Für mich gibt es nur einen Feind“, sagte sie, und ihr Blick traf wieder Sarik, der vor ihnen ging, „Und das ist dieser Krieg“

„Dann ist es gut“, sagte Dorian, und rückte abermals sein Schwert im Gurt zurecht. Zu guter Letzt zog er es heraus und legte es sich über die Schulter. Nach kurzer Zeit fing das Gewicht an zu drücken, woraufhin er die Schulter wechselte. „Dann ist es gut…“, wiederholte er so leise, dass das Flüstern des Waldes um sie herum seine Worte beinahe übertönte.
 

Schnelle Schritte huschten durch den Wald. Schritte von Füßen, die morschen Zweigen auswichen und dicken Ästen, die zur Stolperfalle hätten werden können. Schritte, die kaum Geräusche verursachten. Und wenn sie es taten, dann solche, die ebenso gut von einem der Bewohner des Waldes hätten stammen können.

Ihre Augen hafteten auf ihrem Weg und erkannten alle Hindernisse, suchten den kürzesten Weg zu ihrem Ziel, und trotz der Nässe, die immer noch in ihren Kleidern herrschte, bewegte sie sich mit kraftvoller Entschlossenheit diesem Ziel entgegen. Hin und wieder verlangsamte sie ihre Schritte und blickte auf ihren Escutcheon, der die Richtung wies. Sie schwenkte dann den Arm in ihre Laufrichtung, und in jener, in der die Scheiben aufleuchteten, beschleunigte sie ihre Schritte. Dabei achtete sie auf Geräusche, die weder von ihr noch von den Tieren des Waldes stammten. Bis sie welche hörte. Brynja Peinhild blieb abrupt stehen.

Sie hielt den Atem an und horchte mit offenem Mund. Ihre Augen bewegten sich dem gedachten Horizont entlang, wo Bäume, dichtstehende Gebüsche und niedrige Farnsträucher die Sicht einschränkten. Sie achtete auf alle Bewegungen und Unregelmäßigkeiten, die nicht aus dem angestammten Leben des Waldes entstanden. Schließlich wurde sie fündig.

In geduckter Haltung lief sie zu einem Baum, den sie als geeignet erachtete, und erklomm ihn. Mit geschmeidigen Bewegungen kletterte sie an der rauen Borke empor, bis sie den Bereich dichterer Äste erreichte. Von dort an ging es leichter, und auf einem armdicken Ast bezog sie Position, um ihre möglichen Feinde herankommen zu lassen.
 

Von ihrer Warte aus beobachtete sie die kleine Gruppe. Ihr gefleckter Mantel verwischte ihre Umrisse zwischen den belaubten Ästen, und sie konzentrierte sich ganz auf ihre Beobachtung.

Als sie erkannte, dass dies allein schon von der Anzahl keine kaiserlichen Soldaten sein konnten, spürte sie Erleichterung. Als sie aber erkannte, dass dies keine harmlosen Wanderer waren, schwand die Erleichterung wieder. Sie erkannte den einäugigen Mann wieder, der ihr in der Schatzkammer des Kaiserpalastes begegnet war, und in seiner Begleitung die halbwüchsigen Diebe, die damals ebenfalls dabei gewesen waren.

In Gedanken ging sie ihre Möglichkeiten durch. Einen offenen Kampf hielt sie für töricht. Dieser Mann mit dem einzelnen gesunden Auge war ihr bei ihrer kurzen Begegnung in der Schatzkammer und danach im Kanal noch am Vernünftigsten vorgekommen. Zumindest im Vergleich zum Sohn des Herzogs von Lichtenfels, der offenbar seinen Verstand verloren hatte. Sie sah die Gruppe vorüberziehen, und die Entscheidung stand immer noch aus. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht.

Entgegen ihrer Angewohnheit, jede ihrer Entscheidungen innerhalb von längstens sieben Atemzügen zu treffen, war sie immer noch unschlüssig. Diese selbstgesetzte Frist war bereits verstrichen, und sie sah, wie die Gruppe in geringer Entfernung den Baum, der ihr als Versteck diente, passierte. Sie atmete entspannt durch und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass keine Entscheidung letztendlich auch eine Entscheidung war.
 

„Dann ist es gut…“, flüsterte er leise. Das ungewohnte Gewicht drückte ihn nach kurzer Zeit auf der anderen Schulter ebenso. Dorian fragte sich, wie die Soldaten des Kaisers mit diesem Gewicht zurechtkamen, zu dem sie zusätzlich noch ihre massive Rüstung trugen. Bei all den Paraden und Anlässen, denen er beigewohnt hatte, um ihre stolzen Umzüge zu bewundern, hatte er die Leichtigkeit ihres Marsches bewundert. Er hingegen hatte keine Rüstung, nur ein Schwert; und dies kam ihm nach der kurzen Zeit schon als unzumutbare Belastung vor. Und er begann zu ahnen, dass sich hinter der eindrucksvollen Fassade des Soldatentums ein langwieriger und nicht immer prachtvoller Weg verbarg.

Sein Blick streifte durch die dichten Baumkronen, von denen das Sonnenlicht gefiltert wurde, verlor sich im Unterholz und den Farnsträuchern, die den Waldboden bedeckten, und er fragte sich, ob so ein Abenteuer aussah. Die Flucht war ihnen geglückt, und fürs Erste waren sie in Sicherheit, auch wenn es vielleicht eine Trügerische war. Der Wald war ruhig, durch den sie schritten, und bis auf die Geräusche flüchtender Tiere und dem Wind in den Baumkronen hörten sie keinen Ton. Nichts deutete darauf hin, dass die Palastwachen ihre Spur schon aufgenommen hatten, und er fühlte sich wohl in der Vorstellung, man würde sie für ertrunken halten. Zugleich rührten unangenehme Erinnerungen an der Oberfläche seiner Gedanken. Letztendlich sehnte er sich nach einem Ort der Zuflucht, wo er in aller Ruhe darüber befinden konnte, ob er heute ein sogenanntes Abenteuer erlebt hatte, oder ob das einfach der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen war.

Wie er so in Gedanken dahin schritt, ebenso wortkarg wie Iria und Nadim, spürte er die Müdigkeit in seinen Knochen deutlicher, jetzt, wo keine Anspannung und direkte Gefahr mehr vorherrschte. Auch sein Magen fühlte sich bedenklich leer an, und er dachte daran, die Frage nach ihrem Zielort an ihren schweigsamen Führer zu richten- als dieser unvermittelt kehrtmachte und sein Schwert zog.
 

„He!“ schrie Dorian überrascht und stolperte rückwärts. Nadim ließ sich instinktiv zu Boden fallen, und Iria suchte Schutz hinter einem Baumstamm, wie er aus dem Augenwinkel flüchtig erkannte. Sein Schwert hielt er vor sich, doch seine Hände zitterten. Die bloße Kraft, es zu halten, schien aus ihnen zu weichen, und schließlich stolperte Dorian über eine Wurzel.

Sarik stand mit gezogenem Schwert über ihm. Dorian kroch auf dem Hosenboden rückwärts, doch der Mann schritt an ihm vorbei. Erleichtert und auch verwirrt sah er, wie Sarik an einen Baum trat, an dem sie gerade vorüber gegangen waren.
 

Mit dem Schwert in der Rechten trat er an dem Baumstamm heran, lehnte sich mit einer Hand dagegen, und blickte empor in die dicht belaubten Äste.

„Sie können runterkommen“, sagte er zu irgendjemand. Dorian kam auf die Beine und blickte sich verwirrt um.

„Wen meinen sie?“

Nadim und Iria standen jetzt in seinem Rücken, als könnte er ihnen Schutz bieten, und sahen sich mit fragenden Blicken um. Sariks gesundes Auge tastete immer noch durch die Baumkrone.

„Es ist zu spät für einen Angriff von Hinterrücks“, sagte er mit einer Spur von Bedauern, als hätte er jemandes Plan vereitelt. Dorian, Iria und Nadim sahen sich an. Dann hörten sie ein Rascheln, das aus der Baumkrone kam. Sarik ging mehrere Schritte zurück. Eine Gestalt in einem gefleckten Mantel fiel aus den Ästen, um mit einer geschmeidigen Bewegung den Sturz abzufangen.
 

Dorian starrte mit großen Augen auf die Gestalt. Iria wie auch Nadim hielten sich an seinen Schultern fest und blickten ebenso erstaunt die Frau an, die nun vor ihnen stand.

Sie war in einen gefleckten Mantel gehüllt, der zur besseren Beweglichkeit gerafft war. Darunter erkannten sie weiche Lederstiefel, einen breiten Ledergurt um ihre Hüfte, sowie mit Leder umhüllte Armschienen an beiden Armen. Das Gesicht der dunkelhaarigen Frau wurde von ihrer wettergegerbten Haut sowie ihrem durchdringenden Blick geprägt. Dieser traf Sarik, der mit gesenkter Klinge, aber kampfbereiter Haltung, vor ihr stand.

„Wie haben Sie mich entdeckt?“ fragte sie mit mehr interessierter denn feindseliger Stimme.

„Die Rinde. Sie ist abgetreten, wo sie hinaufgeklettert sind.“

„So, so…“, erwiderte sie und kniff ihre Augen zusammen. Dorian sah, wie sie die Faust ihrer linken Hand ballte. Dahinter erkannte er den ein kurzes Stück aus der Armschiene ragenden Stachel. Jetzt erinnerte er sich an ihre Begegnung im Kaiserpalast.

„Wenn ich sie hinterrücks töten hätte wollen, dann wäre dafür Gelegenheit genug gewesen“, äußerte sie als Anspielung auf seinen Ruf zuvor. „Und wer sagt, dass ich Sie nicht auch im offenen Kampf besiegen könnte?“

Dorians Blick wechselte zwischen der Frau und Sarik hin und her, und seine Faszination über ihr bis jetzt gewaltloses Kräftemessen verdrängte sogar seine Furcht vor ihr.

„Die Gelegenheit hätten Sie vielleicht nutzen sollen“, erwiderte Sarik ungerührt. „Denn in einem offenen Kampf ist es Ihnen sicher nicht möglich.“

Er verschränkte die Arme, und die Frau lachte laut auf. Ihr Lachen kam Dorian in dem bis jetzt stillen Wald ungehörig vor. Unwillkürlich wandte er sich um. Einen Moment lang fürchtete er, sie könnten sich alleine durch dieses Geräusch ihren vielleicht schon nahen Verfolgern verraten.

„Typisch Mann, typisch Soldat“, hörte er aus ihrem ausklingenden Lachen heraus. „Ihr Männer glaubt immer, eine Frau könnte euch nichts antun. Dass Sie sich da nur nicht täuschen.“

Wie um ihre unterschwellige Drohung zu unterstreichen, ließ sie den Stachel ihrer Armschiene herausgleiten. Dorian erschrak, und mit ihm Iria und Nadim, die sich nach wie vor an seine Schultern klammerten.

„Ich halte es durchaus für möglich, dass mich eine Frau im Kampf schlägt“, begann Sarik, dem keine Reaktion auf diese Drohgebärde anzumerken war. „Aber Sie können mich nicht töten. Nicht in einem direkten Kampf, genauso wenig, wie ich es nun kann.“

Auf dem Gesicht der Frau wich die Erheiterung einem argwöhnischem Ausdruck, der zeigte, dass sie in den rätselhaften Worten ihres Gegenübers eine List vermutete.

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Die Escutcheons.“ Bei diesen Worten hob er seinen rechten Arm, an dem die Armschiene mit den in einem unsteten Rhythmus aufglühenden Scheiben saß. „Sie sind verändert, auch Ihrer. Sie waren auch in der Schatzkammer, in der unmittelbaren Nähe des Maleficium, als es geöffnet wurde. Es gibt nun eine Verbindung zwischen ihnen. Wir können uns im Kampf von jetzt an nicht mehr töten.“

Aufkeimendes Entsetzen glitt nun hinter die Fassade ihres zur Schau gestellten Selbstbewusstseins. Sie rang mit ihrer Fassung, und eine warnende Erinnerung schien hinter ihrer Stirn vorbeizuziehen.
 

Brynja Peinhild überkam eine erschreckende Machtlosigkeit gegenüber diesem Mann. Schon sehr lange hatte sie so etwas nicht mehr gespürt, und sie hatte es nicht im Geringsten vermisst.

Aber sie spürte, dass er recht hatte, und die Erinnerung an den Kampf mit dem wahnsinnigen Sohn des Herzogs kam in ihr Bewusstsein. Ebenso das beklemmende Gefühl der Unfähigkeit, tödlich zuzuschlagen, jene Eigenschaft, die ihr schon so oft das Leben gerettet hatte, und auf die sie so stolz war. Damals, im Kampf mit Hargfried von Lichtenfels, hatte diese Eigenschaft sie verlassen, und nun begann sie zu verstehen, warum.

Ihr Blick löste sich einen kurzen Moment von dem Mann und traf ihren Escutcheon, der dasselbe rätselhafte Verhalten zeigte wie der des Mannes ihr gegenüber. Die Dinge fügten sich zusammen, ihr Zweifel schwand. Einen Moment lang verfluchte sie das Maleficium, das sie um einen Teil ihrer Selbstbestimmung, eine ihrer wichtigsten Fähigkeiten, beraubt hatte. Dann traf sie zähneknirschend eine Entscheidung.
 

„Ihr Name war Sarik Metharom, richtig?“

Sarik nickte, wie Dorian sah, dessen Blick immer noch zwischen den Beteiligten dieser angespannten Situation hin und her wechselte. Er erinnerte sich der Waffe in seiner Hand, die er nun achtlos zu Boden hielt. Seine Gedanken gerieten durcheinander, als er für sich die Möglichkeit anriss, in einen Kampf verwickelt zu werden, und es war ihm nicht einmal gänzlich klar, auf wessen Seite er sich dann stellen sollte. So schob er diesen Gedanken wieder zur Seite und gab sich dem Vertrauen hin, dass Sarik eine unblutige Lösung finden würde.

„Das ist wahr. Sarik Metharom, Offizier von Mosarria. Sagen Sie…“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß, doch seine Haltung verlor nichts ihrer Anspannung, wie es Dorian auffiel. „Woher wussten Sie, dass ich Soldat bin?“

Die Frau stützte die Hände in die Hüften, wobei sie es geschickt vermied, sich mit ihrer Waffe selbst zu verletzen. Dabei legte sich ein erheiterter Ausdruck über ihr Gesicht.

„Ein einfacher Dieb hätte sofort angegriffen. Ein Soldat hingegen… denkt immer strategisch“, sagte sie mit einem geringschätzigen Ausdruck, der sich im Wort ‚strategisch‘ ballte. Dann klarte sich ihre Miene wieder auf. „Ich bin Brynja Peinhild aus dem Herzogtum Lichtenfels. Und wer sind die drei Kinder, auf die Sie da aufpassen?“

„Was heißt hier 'Kinder'?“ zischte Iria. Sie trat hinter Dorian hervor. Er als auch Nadim schauten ihr erstaunt hinterher, wie sie auf die Frau zu trat. Den Respekt, den Dorian und Nadim vor ihrer Erscheinung hatten, teilte Iria offenbar nur so weit, als dass sie einige Schritte vor Brynja stehenblieb und sie aus der Entfernung zornig anfunkelte. „Ich zumindest bin kein Kind“, fügte sie trotzig hinzu und verschränkte die Arme. Vor allem in Dorians Miene mischte sich Entrüstung über diese auch ihn betreffende Spitzfindigkeit.

Brynjas Blick richtete sich auf Iria, es lag darin aber keine Feindseligkeit. Eher ein nachsichtiges Bedauern. Dorian schien es, als käme dieser Frau eine wehmütige Erinnerung, ausgelöst durch das forsche, selbstbewusste Auftreten dieses Mädchens, das sie an die eigene Vergangenheit erinnern mochte.

„Also gut, dann bist du eben kein Kind mehr“, erwiderte sie seufzend. Iria trat unwillkürlich einen Schritt zurück, weniger wegen der Worte, die nichts Anrührendes an sich hatten, sondern wohl gerade wegen der Ruhe, mit der diese Frau ihrer unüberlegten Herausforderung entgegentrat.

„Ich bin kein Kind mehr“, bekräftige Iria in einem sanfteren Ton, „und es gibt keinen Grund, uns zu verfolgen.“

Nun erkannte Dorian auch auf Sariks Gesicht ein gewisses Erstaunen über diese markigen Worte, die doch einer gewissen Scheu nicht entbehrten, die Iria gegenüber dieser offenbar erfahrenen Kämpferin nicht verbergen konnte.

„Sie müssen uns in der Tat nicht verfolgen“, sagte Sarik und steckte als Symbol der Deeskalation sein Schwert weg. Dorian beobachtete diese Geste mit lindem Erstaunen, und die Tatsache, dass er sein eigenes Schwert nach wie vor offen in der Hand hielt, kam ihm nun sehr unpassend vor. „Sie können sich uns gern anschließen“, sprach er mit seiner gewohnt sanften Stimme weiter. Iria blickte ihn erschrocken an, und auch Dorian traute seinen Ohren nicht.
 

„Was!? Aber…“, stammelte Iria und bewegte sich von der Frau weg, die ihr offenbar immer noch nicht geheuer war. Dann baute sie sich vor Sarik auf, indem sie die Hände in die Hüften stützte und ihn herausfordernd ansah.

„Das kann er nicht ernst meinen…“, flüsterte Nadim an Dorians Schulter. Sarik blickte Iria abwartend an, während dieser rote Flecken ins Gesicht stiegen.

„Diese Person soll mit uns gehen?“ Sarik nickte gelassen. „Wer hat Sie eigentlich zum Anführer gemacht?“ fragte Iria mit zorniger Stimme. Dorian erkannte an ihrem gesenkten Kinn, ihren angewinkelten Armen und ihren unruhigen Füßen, dass sie mit dem Impuls kämpfte, vor diesem sie um einen ganzen Kopf überragenden Mann zurückzuweichen.

Doch anstatt auf diese mühsam hervorgebrachte Provokation einzusteigen, bedachte sie Sarik hingegen mit einem zugeneigten, fast fürsorglichen Blick.

„Wie ist dein Name, Mädchen?“

Die Zornesröte wich ihr allmählich aus dem Gesicht, und ihr einsetzendes Bestreben, seinem Blick auszuweichen, zeigte Dorian, dass sie ihren forschen Vorstoß zu bereuen begann.

„Ich heiße Iria Halloran“, sagte sie mit dem Ton eines Schülers, der sich nach erfolgtem Tadel durch seinen Lehrer nun unerwartetem Lob gegenüber sieht.

„Iria… denk an unsere Lage. Das Maleficium wurde aus dem Kaiserpalast gestohlen, und dieser Gegenstand ist für Kaiser Modestus im Moment wohl wertvoller als all seine Schatzkammern. Und er denkt jetzt, dass wir etwas damit zu tun haben. Wir sind in großer Gefahr, Iria.“

Dorian konnte sehen, wie aus ihrer Miene der anfängliche Widerstand gegen diese einleuchtenden Worte schwand, und wie sie nicht ohne Trotz, aber doch diese Tatsachen akzeptierte.

„Kann sein…“, sagte sie leise und mit nur mehr schwachem Argwohn in der Stimme.

„Wir können jede Hilfe gebrauchen, und diese Frau sucht dasselbe wie wir, nehme ich an?“

Die letzten Worte führten seinen Blick auf die Frau namens Brynja Peinhild zurück; ihr sich verdüsternder Blick sagte ihnen mehr als genug. „Das ist nicht der Ort, um Feindseligkeiten auszutragen. Wenn uns erst die kaiserliche Armee auf den Fersen ist, gibt es Feinde genug für uns alle. Nicht wahr?“

Dorian sah, wie er diese Frage speziell an Brynja richtete, die als Antwort unmerklich nickte. Er sah ihr auch an, wie sie den Widerstand gegen diesen Gedanken überwand, nicht zuletzt mit Hilfe der düsteren Aussicht, die eine Verfolgung durch die Truppen des Kaisers Modestus bot.
 

„Das wäre dann so weit geklärt“, sagte Sarik mit zufriedener Stimme, und wandte sich zu gehen. Dorian sah ihm hinterher, ebenso wie Nadim, der alldem beigewohnt hatte. Iria kaute immer noch an ihrem Ärger, der ihren verbitterten Zügen anzusehen war. Doch ihr Blick zeigte, dass sie sich mit dieser Situation notgedrungener Weise arrangierte.
 

Brynja Peinhild schloss zu Sarik auf, dabei fühlte er ihren fragenden Blick auf sich.

„Sie wissen einiges über das Maleficium, nicht wahr?“

In ihrer Stimme konnte er zwar keinen Argwohn mehr heraushören, dafür aber nur mühsam zurückgehaltene Neugier.

„Sagen wir so: Ich weiß genug darüber.“

„Letzte Nacht, in der Kanalisation unter dem Palast… Ich bin diesem Mann noch einmal begegnet. Der, der auch schon in der Schatzkammer war.“

„Ich weiß schon… Hargfried, der Sohn von Fasolt von Lichtenfels.“

„Ja, und er griff mich an!“ schilderte sie mit lebhaften Worten und vollführte Gesten dabei. „Wir kämpften, ich konnte ihn austricksen… aber ich konnte ihn nicht töten! Genau, wie Sie es sagten… Woher kommt das?“

Ein Blick zur Seite während des Gehens zeigte ihm die nagende Ungewissheit auf ihrem Gesicht, die hinter dieser Frage steckte.

„Das Maleficium soll die Kraft der es umgebenden Truppen stärken, aber nicht für den Kampf gegeneinander. Die Macht in ihm war der Meinung, wir gehörten zu einer Armee…“, erklärte er. Der aufkeimende Ausdruck der Ungläubigkeit auf Brynjas Gesicht brachte ihn dabei zum Lächeln.

„Wir in einer Armee, als Verbündete? Ha! Das ist lächerlich!“ entgegnete sie spöttisch, was ihre Verunsicherung verbergen sollte, spürte Sarik.

„Aber fürs Erste eine Tatsache, wie Sie erlebt haben“, erwiderte Sarik. Er sah, wie sich ihre Augen zu Schlitzen verengten.

„Kann man diesen Fluch irgendwie aufheben?“

„Ich weiß einiges über das Maleficium, wie sie sagten“, begann er seufzend. „Aber so viel wieder auch nicht. Wenn ich es vor mir habe, kann ich mehr darüber sagen. Vorher nicht.“

Ihre Augen funkelten, wie er sah, und sie ballte ihre Fäuste. Es schien ihm, als wollte sie noch etwas entgegnen, doch die Worte drangen nicht über ihre Lippen. Stattdessen atmete sie zischend aus, um danach ihre Schritte zu beschleunigen.

„Ich werde den Weg erkunden, der vor uns liegt“, erklärte sie mit hörbarem Unbehagen in der Stimme, „es muss uns ja keiner schon aus der Entfernung durch den Wald trampeln hören. Ich werde den Pfad auskundschaften“, bekräftigte sie ihre Aussage, um dann den weiteren Weg in größerem Abstand, aber immer in Sichtweite der kleinen Gruppe um Sarik, zu verbringen.
 

Dorian, der sich zwischen der immer noch verstimmten Iria auf einer Seite, sowie Nadim, welcher nach wie vor seiner Verwirrtheit mit offen gezeigter gedanklicher Abwesenheit begegnete, auf der anderen fand, beschleunigte seine Schritte, bis er auf gleicher Höhe mit Sarik war.

Brynja verschwand vor ihnen zwischen den Bäumen, hielt dabei aber gerade den Abstand ein, der sie die Gruppe überblicken ließ.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war.“
 

Sarik warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Na ja, sie mit zu nehmen“, vervollständigte er sein Bedenken.

„Es kommen noch einige Gefahren auf uns zu, und ich bin mir nicht mal sicher, ob die Soldaten des Kaisers die Größere davon ist“, antwortete er. Ihm fiel der nun Dorians Gesicht überkommende Ausdruck der Furchtsamkeit auf, und er sprach weiter, bevor die Furcht zu viel Raum in seiner Vorstellung einnehmen konnte. „Aber es gibt noch einen anderen Grund.“

„Und der wäre…?“

„Sie ist eine Diebin, und außerdem eine Assassine“, erklärte er, während der abschätzende Blick seines gesunden Auges auf der Gestalt ruhte, die einen Steinwurf vor ihnen die Vorhut bildete, und deren Umrisse auf diese Entfernung weitgehend mit den Farben und Formen des Waldes verschwammen. „Sich anzuschleichen und aus dem Hinterhalt zu meucheln, ist ihr tägliches Geschäft.“ Er wandte sich Dorian zu, auf dessen Gesicht er eine Mischung aus Wissbegierde und Bangigkeit erkannte. „Ich möchte sie lieber in meiner Nähe, noch besser an meiner Seite, als in meinem Rücken wissen.“
 


 

Der Baumstamm schaukelte und schwankte in den Fluten des Flusses. Etwas glänzte silbrig an seiner Seite.

Nach der endlosen Irrfahrt stieß der Baumstamm endlich an eine Sandbank, und die Person, die sich die ganze Zeit an ihn geklammert hatte, öffnete den Griff ihrer verkrampften Hände und rutschte ins seichte Wasser.

Auf allen Vieren kroch sie ans Ufer, dabei floss aus allen Ritzen und Spalten ihrer Rüstung Wasser heraus. Unter verklebten Haaren zeigte sich ein blasses Gesicht, ausgezerrt von den Strapazen der letzten Stunden. Der Kampf gegen das Ertrinken und das erbarmungslose Gewicht der Rüstung, die ihren Träger die ganze Zeit versucht hatte, in die kalten Tiefen des Stromes zu ziehen, hatte Spuren auf diesem Gesicht hinterlassen.

Seine Bewegungen wurden immer langsamer, und außerhalb des Wassers, im feinen Kies der Sandbank, löste Hargfried die Halterung seines Schwertes, das er die ganze Zeit auf dem Rücken getragen hatte. Es plumpste in den Sand. Danach drehte er sich mit mühseligen Bewegungen auf den Rücken und verlor das Bewusstsein.
 

Die Sonne stand hoch am Himmel, wie er durch seine leicht geöffneten Augenlider erkannte. Ihre Wärme hatte mittlerweile die Kleider unter seiner Rüstung getrocknet und ihm neues Leben eingeflößt. Es fühlte sich richtig heiß an unter dem Metall seines Brustharnischs, und das Bedürfnis aufzustehen errang langsam, aber bestimmt den Sieg über seine Erschöpfung.

Seine schleppenden Schritte hinterließen tiefe Spuren im Sand, und als sie endlich auf festeren Waldboden trafen, spürte er die Erleichterung seiner Bewegungen augenblicklich. Das Schwert, das er bis dahin auf dem Boden nachgeschliffen hatte, hängte er wieder in den Mechanismus auf dem Rückenteil seiner Rüstung ein.

Die Bewegung seiner Beine gewann allmählich an Energie, sein Blick war aber nach wie vor zu Boden gerichtet. Büsche, Gräser und Farne zogen an seinem Blickfeld vorbei, doch er schenkte ihnen keinen seiner Gedanken. Diese waren ganz woanders; sie waren bei seinem Vater, dessen Schrei immer noch nachhallte in seinem Kopf, und bei dessen Mörder, dem er alle Racheschwüre dieser Welt geleistet hatte.

Mechanisch setzte er einen Schritt vor den anderen, und seine Arme schwangen gleichmäßig mit. Seinen Escutcheon, auf dessen Glasscheiben sich ein flackerndes Farbenspiel ereignete, beachtete er nicht. Seine Schultern, an das Gewicht der Rüstung gewöhnt, hingen trotzdem herab; er schien aus seinem nach vor gebeugten Oberkörper jene Bewegungsenergie zu gewinnen, die ihn vorantrieb.

Sein Körper bewegte sich wie von Fäden gelenkt; sein Geist aber war weit weg. Er suchte in den Tiefen seiner Erinnerungen, jetzt, wo sich betäubende Ruhe über seine Glieder legte, nach einer Spur, nach einer Erklärung für all das, was geschehen war. Er forschte und grub, er stöberte und schaffte schwere Brocken beiseite, die von der Ruine seines Verstandes abgebrochen waren und den Weg versperrten. Den Weg zu einer Erkenntnis, die gut verborgen lag und die selbst von den düsteren Tiefen aus, in denen sie verschüttet war, ihn mit lähmender Furcht erfüllte.

Er ging die mühsamen Schritte auf diesem Weg, entgegen allen Widerständen und Hindernissen, doch immer wieder schreckte er aufs Neue zurück. Es war wie der Schmerz einer frisch zugefügten Wunde, die noch keine Zeit zum Verheilen bekommen hatte, und die bei der leisesten Berührung aufzubrechen drohte. Und hinter diesem Schmerz drohte eine Erkenntnis, deren Aufdeckung die Wahrwerdung seines furchtbarsten Alptraums in Aussicht stellte.

Seine Schritte verloren wieder an Leichtigkeit, als würde ihm dieses innere Ringen körperliche Kraft entziehen. Er wurde immer langsamer in seinen Bewegungen, und das Bedürfnis, sich auszuruhen, die Augen zu schließen und alles zu vergessen, wurde übermächtig in ihm. An einem Baum, den der Blick seiner trüben Augen streifte, blieb er stehen, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und rutschte langsam zu Boden.
 

Er riss die Augen auf und rang nach Luft, als hätte er im Übergang zwischen Traum und Wirklichkeit einige Momente lang zu atmen vergessen.

Seine Augen blinzelten, denn das Licht der Sonne, die bereits an ihrem Zenit stand, kam ihm unangenehm hell vor. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an die Helligkeit des Tages gewöhnt hatten, und bis dahin genoss er die Klarheit in seinem Kopf.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Es mochte nur eine Stunde gewesen sein oder zwei, doch diese kurze Zeit hatte seinen Körper und vor allem seinen Verstand erfrischt wie ein Bad in kaltem, kristallklarem Wasser. Das Toben und Drängen, der Lärm von tausend Befürchtungen und Ahnungen- er war verstummt, und eine Erleichterung durchströmte ihn wie seit der Flucht aus der väterlichen Burg nicht mehr.

Mit überraschend wenig Kraftaufwand kam er auf die Beine. Er atmete tief durch, und die von der erstarkten Sonne erwärmte Waldluft schmeckte klar und erfrischend. Frohen Mutes ging er los; es gelang ihm sogar, zu lächeln.

Nun nahm er erst seine Umgebung wahr, die vorher nur verschwommen und undeutlich wie in einem Traum an ihm vorbeigezogen war. Er sah jetzt die Farne und Sträucher, deren fein verästelte Blätter sich sanft im leisen Wind wiegten, der wie eine zärtliche Hand durch den Wald strich. Er sah das Licht, das tanzende Farben auf den bunten Waldboden warf. Sein Blick hob sich und traf die Baumkronen, deren grüne Äste im Schein der hochstehenden Sonne glänzten. Er hörte das Gezwitscher der Bewohner dieser Baumkronen, die mit ihrem bunten Gefieder wie umherflatternde Juwelen zwischen den Ästen aufleuchteten.

Er ging schneller und streckte die Arme empor, wie um die Baumkronen zu berühren, und sein Herz, das bisher schwer wie ein Stein in seiner Brust saß, tat einen Sprung. Seine Vergangenheit, tief und dunkel wie ein Abgrund, kam ihm nun fern und bedeutungslos vor. Er wollte lachen, singen und seinen wieder erstarkten Lebensmut in die Welt hinausschreien. Bis ein durchdringendes Summen an sein Gehör drang.

Hargfrieds Augenmerk fiel auf ein Insekt, das zwischen den Bäumen des Waldes hindurch flog. Mit taumelnden Bewegungen wich das Tier, das wie eine Biene- eine riesige Biene- aussah, den Stämmen aus, und seine in schiefen Kurven verlaufende Flugbahn führte es mehr oder weniger direkt auf Hargfried zu.

„Was ist das…?“

Das Insekt, das einen guten Schritt in der Länge maß, verharrte schwebend in geringer Entfernung. Das Summen seiner Flügel nahm an Lautstärke zu. Sein Leib war schwarz und rot gestreift, und seine faustgroßen Facettenaugen glotzten neugierig in die Welt und besonders auf Hargfried.

„Was bist denn du für einer?“ fragte Hargfried interessiert und trat an das riesige Insekt heran. Dessen Facettenaugen schwenkten unabhängig voneinander in alle möglichen Richtungen, um dann immer wieder auf ihn hin zurückzukehren.

Hargfried wollte schon seine Hand nach dem Insekt ausstrecken, als das Summen noch stärker wurde. Zu dem Tier gesellten sich jetzt zwei weitere von identischer Erscheinung. Neben ihrem Artgenossen schwebten sie ähnlich regungslos in der Luft, und das gebündelte Summen dieser drei Flügelpaare gab Hargfried das Gefühl, mitten in einem Bienenstock zu stehen.

„Ihr seid ja drollig“, sagte Hargfried zu den ihn dämlich anglotzenden Tieren. Drei Paare von schillernden Facettenaugen rotierten hektisch um ihre Achsen, um ihn dann wieder mit ausdruckslosen Blicken zu bedenken. Aus heiterem Himmel verstärkte sich das Summen und nahm einen bedrohlichen Ton an, woraufhin das mittlere der drei Tiere nach vor schnellte.
 

Der Schlag prallte an Hargfrieds Brustharnisch und beförderte ihn zu Boden. Das Insekt wich mit seinem nach vor gereckten Stachel wieder zurück. Hargfried setzte sich auf und betastete die seichte Delle in seinem Brustpanzer.

„Vermaledeites Mistvieh!“ waren seine ersten Worte, nachdem sich seine Lungen wieder gefüllt hatten. Sein zorniger Blick traf die drei Insekten, die nebeneinander schwebten und deren angriffslustiges Summen in seinen Ohren hallte. „Wie ihr wollt…“, knurrte er und stand auf. Dabei nahm er sein Schwert vom Rücken, und mit einem zischenden Geräusch spannte sich der Kampfdom auf.
 

Die Kuppel aus blauleuchtenden Linien wuchs aus dem Boden, schloss seine tierischen Angreifer ein und bildete schließlich einen Kreis, von dem aus die Außenwelt nur noch getrübt erkennbar war. Das Innere hingegen war von einem matten Leuchten erfüllt, das die Umrisse aller Anwesenden nachzog.

Hargfried hob sein Schwert, und in diesem Moment griff ein anderes der drei Insekten an. Er konnte rechtzeitig reagieren, wodurch der Stachelstoß an der breiten Klinge seiner Waffe abprallte. Hargfried spürte, wie die Hitze des Kampfes seinen verschütteten Zorn neu anfachte, und der Drang, zu zerstören, wurde wieder lebendig in ihm.

„Ihr verdammten Monster… ihr steckt mit dem Mörder meines Vaters unter einer Decke!“

Er lief los und tötete das erste der drei Insekten mit einem Schwerthieb, in den er all seinen Zorn hineinlegte. Gelbe Flüssigkeit lief über seine Klinge, mit der er die darauf folgende Attacke parierte. Die verbliebenen Riesenbienen umsurrten ihn und warfen ihm giftige Blicke mit ihren schillernden Facettenaugen zu.

Hargfried versuchte, seine Klinge zwischen sich und ihren Stacheln zu bringen. Von beiden Seiten summten und fauchten sie ihn an. Das Summen verstärkte sich, und Hargfried wich dem davon angekündigten Angriff aus, indem er sich unter der heranrasenden Riesenbiene hinweg duckte. Kaum, dass sie ihn passiert hatte, schwang er sein Schwert mit einer Hand. Die Klingenspitze streifte das Insekt, gelbe Flüssigkeit spritzte davon. Das Summen erstarb, und das Insekt fiel zu Boden.

„So, jetzt bleibst noch du!“ schrie Hargfried und stürmte auf den verbliebenen Angreifer los. Das Tier konnte nicht mehr ausweichen, und so spaltete er es mit einem wuchtigen Hieb. Die beiden Hälften fielen zu Boden, wo sie noch kurz zuckten, bevor sie schließlich erstarrten.
 

„Den Rest von euch Mördern finde ich auch noch…“

Hargfried stützte sich schwer atmend auf sein Schwert. Der Kampfdom verschwand, und die Umgebung war wieder in der Helligkeit des Tages erkennbar. Die Stille kehrte mit dem Tod der drei Insekten in den Wald zurück. Hargfried blickte sich zufrieden um. Daraufhin ging er los, stoppte aber, als erneut ein hohes Summen an sein Gehör drang.

„Kommt nur, ich vernichte euch alle…“, schimpfte er verächtlich. Er drehte sich um, konnte die Quelle des Summens aber nicht erkennen; das Summen wurde beständig stärker. Es war bald so laut, als würde ein derartiges Vieh direkt durch seine Ohren hindurch fliegen.

Seine Miene wurde ratlos, das Summen aber immer noch lauter. Dann drehte er sich um und sah jenes Tier, das dieses durchdringend laute Summen erzeugte, nun dicht vor sich über dem Waldboden schweben. Zugleich legte er den Kopf in den Nacken, um sein tausendfach gebrochenes Spiegelbild in zwei riesigen Facettenaugen zu erkennen.
 

Dieses Insekt glich den vorigen weitgehend- bis auf die Größe. Hargfried erinnerte sich an das Tor, das in den Innenhof der Burg seines Vaters führte, und er fragte sich, ob dieses Insekt dort hindurch gepasst hätte.

Einen Moment lang rang aufkeimende Furcht in ihm mit seiner wiedergewonnenen Kampflust, die in der Vernichtung der drei kleineren Exemplare nur unzureichende Genugtuung erfahren hatte. Abermals hob er sein Schwert, und wieder spannte sich der Kampfdom auf, der ihn und das gigantische Insekt einhüllte.

Das Insekt griff an. Unter der Bewegung seiner sich mit flirrender Geschwindigkeit drehenden Flügel stob das Laub vom Waldboden auf. Hargfried rettete sich mit einem Sprung zur Seite, und der insektengleiche Rammbock ging ins Leere.

Das riesige Tier drehte sich nur langsam um. Er nützte diese Gelegenheit, um dem Ungetüm einen Hieb zu versetzen. Gelbe Flüssigkeit spritzte zur Seite, traf umstehende Bäume und seine Rüstung, und ein durchdringendes Zischen schmerzte ihn in den Ohren. Das Tier wandte ihm wieder seine Vorderseite zu.

In den Facettenaugen glaubte er einen wütenden Schimmer zu erkennen, und die Fresswerkzeuge des Insekts bewegten sich schnell und hektisch, als würde das Tier angesichts dieser kräftigen Mahlzeit bereits frohlocken. Seine Bewegungen erschienen Hargfried nicht merklich verlangsamt durch die Wunde. Zugleich erkannte er an dem an Höhe gewinnenden Summen, dass es seinen nächsten Angriff vorbereitete.
 

Nadim Wenzelsteins Blick traf die niedrigen Büsche und Farnstauden, die auf dem Waldboden wuchsen. Er scheute sich vor der Berührung mit ihren feuchten, haarigen Blättern, und jedes Mal, wenn er sie im Vorbeigehen anstreifte, schauderte es ihm.

Er hielt die Hände dicht an den Körper, schloss die Augen und öffnete sie immer nur kurz, um das nächste Wegstück zu überschauen, das vor ihm lag. Nadim war unglücklich, und überall wäre er lieber gewesen als hier an diesem Ort. Nein, nicht ganz, fiel ihm ein. Im Kaiserpalast wäre es jetzt noch schlimmer, dachte er und erinnerte sich schaudernd an ihre Flucht durch die Kanalgewölbe unter dem Palast.

Trotz aller Mühe gelang es ihm nicht, die Eindrücke auszusperren, die auf ihn einströmten, und so öffnete er die Augen wieder. Als erstes sah er Iria, die schweigend neben ihm ging. Ihre Miene verriet ihm, dass sie immer noch verärgert war über die Gegenwart dieser Frau namens Brynja Peinhild. Auch wenn diese rätselhafte Person nun einen guten Steinwurf vor ihnen ging, so merkte er ihr doch an, dass sie diese Frau noch viel weiter weg wünschte.

Nadim blinzelte in die Sonne, deren Strahlen zaghaft durch die Baumkronen brachen. Ihr Licht wärmte ihn, und die Kälte des Flusses, die gedroht hatte, auf alle Zeit in seinen Knochen zu bleiben, war längst vertrieben. Doch innerlich fröstelte es ihn immer noch, wenn er an ihre Zukunft dachte.

Wenige Tage war es erst her, dass sie mit anderen Flüchtlingsströmen ihre Heimat an der Grenze zwischen Mosarria und Galdoria verlassen und entgegen allen Widrigkeiten den befreundeten Diebesklan in dieser Stadt erreicht hatten. Gerade erst hatte er Vertrauen geschöpft in diesen Ort und die Menschen, die ihm und Iria ein Obdach gegeben hatten, und nun waren sie wieder auf der Flucht. Der Gedanke, dass Iria, die Zeit seines Lebens wie eine Schwester für ihn gewesen war, ihre neuerliche Flucht mit ihrem verwegenen Plan ausgelöst hatte, kam ihm nur ganz am Rande.

Dieser Gedanke tauchte auf, wurde aber von der Sorge um ihr weiteres Schicksal sowie seinem Argwohn dieser ungastlichen Umgebung gegenüber schnell wieder überdeckt. Er mochte diesen Wald nicht. Die Bäume kamen ihm wie über sie gebeugte, lachende Zaungäste bei ihrer trostlosen Prozession vor. Hinter jedem von ihnen vermutete er jemanden, der ihnen wie diese Brynja auflauerte, der ihnen aber noch feindseliger gegenüberstehen würde.

All dies verdrängte den in ihm aufkeimenden Vorwurf Iria gegenüber, und so suchte er die Schuld überall anders. Bei den Herrschern der beiden Reiche, die durch ihre kleinmütigen Streitigkeiten sein ganzes Leben durcheinander gebracht hatten, bei den Wachen, die sie durch die Kanäle gehetzt und zu dem verzweifelten Sprung in den Fluss getrieben hatten, und schließlich bei seinen eigenen Ahnen, die ihm ein Leben als Dieb vorgaben. Ein solches übte er nun aus. Doch er fühlte sich schrecklich dabei, wie er sich oft im Stillen eingestand, und keines der Ereignisse, seit sie in dieser Stadt angekommen waren, hatte dies geändert.

Seine Gedanken schweiften ab zu den Erzählungen, die er schon als ganz kleines Kind gehört hatte. Alle Welt hatte ihm immer wieder versichert, aus welch glorreicher Diebesdynastie er stammte. Die Wenzelsteins waren weit verstreut über ganz Mosarria und darüber hinaus, und so hatte er nie andere Mitglieder seiner Sippe kennengelernt. Doch sie waren ihm immer nahe gewesen durch die Erzählungen, die ihm die Taten seiner Vorfahren geschildert hatten, allen voran die von Johann Wenzelstein.

Er erinnerte sich an die Geschichten, die man sich oft im Kreise ihres Klans erzählt hatte. Einen Moment fühlte er sich wieder als Kind, das mit großen Augen und offenem Mund gelauscht hatte, in dessen Vorstellung die lebhaften Schilderungen Wirklichkeit geworden waren. Er hörte wieder das Feuer im Kamin prasseln, hörte die Stimme ihres Meisters, der begleitet von Gesten und seiner mal flüsternden, mal polternden Stimme die Abenteuer und Ruhmestaten von Johann Wenzelstein, dem größten Dieb in der Geschichte Mosarrias, in prächtigen Farben dargelegt hatte.

Sie waren die prägendste Erinnerung seiner Kindheit. Immer hatte er den Stolz seiner Kameraden gefühlt, dass sie einen Wenzelstein in ihrer Mitte hatten. Als er klein war, hatten sie ihn immer mit aufmunternden Blicken bedacht und von „der großen Zeit“ gesprochen, die für ihn kommen würde, und von all den Taten, mit denen Nadim Wenzelstein in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten würde.

Die Erinnerung führte ihn weiter in die jüngere Vergangenheit, und der wehmütige Klang seiner glücklichen Kindheit, die vor dieser lag, schwand. Er gedachte seiner ersten Zeit als Dieb, an seine Lehrzeit und daran, dass er diese nie wirklich zu Ende geführt hatte.

Es war ein schmerzhaftes Geständnis, das er tief in seinem Inneren verbarg und nach außen hin gerne mit hoffnungslos überzogenen Geschichten von gelungenen Raubzügen übertünchte, aber es stimmte: Er war nie der große Dieb geworden, den alle in ihm gesehen hatten. Er war nicht einmal ein durchschnittlicher Dieb geworden. Der Schatten seiner Vorfahren lastete dann besonders drückend auf ihm, wenn ihm dieses Versagen wieder zu Bewusstsein kam.

Die schönen Erinnerungen an seine unbeschwerte Kindheit waren endgültig verblasst, und das Versagen seinen Vorfahren gegenüber traf ihn jetzt mit voller Wucht. Körperlicher Schmerz jagte durch seine Glieder und seinen Kopf, und er ächzte leise. Die Bäume um sie herum kamen ihm nun noch bedrohlicher vor, ihre Schatten noch heimtückischer. Die Sonne, deren Strahlen den Waldboden bis dahin in freundliches Licht getaucht hatten, brannte nun spottend in seinen Augen. Er blinzelte in ihre Richtung, und Tränen stiegen ihm in die Augen.

Ich habe sie enttäuscht, ich habe sie alle enttäuscht, ging ihm durch den Kopf, und er kämpfte gegen die Tränen. Eine gewaltige Last drückte seine Schultern nieder, und jeder Schritt kostete ihn mehr Kraft als noch im Moment zuvor. Er hasste den Krieg, der sie aus ihrer Heimat vertrieben hatte. Er hasste auch den Herrscher von Mosarria, der diesen Krieg begonnen hatte, und er hasste den Kaiser von Galdoria, dessen Wachen sie verfolgt und der die Kriegserklärung erwidert hatte. Er hasste selbst… das Maleficium.

Das Maleficium. Es trat wieder in seine Gedanken und zog sie von da an in seinen Bann. Nadim erinnerte sich an das Geschehen in der Schatzkammer, an diese Macht, die sich ihnen in all ihrer Schrecklichkeit gezeigt hatte. Er wurde sich dem Wert dieses Gegenstandes bewusst, und dass Iria bereit war, alles dafür aufs Spiel zu setzen. Nun entsann er sich wieder ihrem Gespräch, das sie wenige Tage zuvor geführt hatten, als sie ihr Weg in Richtung Galdoria geführt hatte.

Er wusste nicht mehr genau, was sie gesagt hatte, aber er erinnerte sich genau an ihre Stimme und an ihre Augen, aus denen in jener Stunde mehr Entschlossenheit gesprochen hatte, als er jemals zuvor bei ihr erlebt hatte. Sie sprach von der Rettung ihrer Heimat, der Stadt, in der sie aufgewachsen waren, und davon, dass sie das Maleficium dafür brauchen würde. Er wusste nicht mehr, was sie im genaueren Sinne damit vorhatte, sollte sie es tatsächlich in ihren Besitz kriegen. Aber er erinnerte sich an einen Satz: ‚Dieses Maleficium hat schon einmal einen Krieg beendet, und das kann es wieder tun‘…

Den Krieg beenden, alles wieder so werden zu lassen, wie es in seiner glücklichen Erinnerung gewesen war… Dies erschien ihm nun erstrebenswerter als alle seine bisherigen Ziele. Die Machtlosigkeit des Individuums, die sie alle zu winzigen Blättern im Sturm des heraufziehenden Krieges machte, ergriff sein Herz, und der Plan, der in Irias Gedanken entstanden war, wurde nun auch zu seinem.

Die Idee wurde stärker, und ein Blick zu Iria, in der diese Idee schon früher entstanden war, fachte ihr Feuer weiter an. Die Machtlosigkeit, drückend wie eine kalte Hand auf seinem Rücken, schwand, und neue Zuversicht entstand in ihm. Ich werde das Maleficium holen, schallte es in seinem Inneren, und ich werde diesen Krieg beenden. Alles wird wieder so, wie es war, dachte er, und ich werde meinen Ahnen gerecht werden, spann er den Faden weiter. Mit dieser Diebestat werde ich mich auf eine Stufe mit Johann Wenzelstein stellen können, hallte es in seinem Geist nach.

Eine Zuversicht, wie er sie seit ihrem Aufbruch aus Pielebott nicht mehr verspürt hatte, durchflutete ihn, und all die Hindernisse und Gefahren, die auf ihrem Weg noch warten mochten, kamen ihm mit einem Male klein und bedeutungslos vor. Nadim hielt seinen Kopf wieder aufrecht, streckte die Brust heraus, und ging nun mit weiten Schritten neben Iria her. Auf dem Grund seines Herzens beschloss er, ihr das Maleficium nach vollzogener Tat als Geschenk zu überreichen, um ihr mit dieser Geste die Freundschaft zu vergelten, die sie seit ihrer frühesten Kindheit verband.

Ihm wurde warm ums Herz bei diesem Gedanken; er sah sich bereits nicht nur als anerkannter Meisterdieb in der besten Tradition seiner Familie, sondern auch als gefeierter Held seiner Heimat, die er vor diesem Krieg bewahrt hatte. In das großherzige Gefühl der Wohltaten, die er zu vollbringen gedachte, mischte sich nun Hochmut und auch etwas Eitelkeit, als er sich in Gedanken den feierlichen Einzug in ihre Heimatstadt Pielebott ausmalte, den er mit dem Maleficium im Besitz antreten würde.

Er hörte bereits die Jubelrufe, die ihm, dem großen Nadim Wenzelstein galten, und in seinen Träumen sonnte er sich schon in dem Ruhm, der ihm zuteilwerden würde, wenn dieser große Tag da wäre. Überheblichkeit schlich sich in sein Herz und verdrängte langsam die hoffnungsvolle Zuversicht darin. Die Zufriedenheit über seinen großzügigen Charakter breitete sich immer mehr aus in ihm, und er fühlte bereits den ebenso dankbaren wie ehrfürchtigen Blick von Iria auf sich, wenn sie dann das Maleficium aus seinen Händen empfangen würde.

„Genug der Hulderweisung, das war doch selbstverständlich“, flüsterte er genüsslich grinsend, „es soll dir gehören, treue Iria…“
 

„Hm?“ fragte Iria, die ihren Namen im geflüsterten Selbstgespräch Nadims vernommen hatte. Sein träumerischer Blick ging in die Ferne, und ein breites Grinsen saß auf seinem Gesicht. Er schien an etwas sehr Angenehmes zu denken, vermutete sie.
 

Ein Schrei klang durch den Wald und riss Nadim aus seinen Träumereien. Er zuckte zusammen und klammerte sich an Irias Schulter. All die Träume von Ruhm und der zu erwartenden Ehrerbietung, die sich in seinem Inneren ausgebreitet hatten, zerfielen in nackte, panische Angst.

Das riesenhafte Insekt, dessen Ausdehnungen fast die untersten Zweige der Baumkronen über ihm erreichten, richtete sich auf und streckte Hargfried sein Hinterteil entgegen. Der Stachel daran begann zu vibrieren. Mit einem Zischen entstand eine Wolke, die Hargfried einhüllte und ihm die Sicht wie auch den Atem raubte.

Der senffarbene Dunst füllte seine Lungen und stach wie eingeatmete Dornen. Hargfried keuchte und ächzte, und die Waffe entglitt seinen Händen, die nun an seine Kehle wanderten. Er fiel auf die Knie und blickte mit zusammengekniffenen Augen, in denen der Dunst beinahe genauso brannte wie in der Lunge, zu Boden. Das Bewusstsein entglitt ihm wie ein nasser Fisch, der sich langsam, aber unvermeidbar seinen Händen entwand, trotz aller verzweifelten Bemühungen, ihn zu halten.

Mit dem letzten Rest an Bewusstsein sah er das riesige Insekt näherkommen. Durch seine tränenden Augen sah er schon sein eigenes Spiegelbild, einen wehrlosen Mann auf Knien, in den Facettenaugen, die immer näher kamen-
 

Das Auge zuckte krampfhaft zusammen, und dieses Zucken übertrug sich auf den gesamten Körper des Insekts, das ein durchdringendes Fauchen ausstieß. Dabei schüttelte es seinen bizarr geformten Kopf, als wollte es einen Fremdkörper loswerden.

Die senffarbene Wolke aus Gift verzog sich langsam, und Hargfrieds Blick wurde geringfügig klarer. Seine Lungen füllten sich wieder mit unverdorbener Luft, was ihm genügend Kraft gab, aufzustehen und rückwärts zu taumeln. Dabei sah er, wie sich der Kampfdom noch mehr erweiterte, und wie eine bis dahin unbeteiligte Person in ihm erschien.
 

Der kurze Dolch aus Brynjas Arsenal hatte durch ihre geübte Wurfhand sein Ziel genau gefunden. Die Waffe ragte jetzt aus dem Facettenauge des riesigen Insekts, wie sie zu ihrer Zufriedenheit feststellte. Dann aber änderte sich ihre Miene, als sich der Kampfdom auf sie ausweitete.

„Das ist doch nicht möglich…“, flüsterte sie mit ungläubiger Stimme. Sie war nun beteiligt an diesem Kampf, den sie nicht begonnen hatte, und den sie nicht mehr als nur indirekt hatte beeinflussen wollen.
 

Sarik rannte los, wie Dorian sah, der nun auch die von unheilvoller Schwärze erfüllte Kuppel erkannte. Sie stand mitten im Wald, zwischen den Bäumen, die sie teilweise mit ihrer Außenfläche aus geometrischen blauen Linien einschloss.

Brynja Peinhild musste nun ganz nahe sein, und auch Sarik lief auf sie zu. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte, und der Impuls zu fliehen beugte sich seiner Neugier und seiner schaurigen Vorfreude, die ihm kalt den Rücken hinunterlief. Obwohl er immer noch die Stimme hörte, die ihm wegzulaufen riet, so konnte er doch nicht anders als sich diesem Kampfschauplatz zu nähern.

Ich kann nicht hineingezogen werden, beruhigte er sich, und erinnerte sich an die Übungsstunden mit Gaubert. Die beiden Kontrahenten haben dann ihre Arena, in die kein Unbeteiligter direkt eingreifen kann, sagte er sich die Worte vor, die er schon so oft aus dem Mund von Gaubert gehört hatte. Aber immer noch trocknete die Furcht seine Kehle aus, die in ihm hochstieg, als er sich dem Kampfdom näherte.

Die Entfernung verringerte sich, und er konnte schon die Umrisse innerhalb des Kampfdoms erkennen… Die Umrisse von etwas Gewaltigem. Er blieb abrupt stehen. Nur noch ein Dutzend Schritte trennten ihn von der Kuppel aus blauen Linien, die die Halbkugel begrenzten. Sarik stand dicht davor, mit der Waffe in der Hand.

„Wo ist diese Frau… diese Brynja jetzt hin?“ fragte Dorian mit unsicherer Stimme. Er konnte sie nirgends sehen, und ein Verdacht stieg in ihm auf. Sarik streckte die Hand aus und berührte die Oberfläche des Kampfdoms. Er rechnete mit der Abstoßung, die nun erfolgen müsste- doch stattdessen wurde der Mann in die Barriere hineingezogen und verschwand in ihr.
 

„Was ist hier los?“ fragte Iria, deren Aufmerksamkeit zwischen dem Kampfdom, der gewaltige Ausmaße hatte, und Dorian hin und her wechselte. Sie drehte sich um und sah Nadim, der hinter einem dickeren Baum Deckung suchte und vorsichtig hervor lugte. Dann wandte sie sich wieder Dorian und dem Kampfdom zu.

„Brynja, und auch Sarik- sie sind darin verschwunden!“ rief er mit aufgeregter Stimme, gestikulierte heftig dabei und deutete auf den Kampfdom, der bis fast in die Baumkronen über ihnen reichte.

„Aber ich dachte, das geht nicht“, rief sie dazwischen, doch Dorian war viel zu aufgeregt, um auf ihre Worte zu achten. Er deutete immer noch auf den Kampfdom und sah sich verwirrt um, als hoffte er Sarik und die Frau namens Brynja irgendwo anders zu erblicken als dort, wo er sie vermutete.

„Sie sind da drin!“ wiederholte er, und Iria erkannte den fassungslosen Ausdruck auf seinem Gesicht. Darauf focht, wie es ihr schien, seine Angst mit dem gleichzeitigen Drängen, einzuschreiten, einen harten Kampf aus. Einen Kampf, wie er auch innerhalb dieser Kuppel aus Energie vor sich gehen mochte. Dann trat er näher an die Barriere heran.

„Bleib zurück, du kannst da nicht hinein!“ rief sie ihm zu. Er hörte aber nicht auf sie und streckte seine Hand nach der Barriere aus.
 

Dorians Blick war gefesselt von den glühenden blauen Linien, die den Kampfdom begrenzten. Noch nie hatte er einen von außen gesehen, und nicht einmal seiner Furcht gelang es, ihn auf Distanz mit dieser Erscheinung zu halten. Die Neugier wurde immer stärker; schließlich gelang es ihr, die schrecklichen Erinnerungen an den Kampf in den Kanalgewölben zu verdrängen. Er bildete sich ein, eine magnetische Kraft zu spüren, die von der Barriere ausging, und tatsächlich hob sich sein rechter Arm.

Erschrocken sah er, wie die Scheiben auf dem Escutcheon kraftvoll erglühten. Die Anziehungskraft wurde immer stärker, er musste schon erhebliche Kraft dagegen setzen, nicht in die Barriere gesaugt zu werden. Der Gedanke an Flucht kam ihm zu spät- da verlor er das Gleichgewicht.
 

Dorian landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Waldboden. Sein Schwert entglitt ihm und lag zwei Schritte vor ihm.

Er sah denselben Waldboden wie zuvor, mit seinen Büschen und Farnen- doch jetzt waren sie von einem ätherischen Leuchten umfangen, während die Welt hinter der Barriere des Kampfdoms wie abgedunkelt erschien. Ebenso sah er drei Personen einige Schritte entfernt. Sarik, Brynja, und noch jemanden. Und er sah ihren Gegner im Zentrum des Kampfdoms.

Das Insekt war fast so hoch wie die niedrigsten Bäume dieses Waldes, und sein Summen erfüllte den Kampfdom mit einem gefährlich klingenden Hintergrundgeräusch. Sein mattglänzender Leib war von roten und schwarzen Streifen überzogen. Die hektisch wirbelnden Flügel, die es knapp über dem Waldboden in der Schwebe hielten, wirbelten Blätter auf. An seinem schwarzglänzenden Kopf saßen zuckende Fresswerkzeuge, und eines seiner beiden Facettenaugen schimmerte nicht so wie das andere, sondern war von mattgelber Farbe.

Das Entsetzen über diesen Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Dorian fiel auf die Knie und tastete nach seinem Schwert, während sein Blick immer noch auf das Ungeheuer gerichtet war, dem Sarik, Brynja und der Unbekannte gegenüberstanden. Als er es endlich in der Hand hatte, überkam ihm der Wunsch, sich in einem Loch im Erdboden vor dieser Kreatur zu verstecken. Doch eine unwiderstehliche Kraft zwang ihn auf die Beine, und wirklich stand er im nächsten Moment aufrecht da.

Neuer Mut durchströmte ihn, dessen Herkunft er nicht verstand, der aber all seine Furcht zerstreute. Zurück blieb die Verwirrung darüber, was mit ihm geschah. Dorian blickte auf seinen Escutcheon, dessen Lichter lebendig flackerten und dabei alle Farben zeigten. Letztendlich beruhigte sich das Spiel der Farben, und zwei von ihnen blieben von einem satten grünen Schein erfüllt, während die anderen erloschen.

Die Verwirrung über diesen Anflug an Selbstvertrauen hielt immer noch an, als er auf die drei Personen zuging, die dem gigantischen Insekt gegenüberstanden. Mit dem Schwert in der Rechten schloss er ihre Reihe, und das Gefühl unbändiger Kampfeslust wurde übermächtig in ihm. Er fühlte sich genauso wie damals, in den Gewölben der Kanalisation, wo er seinen scheinbar übermächtigen Gegner niedergestreckt hatte. Jetzt erfüllte ihn dieselbe Energie, die damals schon seinen Schritten Behändigkeit und seinem Arm Kraft verliehen hatte.
 

Sarik attackierte das Wesen mit seiner Klinge, die er beidhändig führte und kraftvoll schwang. Das gigantische Insekt fauchte, zischte und versuchte mit seinem Stachel seine Widersacher niederzumachen. Doch seine von den Wunden schon verlangsamten Bewegungen gingen ins Leere, und auch die Wolken aus lähmendem Gift konnten sein Ende nicht mehr verhindern.

Brynja warf weitere Dolche und traf mit ihnen empfindliche Stellen des riesigen Tieres. Sie nützte auch ihre Geschwindigkeit, um das Tier mit ihrer Armwaffe aus der Nähe zu attackieren. Dabei umrundete sie das Tier, das offenbar Schwierigkeiten hatte, seine insgesamt vier Widersacher auseinanderzuhalten. Ebenfalls in der Arena erkannte sie den jungen Mann, mit dem sie schon in der Kanalisation zusammengestoßen war.

Hargfried hatte sich weitgehend erholt von dem giftigen Dunst, und nun schwang er seine Waffe mit umso größerer Wut gegen dieses Tier, das fast sein Ende besiegelt hätte. Sein Schwert leuchtete einen Moment auf, bevor er dem gigantischen Insekt damit einen Hieb versetzte, der den Kampfdom einen kurzen Moment lang erbeben ließ. Ein Fauchen, das in einen gequälten Ton überging und schließlich erstarb, begleitete das Verenden des riesenhaften Insekts.

Aus den vielen Wunden an seinem Körper floss gelbe Flüssigkeit, und Augenblicke später hörte sein matt glänzender Leib auf zu zucken.
 

Sarik betrachtete seinen Escutcheon. Der grüne Schein in der vierten Scheibe nahm geringfügig zu. Sein Blick hob sich und traf den Kadaver, der in ihrer Mitte lag.

Als Nächstes betrachtete er den Mann namens Hargfried, von dem er nicht erwartet hätte, ihn lebendig wiederzusehen. Er tanzte um den Kadaver im Kreis und freute sich wie ein Kind. Dann wieder überschüttete er Brynja und auch den Jungen namens Dorian mit Dankerweisungen, was beide mit einer Mischung aus Argwohn und vorsichtigem Wohlwollen annahmen.

Den Soldaten des Kaisers war er offenbar entronnen. Auch war er trotz seiner schweren Rüstung im Fluss nicht ertrunken. Es musste tatsächlich eine höhere Macht über diesen armen Narren wachen, dachte Sarik.

„Wie konnte das geschehen?“ fragte Brynja, die ihren Blick von dem Kadaver wegwandte und ihn auf Sarik richtete. Dieser ging an ihr vorbei und musterte das tote Tier mit seinem gesunden Auge.

„Das frage ich mich auch!“ rief Dorian dazwischen. Er stand etwas abseits, bei Iria und Nadim, die es nicht wagten, sich dem Kadaver zu nähern.

„Diese Tiere leben in Höhlen“, begann Sarik zu erklären. „Dadurch gelingt es ihnen oft, ihre Beute aus dem Hinterhalt anzugreifen. Aber nur die wenigsten werden so groß“, sagte er und stieß den Kadaver mit dem Fuß an, was ein knirschendes Geräusch verursachte.

„Das meine ich nicht“, gab Brynja zurück. Nagende Ungewissheit schien durch ihre Miene hindurch und drohte, ihre selbstbewusste Fassade zum Einsturz zu bringen. „Wir alle kennen die Regeln, die uns die Escutcheons auferlegen. Sie sammeln unsere Stärken und Fähigkeiten, und sie errichten den Kampfdom, den die Kontrahenten nur für sich haben“, zählte sie wie etwas auswendig Gelerntes auf. „Aber das heute…?“

Sarik richtete den Blick seines gesunden Auges auf den Kadaver und dann auf Hargfried, der den leblosen Körper mit Gesten und Grimassen verhöhnte.

„Wir alle waren in dem Raum mit dem Maleficium. Unsere Escutcheons sind nun verbunden. Wir können nicht mehr gegeneinander kämpfen. Aber es sorgt dafür, dass keiner alleine kämpft.“ Brynja und auch Dorian lauschten ihm erwartungsvoll. „Es erfüllt seinen Zweck, wie schon vor zwanzig Jahren, im großen Krieg. Es hat uns jetzt zu einer Armee gemacht, so wie damals die Truppen von Mosarria.“

„Was!?“ rief Brynja empört aus. Sie ging mehrere Schritte auf Sarik zu und ballte die Fäuste. „Das heißt, wenn einer von uns in einen Kampf gerät, dann hängen die anderen mit drin? Wieso haben Sie uns das nicht früher gesagt?“

„Ich war mir bis jetzt selbst nicht sicher. Hätten Sie mir denn geglaubt?“ erwiderte er mit sanfter Stimme und lächelte dabei verhalten. Brynja funkelte ihn noch einmal zornig an, sagte aber nichts mehr, sondern ging am Kadaver des Rieseninsekts vorbei, ohne ihn zu beachten, genauso wie Hargfried, der ihr wieder Worte des Danks zurief.
 

Scavos Schritte führten ihn durch den Wald, zwischen hohen, sonnenbeschienen Bäumen und Sträuchern im vollen Saft vorbei. Doch nichts davon drang an sein Bewusstsein.

Das Maleficium, das sich von einem sperrigen Gegenstand an seinem Körper immer mehr zu einem Teil davon wandelte, verlieh ihm eine ungekannte Energie. Er lief, schneller und schneller. Das Licht der Sonne traf sein Gesicht nicht mehr, es schien ihm dunkel wie eine mondlose Nacht. Seine Haut, nunmehr grau wie altes Pergament, nahm die Wärme der Sonne nicht mehr an. Doch er spürte keine Kälte, er spürte gar nichts mehr, was ihn mit seiner Umgebung hätte verbinden können.

Er sah nicht die blühenden Sträucher, auch nicht die Farne aus frischem Grün, er sah nur mehr sein Ziel, das noch fern war, aber bereits eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn ausübte. Und er hörte die Einflüsterungen des Maleficium und des Wesens, das ihm innewohnte.

„Ja, ich werde es tun… Ich werde tun, was du befiehlst, Ares.“

Niemand hörte seine ängstlich geflüsterten Worte, die nach einem gebeugten Haupt klangen, das sich unter einem angedrohten Hieb duckt. Doch genauso sprach aus ihnen klebrige Unterwerfung wie auch die erstarkende Hoffnung auf überreiche Belohnung, wenn allen Wünschen entsprochen wurde, die unablässig in seinen durchlässigen Geist einsickerten.

Die Einwohner der Ortschaft ahnten nichts von dem Wanderer, der in großem Abstand ihre Ansiedlung umging.
 

Scavo sah die Häuser, die niedrigen Ziegeldächer, die umzäunten Stallungen, die rauchenden Schornsteine. Er hielt weiten Abstand, wie das Maleficium ihm befahl, und doch erinnerten ihn diese Bilder, die er flüchtig am Rande seines zerfallenden Bewusstseins aufnahm, an etwas. Sie lösten etwas aus in ihm.

Erinnerungen stiegen hoch, leise Erinnerungen, die in dem Sturm, der in seinem Inneren tobte, unterzugehen drohten. Doch bevor der Mahlstrom aus Schreien und den Verlockungen aus dem Maleficium diese Erinnerungen in winzige Fragmente zerriss, erhaschte er einen Blick auf sie.

Bilder von warmen Stuben, dampfenden Schüsseln und weichen Betten, und obgleich sie etwas Verlockendes an sich hatten, so entglitt ihm immer mehr das Verstehen, was sie überhaupt für ihn bedeuteten. Er vergaß, was Hunger und die Stillung desselben bedeutete, denn das Maleficium erfüllte seinen Körper mit ewig drängender Energie. Er vergaß, was Schlaf und das zufriedene Aufwachen am Ende der Nacht bedeuteten, denn das Maleficium hielt seinen Geist wach und angespannt, und seine Schreie verebbten nie. Er vergaß immer mehr, was es bedeutete, ein Mensch zu sein und wurde immer mehr zu dem, was das Maleficium ihm einflüsterte, lockend und verheißungsvoll.

Er ließ die Ansiedlung hinter sich und damit die erahnte Nähe zu den Menschen, die er nicht mehr als seinesgleichen betrachten konnte. Das Land unter seinen rastlosen Füßen wurde trockener, die Bäume immer weniger. Sein Blick ging an diesen Einzelheiten vorbei und strebte einem Ziel entgegen, das fern und hinter Wolken verborgen auf ihn wartete. Und doch sah er es greifbar nahe vor sich, und das Maleficium lachte zufrieden in seinem Kopf.

„Ja, Ares… Ich werde es tun… Gib mir die versprochene Macht, und ich werde alles tun!“ schrie er mit heiserer Stimme in die Nacht hinaus. Der sternenklare Himmel hing über ihm wie ein glitzernder Baldachin, doch er achtete darauf nicht. Staub wirbelte unter seinen Füßen auf, die jede Ähnlichkeit mit ihrer früheren Erscheinung verloren. Die Veränderung griff auf seinen ganzen Körper über, und je länger er den Einflüsterungen des Maleficium lauschte, je länger er unter seinem Einfluss stand, desto rascher schritt sie voran.

Seine Haut war nun grau wie Asche, und unter ihr schien eine dunkle Flüssigkeit in schwarzen Venen zu pulsieren. Seine Kleidung zerfiel im selben Maß, wie sein Körper die Menschenähnlichkeit verlor. Ihre Fetzen flatterten an seinem Körper im Nachtwind wie Raben, die mit den Krallen an seinen Leib gebunden waren und zugleich mit heftigen Flügelschlägen die Flucht versuchten. Seine Augen waren schimmernde Abgründe, angefüllt mit der Sehnsucht sowie dem Willen, diese in den Verlockungen des Maleficium zu stillen.

So eilte er durch diese sternenklare Nacht, den ausgetrockneten, rissigen Boden unter den rastlosen Füßen, und strebte seinem Ziel entgegen.

Ihr neuer Begleiter, der sich ihnen als Hargfried von Lichtenfels vorgestellt hatte, gab sich sehr gesprächig, wie Dorian auffiel. Er erzählte freimütig von seinem Rachefeldzug gegen die Mörder seines Vaters, um dazwischen immer wieder in Danksagungen für seine Rettung zu fallen.

Dorian lauschte den zeitweise wirren Erzählungen des jungen Mannes. Er staunte über seine prächtige Rüstung und sein riesiges Schwert, das er auf dem Rücken trug. Immer wieder wurde sein Blick auch gefangen von der auffälligen Narbe in seinem Gesicht, doch er wagte es nicht, die lebhaften Ausführungen des Mannes zu unterbrechen, um ihn nach der Herkunft dieser Verletzung zu fragen. Wahrscheinlich hätte er den Mut sowieso nicht aufgebracht, danach zu fragen, wenngleich er nicht daran zweifelte, dass sie aus einer großen Schlacht stammen musste.

„Sie kamen ganz plötzlich“, erzählte Hargfried mit gesenkter Stimme. Obgleich Dorian während ihres Weges diese Geschichte schon mehrmals gehört hatte, so lauschte er ihr auch diesmal wieder gebannt. „Sie waren in der Überzahl, als sie die Burg meines Vaters überfielen, diese Schurken“, fuhr Hargfried fort. Seine Stimme schwankte zwischen fassungslosem Entsetzen und forschem Heldenmut, aber immer klang sie übertrieben, fast gekünstelt, wie Dorian am Rande merkte. Nichtsdestotrotz zog ihn die Erzählung vom verzweifelten Kampf gegen die zahlenmäßig überlegenen Angreifer erneut in den Bann. Nachdem Dorian sie jedoch mittlerweile hinlänglich kannte, erlaubte er sich, die Gesichter der anderen während des Zuhörens zu studieren.

Nadim war ähnlich gebannt wie er selbst. Mit großen Augen hing er an den Lippen ihres neuen Mitreisenden, der sich ohne viel Aufhebens ihrer Gesellschaft angeschlossen hatte. Im Gegensatz zu Dorian, dem leise Zweifel an der sich jedes Mal weiterentwickelnden Geschichte kamen, zeigte Nadim uneingeschränktes Staunen.

Iria hingegen ignorierte den jungen Mann nach Kräften. Ihr Blick ging mal zu Boden, mal in die Baumwipfel, mal in die Tiefen des Waldes um sie herum, als würde sie nach weiteren gefährlichen Rieseninsekten Ausschau halten. Ihr Gesicht zeigte zugleich unverhohlene Ablehnung den kriegerischen Ausführungen Hargfrieds gegenüber.

Dorians Blick wanderte weiter zu Brynja, die wie zuvor ein Stück abseits der Gruppe marschierte. Er erinnerte sich daran, dass sie diesem jungen Mann in den Kanalgewölben zusammen mit ihr das allererste Mal begegnet waren. Die Erinnerung an dieses Zusammentreffen stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Dorian bemühte sich, den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu deuten. Dieser Ausdruck sprach von Argwohn, von Ablehnung und auch von Verwirrung. Mehr konnte er den wettergegerbten Zügen nicht ablesen, die darüber hinaus aber noch ein Geheimnis, eine dunkle Ahnung zu beinhalten schienen.

Schließlich traf sein Blick Sarik, der als Einziger zugleich auf den munter plappernden Hargfried und auch auf ihre Umgebung zu achten schien. Sein gesundes Auge suchte den Wald um sie herum nach weiteren Gefahren ab, gleichzeitig ließ es den Mann mit der Narbe im Gesicht aber nicht aus dem Blickfeld. Dorian sah ihm an, dass er mehr wusste oder zumindest ahnte, als er zugab. Und er ahnte, dass für diesen Sarik der Anschein der Informiertheit eine ähnliche, wenn nicht noch größere Bedeutung als eigentliches Wissen hatte.

„… es waren aber letztendlich zu viele, und mein geliebter Vater- “ Hargfried stockte jedes Mal die Stimme an dieser Stelle. Dorian wusste, was als Nächstes kam. „ –mein Vater, er- er starb in meinen Armen, und diese abscheulichen Verbrecher konnten- sie konnten fliehen…“ Nadim war ganz ergriffen vor Mitleid, und selbst Iria, die aus ihrem Trotz gegen ihn keinen Hehl machte, zeigte in diesem Moment einen leisen Anflug von Mitgefühl. Dorian ließ sich zurückfallen zu Sarik, der einige Schritte hinter Hargfried ging. Er hatte auf dessen Gesicht ein schelmisches Lächeln entdeckt.

„Hä…?“

„Eine ‚gute‘ Geschichte…“, erwiderte Sarik auf diese unausgesprochene Frage. Dorians Blick ging nach vorn, wo Hargfried zwischen Iria und Nadim ging, auf die er trotz seiner Rüstung und der Waffe keinen Schrecken mehr ausübte, sondern eher Mitleid wachrief wie ein weinerliches Kind. Nur Brynja zeigte keine Spur von Mitgefühl.

„Was meinen Sie?“

„Diese Angreifer, von denen er erzählt“, antwortete Sarik im Flüsterton und deutete mit dem Kinn auf Hargfried, der mit seiner Geschichte von Neuem begann, „es war angeblich eine ganze Horde, beschreiben konnte er sie allerdings nicht. Und wo waren die Wachen? Die Festung von Fasolt Lichtenfels ist sicher gut bewacht, das müsste also eine mittlere Armee gewesen sein.“

„Vielleicht… Soldaten aus Mosarria?“ mutmaßte Dorian. Sarik sah ihn einen Moment scharf an, was Dorian verunsicherte. Dann antwortete er aber mit ruhiger Stimme.

„Ausgeschlossen. Mosarria steht dem Herzogtum Lichtenfels neutral gegenüber, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“

„Also glauben Sie, dass er lügt?“

Das Lächeln kehrte in Sariks Gesicht zurück.

„Das nicht. Er glaubt zweifellos selbst, dass es wahr ist.“ Das Lächeln wurde zu einem verhaltenen Lachen, und Dorian machte ein restlos verwirrtes Gesicht.

„Das verstehe ich nicht.“

Sarik blickte nach vorn, sein gesundes Auge schien etwas wahrzunehmen. Dorian sah sich um, und sein Blick fiel auf Brynja, die es ebenso bemerkt hatte.
 

Seine Aufmerksamkeit richtete sich in die Ferne, in der der Wald lichter und der Abstand zwischen den Bäumen größer wurde. Dorthin, wo der dichte Bewuchs ihrer Umgebung in ein sanft hügeliges Grasland überging, und wo statt der Bäume nur noch vereinzelt Sträucher und Büsche die Vegetation bildeten.

Dorian ärgerte sich ein weiteres Mal darüber, dass er nie Genaueres über das Umland von Galdoria in Erfahrung gebracht hatte. Die Stadt, in der er aufgewachsen war, war immer eine eigene Welt für ihn gewesen, ein ganzes Reich mit seinen vielen Stadtteilen, den prächtigen wie den ärmlichen. Jetzt erst bekam er eine Ahnung von der Größe des Landes, das er in seiner Fantasie so oft durchquert hatte, ohne seine Heimatstadt jemals wirklich zu verlassen.

„Wir müssten bald die Stadt Brimora sehen“, hörte er Sarik sagen, dessen Blick die vor ihnen beginnende freie Fläche erkundete. Brynja, die ein Stück voraus war, näherte sich dem Rand des Waldes mit bedächtigeren Schritten als zuvor. Dorian kam dies seltsam vor: Den Wald, welchen sie durchquert hatten, konnte er sich als Ort der Gefahr gut vorstellen, waren sie doch zuvor einem jener Monstren über den Weg gelaufen, von denen er bis jetzt nur Geschichten gehört hatte.

Nach kurzer Zeit erreichten sie offenes Grasland, und als Dorian sich umdrehte, kam ihm der Wald düster, undurchdringlich und so ganz anders vor als noch in den Momenten davor. Dann betrachtete er den Himmel, den sie nun offen über sich sahen. Er war von violetter Tönung, und Dorian erahnte den Sonnenuntergang, der sich in ihrem Rücken, Richtung der Stadt Galdoria, fern ihren Blicken abspielte.

Auch fühlte er die Müdigkeit des Tages immer stärker in seinen Knochen. Vor der Begegnung mit dem Rieseninsekt hatte er sie schon verspürt, doch die Aufregung des Kampfes hatte sie wieder vertrieben. Nun kehrte sie zurück, und während er einen Schritt vor den anderen setzte, wandte er sich nach innen, einerseits, um seine Gedanken zu ordnen, und andererseits, um sich von der beginnenden Erschöpfung abzulenken.

Seine Gedanken wanderten zu ihrer Begegnung mit dem riesigen Tier. Er erinnerte sich auch an Erzählungen, die er in den Spelunken Galdorias gehört hatte, die er und seine Freunde manchmal besuchten, um jedes Mal nach kurzer Zeit mit den Worten „hier ist kein Platz für Kinder!“ hinausgeworfen zu werden. Wobei der Wirt wohl mehr die Ausübung ihrer Diebestätigkeit fürchtete als den schlechten Einfluss, den sein Etablissement auf sie haben konnte, dachte Dorian, bevor seine Gedanken wieder zu dem Untier zurückkehrten.

Er entsann sich Erzählungen über riesige Insekten, die ebenso weitgereiste wie zwielichtige Gesellen in den Spelunken Galdorias verbreiteten, wie über allerlei andere Wunderwesen. Kreaturen wie einäugige Riesen aus Sand; geflügelte Dämonen, deren Beschimpfungen die Seele vergifteten; menschenfressende Pflanzen, die ihre Opfer mit dem Blick ihrer Tausend Augen in wehrlosen Schlummer versetzen können.

All diese Erzählungen hatten ihm schlaflose Nächte und auch Alpträume beschert, zumindest in seiner Kindheit. Später hatte er darüber gelacht und diese Geschichten der Trunkenheit zugeschrieben, die ein ständiger Gast in den heruntergekommenen Gegenden der Stadt war. Doch die unheilvolle Erinnerung an diese Geschichten, die Ahnung von schrecklichen Dingen, die jenseits der Stadtmauern auf Reisende lauerten, war nie ganz aus seinem Herzen gewichen. Bis auf den heutigen Tage nicht, und er fragte sich, ob ihn diese tief verwurzelten Befürchtungen bis jetzt daran gehindert hatten, der Abenteurer seiner Tagträume zu werden.

Er dachte an das Rieseninsekt, das genauso gut aus einer dieser Erzählungen hätte stammen können. Nur dass dieses sehr wirklich gewesen war, so wirklich, dass er das gelbe Blut dieses Untieres immer noch auf seiner nun sauberen Klinge zu sehen glaubte. Doch die Erinnerung an dieses Ungeheuer, das er zusammen mit seinen neuen Wegbegleitern überwunden hatte, war jetzt, wenige Stunden später, schon undeutlicher als all die Erinnerungen an die Geschichten seiner Kindheit. Es kam ihm vor, als hätte die reale Begegnung mit einer der Sagengestalten aus seiner Fantasie das Bild zu Asche zerfallen lassen, welches er in sich getragen hatte.

Und er fragte sich, ob dieses Schicksal der Entzauberung allen geheimnisvollen Dingen beschieden war, denen er nun wahrhaftig begegnen mochte.
 

Die Farbe des Himmels ging von einem tiefen Violett in ein sattes Dunkelblau über, das von der einsetzenden Dämmerung und der nahen Nacht kündete. Dorian hörte seinen Magen knurren, und er fragte sich, ob sie die Nacht hier, auf freiem Feld, verbringen würden.

Neben ihm gingen Iria und Nadim. In der einsetzenden Dunkelheit konnte er ihre Gesichter nicht mehr deutlich erkennen, aber ihre eingesunkene Haltung und ihre schleppenden Schritte verrieten ihm, dass sie mittlerweile ähnlich wie er mechanisch einen Fuß vor den anderen setzten und dabei keinerlei Energie mit Fragen nach einem Ziel oder dem Warum vergeudeten. Auch Dorians Gedankengänge waren zäh; der Gedanke an ein weiches Bett oder eine ähnliche Ruhestatt ließ ihn die bleierne Schwere in seinen Gliedern noch deutlicher spüren. So verdrängte er den Gedanken schnell wieder und hielt nach seinen restlichen Begleitern Ausschau.

Der Mann namens Hargfried hatte mit seinen Erzählungen schon vor einer Weile aufgehört. Nun marschierte er mit stoischer Haltung neben ihnen her. Nur sein Blick war unruhig und schien ständig nach möglichen Feinden Ausschau zu halten. Dorian fragte sich, ob sie ihm trauen sollten oder ob er nicht eher eine Gefahr für sie alle war. Doch selbst diese Gedanken kamen ihm zu mühevoll vor, und so stellte er sie ein.

Brynja Peinhild war nur etwa ein Dutzend Schritte voraus. Keine ihrer Bewegungen verriet körperliche Ermattung; zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Ebenso wie Sarik, der immer noch in aufrechter Haltung neben ihnen herging und dessen gesundes Auge den nunmehr in der Dämmerung verborgenen Horizont absuchte. Dorians Blick fiel auf sein blindes Auge. Er nahm sich vor, genug Mut zu sammeln und ihn nach der Ursache für den Verlust seines Auges zu fragen.

„Da ist es“, sagte Sarik plötzlich. Dorian blinzelte verwirrt. Es bereitete ihm Mühe, den Sinn dieser wenigen Worte mit seinem erschöpften Verstand zu ergründen. Bis er aus Irias Mund ähnliche Worte hörte.

„Da! Da vorne!“ rief sie. Dorian wandte sich ihr zu, dann verstand er. Und auch er sah nun die Ansammlung von Häusern, die sich vor ihnen aus der Dämmerung schälte.
 

Die Stadt schmiegte sich wie ein schlafendes Tier in die Einbuchtung des Hügellandes. Dorians Augen wurden groß, seine Ermattung schwand. Dieses Anzeichen menschlicher Besiedlung erfüllte ihn mit stiller Euphorie, und der Gedanke an Begegnungen, die keine Feindseligkeit versprachen, erleichterte sein Herz.

Dorian überdachte die Bezeichnung ‚Stadt‘, als er über diese Ansammlung niedriger Häuser mit ihren geduckten Dächern hinwegsah. Galdoria war eine ‚Stadt‘ und um vieles größer als diese Siedlung. Nur ein Bruchteil der Einwohner seiner Heimatstadt mochte hier leben. Er fragte sich, ob, wäre seine Heimat auch so überschaubar, er dann nicht eher zu unbekannten Horizonten aufgebrochen wäre. Jedenfalls erfüllte ihn dieser Anblick mit einer Ruhe, wie er sie nicht vermutet hätte. Er sehnte sich nur noch nach einem Dach und Wänden, die ihn behaglich umgaben und alle Abenteuer, die er während der letzten Stunden erlebt hatte, auszusperren vermochten.

Je näher sie der Ansiedlung kamen, desto klarer offenbarte sich ihnen die Lebensgrundlage dieser Menschen. Sie kamen an regelmäßig angelegten Äckern vorbei, die durch Buschzeilen eingerahmt und so gegen den Wind dieser Ebene geschützt waren. Sie sahen wogende Kornreihen, die sich im Abendwind wiegten, Linien aus Rübengewächsen, umgeben von niedrigen Zäunen, und Weinranken auf Gerüsten, deren bereits zu erahnende Reben einen reichlichen Herbst versprachen. Und einsam zwischen sich sanft wiegenden Getreidehalmen stand eine Vogelscheuche, die ihre in Lumpen gehüllten Arme wie zum Gruß ausstreckte.

„Weg mit dir, du Ungeheuer!“

Dem Klang nach war der Urheber dieser Stimme nicht weit. Dorian erkannte in den Blicken seiner Wegbegleiter die Verunsicherung über ihren ersten Kontakt zu den Menschen hier. Doch die Stimme hatte auch etwas Alarmierendes an sich.

„Hilfe… Hilfe!“

Die Stimme nahm einen verzweifelten Ton an, was ihre Schritte beschleunigte.
 

Hinter einer weiteren Buschzeile kamen sie in einen Bereich mit niedrigen Obstbäumen, deren kugelförmige Kronen voller Blüten standen. Sarik und Brynja liefen voran und erreichten den Schauplatz als erste. Nadim und Iria ließen sich mehr Zeit und ihren Wegbegleitern sichtlich den Vorrang; was immer hier geschah, sie überließen die Entdeckung den bewaffneten Mitgliedern ihrer kleinen Gruppe. Hargfried lief dicht hinter Dorian. Für einen Moment kam ihm der absurde Gedanke, dieser Mann bliebe in seinem Rücken aus Furcht vor der möglichen Begegnung, was angesichts seiner Rüstung und seiner Waffe Dorian im selben Augenblick töricht vorkam.
 

„Hilfe…!“ jammerte der alte Mann, der auf dem Boden saß und langsam rückwärts kroch. Sarik und Brynja waren schon am Schauplatz, und als Dorian hinzukam, hörte er ein Summen, das ihn in Alarmbereitschaft versetzte. Es war dasselbe Summen, das auch ihren Kampf im Wald mit dem gigantischen Insekt begleitet hatte. Auch hier erklang es, wenngleich weniger laut.

Drei der rotschwarz gestreiften Tiere umschwirrten den alten Mann. Die Tiere glichen ihrem monströsen Feind aus dem Wald aufs Haar, nur dass diese bloß einen Schritt in der Länge maßen. Nichtsdestotrotz reckten sie ihre Stacheln dem alten Mann entgegen, der sie offenbar mit dem Stock in seiner Hand erfolglos abgewehrt hatte.

Sarik reagierte zuerst. Er zog seine Waffe, und der Kampfdom entstand. Das Netz aus blauen Linien spannte sich um ihn auf und hüllte die drei angriffslustigen Insekten ein, ebenso wie auch Brynja und Dorian, die ihm am nächsten standen.

Diesmal sah er das Phänomen aus nächster Nähe, besser als jemals zuvor. Das Netz aus geometrischen blauen Linien bewegte sich auf ihn zu und durch ihn hindurch. Er drehte sich um und sah die Umrisse von Nadim, Iria und Hargfried, die in geringer Entfernung standen, in Dunkelheit getaucht, während Sarik und Brynja neben ihn von einem ätherischen Licht angestrahlt wurden. Ebenso wie die drei Insekten, die den hilflosen Mann umschwirrten. Dieser bemerkte, dass die Insekten ein neues, interessanteres Ziel gefunden hatten, und kroch auf allen Vieren aus dem Kampfdom hinaus. Nachdem die drei ihn außerhalb der Arena aus blauen Linien in Sicherheit wussten, eröffneten sie die Auseinandersetzung.

Sarik lief vor, seine Waffe blitzte auf. Im selben Moment, in dem er seine Klinge wieder wegsteckte, fiel das eben noch aggressiv summende Tier zweigeteilt zu Boden. Dorian zerrte mit fahrigen Bewegungen sein Schwert aus dem Gurt, während er mit ansah, wie Brynja das zweite Tier mit ihrer Armwaffe außer Gefecht setzte. Als würde sich seine eigene Waffe gegen den Einsatz sträuben, so verhedderte sie sich in seinem Gurt. Erst nach endlosen Sekunden bekam er sie frei und konnte sie endlich in beide Hände nehmen.

„Na endlich“, flüsterte Dorian und betrachtete seine Waffe.

„Pass auf!“ schrie ihm Sarik zu. Dorians Blick hob sich. Das verbliebene Insekt raste mit der Wut seiner Verzweiflung direkt auf ihn zu. Die nun einsetzende Panik lähmte Dorians Arme, und die Bewegung seines Schwertarms kam ihm unsäglich langsam vor, als das Tier mit vorgerecktem Stachel auf ihn zuschoss.

Mehr aus Panik denn aus Berechnung riss Dorian das Schwert hoch, und das mit solcher Wucht, dass er auf dem Hosenboden landete. Gelbe Flüssigkeit traf seine Kleidung, das Summen erstarb jämmerlich. Das Insekt von der Größe eines Hundes zuckte noch kurz, dann war der Kampf vorbei.
 

Dorian starrte auf seinen Gegner, der ihn fast überrumpelt hatte. Er erschrak, als sich Sarik über ihn beugte.

„Mache dich mit deiner Waffe besser vertraut und handle nicht so kopflos. Das hier ist kein Spiel“, sagte er mit ernstem Gesicht. Dorian wollte etwas erwidern, doch Sarik wandte sich schon von ihm ab und ging auf Brynja zu, die dem alten Mann auf die Beine half.

Er stand auf und putzte sich den Hosenboden ab. Dabei blickte er Sarik hinterher, und Scham überkam ihm. Dann wandte er sich dem toten Insekt zu. Im Kampf mit dessen ungleich größeren Verwandten hatte er einen gewissen Stolz gefühlt, mit einem offenbar so erfahrenen Krieger wie Sarik Seite an Seite zu kämpfen. Umso mehr schmerzte es ihn jetzt, sich in seiner Gegenwart so tölpelhaft angestellt zu haben. Er kratzte sich verlegen am Kopf, dann ging er zu den anderen, die den alten Mann umringten.

Dorian erhaschte einen näheren Blick auf den alten Mann, der, von Brynja und Sarik umringt, da stand und noch leicht zitterte. Seine Hand hielt den Gehstock verkrampft, und sein Gesicht war leichenblass. Er war aber unverletzt, wie Dorian erkannte, und der Schrecken auf seinem Gesicht wich allmählich einem Ausdruck der Dankbarkeit.

„Beim heiligen York, das war knapp, das war knapp…“, murmelte der alte Mann, während er seine Fassung zurückerrang. Dorian trat zwischen Brynja und Sarik. Der Blick des Mannes traf ihn ebenso, und das mit einer Mischung aus Erleichterung und erwachender Neugier.

Dorian betrachtete ihn näher und sah lebhafte Augen in einem faltigen, wettergegerbten Gesicht. Ein dichter, grauer Bart verbarg Kinn und Mund völlig. Auf seinem kahlen Kopf hingegen fand sich nur dünner, ebenso grauer Flaum. Er trug derbe Beinkleider und eine wildlederne Weste, die die aufgekrempelten Ärmel seines Hemdes freilegten.

„Sind Sie in Ordnung?“ fragte Sarik und musterte ihn dabei von Kopf bis Fuß, eine Geste, die Dorian über bloße Besorgnis hinauszugehen schien.

„Oh ja, ich… ich bin in Ordnung, diese vermaledeiten Biester, diese…“ Sein Schimpfen ging in ein undeutliches Gemurmel über, das in den Tiefen seines Bartes verschwand. Dabei gestikulierte er heftig in Richtung der getöteten Riesenbienen, die ein paar Schritte entfernt lagen. „Elende Ungeheuer, diese… äh…“ Dann blinzelte er und schaute die Personen um sich herum an, als sähe er sie in diesem Moment zum ersten Mal. „Ah! Ich habe mich noch nicht, also… Mein Name ist Benero, Benero Cinna, und wer seid ihr?“ Schlagartig ging seine Miene wieder in einen Ausdruck lebhafter Neugier über, seine Hände zitterten jedoch noch genauso, wenn nicht noch mehr. Sarik und Brynja tauschten einen vielsagenden Blick.

„Ich bin Sarik Metharom, und das ist Brynja Peinhild…“, begann er mit bedächtiger Stimme, als würde er jedes Wort auf eine Waage legen, bevor er es aussprach. „Und das ist Dorian- “

„Dorian Alberink!“ rief er dazwischen, als Sarik einen winzigen Moment zögerte. Dabei stellte er sich auf die Zehenspitzen und streckte die Brust heraus.

„Ah, sehr schön, sehr angenehm!“ erwiderte der alte Mann. „Ohne euch, ja, ohne euch wäre das übel, ganz übel, äh… ausgegangen. Und die da dahinten?“

Benero Cinna zeigte mit dem Gehstock auf Hargfried, Iria und Nadim, die sich langsam näherten, wobei besonders Nadim einen Bogen um die Kadaver der Riesenbienen machte.

„Das? Das sind Iria Halloran und Nadim Wenzelstein“, sagte Dorian schnell, der das Gefühl hatte, es obliege ihm, seine Freunde vorzustellen. Die beiden deuteten eine Verneigung an. Der alte Mann strahlte über sein faltendurchzogenes Gesicht und nickte dabei so heftig, dass sein krauser Bart wippte.

„Sehr schön, sehr schön! Und der Bursche da in seinem… seinem Metallkleid?“

Hargfried sah an sich herab, bis er die Umschreibung des Mannes verstand. Dann runzelte er seine Stirn, hob das Kinn an und stellte sich vor.

„Hargfried. Vom Herzogtum Lichtenfels.“

„Aus Lichtenfels? Sehr schön, sehr schön!“ erwiderte Benero und nickte abermals so heftig, dass Dorian sich fragte, ob sein Kopf auch entsprechend gut befestigt war. „Wie gesagt, wie gesagt, übel hätte das ausgehen können! Wenn ihr nicht gewesen wärt, dann… dann… wäre ich jetzt vielleicht auch nicht mehr, he, he!“

Dorian und seine Begleiter sahen sich an, während der alte Mann über seinen Scherz lachte. Dann erst entkam ihnen, einen nach dem anderen, ein vorsichtiges Lächeln.

„Ja, gut, dass wir gerade in ihrer Nähe waren“, sagte Sarik. Der alte Mann namens Benero stützte sich auf seinen Stock und beugte sich so weit vor, dass Dorian einen Moment glaubte, er müsse ihn auffangen, doch er hielt das Gleichgewicht. Zugleich ließ er seinen Blick nochmal über die Gruppe schweifen, wobei seine Augen voller Neugier funkelten.

„Sehr schön, sehr schön! Seid doch meine Gäste! Ihr braucht sowieso ein Quartier, oder wolltet ihr etwa auch bei Nacht reisen?“

„Das ist sehr freundlich, aber- “, begann Brynja, doch Sarik schnitt ihr das Wort ab. Er hob eine Hand in ihre Richtung, wie um sie zu beschwichtigen und sprach mit sanfter, aber zugleich fester Stimme.

„Das wäre wirklich zuvorkommend von Ihnen, wenn Ihr uns ein Quartier für diese Nacht zur Verfügung stellen könntet.“ Sein Blick wanderte kurz zu Brynja, die ihn mit zu Schlitzen verengten Augen anfunkelte. „Wenngleich wir Ihnen keine Umstände machen wollen.“

„Aber, aber! Keine Umstände macht ihr mir und meiner Familie!“ erwiderte Benero fröhlich. „Das bin ich euch schuldig, habt ihr mich doch vor diesen Biestern errettet! Es ist auch… es ist auch genügend, ja, genügend Platz in unserem Haus…“, fuhr er fort, und seine Stimme nahm einen traurigen Klang an. Er senkte den Blick unter seine dichten, grauen Augenbrauen und schüttelte den Kopf. Mehrere Momente verharrte er in dieser nachdenklichen Pose, bevor er weitersprach. „Aber kommt nur, kommt nur! Ihr seid alle meine Gäste!“
 

Die Gruppe um Dorian folgte dem alten Mann auf dem Weg in die kleine Stadt. Sarik ging dabei neben ihm her, und Dorian blieb dicht hinter ihnen. So hörte er ihr Gespräch mit.

„Diese Tiere sind nicht ungefährlich. Warum wart Ihr ohne Begleitung hier draußen, wenn sie sich so nahe an die Siedlung heranwagen?“

„Ach, das, ach, das. Ich wollte nur noch nach den Obstbäumen sehen, wisst ihr? Und ja, es ist traurig, es ist traurig…“ Wieder verfiel er in nachdenkliches Schweigen, bevor er merkte, dass er die Frage gar nicht beantwortet hatte. „Ach ja, die jungen Männer, sie sind alle im Krieg, wisst ihr? Auch mein Sohn Rothgar, ach ja…“

Sie erreichten nun die eigentliche Stadt, deren Beginn gar nicht so klar festzulegen war, wie Dorian es erwartet hatte. Es gab keine Stadtmauer wie jene, die Galdoria umgab, sondern die Häuser begannen einfach in der Nähe der Bepflanzungen und standen zum Ortskern hin allmählich dichter beisammen. Hier war es ganz anders als in der Hauptstadt, wo jeder Fußbreit genutzt wurde und kein Schritt Boden unverbaut blieb. Es war hier eher so, als hätte jemand die einzelnen Bauten mit ihren weit herabgezogenen Dächern und den Windrädern, die sich auf allen Dächern fanden, nach Belieben verteilt, um ein möglichst hübsches Gesamtbild zu erzeugen.

„Ich verstehe trotzdem nicht, wie diese Ungeheuer sich so nahe an eure Ortschaft heranwagen“, sagte Brynja nun. Ihr Blick traf dabei aber nicht den alten Benero, sondern Sarik, und eine unausgesprochene Herausforderung lag darin, wie Dorian sah.

„Oh ja, es ist schon traurig… jetzt, wo die meisten jungen Männer weg sind, ist es schlimm, sehr schlimm!“ antwortete Benero und fuchtelte abermals mit seinem Gehstock herum, der ihm mehr als Halt für seine zitternde Hand diente denn als Gehhilfe. „Die jungen Männer unserer Stadt haben gut aufgepasst, oh ja, sie haben Dienste eingeteilt, welche diese Ungeheuer vertrieben haben! Aber jetzt, schlimm, sehr schlimm…“

Sie gingen einen Pfad entlang, der in gewundener Linie zwischen den Behausungen der Ansiedlung hindurchführte. Dorian sah Gemüsebeete hinter den gedrungenen Backsteinbauten, Umzäunungen, in denen Ziegen an Strohballen fraßen, und auch vereinzelt Einwohner, die mit Sensen, Harken und anderem Werkzeug auf den Schultern in ihre Häuser zurückkehrten. Es waren fast ausschließlich Frauen, Kinder und ältere Männer, wie er feststellte. Schließlich kamen sie zu einem Haus, das offenbar dem alten Mann gehörte.

Es war ein nach einer Seite offener Vierkanthof, vor dem in einem umzäunten Areal ein gackernder Haufen Hühner ihrem Schlupfloch für die Nacht zustrebte. Hinter einem hell erleuchteten Fenster bewegte sich etwas, und Momente später öffnete sich die Tür. Eine Frau kam heraus. Dorian schätzte sie etwas älter als Iria ein. Sie trug eine grobe Schürze über ihrem einfachen Kleid, und ihr Gesicht zeigte einen düsteren Ausdruck.

„Benero! Ich wollte schon nachsehen, wo du bleibst“, sagte sie mit leisem Ärger in der Stimme, der sich jedoch legte, als ihr Blick die Gästeschar erreichte. „Ich wusste nicht, dass wir Besuch bekommen?“ fragte sie vorsichtig.

„Ich wusste es auch nicht, oh ja“, erwiderte Benero vergnügt. „Aber diese tapferen Reisenden haben mich vor den Pestviechern bewahrt, diesen summenden Monstern! Sie haben unsere Gastfreundschaft mehr als verdient.“

Benero trat an die Schwelle heran, und die junge Frau wich zurück. Er hielt Dorian und den anderen die Tür auf. Auf das Gesicht der Frau legte sich nur mühsam unterdrücktes Entsetzen.

„Benero! Du sollst doch nicht alleine rausgehen, du weißt doch, dass das nicht ungefährlich ist“, sagte sie mit leiser, aber deshalb nicht weniger vorwurfsvoller Stimme.

„Ja, ja, es ist ja nichts passiert“, gab Benero zurück und winkte dabei ab. „Das ist übrigens meine Schwiegertochter Gauri.“

Gauri Cinna verbeugte sich leicht vor den unerwarteten Gästen, ohne den argwöhnischen Ausdruck auf ihrem Gesicht gänzlich zu verlieren.
 

Die Tür schloss sich hinter ihnen, und die Dämmerung blieb draußen. Statt ihr umfing sie nun das warme Licht vereinzelter Glühdrahtlampen sowie von einer prasselnden Feuerstelle, auf der bereits ein Kessel mit dampfendem Inhalt stand. Über diese gebeugt stand eine ältere Frau, deren graues Haar fast zur Gänze unter einem Tuch verborgen lag. Sie trug ähnliche Kleidung wie die junge Frau, und auf ihrer Nase saßen ein Paar dicke Gläser, durch die sie hindurch blinzelte.

„Benero?“ fragte sie in den Raum, als ob sie dank der Kurzsichtigkeit ihrer Augen die Personen nicht gleich erkannte. „Wo hast du dich wieder rum getrieben?“ fragte sie ihn mit krächzender Stimme, bevor ihr durch das dicke Glas gefilterte Blick auf Dorian und die anderen fiel. „Ah, Gäste? Gut, dass ich so viel auf den Herd gestellt habe!“
 

Im Nu saßen sie alle am Tisch. Die alte Frau, die Benero ihnen als seine Gemahlin Felicia vorstellte, bewirtete sie mit Gauris Hilfe.

Dorian ließ sich auf dem einfach gezimmerten Stuhl aus hartem Holz nieder; er erschien ihm als die bequemste Sitzgelegenheit, die er je genützt hatte. Die Wärme im Raum machte ihn zusätzlich schläfrig, und er rang darum, all die Eindrücke einzuordnen, die auf ihn einströmten.

Er fand sich in einer bizarren Runde vor; neben ihm saß Iria an dem großen Tisch, der problemlos einem Dutzend Personen Platz bot. Neben ihr wiederum saß Nadim, der sich mit einer Mischung aus Zurückhaltung und Erleichterung umblickte. Zu seiner anderen Seite saß Sarik, und auf der gegenüberliegenden Tischseite waren Hargfried und Brynja, die ebenso wie er von diesem Menschen ohne jeden Vorbehalt als Gäste aufgenommen worden waren. Sie alle hatten ihre Waffen in einer Ecke des Raumes, in der sich allerlei Werkzeug auf einer Kommode fand, abgestellt. Hargfried hatte sogar seinen Harnisch abgelegt; in der Ecke sah es nun so aus, als würde eine Heerschar hier lagern.

Geschirr klapperte und dampfende Brühe wurde mit großen Schopflöffeln verteilt. Die beiden Frauen sausten umher, sodass Dorians träger Blick ihnen kaum folgen konnte. Er hob seine müden Augen und sah die niedrige Decke, von der eine Glühdrahtlampe aus angelaufenem Metall hing. An den Wänden, hinter dessen grobem Verputz rohe Balken hervor lugten, prangte so manch landwirtschaftliches Gerät, das nicht mehr der Arbeit, sondern nur mehr der Zierde diente.

Verschiedenste Geräusche drangen an seine Ohren, und mehrmals drohten seine Augen, zuzufallen. Eine sich plötzlich erhebende Stimme riss ihn aus seiner Schläfrigkeit, als zwei Kinder aus einem Nebenraum kamen.

„Zenon, Gyriakus, da seid ihr ja. Setzt euch zum Tisch und benehmt euch ordentlich, wir haben heute Gäste“, rief ihnen Gauri Cinna mit strenger Stimme zu. Die beiden Buben liefen lachend und sich gegenseitig verfolgend um den Tisch, bis sie schließlich ihre Plätze erreichten. Dort erklommen sie ihre Stühle und betrachteten die Gäste des Hauses mit großen Augen und stillen Mienen, die einen starken Kontrast zu ihrer vorigen Lebhaftigkeit bildeten.

„Ah, wie schön, wie schön!“ rief Benero aus und nahm am Kopf der Tafel Platz. Er faltete die Hände auf dem Tisch und ließ seinen zufriedenen Blick über die Runde gleiten. „Lange hatten wir nicht mehr so viel Leben im Haus, ja, ja, lange nicht mehr…“

„Ihr Sohn, er… er ist im Krieg?“ fragte ihn Dorian aus einem Impuls heraus.

„Oh ja, es ist schlimm, ja… mein guter Rothgar wurde in die Armee befohlen, wie auch all unsere jungen Knechte. Deshalb ist es etwas schwierig für uns momentan, ja, ja… aber ich will mich nicht beklagen, nein, beim heiligen York, beklagen will ich mich nicht… “

Die eben noch bedrückte Miene des alten Mannes nahm wieder einen zuversichtlichen Ausdruck an, und Dorian ahnte, wie viel Kraft ihn dies kostete.

„Wir können also bei euch übernachten?“ fragte Nadim, den daraufhin einige Blicke trafen. Vorhin hatte er so unscheinbar und verschreckt auf seinem Stuhl gewirkt, dass wohl niemand erwartet hatte, eine Wortmeldung von ihm zu hören. Doch diese Sache war Nadim offenbar wichtig genug, um seine Stimme zu erheben.

„Das obere Stockwerk steht momentan leer“, erwiderte Felicia Cinna, die nun ebenfalls am Tisch Platz nahm, gleich neben ihrem Gemahl. „Die Knechte wohnten dort, aber ihr könnt es gern nutzen.

Dorian merkte die Blicke, die die beiden alten Eheleute tauschten. Einen Moment wunderte er sich nochmal über die Gastfreundschaft dieser Menschen, bis ihm der Gedanke kam, dass in diesen Zeiten eines nahenden Krieges vertrauenswürdige Menschen mit Waffen wohl eine Seltenheit waren und dass sie sich von ihnen wohl zumindest vorübergehenden Schutz erhofften.

„Stell dir vor, Schwiegermama, Benero war allein bei den Obstbäumen, als ihn diese teuflischen ‚Summer‘ angefallen haben!“ erzählte die junge Frau namens Gauri. Sie senkte dabei ihre Stimme, die einen vorwurfsvollen Ton annahm. Dabei blickte sie zu dem alten Mann, der angesichts dieses unterschwelligen Tadels missmutig den Kopf schüttelte. Seine Frau, Felicia, öffnete erschrocken den Mund und starrte ihre Schwiegertochter durch ihre dicken Brillengläser einen Moment an, bevor sie ihre anklagende Stimme gegen Benero erhob.

„Du alter Tor, ich habe es dir gesagt! Du sollst doch nicht allein aufs Feld hinausgehen, was denkst du dir!“ tadelte sie ihn.

„Ja, ja, ja…“, erwiderte er, verdrehte die Augen und murmelte dabei etwas Unverständliches in seinen Bart.

Dies ging noch eine Weile so hin und her, wie Dorian hörte. Auch Gauri schaltete sich in diese Diskussion ein, die daraus resultierte, dass infolge der Knappheit an Knechten viele Tätigkeiten von dem alten Mann übernommen wurden.

Mit der Zeit verschwammen die Stimmen in seinem Gehör, und die warme Luft ließ ihn wiederholt gähnend. Fast musste er sich überwinden, seine Schüssel leer zu essen, und das, obwohl die starke Brühe mit ihren vielfältigen Zutaten ihm als die köstlichste Speise seit Ewigkeiten vorkam. Sein knurrender Magen verlangte noch mehr davon, doch sein müder Körper war im selben Moment mit der Verdauung dieser Portion bereits beinahe überfordert.

Endlich konnte er den Löffel neben die leere Schüssel hinlegen. Iria neben ihm blickte auf die Tischplatte und rührte sich sonst weiter nicht. Ebenso wie Nadim, und obwohl beide die Augen geöffnet hielten, ließen ihre hängenden Glieder und ihre erschlafften Gesichtszüge ihn vermuten, dass sie im Sitzen schliefen.

Hargfried ihm gegenüber saß mit verschränkten Armen zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Immer wieder zog er die Nase kraus, und seine Augenlider zuckten beständig.

Dorian fragte sich einen Moment, ob dieser junge Mann wirklich verrückt war, wie Sarik behauptet hatte, und ob er sich vielleicht nicht doch als Gefahr für sie alle erweisen würde. Doch die Erschöpfung in seinen Gedanken spülte diese Befürchtung hinweg, und die Aussicht auf eine weiche Liegestatt ließ ihm alle Bedrohungen dieser Welt klein und nichtig erscheinen.

Brynja, die neben Hargfried saß, lehnte mit den Ellbögen auf dem Tisch und sah sich konzentriert um. Dorian war sich sicher, ihre Augen tasteten die Umgebung nach möglichen Fluchtwegen oder nahenden Gefahren ab. Ihr Gesicht wirkte nervös und wachsam, wenngleich es ihr ebenfalls schwer fiel, ihre körperliche Erschöpfung zu verbergen. Dorian kam diese Wachsamkeit in diesem Moment lächerlich vor. Selbst eine ganze Kohorte kaiserlicher Soldaten hätte ihn im jetzigen Moment nicht schrecken können, gäbe es nur die Möglichkeit, sich vor der Begegnung mit ihnen auszuschlafen.

Abermals schreckte er aus seinem Dämmerzustand hoch, als Sariks Stimme, der neben ihm saß, an sein Gehör drang. Er unterhielt sich mit dem alten Benero, der ihm verschiedene harmlose Fragen über ihre Herkunft und ihr Ziel stellte. Mit seinem schläfrigen Verstand war es Dorian nahezu unmöglich, den genauen Sinn ihrer Unterredung zu erfassen. Er bekam aber mit, dass Sarik behauptete, sie wären alle- mit Hargfrieds Ausnahme- aus der Stadt Galdoria, und dass sie im Auftrag des kaiserlichen Gerichts einen Verbrecher verfolgen würden.

Dorian lachte innerlich über diese Ironie, bewunderte aber zugleich, mit welcher Überzeugungskraft Sarik dem alten Mann und seiner Familie diesen angeblichen Sachverhalt darlegte. Er benutzte dabei eine Menge wichtig und amtlich klingender Worte. Obwohl es für Dorian, der durch seine Diebestätigkeit ein bisschen Ahnung vom Vorgehen der kaiserlichen Gerichtsdiener hatte, wenig glaubwürdig klang, so hing die Familie Cinna doch an Sariks Lippen. Ihr Respekt vor ihnen als Gesandte des kaiserlichen Gerichts wuchs mit jedem bedeutungsvollen Wort aus seinem Mund.

Einen Moment ärgerte sich Dorian über die Kaltblütigkeit, mit der Sarik die Lügengeschichte diesen einfachen Menschen auftischte. Der Gedanke an das ihn erwartende Bett verscheuchte aber alle Skrupel aus seinem Verstand. Er schloss die Augen und sah sich bereits alle Glieder von sich strecken; für diese Wonne, so war er sich sicher, hätte er sich auch als Sohn des Kaiser Modestus ausgegeben.

Gerade kam das Gespräch von dem Kampf bei den Obstbäumen hin zu ihrer Begegnung mit dem Giganteninsekt im naheliegenden Wald, wie Dorian aufschnappte. Mit sachlichen Worten schilderte Sarik ihre Auseinandersetzung und wie sie dieses riesenhafte Tier, das laut Beneros Worten in der Vergangenheit schon öfters für Schrecken in ihrer Stadt gesorgt hatte, schließlich unschädlich gemacht hatten. Seine Frau und seine Schwiegertochter lauschten mit geweiteten Augen und völlig sprachlos, während Benero nicht müde wurde, ihre Tat zu loben.

„Das ist ganz prächtig, jawohl, ganz prächtig! Diesem Ungeheuer hätte ja schon längst der Garaus gemacht gehört, ja, ja! Aber die kaiserlichen Truppen, die haben sich nie darum geschert, schlimm ist das!“ rief er aus und schlug mit seiner faltigen Faust auf den Tisch. „Gedrückt haben sie sich, jawohl!“

„Sicher hattet Ihr Unannehmlichkeiten mit diesem Tier, und im Namen des Kaisers entschuldige ich mich dafür, dass erst jetzt eine Lösung erzielt wurde“, erwiderte Sarik mit sanfter, diplomatischer Stimme. „Aber Sie müssen auch verstehen, dass in Zeiten wie diesen jeder Mann der galdorianischen Armee gebraucht wird.“

„Ja, ja…“, gab Benero mit nun nicht mehr zornig erregter, sondern müder Stimme zurück. „Sie haben ja recht. Wenn dieser unheilvolle Krieg nur bald vorüber ist, ja, ja, ich muss oft an meinen Rothgar denken, und dass- dass ihm nur nichts passiert- “

Seine Stimme geriet ins Stocken. Die beiden Frauen senkten ihre Blicke und verbargen ihre Augen vor den Gästen. Betretene Stille hielt Einzug, und Dorian glaubte ein unterdrücktes Schluchzen aus der Kehle von Gauri Cinna zu hören.

„Ich versichere Ihnen, der Kaiser tut alles, um diesen Krieg baldestmöglich zu beenden“, sagte Sarik mit fester Stimme und brach die Stille damit. „Ihr Sohn wird unversehrt zurückkehren, daran habe ich keinen Zweifel.“

Dorian, dessen Müdigkeit für einen Moment zurückwich, beobachtete die Reaktion ihrer Gastgeber. Benero sah Sarik unverwandt an, und die Blicke seiner Gemahlin wie seiner Schwiegertochter hoben sich. Zenon und Gyriakus, die bis jetzt in einem harmlosen Streit gezankt hatten, horchten ebenfalls auf, als wäre etwas Bedeutsames geschehen. Das Gesicht des alten Mannes erhellte sich, ein hoffnungsvolles Lächeln warf sein Gesicht in Falten. Ebenso war es bei seiner Frau, und Gauri Cinna lief eine zaghafte Träne über das Gesicht. Dorian schämte und freute sich zugleich.

Er schämte sich, weil Sarik diese Leute für Narren hielt und haltlose Hoffnungen machte. Und er freute sich, dass diese Menschen, die in Angst um eine geliebte Person lebten, nun wieder einen Schimmer der Zuversicht hatten, an den sie sich klammern konnten. Sie wollten dieses haltlose Versprechen glauben, mit aller Macht, und Sarik, aus dessen gewandtem Mund sie alles glaubten, lieferte ihnen genau das, was sie sich tief in ihrem Herzen wünschten. Dorian schüttelte langsam den Kopf, sein Blick verschwamm, und abermals driftete er in das Reich zwischen Schlafen und Wachen ab, während die Stimmen um ihn herum wieder erklangen-

„Bist du auch ein großer Kämpfer?“ hörte er plötzlich eine kindliche Stimme, die ihn aus dem Halbschlaf riss. Er wandte sich um und sah das runde, rosige Gesicht eines der beiden Kinder. Das zweite drückte sich in den Rücken seines Brüderchens und lugte scheu hervor.

„Ich? Na ja…“, antwortete Dorian, der im Gegensatz zu Sarik zu müde war, um zu lügen. „Nicht wirklich. Wieso fragst du?“
 

„Du hast ein großes Schwert, also musst du ein großer Kämpfer sein“, sagte der geringfügig Größere von den beiden und nickte dabei mit dem Kopf. Sein kleinerer Bruder gluckste vergnügt bei dieser Feststellung, und Dorian lächelte müde zurück.

„Nun ja, das alleine macht es- “

„Zeig uns, wie man damit umgeht!“ platzte es aus dem Kleineren heraus, der ihn damit unterbrach und vorwitzig grinste. Sein Bruder klatschte vergnügt in die Hände, als wäre dies schon beschlossen. Dorian sah sich nach der Mutter der beiden um. Sie lauschte immer noch den ausweichenden Erläuterungen Sariks, und ihr bedrücktes Gesicht zeigte, dass sie in Gedanken bei ihrem Mann war, dem all ihr banges Hoffen galt.

„Das kann ich machen… aber erst zeigt ihr mir, wo wir heute schlafen werden“, sagte Dorian schließlich. „Sonst bin ich viiiel zu müde, mein Schwert auch nur aufzuheben.“

Wie auf Kommando umringten ihn die beiden. Der Größere von ihnen- er überlegte seinen Namen- ergriff seine Hand und zog ihn mit sich. Dorian folgte ihnen bereitwillig.
 

Der Größere- es war wohl Zenon- führte ihn an der Hand durchs Haus. Dorian sah an seinem runden, rosigen Gesicht, wie stolz es ihn machte, diesem in seinen Augen so großen Krieger das Haus zeigen zu können. Sein kleinerer Bruder, Gyriakus, lief vor ihnen her und wandte sich manchmal um, um ihnen ein glucksendes Lachen zu schenken. Die beiden waren glücklich, dachte Dorian, und dass, obwohl ihr Vater weit weg und vielleicht schon tot war.

Mit kindlichem Überschwang führten sie ihn durch die Küche, in die Vorratsräume, in eine kleine Werkstatt, und schließlich eine steile Treppe hinauf, die in den Bereich unter dem Dach führte. Überall verweilten sie dabei kurz, erklärten ihm die jeweiligen Räume, schrien dabei durcheinander, um dann lachend das nächste Ziel anzusteuern. So gelangten sie in den Schlafraum der Knechte.

Dorian bückte sich unter den massiven Balken, die das niedrige Dach stützten. Der Dielenboden war rissig, wie er im Licht einer einzelnen Glühdrahtlampe sah, und knirschte bei jedem Schritt. Spinnweben bewegten sich leicht bei ihrem Eintreten, und sein Blick glitt über eine Reihe von Lagern aus grob gezimmerten Holz. Beim Anblick der Decken und Polster wäre er um ein Haar an Ort und Stelle niedergesunken, um endlich seiner drängenden Müdigkeit nachzugeben, die mit Bleigewichten an seinen Augenlidern hing. Doch er nahm sich zusammen, um seinen übermütigen Gastgebern den Gefallen seiner Aufmerksamkeit zu machen.

„Hier werdet ihr schlafen, es ist unheimlich, aber schön warm, manchmal verstecken wir uns hier!“ sprudelte es aus Gyriakus hervor, während er die Reihe einfacher Lager entlang lief. Zenon ließ Dorians Hand los und verfolgte seinen Bruder. Die beiden rangelten quietschend, als würde sie die Anwesenheit ihres Gastes noch zusätzlich dazu aufstacheln. Schließlich riss sich Zenon von seinem Bruder los und zeigte Dorian jedes einzelne Bett.

„Hier schläft Aulus, und hier schläft Nephelo, und hier schläft Kleio, und hier…“, zählte er mit einer Gewissenhaftigkeit auf, die Dorian unwillkürlich lächeln ließ. Gyriakus, um seinen Raufgesellen beraubt, stellte sich vor Dorian und blickte ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an.

„Zeigst du uns jetzt, wie man mit einem Schwert kämpft?“ Der spielerische Ernst hinter diesen Worten machte Dorian nachdenklich; er setzte sich auf eines der Lager.

„Morgen, heute nicht mehr. Ich bin sehr müde, weißt du?“

Der kleine Junge machte ein trauriges Gesicht, schaute einen Moment zu Boden, um den Blick dann wieder auf Dorian zu richten. Er nickte, und die eben noch deutlich sichtbare Bekümmertheit wurde von einem unschuldigen Lächeln vertrieben.

„Na gut!“ sagte er, dann setzte er sich mit einer schwungvollen Bewegung neben Dorian und lachte vergnügt. Dorian sah, wie Zenon vor einem der Lager stand und über den Namen seines ehemaligen Inhabers nachgrübelte. Wieder musste er lächeln über die Ernsthaftigkeit, mit der der Junge diese sinnlose Tätigkeit durchführte.

„Euer Vater, Rothgar… wie lange ist er schon weg?“ fragte Dorian, dessen Gedanken zu dem Gespräch von vorhin zurückwanderten. Gyriakus runzelte bei dieser Frage die Stirn, und Dorian ahnte, wie es dahinter zu rumoren begann. Er begann zu vermuten, dass diese Frage für dieses noch kleine Kind zu abstrakt war.

„Seit der ersten Saat!“ verkündete er nach mehreren schweigenden Momenten.

„Aha… Und warum willst du, dass ich euch das Kämpfen zeige?“ fragte Dorian, der das Bedürfnis empfand, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Damit ich ein großer Kämpfer werde!“ gab der Junge schlagartig zur Antwort, sein Gesicht strahlte dabei. „Dann kann ich meinem Vater helfen, und er ist dann stolz auf mich!“

Dorian nickte langsam und hörte die begeisterten Worte dieses Kindes, das nicht wusste, von was es sprach. Er erinnerte sich, dass er mit einem Kind redete; ein Kind, das von den Zeiträumen des Erwachsenwerdens und von dem Zeitraum, den dieser Krieg womöglich noch dauern würde, keine Vorstellung hatte.

„Jetzt weiß ich es!“ verkündete Zenon vom anderen Ende des Raumes. Dorian und Gyriakus wandten sich unwillkürlich in seine Richtung. „Das ist das Bett von Platon!“ Dann lief er zu ihnen und setzte sich mit sichtbarem Respekt, aber ebenso mit unübersehbarer Neugier, auf das andere Ende des Betts, auf dem Dorian und Gyriakus saßen.

„Morgen zeigt er uns, wie man kämpft!“ rief der Kleinere der beiden Brüder aus. Zenons Gesicht strahlte auf.

„Wirklich?“ fragte er hoffnungsvoll. Dorian, dem jeden Moment die Augen zuzufallen drohten, nickte geduldig.

„Ja, aber vorher muss ich mich ausschlafen“, sagte er, unfähig, das Gähnen zu unterdrücken. Die beiden sprangen auf, als wäre dieses Versprechen durch ihre bloße Anwesenheit in Gefahr.

„Wir gehen jetzt, dann bis morgen!“ riefen sie im Chor, bevor sie die Treppe hinunterliefen. Dorian streckte sich mitsamt seiner Kleidung auf dem Lager aus. Das Lachen der Kinder verklang währenddessen im Treppenhaus.
 

Jeder Körperteil Dorians fühlte sich zentnerschwer an. Einen Moment lang wunderte er sich über die Unbeschwertheit, mit der diese Kinder ihr Geschick hinnahmen. Er entsann sich seiner eigenen Kindheit, damals, kurz nach dem Krieg, an die er nur wenige klare Erinnerungen hatte. Dabei fragte er sich, ob ihn der Zauber der Kindheit ebenso bewahrt hatte vor dem Schrecken, der damals über dem Land gelegen hatte. Er fragte sich auch, ob dieser Schrecken nun zurückkehren würde, bevor die Erschöpfung alle bewusst formulierten Gedanken zu einem Brei aus Erinnerungsfetzen gerinnen ließ.

Ein Rauschen lärmte in seinen Ohren, und die niedrige Decke schien sich auf ihn herabzusenken. Er schloss die Augen, woraufhin die Eindrücke dieses Tages in wirrer Reihenfolge an ihm vorbeiflogen. Am deutlichsten sah er die beiden Kinder vor sich, Zenon und Gyriakus. Er sah ihr unbefangenes Verhalten ihm gegenüber und den Eifer, den sie angesichts ihrer Fantasie vom Kriegertum entwickelten. Er sah auch sich selbst, in etwa ihrem Alter, und die Träume, die dieselben gewesen waren wie jene dieser Kinder. Jene Träume, deren Schilderung nun eine unangenehme Bedrückung in ihm hinterließ.

Ein weiterer Fetzen drängte sich in den Vordergrund. Es war der Soldat der Palastwache, der, von seinem Schwert durchbohrt, zu Boden sank. Die Erinnerung war undeutlich und an den Rändern ausgefranst, doch das von Todesangst erfüllte Gesicht war scharf und klar. Und er fragte sich, ob dieser Mann auch Kinder gehabt hatte, Kinder wie Zenon und Gyriakus. Er fragte sich einen kurzen Moment lang, ob es vielleicht tatsächlich ihr Vater gewesen war, und ob er jetzt sein Mörder war.

Sei nicht so dumm, tadelte er sich selbst, um diesen verstörenden Gedanken zu vertreiben. Du hattest keine Wahl, sagte er zu sich selbst. Du oder er, das war die Wahl, sagte er weiter, und du hast jedenfalls keine Kinder, die mit dir ihren Vater verlieren.

Aber es gibt andere Leute, die sich um mich sorgen, und um die ich mich kümmern muss, so ging der innere Zwist weiter. Dorian drehte sich um, zog die Beine an und vergrub sein Gesicht in dem Kissen, das nach Stroh und Staub roch. Das Rauschen in seinen Ohren wurde allmählich leiser, und die bleierne Schwere erfüllte nach und nach seinen ganzen Körper, um ihn in die Tiefe eines traumlosen Schlafs zu ziehen.
 

Dorian schreckte hoch. Sein Herz schlug heftig und schmerzhaft. Er atmete langsam und konzentriert, um das Rasen in seiner Brust zu beruhigen.

Es war dunkel um ihn herum; jemand musste das Licht ausgemacht haben. Mit seinen an die Dunkelheit angepassten Augen erkannte er die Umrisse mehrerer Personen in den Lagern links und rechts neben sich. Jähe Furcht stieg in ihm auf, bevor die Erinnerung an seine Begleiter zurückkehrte, die nun seinen Weg teilten.

Er erkannte Iria und auch Nadim, die in benachbarten Betten schliefen. Am Ende des Raumes lag eine weitere Person. Sie drehte sich regelmäßig von einer Seite auf die andere. Dorian hörte tonlose Worte aus ihrer Richtung. Von Zeit zu Zeit zuckte der Körper im Schlaf, als würde ihn eine unsichtbare Hand schütteln. An den langen Haaren, die über das schlafende Gesicht hingen, erkannte er in der Person Hargfried, den jungen Ritter aus dem Herzogtum Lichtenfels.

Dorian rieb sich das Gesicht. Trotz seiner Müdigkeit verspürte er einen Widerstand, sich wieder hinzulegen und in jenen Schlaf zurückzukehren, aus dem ihn dieser Alptraum gerissen hatte, an den mit dem Erwachen jede Erinnerung zerfallen war. Sein Mund war staubtrocken, woraufhin er beschloss, einen Krug Wasser zu suchen. Er stellte die Füße auf den Boden, und die Berührung seiner wunden Füße, die immer noch in den Stiefeln steckten, schmerzte ihn. Als er sie auszog, erfüllte im selben Moment spürbare Erleichterung seine Füße.

Ohne Schuhe ging er die Treppe hinab. Seine bloßen Füße verursachten keine Geräusche auf dem Holz, und so gelangte er in den Raum, in dem sie zuvor gespeist hatten. Eine einzelne Glühdrahtlampe brannte am Ende des Raums und schmerzte ihn einen Moment in seinen an die Dunkelheit angepassten Augen. Langsam stellten sie sich auf diese Lichtquelle ein, und schnell fand er einen Krug mit Wasser, aus dem er begierig trank.

Seufzend setzte er den Krug ab. Obwohl das Wasser schon etwas abgestanden war, fühlte es sich in seiner ausgetrockneten Kehle wie reinster Balsam an. Er genoss dieses Gefühl der Frische und horchte in die Stille, die über dem Haus lag. Alle seine Bewohner schliefen jetzt wohl, dachte er, bis ihm einfiel, dass er weder Sarik noch Brynja in der Dachkammer gesehen hatte. Einem spontanen Impuls folgend ging er zur Tür, hob den Riegel und trat ins Freie.

Die kalte Nachtluft fühlte sich prickelnd auf seinem erhitzten Gesicht an, und der Boden unter seinen bloßen Füßen kühlte seine Haut so angenehm, dass er beschloss, ein paar Schritte zu tun. Er wusste nicht, wie spät es war, ob er nur kurz geschlafen hatte, oder ob die Nacht sich schon ihrem Ende näherte. Aber die Luft vertrieb seine Müdigkeit auf so unerwartete Weise, dass es ihm nicht viel ausgemacht hätte, bald wieder aufzubrechen. Dorian wunderte sich über dieses seltsame Gefühl, das so ganz im Widerspruch zu seiner Erschöpfung stand, die es ihm kurze Zeit zuvor so schwer gemacht hatte, auch nur die Augen offen zu halten. Da drangen Stimmen an seine Ohren.

Er sah sich um, erblickte aber in der Nähe niemanden. Das Gatter mit den Hühnern war leer, auf dem Weg zu den anderen Häusern war keine Menschenseele, und unter den in Dunkelheit liegenden Bäumen abseits der Wirtschaft war ebenfalls nichts zu sehen. Er erinnerte sich an Brynja und Sarik, und er fragte sich, ob sie vielleicht schon ohne sie aufgebrochen waren, um das Maleficium zu suchen. Abermals hörte er flüsternde Stimmen, die zugleich etwas Strenges an sich hatten, als würden sie eine hitzige Diskussion führen. Er erkannte die Stimme von Sarik und schließlich auch die Richtung, aus der sie kam.

Seine bloßen Füße verursachten keinerlei Geräusch, als er in die Richtung, aus der er die Stimmen hörte, um das Haus schlich. An einer Mauerecke blieb er stehen, und nun erkannte er auch Brynjas Stimme.

„Das ist keine gute Idee; das ist viel zu riskant.“

Diese leisen, beinahe flüsternden Worte konnten nur von Brynja stammen, war er sich sicher. Obwohl sie ihre Stimme bewusst leise hielt, enthielt sie doch eine Schärfe und Angriffslust, die er schon am Tag zuvor bei ihr gehört hatte. Die zweite Stimme war wesentlich sanfter, hatte aber zugleich eine gewisse Festigkeit, welche die Gewohnheit, Befehle zu erteilen, verriet.

„Auf diese Weise brauchen wir viel zu lange. Wir haben keine Zeit zu verlieren“, hörte er Sarik von jenseits der Mauerecke sprechen. „Der Kaiser lässt sicher schon nach dem Dieb suchen, und wenn er es zurückbekommt, wird es diesmal nicht mehr so leicht, es zu entwenden.“

Dorian lehnte an der Mauerecke und hörte die beiden Stimmen, die nur wenige Schritte entfernt ihre Argumente wechselten. Einen Moment lang war er fast enttäuscht, die beiden hier vorzufinden. Er ertappte sich bei der insgeheimen Hoffnung, die beiden würden ohne sie aufbrechen, was Iria dann überzeugen könnte, diese Suche aufzugeben. Bevor er sich aber über diesen Gedanken wundern konnte, ging das Gespräch weiter, und so lauschte er gespannt.

„Die Bahnlinie Richtung Norden wird von kaiserlichen Truppen streng bewacht“, hörte er Brynja sagen. „Sie wird immer wieder von den Rebellen angegriffen. Dort droht uns also nicht nur von der Armee Gefahr, sondern auch von den Revolutionären“, sprach sie leise, aber deshalb nicht weniger eindringlich.

„Und gerade dort werden sie uns am wenigsten vermuten“, antwortete Sarik. „Es sind massive Flüchtlingsströme auf dieser Route unterwegs. Ideale Bedingungen, um unterzutauchen. Unter den vielen Flüchtlingen werden wir weniger auffallen, als wenn wir uns als einzelne Reisende durchs Land bewegen.“

Dorian sah nichts von den beiden, aber er glaubte die Anspannung auf Brynjas Gesicht förmlich zu hören, als sie mit seinen Einwänden rang. Es herrschte wieder Stille; erst einige Momente später hörte er erneut Sariks Stimme.

„Sie können aber auch ihren eigenen Weg antreten; ich werde Sie nicht hindern. Es besteht für mich kein Grund zur Feindschaft Ihnen gegenüber“, sagte Sarik in derselben sanften, diplomatischen Stimme, mit der er am Abend zuvor zu der Familie Cinna gesprochen hatte.

Wieder vergingen einige wortlose Momente, in denen nur der Wind, der über die Dächer strich, zu hören war. Dorian bildete sich ein, Brynjas Fingergelenke zu hören, die sich zu Fäusten anspannten. Doch er schrieb dies eher seiner Vorstellung zu, und schließlich hörte er sie wieder sprechen.

„Sie haben nicht unrecht. Es ist vielleicht wirklich die kleinere Gefahr. Für diese Jagd bleibe ich bei Ihnen und Ihrer… Gruppe. Angreifen können wir uns eh nicht, also können wir genauso gut gemeinsame Sache machen. Zumindest, bis wir das Maleficium gefunden haben. Danach kann ich für nichts garantieren.“

Dorian hörte ihre Schritte, die sich nun von Sarik entfernten. Sie näherten sich seiner Position, und mit einem Male wurde ihm bewusst, dass er sie ohne ihr Einverständnis belauschte; der Impuls zu fliehen erwachte in ihm.

„So soll es also sein“, hörte er Sarik sagen, und Brynjas Schritte stoppten. „Nur eines noch: Wir mögen den Träger des Maleficium nun jagen, aber wir müssen trotzdem auf der Hut bleiben. Niemand kennt die Macht des Maleficium genau, und ein Jäger kann sehr schnell zum Gejagten werden.“

Momente des Schweigens vergingen, und Dorian bildete sich ein, Sariks Lächeln hören zu können. Dann lief er lautlos auf ein Versteck zu. Im nächsten Moment hörte er Brynjas Schritte, die sich wieder in Bewegung setzten und an seinem Versteck, einem offenen Verschlag für Brennholz, vorbeibewegten. Ebenso wie Sariks, die den ihren ein paar Augenblicke später folgten.
 

Als er sicher war, dass beide das Haus betreten hatten, kam er aus dem Verschlag hervor. Er lauschte der Stille, die wieder herrschte, und atmete die frische Nachtluft ein. Seine Gedanken waren so klar wie seit dem gestrigen Tage nicht mehr; er wunderte sich darüber, dass sein Bedürfnis zu schlafen im Moment völlig weg war.

Dorian blickte zum Himmel empor, an dem einzelne Sterne zwischen den Wolken glänzten, und seine Gedanken nahmen den Faden auf, den sie vorher, als er auf das heimliche Gespräch der beiden aufmerksam geworden war, verloren hatte.
 

Er hatte in der Tiefe seiner Seele gehofft, Brynja und Sarik hätten sich in dieser Nacht einen Vorsprung verschafft, den Iria bei ihrer Suche nicht mehr aufholen würde können. Selbst mit den beiden würde es schwierig genug werden, wenngleich Dorian ahnte, dass er von den eigentlichen Gefahren dieser Suche noch gar nichts wusste. Einerseits war diese Ahnungslosigkeit beruhigend; andererseits wurde ihm klar, dass sie ohne die Begleitung dieser beiden erfahrenen Abenteurer praktisch keine Chance hatten, etwas zu finden, über das sie beinahe nichts wussten.

Er, der mehr durch Glück und die rätselhafte Beeinflussung seines Escutcheons bis jetzt überlebt hatte. Iria, die zwar ein mutiges Herz und den unverrückbaren Willen hatte, ihre Heimatstadt zu retten; die aber außer ihrem Dickkopf nichts vorweisen konnte, das die Soldaten des Kaisers beeindrucken würde. Und dieser Hargfried, von dem Dorian nicht sicher war, ob er in seinem schleichenden Wahnsinn nicht eine größere Gefahr war als die sie verfolgenden kaiserlichen Soldaten. Und natürlich Nadim, der zwar der Nachfahre großartiger Diebe war, dem aber stets bei der ersten Gelegenheit das Herz in die Hose rutschte.

Dorians Gedanken wanderten weiter, zurück in seine Heimatstadt, zu Gaubert, Nikodemus und Ludowig, von denen sie auf ihrer Flucht getrennt worden waren. Die Angst um seine Freunde, die bisher unter einer Schicht aus unmittelbaren Gefahren und der Sorge um grundlegende Bedürfnisse verborgen gewesen war, brach jäh hervor.

Er sah Gauberts Gesicht vor sich, das durch Gitterstäbe von ihm getrennt war, und auf dem das Ringen des Willens, seinem besten Freund zu helfen, und dem Instinkt, die eigene Haut zu retten, unübersehbar war. Und er sah sie davonlaufen in die Düsternis der Gewölbe, in denen sie jede Spur von ihnen verloren hatten.

Diese Angst schnürte ihm die Kehle zu, und es fröstelte ihn an der kühlen Nachtluft. Jede Müdigkeit war nun fortgeweht. Gleichzeitig reifte die Absicht in ihm, auf der Stelle aufzubrechen, nach Galdoria zurückzukehren und seine Freunde zu finden. Dieser reichlich unvernünftige Gedanke wurde übermächtig in ihm, und er lief rastlos vor dem Haus auf und ab, als könnte er auf diese Weise seine Füße beruhigen.

Dann fielen ihm Iria und Nadim ein, denen gegenüber er eine ähnliche Verantwortung spürte. Dazu gesellte sich die Furcht, sich den kaiserlichen Soldaten, die wahrscheinlich schon die ganze Stadt nach ihnen durchkämmten, zu stellen. Diese Angst flüsterte ihm ein, dass er allein nichts ausrichten könne, selbst mit seinem widersinnig funktionierenden Escutcheon nicht, der ihn sowieso im falschen Moment im Stich lassen würde.

Dorian schämte sich, und der Wille, seinen Freunden zur Hilfe zu eilen, prallte an einer Wand ab. Einer Wand aus Angst um sich selbst, um Iria und Nadim, die er auf ihrer Suche weder mit den auf sie lauernden Soldaten des Kaisers allein lassen wollte, und schon gar nicht mit den zwielichtigen Personen, die jetzt ihre Gruppe bildeten. Und daraus, mit leeren Händen in jene Stadt zurückzukehren, in der er vom Tod seiner Freunde erfahren würde, die ihre Flucht aus dem Kaiserpalast womöglich mit dem Leben bezahlt hatten.

Dazu kam noch die alles übersteigende Bangigkeit, seinem Meister Yannick unter die Augen zu treten, dessen Obdach er aus reinem Leichtsinn verlassen hatte, und das er dann wieder betreten würde müssen mit der Gewissheit, am Tod seiner Freunde und am Verschwinden von Iria und Nadim die Mitschuld zu tragen. Mehr als alle Prügel und Bestrafungen dieser Welt fürchtete er das Gesicht von Meister Yannick, der durch ihn ein weiteres Male seiner Familie beraubt worden war.

„Nein… das darf nicht passieren…“, flüsterte er und sank zu Boden. Er umklammerte seine Beine und kämpfte gegen das Schluchzen in seiner Brust. All diese Sorgen schlugen wie schäumende Wogen über ihm zusammen, bis er glaubte, in ihren Fluten zu ertrinken.
 

So saß er da, und die Zeit verging; sein Gram verebbte aber schließlich. Ein Wille reifte in ihm und schlug Wurzeln, die nichts würde ausreißen können. Von allen Möglichkeiten schien es ihm der einzige Ausweg, und die Idee wurde zur ehernen Überzeugung.

„Ich werde das Maleficium finden“, murmelte er, während er aufstand und sich die Nase abwischte. „Ich werde es finden, und damit werde ich Gaubert und Nikodemus und Ludowig retten, ja, das werde ich“, sagte er sich vor. „Ich werde sie retten, mit dem Maleficium“, hallte es in seinen wieder klaren Gedanken wieder, als er das Haus betrat.

Ich werde es finden, und damit Gaubert und die anderen retten, war sein letzter Gedanke, als er auf seiner Lagerstatt lag und an die Decke über ihm starrte. Dieser Gedanke wiederholte sich noch oft in seinem erschöpften Verstand, bis die Müdigkeit endgültig siegte und ihm den erlösenden Schlaf brachte.
 

Ein bezaubernder Ausblick über die Stadt Galdoria bot sich von den hohen Fenstern aus, die den Raum mit dem Licht dieses Frühlingstages überfluteten. Doch keiner der Anwesenden schenkte der Aussicht Beachtung.

Der Raum war wie alle Wohnräume des Palasts gediegen eingerichtet. Wandtäfelungen und Stuckarbeiten, mit Gold überzogene Glühdrahtlampen und edle Teppiche, alles hier war prachtvoll und erhaben. Wie auch die Uniformen der versammelten Generäle, die um eine tischförmige Landkarte im Kreis standen. Kaiser Modestus wirkte mit seiner einfachen Uniform, die jegliche Rang- oder Ehrenzeichen vermissen ließ, beinahe deplatziert in ihrer Mitte.

Gildenstern stand in einiger Entfernung an der Tür mit verschränkten Händen und wartete. Sein abwesender Blick ging zu Boden, während er den Ausführungen der Generäle lauschte, die ihrem Kaiser mit beschönigenden Worten den Kriegsverlauf erklärten. Dabei sprachen sie mit ihm wie mit jemanden, der nie in einer Armee gedient und somit keine Ahnung von all diesen Begriffen hatte. Dabei hatte Modestus wie alle seine Vorfahren in jungen Jahren das Offizierspatent erworben, bevor er in die Regierungsgeschäfte eingewiesen worden war.

Jan Gildenstern wartete geduldig. Alles, was die Generäle zu berichten hatten, hatte er schon in schonungsloserer Form gehört, und auch der Kaiser würde nicht so naiv sein, den Ernst der Lage nicht zu erkennen, war er sich sicher. Geduld war eine der Eigenschaften gewesen, mit denen Jan Gildenstern sich seinen Platz am kaiserlichen Hof erarbeitet hatte, und die wandte er nun wieder an.

Er war überzeugt, dass sein Anliegen wichtiger war als das verharmlosende Gerede der Generäle, die mit dem Kaiser auf eine Weise sprachen, als fürchteten sie seine Amtsgewalt nur insofern, als dass er den Ablauf ‚ihres‘ Krieges stören könnte. Die Trennung zwischen der Staatsgewalt und dem Oberbefehl der Armee bestand seit Generationen in Galdoria, doch Gildenstern hätte nicht gezögert, die Macht dieser in seinen Augen aufgeblasenen Ordensträger drastisch zu beschneiden.

Doch dazu ist noch Zeit, dachte er sich, und hörte mit an, wie der Kaiser sie nach Details des Frontverlaufs fragte, der auf der Karte in komplizierten Linienmustern eingezeichnet war. Die Hoffnung der Generäle, diese unnötig komplizierte Zeichnung möge ihn soweit beeindrucken, dass er es nicht mehr wagte, näheres Interesse zu äußern, wurde enttäuscht. Und so hörte Gildenstern, wie die Mitglieder des Generalstabes ihrem Herrscher ebenso ausweichende wie auch gefällige Auskünfte erteilten. Jan Gildenstern knirschte mit den Zähnen, was man seinem nach außen hin ruhigem Gesicht aber nicht ansah; seine Fassade, über die Jahre hin perfektioniert, ließ nichts von seinem Ärger durch.

„Nun gut, meine Herren. Den nächsten Bericht erwarte ich mit Ende der Woche. Sollte es überraschende Änderungen geben, so erwarte ich, unverzüglich davon unterrichtet zu werden“, ordnete der Kaiser an. Der Unwillen der Generäle, ihm eine nähere Auskunft, als sie es für nötig erachteten, zu erteilen, war wie bisher offensichtlich. Seine gefasste Miene sagte aber deutlich, dass er sich damit zufrieden gab. Einer nach dem anderen verließen sie das Konferenzzimmer und gingen an einem zu Boden blickenden Gildenstern vorbei.

Dieser deutete jedem von ihnen eine Verneigung an, die über seine Verachtung für sie kaum hinwegtäuschte. Sein Blick war immer noch zu Boden gerichtet, doch die von leisem Argwohn erfüllten Gesichter der Generäle entgingen ihm nicht. Endlich hatte der Letzte den Raum verlassen und schloss die Tür leise hinter sich.

Gildenstern setzte sich in Bewegung, ohne den Blick zu heben. So trat er neben Modestus an den großen Kartentisch, auf dem eine mehrere Schritte weite Ansicht des Reiches auf festes Pergament gedruckt war.

Modestus der Dritte stand über die Karte gebeugt. Seine in weiße Handschuhe gehüllten Hände lehnten auf dem Tischrand, und sein Blick war auf die Karte selbst geheftet. Sein Gesicht wirkte, als würde er sich immer noch mühen, die komplizierten Linienmuster auf der Karte zu enträtseln.

„Die Lage ist nicht besonders gut“, sagte Gildenstern schließlich, wie um ihm die Lösung dieses Rätsels zu präsentieren. „Aber Ihr wirkt erstaunlich gelassen angesichts dieser Tatsache, mit Verlaub, Euer Hoheit.“

Modestus atmete tief durch und begann mit einer Hand seinen Nacken zu reiben. Nun sah Gildenstern die Ringe um seine Augen deutlich, die von der letzten, durchwachten Nacht stammten. Gildenstern selbst hatte ebenfalls nach dem Diebstahl des Maleficium nicht mehr geschlafen, doch seine höfische Routine ließ keine seiner Mienen das zeigen.

„Und wenn ich in Rage käme, so würde dies auch nichts ändern“, erwiderte der Kaiser mit müder Stimme. Gildenstern verneigte sich kurz, als sähe er sich verpflichtet, dieser Aussage zuzustimmen.

„Da habt Ihr wohl recht. Wenngleich sich die Gründe zu echter Sorge mehren, Euer Hoheit. Auch wenn die Herren Generäle sich bemüht haben, die Lage positiv darzustellen… sie ist es nicht. Und die Entwendung des Maleficium konnte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt erfolgen.“

Bei diesen Worten schimmerte etwas der Ungehaltenheit durch, die Gildenstern so mühevoll verbarg. Modestus bedachte ihn mit einem sanften Blick, der in Gildenstern den Ärger noch mehr anfachte.

„Zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt… kannst du dich erinnern, mein lieber Gildenstern? ‚Seine Eroberung konnte zu keinem besseren Zeitpunkt stattfinden‘… das waren deine Worte.“

Modestus ließ den Kartentisch links liegen und ging auf die hohen Fenster zu, durch die die Sonne in einem steilen Winkel hereinschien. Das Licht traf sein Gesicht und hob all die Falten hervor, die ihn, ausgelöst durch die letzte schlaflose Nacht und all die anderen Sorgen, älter wirken ließen als er tatsächlich war. Aus Gildensterns Ausdruck sprach ungläubiges Staunen.

„Euer Hoheit, was… was wollt Ihr mir damit sagen?“

„Mein Vater…“, flüsterte Modestus kaum hörbar. „Er hätte gewusst, was zu tun ist.“ Gildenstern räusperte sich ob der unangenehmen Stille, die den Konferenzraum nun erfüllte. „Was ich sagen will…“, begann Modestus mit zögerlicher Stimme, die nur allmählich an Festigkeit gewann. „Das Maleficium ist im richtigen Moment zu uns gekommen, und es hat auch seinen Grund, warum es jetzt nicht mehr in unserem Besitz ist. Davon bin ich überzeugt.“

Auf Gildensterns Gesicht entgleisten die Züge endgültig. Fassungslos blickte er seinen Kaiser an, und als sich dieser zu ihm umwandte, gelang es ihm nur mit größter Anstrengung, die Fassade wieder zu errichten.

„Das Schicksal unseres Reiches ist in guten, vertrauenswürdigen Händen, daran habe ich nie gezweifelt“, begann Modestus von Neuem, ohne der Fassungslosigkeit seines engsten Beraters Beachtung zu schenken. „Auch wenn ich damals, im großen Krieg, noch ein Kind war, so habe ich schon damals das Vertrauen meines Vaters auf das Schicksal gespürt. Es lastet viel Verantwortung auf den Schultern eines souveränen Herrschers, das habe ich seit dem Tod meines Vaters nur zu gut erfahren…“ Für einen Moment verlor sich sein Blick in den Tiefen seiner Erinnerung, bevor er mit fester Stimme weitersprach. „Selbst ich kann das Geschehen in dieser Welt nur bis zu einem gewissen Maß beeinflussen. Mehr als Durchsetzungsvermögen und Geltung ist es das innere Vertrauen, das einem Herrscher Stärke gibt, daran zweifle ich nicht mehr.“

Gildenstern blinzelte verwirrt. Einen Moment lang rang er mit dem Impuls, etwas Unbedachtes zu sagen, oder seinen Kaiser zu fragen, ob er sich aufgrund des Schlafmangels überhaupt in der Lage sähe, klar zu denken. Schließlich gewann seine Weitsicht aber Oberhand.

„Was Ihr auf jeden Fall tun könnt, und was ich auch empfehlen würde“, begann Gildenstern in einem betont sanften, fast schon unterwürfigen Ton, was die Empörung hinter diesen Worten lindern sollte, „das wäre, die Anstrengungen für die Suche nach den Dieben zu verstärken. Die Wachen konnten im Stausee am Fuße des Festungsberges keine Spur vom Maleficium oder seinen Dieben entdecken, ich bin mir aber sicher, dass wir in den Landstrichen flussabwärts fündig werden.“

„Diese Diebe sind sicher ertrunken, und das Maleficium wird im weiteren Zuge der Suche bestimmt noch sichergestellt“, sagte Modestus beiläufig, als sei die Suche bereits erfolgreich zu Ende geführt. „Am Wichtigsten im Moment ist das Halten der Verteidigungslinie hinter der Grenze. Sollte der Dieb tatsächlich aus Mosarria stammen und noch am Leben sein, dann hat er keine Chance, durch diese Linie zu entkommen. So oder so, auf lange Sicht ist uns das Maleficium, und damit der Sieg, sicher.“

Modestus wandte sich wieder der Aussicht zu. Gildenstern ballte die auf dem Rücken verschränkten Hände zu Fäusten. Sein Blick bohrte sich in den Rücken des Kaisers, welcher die Aussicht mit großem Interesse bewunderte, als sei ihm heute zum ersten Mal aufgefallen, dass sein Palast einen solchen Ausblick bot. Für gewöhnlich war dies das Signal, dass er sich entfernen durfte und der Kaiser allein sein wollte, doch heute ignorierte Gildenstern dieses Signal mit aller Absicht.

„Euer ‚Vertrauen‘ in Ehren, Euer Hoheit…“, begann er mit gewählten Worten und betont gelassener Stimme, während er losging und an seine Seite trat, „…aber der Kriegsverlauf ist nicht das einzige Problem. Diese aufrührerische Untergrundgruppe ist verstärkt tätig in der letzten Zeit, und sollte die Nachricht vom Verlust des Maleficium an die Öffentlichkeit gelangen, dann könnten diese unverschämten Leute dies zu unserem Nachteil nutzen…“

Seine Worte nahmen einen beinahe verzweifelten Klang an, als sähe er die Hoffnung schwinden, dass sie seinen Kaiser überhaupt erreichten. Kaiser Modestus nickte langsam, und in seinen Gedanken sah er wohl jene Soldaten der Palastwache, denen man bei drakonischer Strafe verboten hatte, über den Diebstahl mit irgendjemand zu reden.

„Ach, diese Leute…“, erwiderte Modestus in einem Ton, als hätte ihn jemand an eine lang zurückliegende und nicht sonderlich bedeutungsvolle Sache erinnert. „Ich glaube, du überschätzt die Gefahr, die von diesen sogenannten ‚Revolutionären‘ ausgeht. Sicher ist das Volk zu Teilen unzufrieden, aber wen wundert das? Wir haben Krieg, all unsere Truppen werden in Grenznähe zusammengezogen, und so haben Gesindel und Verbrecher im Hinterland freiere Hand als sonst.“

Gildenstern lauschte seiner Argumentation und wartete auf den Rest. Doch es kam keiner, und sein Unglaube über die Worte seines Kaisers warf tiefe Falten auf seiner Stirn.

„Das ist also eure Ansicht… Euer Hoheit“, stellte er mit hörbarer Resignation fest. „Dann erlaubt mir wenigstens, die näheren Vorbereitungen für die mögliche Verlegung eures Amtssitzes vorzubereiten.“

Es war Gildenstern klar, dass dies längst geschehen war, und dass ihm, als Oberbefehlshaber der Palastwache, nicht einmal der Kaiser selbst in dieser Sache etwas in Abrede stellen konnte. Aber er sah ihn nun erwartungsvoll an, als ginge es nur darum, zumindest in dieser Hinsicht das Einverständnis seines Kaisers zu bekommen.

„Aber sicher, lieber Gildenstern. Ich weiß ja, dass dir meine Sicherheit wichtiger als dein eigenes Leben ist.“

Gildensterns Stirn glättete sich, er zog seine Nase kraus, und ein entschlossener Ausdruck zeigte sich in seinen hohlen, angespannten Wangen.

„Wichtiger als mein eigenes Leben, fürwahr“, erwiderte er, und ein düsterer Ton schwang in diesen Worten mit, den Modestus offenbar mit reiner Absicht überhörte.

„Und dafür bin ich dir dankbar, Gildenstern“, sagte Modestus und warf ihm einen rührseligen Blick zu. Dann schaute er wieder aus dem Fenster, und Gildenstern wandte sich ab, als es ihm nicht mehr gelang, seine Abscheu zu verschleiern. „Das wäre alles… und jetzt lass mich bitte allein. Ich muss über einiges nachdenken“, sagte er mit müder Stimme. Gildenstern, der über diese Aufforderung geradezu erleichtert war, verneigte sich.

„Wie ihr wünscht, Eure Hoheit.“

Daraufhin ging er mit weiten Schritten auf die Tür zu. Dort blieb er noch einmal stehen und blickte seinen Kaiser mit steinerner Miene an, um danach den Raum zu verlassen.
 

Gildensterns Schritte hallten lange nach in den hohen Korridoren des Palasts. Sein Mantel bewegte sich dabei lebhaft und gab immer wieder den Blick frei auf den Brustharnisch der Palastwache, den er darunter trug.

Die Palastwachen nahmen Haltung an und präsentierten ihre Lanzen, als er sie passierte. Gildenstern beantwortete diese Geste mit einem leichten Nicken. Die Gedanken hinter seinem betont gefassten Gesicht waren allerdings in Aufruhr.

Was für ein Schwächling, ging es ihm durch den Kopf, schlimmer noch als sein Vater. Die Last der Verantwortung, wie er sagte… sie ist wohl schon zu viel für ihn, dachte er, als er den Weg zu seinem Arbeitszimmer einschlug. Dabei passierte er weitere Wachen, die nach dem Vorfall mit den Dieben, die auf unerklärlich leichte Weise in den Palast hatten eindringen können, ergänzt worden waren.

An seinem Schreibtisch angekommen, machte er sich einige Notizen, während die erregten Gedanken immer noch hinter seiner Stirn tobten. Sie betrafen unter anderem die Wachaufstellung im Palast, auf die der Kaiser in letzter Zeit des Öfteren Einfluss genommen hatte, obwohl dies allein seine Aufgabe war. Was für ein Schwächling, dachte er abermals, als er den Tagesbefehl schrieb, der dem Kaiser die zukünftige Beeinflussung der Palastwache faktisch untersagte und nur noch ihm diese möglich machte.

Etliche Schriftstücke später legte Gildenstern den Füller weg und lehnte sich zurück. Sein Blick ging ins Leere, doch seine Gedanken waren hellwach, schmiedeten Pläne und trafen Maßnahmen für den Schlimmsten der Fälle. Dies alles unter dem Motto, das er vorhin Modestus gegenüber erwähnt hatte, welches dieser aber nicht ganz richtig erfasst hatte. Nicht sein eigenes Leben war Gildenstern wichtiger als das des Kaisers.

In Wahrheit war ihm NICHTS wichtiger als das Wohlergehen des galdorianischen Reiches, für das der engste Berater des Kaisers eine neue Gefahr, zusätzlich zu all den anderen, zu erkennen glaubte.
 

Hargfrieds Schwert zog eine Spur durch den Kies des Gehweges. Achtlos schleifte er es hinter sich her und gab auch sonst einen kuriosen Anblick mit seiner Erscheinung.

Seine Beine steckten bereits in der Wildlederhose, über der er auch schon die Beinschienen seiner Rüstung trug. Seine Füße aber waren nackt, und unter seinen bloßen Zehen knirschte der Kies. Sein Oberkörper war unbedeckt und zeigte sehnige Muskelstränge unter heller Haut.

So schlurfte er mit müden Schritten und gähnend durch die morgendliche Stadt Brimora. Die Sonne stand bereits ein gutes Stück über dem Horizont, was zeigte, wie lange sie geschlafen hatten. Die Einwohner dieser kleinen Stadt waren schon auf den Beinen und arbeiteten bereits auf ihren Äckern, in ihren Obstgärten, kümmerten sich um die Tiere ihrer Höfe oder führten Reparaturen an ihren Häusern aus.

Eine kleine Gruppe aus einer älteren Frau und einer jüngeren, scheinbar ihrer Tochter, sowie drei Kindern im Schlepptau, kam gerade von einem der Felder. Der Tratsch der beiden Frauen verstummte, ebenso wie das Gezanke und das Lachen der Kinder, als sie den seltsamen Neuankömmling in seiner ausgefallenen Aufmachung erblickten.

Hargfried hob ein müdes Auge und bedachte die kleine Gruppe mit einem schwer deutbaren Blick. Die beiden Frauen wichen seinem Blick aus und zogen ihre Kinder mit sich, die den halbnackten Mann mit großen Augen anstierten. Sie flüsterten ihnen so etwas wie „das macht man nicht“ zu, dann führten sie die widerstrebenden Kinder an den Händen weg. Hargfried blickte ihnen blinzelnd hinterher.

„So…“, seufzte er und streckte seine Arme, dass seine Schultergelenkte davon knirschten. Dabei hielt er sein riesenhaftes Schwert wie eine Weidenrute, als ob es für ihn gar kein Gewicht hatte. „Ich bin ja ganz eingerostet… und das darf nicht sein!“ Er verbreiterte seinen Stand, so dass der Kies unter seinen bloßen Füßen knirschte. „Ich muss bereit sein, wenn ich die Mörder meines Vaters stelle!“ rief er und blies sich dabei Haarsträhnen aus dem Gesicht.
 

Ein Bauer in Arbeitskleidung schlug Nägel durch Dachschindeln, die er am Dach seines Hauses ausbesserte. Dabei stand er auf einer Leiter, die ihm einen Ausblick über die kleine Stadt ermöglichte. Aufgeregtes Rufen drang an sein Gehör, und so wandte sich sein Blick von der Dachschindel ab, die er gerade annageln wollte. Er ließ den Hammer sinken und sah einen jungen Mann mit langen Haaren, der auf dem Hauptplatz der kleinen Stadt stand und ein riesiges Schwert mit eckigen Bewegungen schwang. Weit und breit waren keine Widersacher zu erkennen, denen diese Hiebe gelten konnten. Nur die Bewohner dieser Stadt, die zufällig vorbeigekommen waren, standen mit Respektsabstand um ihn im Kreis und verfolgten sein merkwürdiges Ritual.
 

Hargfried schwang sein Schwert in den genau vorgegebenen Bewegungsabläufen, die ihm von klein auf eingedrillt worden waren. Immer wieder holte er aus, stoppte die Waffe dann aber wieder abrupt. Bei jeder dieser Bewegungen zog sich ein stechender Schmerz durch seine Arme und pflanzte sich in seine Schultern fort.

Aber er biss die Zähne zusammen und spulte die Abfolge weiter ab. Und tatsächlich wurden seine Sehnen und Gelenke geschmeidig. Die Starre der Nacht fiel von ihnen ab, und er wurde wieder eins mit seiner Waffe. Die Bewegungen wurden immer flüssiger, so flüssig wie der Schweiß, der trotz der kühlen Morgenluft über seinen Oberkörper rann.
 

Dorian trat ins Freie und rieb sich seinen Bauch. Das Frühstück aus würzigem Brot und frischem Quark erfüllte seinen Magen und damit seinen ganzen Körper mit einem angenehmen Gefühl. Er sog die frische Luft tief ein und blinzelte in die Sonne, die schon weit über dem Horizont stand.

Vor kurzem erst war er erwacht, und das vor Nadim und Iria, die immer noch in ihren Betten lagen, sowie nach Brynja, Sarik und Hargfried, die das Haus schon verlassen hatten. Er erinnerte sich an die fröhlichen Gesichter ihrer Gastgeber, die ihnen mit großzügigen Gesten das Frühstück kredenzt hatten und dabei nicht müde wurden, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Beeindruckt von all der Gastfreundschaft marschierte er ohne Ziel los, einfach mit dem Gedanken, sich diese kleine Stadt anzusehen. Eine angenehme Leere herrschte in seinem Kopf, und er war gar nicht darüber betrübt, dass Nadim und Iria ihm zu dieser Stunde noch keine Gesellschaft leisteten. Am Rande seines Bewusstseins ahnte er, dass ihre Gegenwart Erinnerungen an den gestrigen Tag wachrufen würde. Er spürte, dass er im Moment auf diese Reminiszenz verzichten konnte, und so schob er den Gedanken beiseite.

Aus einem eigenartigen Impuls heraus hatte er gleich nach dem Frühstück damit begonnen, in der kleinen Werkstatt des Hauses mit Lederresten und Nieten seinen Gurt umzugestalten. Er hatte selbst nicht gleich geahnt, was genau daraus werden würde, doch diese Tätigkeit der Hände war eine willkommene Ablenkung gewesen, und am Ende hatte er eine verbesserte Halterung für das Schwert an seinem Gurt fertiggestellt.

Die Oberfläche des Metalls schimmerte in der Morgensonne, doch Dorian erinnerte sich an das erste Gefühl, als er diesen Gegenstand in der Ecke, in der er ihn am Tag zuvor abgestellt hatte, wieder erblickt hatte. Trotz der Schönheit, die dieser Gegenstand ausstrahlte, hatte er zugleich auch düstere Empfindungen in ihm wachgerufen. Und so hatte er ihn in die neugestaltete Halterung an seinem Gurt gesteckt, als würde dieser Gegenstand sein Gewissen weniger belasten, wenn er ihn mit sich herumtrug, anstatt ihn in der Ecke achtlos stehen zu lassen.

Ich muss mich auch an das Gewicht gewöhnen, sagte er sich vor, doch dieser Vorwand rief weitere bedrückende Empfindungen in ihm hervor. Gedanken an den vor ihnen liegenden Weg und an all das, was sie noch erwarten mochte, wurden lebendig, doch er schob sie schnell wieder beiseite. Daran kann ich später denken, dachte er sich, und setzte seinen Spaziergang durch das morgendliche Brimora fort.
 

Bald erregte eine Ansammlung von Leuten seine Aufmerksamkeit. Bewohner dieser kleinen Stadt, oft mit Werkzeug in den Händen sowie groben Schürzen und schmutzigen Stiefel am Leib, standen Spalier rund um den Platz in der Mitte der kleinen Stadt. Neugierig wie Dorian war, ging er auf die Ansammlung zu und mühte sich, über die Köpfe der Leute hinweg zu erkennen, was alle so faszinierte.

„Das ist nur unser verrückter Hargfried“, hörte er eine Stimme von oben. Verwirrt drehte er sich um, sah aber niemanden. Dann hob er den Blick und erkannte Brynja Peinhild, die am Rand eines der niedrigen Dächer stand. Auf ihrem Gesicht sah er ein schelmisches Lächeln, das so ganz im Widerspruch zu dem Eindruck stand, der sich ihm am Vortag von ihr geboten hatte.

„Tatsächlich? Und was macht er da?“ fragte Dorian, der abermals versuchte, über die Leute hinwegzusehen.

„Wohl das, was er jeden Morgen tut“, antwortete Brynja, die von ihrem Aussichtspunkt den Platz überblickte. „Und es scheint ihm egal zu sein, ob er Zuseher dabei hat oder nicht.“

Endlich gelang es Dorian, zwischen den Einwohnern hindurch einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Er sah den jungen Ritter, der seit gestern ein Teil ihres Gespanns war, wie dieser mit bloßem Oberkörper sein Schwert im Kreis schwang und dabei Rufe ausstieß, als gelte es, eine feindliche Armee zu vertreiben. Doch diese Attacken gegen imaginäre Gegner gefährdeten niemand, und keiner der Einwohner schien sich bedroht zu fühlen.

„Sie, äh… Brynja, sagten Sie nicht mal, dass Sie aus derselben Gegend wie- “ Als er wieder zur Dachkante empor sah, war sie verschwunden. Verwirrt suchte er die umliegenden Dächer mit Blicken ab, doch offenbar hatte sie ihr Talent, ebenso plötzlich aufzutauchen wie auch zu verschwinden, wieder angewandt. Und so wandte er sich erneut der Menschenmenge zu, die sich von diesem ungewohnten Ereignis von ihren morgendlichen Tätigkeiten ablenken ließ.

Ein Stück weiter erkannte Dorian Gyriakus und Zenon, die Söhne ihrer Gastgeberfamilie. Sie drängten sich an den Umstehenden vorbei und wurden von diesen auch bereitwillig durchgelassen. Dorian erinnerte sich an ihren Übermut am gestrigen Abend und ging lächelnd auf sie zu.

„He, ihr beiden!“

Im ersten Moment reagierten sie gar nicht. Zu sehr waren ihre Blicke von dem jungen Mann gefesselt, der mitten auf dem Dorfplatz, ohne sich um seine vielen Zuschauer zu kümmern, seine Turnübungen mit dem Schwert ausführte. Erst einige Momente später wurde der Kleinere von beiden auf Dorian aufmerksam, der hinter den anderen Zuschauer stand und ihnen winkte.

„Wir wollten dich heute Morgen wecken, aber Mutter hat es verboten“, riefen sie und umringten ihn fröhlich lachend. „Du hast uns versprochen, dass du uns das Kämpfen zeigst!“ rief der Größere von beiden. „Genau, mit dem Schwert und so!“ stimmte der Kleinere in die Forderung ein.

Dorian sah sich hilfesuchend um; dabei fühlte er den erwartungsvollen Blick der beiden Kinder auf sich. Guter Rat war nun teuer, denn angesichts seiner Waffe, mit der er ernste, ja tragische Ereignisse verband, verging ihm jede Lust, sie diesen unschuldigen Kindern vorzuführen. Sein Blick schweifte umher auf der Suche nach einem Rettungsring- und fand ihn in Form von Hargfried.

„Hört mir mal gut zu, ihr beiden“, begann er und ging dabei in die Hocke, um mit ihnen auf Augenhöhe sprechen zu können. „Seht ihr ihn da?“ Er deutete dabei auf Hargfried, der vor kurzem seine Morgengymnastik beendet hatte.

„Ja“, antworteten sie im Chor und nickten dabei eifrig. Dorian sah ihre vor Neugier glänzenden Gesichter. Einen Moment umfingen ihn Skrupel, ob er dies wirklich machten sollte. Dann versicherte er sich, dass er ja in der Nähe sein würde, und so fuhr er fort.

„Das ist der Ritter Hargfried von Lichtenfels, ein großartiger Kämpfer und mutiger Held! Er ist noch ein viel besserer Kämpfer als ich!“

„Wirklich?“ fragte der Größere von den Brüdern und blickte ihn dabei fragend an. Ihre Neugier war jedoch geweckt, das sah Dorian vor allem an seinem kleinen Bruder, dessen Augen bei der Erwähnung des Wortes ‚Ritter‘ zu leuchten begonnen hatten.

„Oh ja! Er hat auch schon bösartige Drachen und gefährliche Hexenmeister besiegt, etwas, das ich nie könnte!“

„Wirklich?“ fragte nun auch der Kleinere der Brüder, aber diesmal nicht aus Zweifel, sondern aus Aufregung, so etwas zu hören.

„Allerdings, und er ist auch viel besser darin, euch das Kämpfen beizubringen. Ihr müsst ihn nur höflich fragen.“

„Kann er uns zeigen, wie man Drachen und Hexenmeister besiegt?“ Auch diesmal war es weniger eine Frage, sondern mehr ein Zeichen kindlich überschwänglicher Freude, befeuert von den in ihrer Fantasie bereits ausgemalten Abenteuern.

„Möglicherweise“, erwiderte Dorian in einem geheimnisvollen Ton. Doch bevor er noch an der letzten Silbe angelangt war, waren die beiden Brüder schon auf dem Weg zu Hargfried.
 

Hargfried ließ sich die Sonne auf sein schweißüberströmtes Gesicht scheinen und lächelte mit einer Mischung aus Irrsinn und Zufriedenheit. Dorian wollte die beiden zurückhalten, doch es war bereits zu spät.
 

„Hallo, Herr, äh… Ritter“, begann Zenon mit zögerlicher Stimme. Sein Bruder versteckte sich hinter ihm, doch zugleich war ihm die Neugier anzusehen auf das, was dieser Fremde ihnen beibringen konnte. Hargfried drehte sich um. Das Schwert lag auf seiner Schulter, und aus seinen Augen strahlte jene Kombination aus Vorwitzigkeit und schleichendem Wahnsinn, der die ganze Zeit schon seine Begleiter mit Argwohn erfüllte.

„Was wollt ihr beide?“ fragte Hargfried nervös blinzelnd. Dorian trat hinter die beiden Brüder und sah, wie ein Lächeln auf seinen zuckenden Lippen erschien, das immer wieder von durchscheinender Grimmigkeit überschattet wurde. „Kennt ihr… kennt ihr etwa die Mörder meines Vaters?“ fragte er, als die beiden Jungen vor Bangigkeit schwiegen. Seine sich verziehende Miene hinter den Strähnen des langen Haars versetzte die beiden Bauernjungen endgültig so in Furcht, dass sie Hals über Kopf davonliefen. Dorian sah ihnen hinterher und atmete erleichtert aus, bevor er sich wieder zu Hargfried wandte.

„Ein tolles Schwert haben sie da“, sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel. Hargfried betrachtete seine Klinge und zuckte dabei mit den Schultern.

„Ja, das ist fürwahr eine großartige Waffe. Und sie wird das Blut der Mörder meines Vaters trinken“, versicherte er mit einem einnehmenden Lächeln. Dorian nickte langsam und hob dabei eine Augenbraue.

„Äh, ja… warum nicht. Was ich Sie übrigens schon fragen wollte: Im Wald gestern, als wir dieses riesige Vieh bekämpft haben, da…“ Dorian runzelte die Stirn, als würde er in seinen Erinnerungen kramen, „da hat ihre Waffe bei einem Angriff so aufgeleuchtet. Ich habe sowas noch nie gesehen, und deshalb interessiert mich, wie…“

Dorians Stimme kam ins Stocken, doch Hargfried beantwortete freimütig die Frage.

„Diesen speziellen Hieb habe ich von einem Meister der Kampfkunst erlernt“, sagte er und klopfte sich mit der linken Hand auf seinen Escutcheon. „Das und vieles andere auch… das ich den Mördern meines Vater spüren lassen werde!“ zischte er von neuem. Dorian hob beschwichtigend die Hände.

„Ja, ja, wir werden sie schon finden, diese, äh… Mörder.“

„Und ob wir das werden“, gab er grimmig zurück und wandte sich von ihm ab. Die Menschen um den Platz herum zerstreuten sich allmählich, als es nichts mehr zu sehen gab. Hargfried ging auf den Brunnen zu, der am Rande des Platzes stand.
 

Dorian stand mit verschränkten Armen da und beobachtete, wie Hargfried einen Eimer voll Wasser aus dem Brunnen heraufzog, um sich darin seinen verschwitzten Oberkörper zu waschen. Dann senkte er den Blick zu Boden und murmelte leise.

„Der ist ja wirklich verrückt…“

„Das ist auch nicht weiter verwunderlich.“

Dorian drehte sich erschrocken um und stellte fest, dass Sarik vor ihm stand. Einen Moment ärgerte er sich, dass dieser Mann sich so einfach an ihn, den großen Dieb, für den er sich hielt, hatte anschleichen können.

„Was meinen Sie?“ fragte er schnell, um den Anschein der Schreckhaftigkeit zu vertreiben.
 

Dorian sah Sariks Augen hinter der Brille, von denen eines grau und leer in eine unbestimmte Ferne starrte. Das andere glänzte bedächtig, war aber doch aufmerksam.

„Die Familie Lichtenfels ist eine sehr alte Dynastie“, begann er mit seiner sanften und auf merkwürdige Weise zugleich rauen Stimme zu erklären. „In vielen alten Adelsfamilien wird das Blut über Generationen hinweg nicht aufgefrischt. Das Wichtigste für diese Familien ist die Aufrechterhaltung der Linie… doch irgendwann wirkt sich das aus.“

Dorians Blick ging wieder zu Hargfried, dessen Gesicht und Haare vom Wasser aus dem Eimer tropften. So stand er da, hielt den Eimer mit beiden Händen und schien ein Zwiegespräch mit dem Spiegelbild darin begonnen zu haben.

„Sie meinen… diese Leute heiraten untereinander und so?“

Sarik nickte langsam. Dorian glaubte in seinem von Bartstoppeln bedeckten Gesicht so etwas wie Bedauern zu erkennen.

„Ja, auch das geschieht. Die Schäden sind oft erst Generationen später erkennbar. Schwachsinn ist einer der Flüche, mit denen viele alte Adelsfamilien zu kämpfen haben.“

Dorian spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Zum ersten Mal heute verlieh ihm das Schwert an seiner Seite ein Gefühl der Sicherheit und nicht der Scham.

„Kann er uns denn gefährlich werden?“

Sarik wandte sich wieder zu Dorian. Dieser glaubte, sein eigenes Spiegelbild in den Brillengläsern zu erkennen. Doch dann ging sein Blick durch das Glas hindurch und sah den spöttischen Ausdruck in seinem gesunden Auge.

„Genauso gefährlich, wie ich für euch sein kann“.

Dem amüsierten Ton darin entnahm Dorian, dass es nicht ernst gemeint war; zumindest klammerte er sich an diese Hoffnung.

„Sie werden doch nicht…?“ fragte Dorian aus einem Impuls heraus. Im nächsten Moment wurde ihm bewusst, wie naiv diese Frage war, und er schämte sich dessen.

„Mach dir keine Sorgen. Die Veränderung, die mit unseren Escutcheons geschehen ist, verhindert dies sowieso. Und was ihn betrifft…“ Hargfried hatte den Eimer nun von sich geschleudert. Der Eimer rollte noch ein Stück, und das Wasser versickerte im Kiesboden. Der junge Mann schimpfte mit wütenden Gesten in Richtung des Eimers, als hätte ihn eine Antwort seines Spiegelbildes in Rage versetzt. „Es ist wohl besser, wenn wir ihn im Blickfeld haben. Er redet zwar immer von irgendwelchen Mördern, aber ich bin mir sicher, er sucht genauso nach dem Maleficium wie wir. Da kann er ebenso gut an unserer Seite bleiben, sein Escutcheon weist ihm ohnehin den Weg.“

Sarik setzte sich in Bewegung, und Dorian folgte ihm. Etwas drängte ihn, die Nähe dieses Mannes zu suchen; vor allem Fragen, deren Beantwortung er sich am ehesten noch von ihm erwartete.

„Äh, warten Sie, Herr Metharom.“

„Nenn mich einfach Sarik.“

„Also gut, äh… Sarik. Was machen wir als nächstes?“

„Nicht weit von hier gibt es eine Haltestelle der nördlichen Bahnlinie. Der Kerl, der das Maleficium hat, ist in diese Richtung geflohen.“

Dorian beobachtete ihn und merkte, dass sein Blick immer wieder die Häuser um sie herum traf, um sich dann auf den Horizont zu richten. Selbst sein blindes Auge schien Dinge erfassen zu können; diesen Eindruck bekam Dorian zumindest.

„Was glauben Sie, wo er hin will?“

„Zuerst einmal weit weg. Es wundert mich ohnehin, dass noch keine Truppen des Kaisers hier aufgetaucht sind“, bemerkte Sarik lapidar. Dorian erschrak mit einem Male.

Die ganze Zeit hatte er diesen Gedanken verdrängt, und die friedliche Stimmung dieser beschaulichen Stadt hatte es ihm auch sehr leicht gemacht. Doch es war die Wahrheit. Sie waren auf der Flucht, und erst vorige Nacht hatten die Soldaten des Kaisers versucht, sie zu töten. Ein ganzer Schwall bedrückender Erinnerungen drohte seinen Verstand zu überfluten; nur mit Mühe konnte er ihn zurückhalten.

„Gestern, im Kaiserpalast… da habe ich mit einer Wache gekämpft“, brachte er mit stockender Stimme hervor. Doch er zwang sich dazu, da ihm keine andere Möglichkeit einfiel, auf ein anderes, weniger bedrückendes Thema umzulenken. „Ich habe sie besiegt, obwohl sie sicher viel stärker war als ich! Mein Escutcheon- “ Er betrachtete die Armschiene wie einen Fremdkörper, der ihm in diesem Moment unheimlich war. „Plötzlich haben drei Scheiben geleuchtet, obwohl sie vorher leer waren… war das auch das Maleficium?“

„Ja. Das Maleficium nimmt Einfluss auf die Escutcheons um sich herum, wenn es geöffnet wird. Und auch auf die Menschen…“

Sarik blieb abrupt stehen. Sie waren jetzt am Rande der Stadt, wo nur noch wenige Häuser standen, inmitten von Gärten mit blühenden Bäumen und Stauden, die sich an Holzgerüsten emporwanden. Dorian hörte das Summen der Insekten in den Baumkronen voller Blüten, und die Erinnerung an die Auseinandersetzung mit den riesigen Insekten am Tag zuvor stieg in ihm hoch. Doch diese Tiere hier waren friedlich und hatten nichts anderes im Sinn, als Nektar zu sammeln, wie er erleichtert feststellte.

„Heißt das, wir brauchen nun keinen Gegner mehr zu fürchten?“ fragte Dorian, der erneut seinen Escutcheon betrachtete.

„Ganz so einfach ist es nicht. Das Maleficium ist wahrscheinlich schon weit weg, und so wird der Einfluss unbeständig werden.“

„Na großartig…“

„Niemand sollte sich zu sehr auf seinen Escutcheon verlassen. Er ist immer nur so viel wert wie derjenige, der ihn trägt.“

„Aber ich dachte, der Escutcheon wäre das Wichtigste, wenn man ein großer Krieger werden will?“ fragte Dorian mit ratloser Miene.

Sarik schüttelte den Kopf, schloss seine Augen und lachte leise dabei. Danach seufzte er gedehnt, und die Erinnerung stand ihm klar vor Augen.

Er mochte etwa im selben Alter gewesen sein, vielleicht jünger, als dieser Bursche, der nun vor ihm stand, mit seinen großen Augen und all der Naivität, wie sie in diesem Alter unvermeidlich war; damals hatte er seinen ersten Escutcheon bekommen, lange nach Beginn seiner Ausbildung. Genauso blauäugig wie er damals war jetzt dieser Junge, vielleicht noch blauäugiger.

„Also gut“, begann Sarik lachend und zog seine Waffe. Dorian erschrak sichtlich und wich einen Schritt zurück. Sarik studierte seine Reaktion amüsiert. Offensichtlich war dieser Bursche auf Flucht trainiert, und nicht für Auseinandersetzungen. „Ich kann dir etwas beibringen; aber du musst es wollen. Sonst nützt es nichts.“

Auf dem Gesicht des halbwüchsigen Burschen zeichnete sich eine Begeisterung ab, die Sarik von jungen Schülern kannte, die ihr erstes Lehrjahr als Mitglied der Kriegerkaste begannen. Nur bei diesem war es noch ausgeprägter. Wohl auch deshalb, weil diese ‚Ehre‘ gänzlich unerwartet für ihn kam.

„Wü- würden sie das tun?“ stammelte Dorian fassungslos. Sein Gesicht strahlte vor Freude und Unglauben. Sarik nickte ihm zu.

„Ja, schon in meinem eigenen Interesse. Wir werden nicht immer so viel Glück haben wie im Kaiserpalast.“

„Glück? A-aber das war doch- “

„Reines Glück“, stellte Sarik fest. „Ich habe nicht damit gerechnet, euch nach der Begegnung in der Schatzkammer lebendig wiederzusehen. Also, fangen wir an?“

Dorian starrte ihn immer noch an, so fassungslos war er vor Freude. Dann, als der Sinn dieser Worte in seinen Verstand eingesickert war, zog er mit fahrigen Bewegungen sein Schwert. Sein Bemühen, angesichts seines neuen Lehrmeisters alles richtig zu machen, führte zu derart unbeholfenen Bewegungen, dass selbst Sarik lächeln musste und langsam den Kopf schüttelte.

Endlich hatte Dorian seine Waffe aus dem Gurt heraus gefuzelt, um sich dann mit breit auseinandergestellten Füßen und der Klinge in beiden Händen seinem neuen Lehrer zu stellen.

„Das kann ja was werden…“, murmelte Sarik so leise, dass Dorian es in seinem Eifer nicht hören konnte. Dann ging er auf ihn zu, und Dorian bekam große Augen. „Fangen wir mal damit an, wie man ein Schwert hält.“

„Mache ich es denn falsch?“ fragte Dorian mit banger Stimme.

„Es ist nicht falsch, aber es ist für DICH falsch“, antwortete Sarik und nahm ihm das Schwert aus der Hand. Dorian sah ihn verschämt an und zuckte mit den Schultern.

„Aber dieser Hargfried hat es auch so gemacht.“

„Dieser Hargfried hat auch eine Waffe, die drei Mal so schwer ist wie deine. Und er ist auch mindestens doppelt so kräftig wie du.“

„Tatsächlich?“ fragte Dorian und betastete seinen bloßen Oberarm, der in der Tat wesentlich schmaler war als der des jungen Ritters. „Dann brauche ich mehr Kraft…“, sagte er ernst.

„Unsinn! Du brauchst nicht mehr Kraft, du musst nur das hier einsetzen.“

Sarik und klopfte ihm mit den Fingerknöcheln auf den Scheitel.

„Aua!“

„Siehst du? Habe ich dafür etwa Kraft gebraucht?“ fragte Sarik lachend. Dorian rieb sich den Kopf und schaute finster, worauf Sarik wieder ernst wurde. „Kraft ist nur eine von vielen Eigenschaften, die einen Kämpfer ausmacht. Bei dir ist die Schnelligkeit viel ausgeprägter, und auch deine Beweglichkeit.“

Sarik klopfte ihm mit der flachen Seite seiner Klinge gegen die Innenseiten seiner Beine, woraufhin Dorian, mehr aus Schreck, fast hinfiel. „Die musst du nutzen. Denn ein Muskelberg wie Hargfried wird aus dir sowieso nicht mehr.“

„Und wie soll ich dann mein Schwert halten?“ erwiderte Dorian, aus dessen Stimme zu hören war, dass seine Geduld im Schwinden war und er sich den Unterricht in der Kampfkunst wesentlich spektakulärer vorgestellt hatte.

„Halte es so!“

Sarik packte seine rechte Hand, drückte den Schwertgriff hinein, und verdrehte seinen Arm nach hinten.

„Aua, das tut weh!“

„Stell dich nicht so an“, bellte Sarik und schob seine Beine mit dem Fuß in eine andere Position. „So, jetzt ist es richtig!“
 

Dorian blickte an sich herab. Er stand mit dem linken Fuß nach vorn und mit dem Rechten in die entgegengesetzte Richtung. Sein Oberkörper war leicht eingedreht, und die Waffe hielt er schräg nach hinten.

„So soll ich also kämpfen?“

Sarik nickte; auf seinem Gesicht zeigte sich ein zufriedener Ausdruck, wie von einem Bildhauer, der über das Ergebnis seiner Arbeit hocherfreut ist.

„Ja, genau so. Für deine schmächtige Statur ist dies die richtige Angriffsstellung.“

„Was heißt hier ‚schmächtig‘… “, flüsterte Dorian beleidigt. Doch er konnte es nicht bestreiten: Je länger er in dieser Position dastand, desto natürlicher und auch selbstverständlicher kam sie ihm vor.

„Und jetzt probieren wir das aus!“ rief Sarik. Im nächsten Moment öffnete sich der Kampfdom über ihnen.

Verwirrt betrachtete er das Muster blauglühender Linien, die sie wie ein rotierender Käfig aus Licht einschlossen. Gegenüber sah er Sarik, der seine Waffe zu Boden hielt und ihn abwartend anblickte. Ungeordnete Gedanken kreisten in Dorians aufgeregtem Verstand.

Wird er diese Gelegenheit nutzen, um sich meiner zu entledigen? fragte er sich in einem Moment der Angst. Doch dann kam ihm zu Erinnerung, dass ihre Escutcheons es verhinderten, dass sie einander töteten. Und außerdem würde es ihm eh nicht gelingen, dachte er dann und erinnerte sich an den Kampf im Kanal, bei dem er über die Macht von drei vollen Scheiben verfügen konnte. Er blickte auf seine Armschiene, woraufhin der zufriedene Ausdruck auf seinem Gesicht schwand.

Statt der drei Scheiben glühte jetzt nur eine einzelne in einem satten Grün.

„Das waren beim letzten Mal aber mehr!“

„Ich sagte dir doch, mit der Entfernung zum Maleficium nimmt die Unzuverlässigkeit zu. Und jetzt greif mich an!“ befahl er. Dorian schüttelte verwirrt den Kopf.

„Soll ich das wirklich?“

Das Gewicht der Waffe in seiner Hand schien immer mehr zu steigen.

„Klar“, erwiderte Sarik knapp und legte sich seine Waffe über die Schulter. Dorian fühlte den abschätzenden Blick durch seine Brille hindurch und nahm all seinen Mut zusammen. Dann lief er auf seinen Lehrmeister zu, der immer noch regungslos dastand, und holte im Laufen aus.
 

Sarik senkte einfach nur seine Waffe, die im Moment zuvor noch auf seiner Schulter lag, woraufhin Dorians Klinge an ihr abprallte.

„Greife richtig an, nicht so lauwarm.“

„Wenn ich das Schwert nach hinten halte, wie soll ich da richtig angreifen!“ rief Dorian ihm entgegen, nachdem sich diese Bewegung gänzlich ungewohnt und kraftlos für ihn angefühlt hatte.

„Gerade so kannst du entsprechend Wucht aufbauen!“ ermahnte ihn Sarik. „Du hast nicht genügend Kraft in deinen Armen, um das Schwert wie Hargfried zu führen. Also musst du mithilfe deiner Beweglichkeit ein entsprechendes Moment aufbauen. Versuch’s nochmal.“

Dorian atmete tief durch und lockerte seine Schultergelenke. Dann stürmte er erneut vor, und auch diesmal kostete es Sarik keine sichtbare Mühe, den Hieb abzuwehren.

„Schon besser! Denk daran, die Kraft kommt nicht aus den Armen, sondern aus der Bewegung! Setze deine Schnelligkeit ein, wo es dir an Wucht mangelt!“

Wieder und wieder ließ Sarik ihn gegen seine undurchdringliche Verteidigung anrennen, und nach einer Weile begann er, Gegenangriffe durchzuführen. Dabei führte er seine Waffe nur mit einer Hand, und das nur aus dem Handgelenk, wie es Dorian vorkam. Aber trotzdem erschütterten Dorian die Hiebe, die er dann parieren musste, bis ins Schultergelenk. Er begann zu erahnen, was es für einen Kontrahenten bedeuten musste, wenn dieser unscheinbare Mann mit seinem blinden Auge, der Brille und den teilweise schon grauen Haaren seine gesamte Kampfkraft in die Waagschale warf. Dieser Gedanke ließ ihn schlucken, und so konzentrierte er sich wieder auf die Aufgaben, die Sarik ihm stellte.
 

Dorian saß im Gras und betrachtete seine Waffe. Die Klinge war kaum schartig geworden, und das, obwohl sie für seine Begriffe hart gefochten hatten. Seine Arme schmerzten so sehr, dass er sich in diesem Moment zu keinem einzigen Schwertstreich mehr in der Lage sah. Auch seine Handgelenke fühlten sich an, als hätten sie Hiebe mit einer Weidenrute abbekommen.

„Das war schon ganz gut für den Anfang“, hörte er Sarik sagen, der sich von einem Strauch ein paar frühreife Beeren pflückte. „Vergiss nicht, dein Kapital im Kampf ist deine Beweglichkeit. Wenn du mit jemandem deine Kraft misst, wirst du wahrscheinlich unterliegen. Stattdessen musst du deine dir eigene Stärke einsetzen. Puh, sind die sauer“, sagte er und spuckte eine Beere aus.

„Hm…“, erwiderte Dorian leise. Alles, was Sarik ihm gesagt und beigebracht hatte, schwirrte in einem lärmenden Durcheinander durch seinen Kopf. Er versuchte, Ordnung in dieses Chaos zu bringen und sich das Wichtigste noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Doch es fiel ihm schwer; er begann zu ahnen, dass die Kampfkunst nicht so lustig und spannend war, wie er es sich bei den Übungskämpfen mit Gaubert immer ausgemalt hatte. Sondern stattdessen harte und langwierige Arbeit.

„Du musst auch entschlossener angreifen“, meinte Sarik, der sich neben ihn in die Wiese setzte. Er kaute nun an Beeren, die ein wenig reifer waren als die anderen, die er vorher erwischt hatte. Dorian machte ein betrübtes Gesicht.

„Mit den Ungeheuern gestern ist mir das leichter gefallen“, sagte er und betrachtete nachdenklich seine Waffe.

„Ob Ungeheuer oder Mensch, es läuft auf dasselbe hinaus. Wenn ein Kampf erst mal im Gange ist, kann nur einer übrigbleiben.“

„Ja, aber… einen Menschen töten, das kann doch nicht richtig sein“, sagte Dorian leise, den es dazu drängte, dieses Argument vorzubringen.

„Ich bin in meinem Leben schon oft auf Menschen getroffen, die diese Meinung nicht vertraten. Oder nicht vertreten konnten in ihrer Lage“, erwiderte Sarik seufzend. „Und das wird uns auf unserer Reise womöglich noch öfter passieren.“

„Aber ich meine… mit Ungeheuern ist das was anderes. Das sind Tiere, die können nicht… denken, oder was weiß ich. Aber Menschen…“

Dorians Stimme stockte abermals. Die Erinnerung an den Kampf mit der Palastwache und an seine Raserei, in der es ihm so leicht gefallen war, zu töten, kam in ihm hoch. Diese Erinnerung schnürte ihm die Kehle zu und verdarb ihm für den Moment die Lust auf jedes weitere Training.

„Ich bin schon bald zwanzig Jahre bei der mosarrianischen Armee“, begann Sarik in einem weichen Tonfall, der sich stark von seiner zuvor strengen Stimme als Lehrmeister unterschied. „Ich habe mit beiderlei oft genug zu tun gehabt. Mit Menschen, und mit Ungeheuern. Oder auch mit beidem in derselben Form. Nicht immer kann man den Unterschied so genau sagen“, meinte er und erhob sich. Dorian sah fragend zu ihm auf. „Eines kann ich mit Sicherheit sagen, und das ist das Schlimmste…“ Dorian erkannte einen traurigen Ausdruck um seine Augen und um sein stoppeliges Kinn. „Das Töten wird mit der Zeit immer einfacher.“

Dorian blickte ihm ungläubig hinterher und sah, wie er mehrere Schritte von ihm wegging. Er traute seinen Ohren immer noch nicht, hatte er sich doch eingebildet, bei den letzten Worten so etwas wie ein Zittern in seiner Stimme zu hören. Weniger als die Worte selbst war es die Betroffenheit, die hier durchgeschimmert hatte, die ihn erstaunte.

„Es ist bald Zeit“, war das Nächste, das er von Sarik hörte. Seine Stimme war nun wieder gefestigt und offenbarte keine Spur der Bitterkeit wie eben noch. Es war die Stimme eines altgedienten Offiziers, und als dieser blickte er auf eine Taschenuhr, die er an einer Kette unter seinem Umhang hervorgezogen hatte.

„Zeit? Wofür?“

„Ich habe mit unseren Gastgebern gesprochen. Der Zug, der einmal täglich hier in der Nähe hält, müsste bald da sein. Wir sollten ihn nicht verpassen.“

Sarik ging los, und Dorian stand von der Wiese auf. Er hängte sich sein Schwert in den Gurt, wobei es ihm wie ein Bleigewicht vorkam. Dann folgte er Sarik. Es kam ihm vor, als ginge dieser gebückt von einer unsichtbaren Last. Doch wenn er blinzelte, sah er, dass sein Rücken gerade und seine Haltung aufrecht waren. Dorian wunderte sich über diese Täuschung und begann, ein Lied zu pfeifen.
 

Während ihrer Rückkehr in die Stadt schwand Dorians Nachdenklichkeit nur langsam. Sein Blick traf die Bewohner dieser Siedlung, die zu ihren Äckern gingen oder von dort kamen. Ihre klaglosen Gesichter kündeten von den Anstrengungen des bäuerlichen Daseins, aber auch von der Zufriedenheit, mit der sie die getane Arbeit erfüllte. Sie wirkten nicht, als würde ihnen etwas fehlen, und nicht einmal dem Schatten des heraufziehenden Krieges gelang es, den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu trüben.

So kamen sie wieder zum Haus ihrer Gastgeber. Nadim und Iria saßen auf einer Bank vor dem Haus und beobachteten, wie die zwei Kinder des Hauses die Hühner in ihrem Pferch jagten. Das Geschnatter der Tiere erfüllte die Luft, Federn schwirrten umher. Dorians Blick ging wieder zurück zu den Bauern, die unverdrossen ihrer täglichen Wege gingen. Er wollte es zuerst nicht wahrhaben, aber er beneidete sie.

Jetzt, wo das Scheiden von diesem Ort nahe war, fühlte er eine Beklemmung in sich. Das friedliche Dasein in einer Stadt wie dieser erschien ihm nun erstrebenswerter als das Abenteuer, in das er hineingerutscht war. Und das viel bedrohlicher war als all seine Träume der Vergangenheit.

Ihre beiden Mitreisenden, die ihnen ein seltsames Schicksal beschert hatte, traten gerade aus dem Haus. Brynja unterhielt sich mit Gauri Cinna, der Mutter der beiden Kinder. Von weitem hörte er nicht, was sie sagten, aber Brynja schien etwas zu erklären, bei dem sie aufmerksam lauschten. Die Schwiegereltern folgten ihr ins Freie; auch ihre Gesichter machten den Eindruck, als ging es um etwas Wichtiges.

Hargfried ging hinter ihnen her, blieb aber an einer Stelle vor dem Haus stehen und stützte sich auf sein Schwert. Er trug wieder seinen kompletten Harnisch, und sein Blick ging in eine ungewisse Ferne. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war eine Mischung aus Verwegenheit und Einfältigkeit, was Dorian unwillkürlich zum Lächeln brachte. Dann wanderte seine Aufmerksamkeit zurück zu ihren Gastgebern und Brynja.

Iria und Nadim erhoben sich von der Bank und gingen ihnen entgegen. Dorian hörte nun Teile des Gesprächs zwischen Brynja und der Familie Cinna. Es ging dabei um den Verlauf des Krieges, wie er mitbekam. Dorian kannte diese Frau namens Brynja Peinhild erst seit zwei Tagen, aber es wunderte ihn, sie so zu erleben.

Sie sprach gewandt und vertrauenserweckend zu der jungen Frau und ihren Schwiegereltern. Dabei erwähnte sie manches Detail aus Nachrichten von jenseits der Grenze, und Dorian konnte nur vermuten, ob sie wahr waren oder nicht. Aber sie flößten der Familie Cinna sichtlich Mut ein, ihre besorgten Mienen lösten sich allmählich.

„Ich habe gehört, wir nehmen die Bahnlinie?“ waren Irias erste Worte, als sie auf Dorian zu kam.

„Ja, es scheint so…“, antwortete Dorian. Sein Blick trennte sich von Iria und ging wieder zu den Bauern, die gemessenen Schrittes zu ihrer Arbeit gingen oder von dort kamen. Sonst schenkte niemand ihrem Abschied Beachtung. Dorian vermutete, dass Sarik ihren Gastgebern das Versprechen abgenommen hatte, niemanden von ihren Taten wie der Rettung des alten Benero zu erzählen. Offenbar war dies erfolgt, denn sie verließen diesen Ort genauso, wie sie ihn betreten hatten: Als Fremde.

„Der da… bleibt der wirklich bei uns?“ fragte Nadim mit unsicherer Stimme und deutete mit dem Kinn auf Hargfried, der wie die Statue seiner Vorfahren im Hof stand, inmitten von Hühnerdreck und an die Wand gelehnten Mistgabeln.

„Ich schätze, ja.“

„Er macht mir Angst… er ist unheimlich“, sagte Nadim leise und tat einen Schritt auf Iria und Dorian zu, als erwarte er ihren Schutz.

„Es ist besser, wir haben ihn im Blickfeld“, entgegnete Dorian, der sich an Sariks Worte erinnerte. „Er sucht das Maleficium genauso wie wir, und sein Escutcheon weist ihm sowieso den Weg. Außerdem ist er harmlos, meint Sarik“, fügte er hinzu.

„Woher weißt du, dass er ebenfalls das Maleficium sucht?“ fragte Iria. Ihre Brauen senkten sich bei diesen Worten auf ihre Augen herab.

„Sarik hat das gesagt“, erwiderte Dorian und zuckte mit den Schultern.

„Dieser Sarik weiß wohl alles“, bemerkte Iria finster und ging los. Nach einigen Schritten blieb sie aber stehen, als sie sich gewahr wurde, dass sie den Weg gar nicht kannte. Nadim blieb zwischen ihr und Dorian stehen. Dabei wirkte er, als wäre er unschlüssig, wem er sich nun anschließen sollte.

„Nochmals vielen Dank für eure Gastfreundschaft“, hörte Dorian aus der Richtung, in der die Familie Cinna versammelt stand. Brynjas aufmunternde Worte hatten ihre Wirkung getan, alle drei machten nun einen optimistischeren Eindruck als noch zuvor. Die Kinder der Familie spielten nach wie vor im Hühnerpferch, und jetzt erst schenkten sie dem Ereignis Beachtung.
 

Benero, Felicia und Gauri Cinna winkten ihnen hinterher, ebenso wie Zenon und Gyriakus, die jetzt erst den Abschied der Reisenden realisierten.

Dorian drehte sich noch oft um, während sie sich dem Rand der Stadt näherten. Ihre Gastgeber verzichteten darauf, sie bis zur Bahnstation zu begleiten. Fast wirkte es für Dorian, ob sie auf diese Weise verhindern wollten, dass der Schatten der kommenden Ereignisse auf ihre Familie fallen konnte, als dessen Vorboten Dorian sich und seine Gruppe empfand. Dann wieder tadelte er sich selbst für diese Unterstellung, wenn er die dankbaren Gesichter ihrer Gastgeber hinter sich verschwinden sah.

Die beiden Kinder winkten lebhaft, um kurz darauf wieder in ihr Spiel überzugehen. Der Abschied fiel ihnen offensichtlich nicht schwer; Dorian ahnte, dass er und seine Begleiter bald nicht mehr als eine undeutliche Erinnerung für sie sein würden.

Sarik führte sie durch die kleine Stadt, deren Grundriss er offenbar bei ihren Gastgebern erfragt hatte. Sie kamen an weiteren kleinen Höfen vorbei, vor denen Misthaufen qualmten, Ziegen in kleinen Gehegen schrien und die allgegenwärtigen Windräder sich zum Antrieb der Maschinen auf den Dächern drehten. Schließlich kam ein Gebäude in Sicht, das offensichtlich nicht von den Menschen hier errichtet worden war.

Eine langgezogene Überdachung ruhte auf einem betonierten Fundament, und davor standen mehrere provisorisch erbaute Schuppen von zweckmäßiger Erscheinung. Schienenstränge liefen an der Überdachung vorbei. Dorian reckte den Hals nach ihrem Ursprung. Oft schon hatte er von der Bahnlinie gehört, die die beiden Reiche Mosarria und Galdoria verband. Nach den Geschichten war sie damals, nach dem letzten Krieg, als Zeichen des Friedens errichtet worden.

Er sah nun, dass sie jenseits der Stadt in einem tiefen Graben die grasbewachsene Ebene durchzog. Erst hier, am Rande der Stadt, kam sie aus den aufgeschütteten Gräben hervor und trat sichtbar ans Tageslicht. Auch sah er mehrere Fuhrwerke, die wohl für den Transport von landwirtschaftlichen Gütern zur Zugstation gedacht waren. Doch sie wirkten, als wären sie schon eine Weile nicht mehr benützt worden.
 

Dorian stand am Bahnsteig und betrachtete die zerbrochenen Gläser eines Signalmasts. Das rote Glas war trüb von Staub und Alter. Auch sonst boten sich wenig erhebende Anblicke, wie er feststellte.

Sarik und Brynja standen in einiger Entfernung und schienen etwas zu besprechen. Dorian erinnerte sich an ihr Zusammentreffen im Wald und an die Feindseligkeit, die bei dieser Begegnung in der Luft gehangen hatte. So verwunderte ihn nun die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden miteinander umgingen. Er selbst hatte immer noch ein mulmiges Gefühl in Brynjas Gegenwart, und das trotz der freundlichen Seite, die er heute an ihr erlebt hatte.

Hargfried stand ein gutes Stück abseits und blickte mit verschränkten Armen den Schienen entgegen, als würde er glauben, er könnte das Eintreffen des Zuges mit seinem entschlossenen Blick beschleunigen. Dorian schüttelte den Kopf und blickte wieder in Richtung der Stadt, an dessen Rand die Haltestation lag. Vereinzelt sah er Einwohner, doch keinen in der Nähe der Haltestation. Es wirkte auf ihn, als würden die Bewohner dieser Stadt diese Einrichtung, die von der kaiserlichen Verwaltung errichtet worden war, bewusst meiden. Dorian vermutete, dass dieser Bote des modernen Lebens von den Bewohnern dieses Orts als Bedrohung für ihr beschauliches Dasein empfunden wurde. Es war aber nur eine Vermutung, und so schob er diesen Gedanken beiseite und blickte sich nach Iria und Nadim um.

Die beiden standen an der Bahnsteigkante. Nadim balancierte auf der Kante entlang, und sein konzentriertes Gesicht verriet, dass ihn diese Tätigkeit soweit in Anspruch nahm, sodass er darüber ihre missliche Lage zu vergessen schien. Jedenfalls wirkte er in diesem Moment so gelöst wie seit Beginn ihrer Flucht nicht mehr.

Iria hingegen wirkte so zugeknöpft wie zuvor. Sie sah Nadim bei seiner Geschicklichkeitsübung zu. Dorian, dem die Zeit allmählich lang wurde, ging auf sie zu. Beim Näherkommen schien es ihm, dass ihr Blick durch Nadim in Wahrheit hindurchging. Er zögerte kurz, bevor er sie ansprach.

„Dass er halt nicht runterfällt, sonst überrollt ihn noch der Zug“, bemerkte Dorian zwinkernd mit einem Seitenblick zu Nadim. Dieser war zu beschäftigt, um diese Anspielung zu hören.

„Wenn überhaupt jemals ein Zug kommt“, sagte sie mit düsterer Miene.

„Er kommt bestimmt“, erwiderte Dorian und lachte sie aufmunternd an.

„Wir werden sehen.“

Dorians Mundwinkel wanderten nach unten, und er blickte sich um, als suche er etwas. Dann räusperte er sich, bevor er erneut zu sprechen begann, diesmal aber in einem ernsteren Tonfall.

„Warum tust du das alles?“ fragte er mit leiser Stimme. Iria blinzelte und konnte ihre Überraschung kaum verbergen.

„Was meinst du?“

Dorians Blick streifte für einen Moment Nadim, der um ein Haar von der Bahnsteigkante gekippt wäre, dann aber sein Gleichgewicht zurückerrang.

„Ich meine, alles eben. Du wolltest alleine in den Palast gehen. Wir haben es nicht geschafft, trotz der Hilfe von Gaubert und- “ Seine Stimme geriet ins Stocken, und er atmete tief durch. „ -trotz ihrer Hilfe haben wir es nicht geschafft. Jetzt ist die Armee des Kaisers hinter uns her, und wir reisen mit einem mosarrianischen Soldaten, einer Attentäterin und einem Verrückten durchs Land, auf der Suche nach wer weiß was. Ich frage mich nur, warum du das alles tust.“

Irias Augen verengten sich für einen Moment zu Schlitzen, bevor sie ihren Ausdruck veränderten. Die Schärfe und der Trotz wichen aus ihnen, und Dorian glaubte zu erkennen, dass sie sich mit Flüssigkeit füllten.

„Die Stadt, aus der wir kommen… Pielebott ist klein, verstehst du? Viel kleiner als Galdoria. Und auch nicht so schön“, sagte sie ganz leise, so dass nur Dorian sie hören konnte. Nadim wechselte die Richtung auf der Bahnsteigkante, und seine Zunge tastete durch seinen Mundwinkel, während er hochkonzentriert den Rückweg anging. „Aber es ist alles, was ich habe. Ich komme eigentlich aus Urakand, der Hauptstadt. An meine Eltern kann ich mich nicht erinnern, und ich kenne dort auch sonst niemanden.“ Wind kam auf und pfiff leise in der Überdachung des Bahnsteiges. Dorian fröstelte es plötzlich. „Pielebott ist meine Heimat, verstehst du? Mein Zuhause. Ich würde alles dafür tun.“

Irias Blick löste sich wieder von Dorian, um dem Zug entgegenzublicken, auf den sie warteten.

„Ich verstehe…“

„Ich werde alles tun, damit Pielebott wieder so wird, wie es war. Wie ich es kenne“, erzählte Iria weiter und schüttelte langsam den Kopf dabei. „Dafür muss dieser Krieg aufhören. Ich kann aber nichts gegen ihn tun, ich bin nur ein Mädchen… und Mädchen zählen nicht viel in einem Krieg.“

„Was willst du also tun?“

„Ich werde das Maleficium finden, und…“ Sie zögerte, und ein Ausdruck von Ratlosigkeit schimmerte auf ihren traurigen Zügen. „Ich weiß es noch nicht genau, aber man erzählt sich so viel von diesem Ding. Es kann sicher dafür sorgen, dass dieser dumme Krieg aufhört. Davon bin ich überzeugt“, sagte sie mit nun wieder fester Stimme. Dorian erwiderte nichts, sondern sah sie nur an. Iria wandte sich von ihm ab; er bemerkte nur, dass sie sich ins Gesicht griff. Dann hörte er sie tief durchatmen und ahnte zugleich die Energie, mit der sie an ihren Plan glaubte.

Nadim fiel von der Bahnsteigkante und kam einen Moment später lachend wieder zum Vorschein. Dorian schaute ihm nachdenklich zu, wie er diese sinnlose Unternehmung mit zuversichtlicher Miene erneut anging. Iria schaute weg, und er sah, wie ihr Haar in der hochstehenden Sonne glänzte. Er erinnerte sich an sein Zuhause, und es wurde ihm bewusst, dass er genauso wenig wie Iria wusste, ob es noch bestand. Ob es noch einen Ort gab, an den sie zurückkehren konnten. Einen Ort, den sie Heimat nennen konnten. Eine plötzliche Kälte machte sich in seinen Gedanken breit, woraufhin diese zu dem Ziel ihrer ganzen Reise wanderten, dem Maleficium.

Nun begann er zu verstehen, warum sie bereit war, alles zu riskieren. Und er begann ebenfalls zu glauben, dass es eine Möglichkeit gab, alles wieder in jenen Zustand zu versetzen, in dem Begriffe wie Heimat und Zuhause unantastbar waren. Dass eine Welt möglich war, in der kein Krieg die Schicksale der Menschen zerstören konnte, die unter seine unerbittlichen Räder kamen. Er dachte an Gaubert, an Ludowig und Nikodemus. Und an Meister Yannick, der jetzt vielleicht wieder allein war, so wie damals vor zwanzig Jahren, als er den Tod seiner Familie hatte betrauern müssen.

Dorian schämte sich. Er hatte Angst. Und er spürte die Verpflichtung, alles wieder in Ordnung zu bringen. Er fühlte sich wie ein Kind, das eine Vase zerbrochen hat und nun alles daran setzt, diese Tat ungeschehen zu machen. Nur, dass diese Vase eine ganze Welt voller Menschenleben war, für die er sich nun verantwortlich fühlte. Er blickte auf seinen Escutcheon, der auf ihm unverständliche Weise mit diesem Gegenstand namens Maleficium verbunden war und ihm den Weg weisen würde. Das ist kein Zufall, sagte er sich, und seine Zweifel schwanden. Er hatte nun keine Angst mehr, zumindest für diesen Moment nicht mehr. Dann erschrak er, als das gellende Pfeifen des sich nähernden Zuges in seinen Ohren klang.

Er blickte der einfahrenden Lok entgegen und ahnte, dass diese Momente ohne Furcht rar werden würden in der Zukunft.
 

Der Beton unter ihren Füßen begann ganz leicht zu zittern, und das Pfeifen der Lok erklang abermals. Alle liefen sie an die Bahnsteigkante heran und blickten der in einem feurigen Rot lackierten Lok entgegen. Ihr Stampfen und Zischen gewann an Stärke, bis sie schließlich in die Haltestelle einfuhr.

Dorian bekam große Augen. Schon oft hatte er im Bahnhof der Stadt Galdoria die ein und ausfahrenden Züge bewundert. Diese qualmenden und pfeifenden Kolosse waren ihm immer erschienen wie vorzeitliche Ungeheuer, und der Gedanke, sich von einem derartigen Ungetüm durchs Land transportieren zu lassen, hatte ihm einen Schauer über den Rücken gejagt. Den Traum, mit einem dieser eisernen Lindwürmer, die entlang ihrer metallenen Wege den Kontinent durchquerten, mitzufahren, hatte er seit langem gehegt, doch die Verwirklichung dieses Traums hatte er immer auf einen fernen Zeitpunkt verschoben. Doch heute war es soweit, und dieses Bewusstsein beschleunigte seinen Herzschlag.

Die in hellen Blautönen gestrichenen Waggons ratterten an ihnen vorbei, und schließlich kam der Zug zum Stehen. Der Zugvorsteher, ein älterer Mann in einer dunklen Uniform des kaiserlichen Verwaltungsapparates, stieg die Metallstufen herab und sah sich seufzend um.

Einerseits war er erleichtert, dass der größte Teil der Flüchtlinge den Zug schon kurz hinter der Grenze verlassen hatte und dass nur noch jene Flüchtlinge, die wohlhabend genug waren, um die Grenzkontrollen zu bestechen, den weiteren Weg ins Landesinnere antreten konnten. Andererseits war es ihm immer noch zuwider. Den Leuten, die von jenseits der Grenze kamen, aus jenen Gebieten, in welchen bereits gekämpft wurde, haftete eine unangenehme Ausstrahlung an, die seine Laune verdarb. Wie gehetzte Tiere saßen sie in den endlich nicht mehr so eng befüllten Waggons und klammerten sich an ihre Besitztümer, die sie hatten retten können.

Horatius Puck war seit vielen Jahren Zugvorsteher. Er war es schon vor dem großen Krieg gewesen, als das Schienennetz noch bedeutend kleiner war. Doch er konnte sich an die Gesichter der Flüchtenden erinnern, die damals schon eine säuerliche Ausstrahlung der Orientierungslosigkeit an sich gehabt hatten. Horatius Puck mochte keine Orientierungslosigkeit.

Der Zug, dem er vorstand, folgte seinen Schienen, und über den Weg gab es nie Zweifel. Sicher, manchmal hatte er Mitleid mit den Menschen, die ihre Heimat und einen großen Teil ihres Besitzes verloren hatten. Aber mussten sie unbedingt seinen Zug nehmen? Er machte ihnen ja keinen Vorwurf, dass sie vor diesem seltsamen Krieg flohen, doch er erinnerte sich an die Zeit vorher, als nur anständige, ihres Zieles bewusste Leute mit seinem Zug fuhren, und nicht diese… diese Leute aus Mosarria, wie er sie für sich selbst nannte.

Sollen sie doch sonstwie aus ihrem Land fliehen, das diesen Krieg begonnen hat, dachte er sich, als er den staubigen Bahnsteig dieses gottverlassenen Kaffs betrat. Seufzend blickte er auf seine Taschenuhr, um ja keine Sekunde zu spät das Signal zum Weiterfahren aus diesem Dorf zu geben, in dem fast nie jemand einstieg. Er verstand selbst nicht, warum dieses Loch namens Brimora eine Haltestelle bekommen hatte. Wahrscheinlich, um den Fortschritt in dieses Bauernkaff zu bringen, dachte er verächtlich, aber das ist bei diesen Hinterwäldlern ja doch vergebens. Er wollte schon nach seiner Pfeife langen, als sich ein Mann vor ihm aufbaute.

Sein Blick wanderte an ihm hoch. Der Mann trug einen rötlichen Umhang, hatte ein Schwert an der Seite hängen sowie eine Brille auf der Nase, hinter der er ein erblindetes Auge erkannte.

„Der Herr wünschen eine Fahrkarte zu erwerben?“ fragte Horatius Puck pflichtbewusst und hoffte insgeheim, die Antwort möge ablehnend sein. Es waren bereits genügend unangenehme Leute in seinem Zug, und dieser hier würde die Situation kaum verbessern.

„Nein“, war seine knappe Antwort. Horatius Puck, der Zugvorsteher, atmete auf. „Ich möchte nicht eine, ich möchte sechs Karten.“ Die Erleichterung blieb ihm nun in der Kehle stecken.

„Se-sechs Karten, der Herr?“ fragte Horatius Puck unsicher. Der Mann mit der Brille und dem blinden Auge nickte langsam.

„Ja. Für mich und meine Begleiter.“

Es kamen weitere Personen zum Vorschein, die Horatius Puck zuerst gar nicht beachtet hatte. Zwei Burschen und ein Mädchen, eine etwas ältere Frau und ein junger Mann in einem Ritterharnisch und einem ziemlich wirren Ausdruck im Gesicht.

„Se-sechs Personen, das- das macht dann… 240 Heller, der Herr. Aber- “

„Was aber?“ fragte Sarik, der das Geld aus einer Tasche zählte und dem verdutzten Zugvorsteher in die Hand drückte.

„Sie- Sie tragen Waffen bei sich, und das ist nur mit Ausnahmegenehmigung erlaubt…“

„Das hier ist meine Ausnahmegenehmigung“, erwiderte Sarik und steckte dem Zugvorsteher weitere Geldscheine in die Brusttasche seiner Uniform. Dann klopfte er ihm auf die Schulter und lächelte ihn kalt an, bevor er und seine sonderbaren Begleiter den Waggon betraten. Horatius Puck wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Als alle neuen Fahrgäste an Bord waren, blickte Horatius Puck sich verstohlen um, ob ihn jemand beobachtete. Dann tastete er nach den Geldscheinen in seiner Brusttasche und zählte sie mit zusammengekniffenen Augen. Schließlich steckte er sie eilig weg und gab das Pfeifsignal zum Weiterfahren.

Nun ja, dachte er, als er auf den losfahrenden Waggon aufsprang, viel schlimmer kann es ohnehin nicht werden in meinem Zug. Bei solch… ‚umgänglichen‘ Fahrgästen kann ich wohl ein Auge zudrücken.
 

Nadim Wenzelstein wandte sich nach Brimora um, wobei ihm die Vermutung kam, dass er diesen Ort noch vermissen würde. Kaum, dass er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, war er auch schon mit seinen Begleitern im Zug. Ein gellendes Pfeifen erklang, und die Waggons setzten sich ruckartig in Bewegung.

In einer Kolonne schoben sie sich durch die Waggons, bis sie zu einem freien Abteil kamen. Dorian, Iria und Sarik nahmen darin Platz. Brynja ging langsamen Schrittes weiter, ohne ein konkretes Ziel erkennen zu lassen. Hargfried blieb stehen, starrte in das Abteil, als erwarte ihn ein gähnender Abgrund dort, und ging dann eilig weiter. Nadim sah ihm hinterher und war erleichtert, endlich nicht mehr seine Gegenwart erfahren zu müssen.

Dann warf er ebenfalls einen Blick in das Abteil. In dem großen Fenster zog die Landschaft in einem sich allmählich erhöhenden Tempo vorbei. Die endlose, flache Graslandschaft versprach nicht gerade eine abwechslungsreiche Aussicht. Iria saß da, die Hände auf ihrem Schoss verschränkt, und wirkte gedanklich abwesend. Sarik blinzelte zeitweise hinter seiner Brille; seine Hände ließen aber keinen Moment die Waffe los, die er jetzt auf dem Schoss vor sich liegen hatte. Dorian kniete auf dem Sitz und presste sich die Nase am Fenster platt.

Auf die Gesellschaft dieses vorwitzigen Burschen oder dieses unheimlichen Mannes konnte Nadim gern verzichten, und Iria wirkte im Moment nicht wie jemand, der auf eine Unterhaltung aus war. So machte er sich auf, den Zug zu erkunden.
 

Nadim Wenzelstein schlenderte, die Hände in den Taschen und ein leises Lied auf den Lippen, durch die Waggons und betrachtete die Fahrgäste. Die Mehrzahl von ihnen trug bessere Kleidung, die von nicht geringem Wohlstand kündete. Im Gegensatz dazu standen ihre Gesichter, die allesamt seltsam bedrückt wirkten und von denen kaum eines lächelte. Doch Nadim achtete nicht weiter darauf; seiner Diebesnase stieg der Geruch von Wertgegenständen in die Nase.

Die Erinnerung an ihren kurzen Aufenthalt in der Stadt Galdoria kam ihm wieder, ebenso sein Versagen bei der Ausübung seines Handwerkes. Das Lied auf seinen Lippen verstummte, und er wurde traurig. So tragisch die Flucht aus Pielebott für sie war, insgeheim hatte er gehofft, in dieser neuen, wesentlich größeren Stadt zu jenen Diebesehren zu gelangen, die ihm seiner Meinung nach zustanden und die alle seine Vorfahren ausgezeichnet hatten.

Diese Stadt war doch nicht das Richtige, dachte er, um mein diebisches Genie zu entfalten. Aber wo dann? fragte er sich. Seine Gedanken wanderten wieder zu den großen Dieben seiner Ahnenreihe, besonders zu Johann Wenzelstein, dem vielleicht größten Dieb aller Zeiten. Sein Blut fließt in meinen Adern, dachte er sich, es braucht nur die richtige Gelegenheit, um eine ähnliche Karriere zu beginnen.

Seit Jahren träumte er davon, endlich in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten, doch immer war er an Kleinigkeiten gescheitert. Manchmal glaubte er, das Schicksal hätte sich gegen ihn verschworen, wenn erneut scheinbar einfache Diebstähle fehlschlugen. Aber irgendwo muss ich doch anfangen, dachte er sich und ließ den Blick über die Fahrgäste gleiten, die alle einen seltsam gehetzten Eindruck auf ihn machten. Ihre Hände klammerten sich um die Gepäckstücke, als hätte jemand gedroht, sie ihnen wegzunehmen. Ihre Blicke fielen bald aus den Fenstern, dann wieder auf ihre unmittelbar Mitreisenden, als bestünde die Gefahr, sie könnten sich in Luft auflösen. Nadims Augen verengten sich, Entschlossenheit entstand auf seinem Gesicht.

Hier ist der optimale Platz, ging ihm durch den Kopf, hier beweise ich mein Können, war er sich nun sicher. Seine Schritte verlangsamten sich, seine Hände gingen in Ausgangsposition, und sein Blick sondierte hellwach seine potentiellen Opfer. Sein Augenmerk tastete über Gepäckstücke und Taschen, über Mäntel und Jacken, deren ausgebeulte Säcke reiche Beute versprachen.

Bald wurde er fündig, und zwar in einem Pärchen, das alleine in einem Abteil saß. Er, ein dicklicher, pausbäckiger Mann mit schütterem Haar, schnarchte und saß, die Hände auf seinem runden Bauch, schlafend da. Seine Frau, eine hagere Person mit zerfurchten Gesichtszügen, saß ihm gegenüber. Ihr Kopf war zur Seite gelehnt, und ihr gleichmäßiger Atem verriet Nadim, dass sie ebenfalls schlief.

Mit einem hastigen Blick versicherte sich Nadim, dass der Gang leer war. Dann schob er so vorsichtig wie möglich die Abteiltür auf und schlich auf Zehenspitzen hinein. Seine Augen pendelten dabei zwischen der Frau, die sich manchmal im Schlaf bewegte, und der prall gefüllten Tasche des dicken Mannes hin und her. Nadims Zunge tastete in seinem Mundwinkel herum, als er seine Hand nach der Manteltasche seines Opfers ausstreckte.

Eine Unregelmäßigkeit im Schienenstrang erschütterte den Waggon, und Nadim wäre fast auf sein Opfer, über das er sich beugte, gefallen. Er kreiste mit den Armen und hätte beinahe einen Schrei getan, bevor er sein Gleichgewicht wieder fand. Nadim verdrehte die Augen und seufzte, bevor er seine Nerven zu einem neuen Versuch zusammennahm. Wieder tasteten seine Finger in die Manteltasche des schlafenden Mannes. Schweißperlen traten dabei auf Nadims Stirn. Endlich bekam er einen Gegenstand zu fassen, der sich nach weichem Leder außen sowie nach harten Geldstücken innen anfühlte.

„Ja!“ zischte Nadim, um sich darauf sofort den Mund zuzuhalten. Mit einem schnellen Blick versicherte er sich, dass die Frau ihm gegenüber noch schlief, dann begann er an der Börse zu ziehen. Langsam, ganz langsam kam sie zum Vorschein. Nadims Augen wurden immer größer und das Grinsen auf seinem Gesicht immer breiter, als er die Geldtasche zu Gesicht kam. Das Grinsen erstarb aber augenblicklich, als sich der Mann im Schlaf bewegte und seine klobige Hand genau auf Nadims legte.

„Verdammt!“ fluchte Nadim tonlos. Seine Miene gefror zu einem Ausdruck des Entsetzens, und der Schweiß auf seiner Stirn fühlte sich nun kalt an. „Das darf doch nicht wahr sein“, flüsterte er und zerrte an seiner Hand. Doch der Griff des Mannes wurde fester, und sein schnaubendes Schnarchen begleitete die Bewegung. Nadim, der sich bereits als erfolgreicher Dieb gesehen hatte, spürte Panik in sich aufsteigen. Einen Moment überlegte er, um Hilfe zu rufen, bis er sich wieder bewusst wurde, dass ja er der Dieb und diese Leute die Bestohlenen war.

Nadim erhöhte seine Anstrengungen, aber die Hand des unruhig schnarchenden Mannes schloss sich nur fester um die seine. Schließlich warf er alle Vorsicht über Bord und stemmte seinen Fuß gegen den voluminösen Wanst des Mannes. Nun zerrte er mit aller Kraft, und endlich löste sich seine Hand aus dem Griff des schlafenden Mannes. Nadim purzelte gegen die Abteiltür, und der dicke Mann drehte sich im Schlaf grunzend um. Mit einem nervösen Blick überzeugte Nadim sich, dass die Frau ebenfalls noch schlief, dann betrachtete er die wohlgefüllte Geldtasche in seiner Hand. Mit zitternden Händen und weichen Knie verließ er das Abteil und schob die Tür vorsichtig zu.
 

Sein Herz raste noch immer, als er ans Ende des Waggons und in den Nächsten ging. Das Gefühl des Triumphes erfüllte ihn soweit, dass er gar nicht mehr mit den Schritten eines möglichen Verfolgers rechnete. Das Gewicht der Geldtasche in seiner Hand ließ den erhofften Reichtum bereits vor seinen Augen funkeln, und er fühlte schon die stolzen Blicke seiner Vorfahren auf sich- als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte.

Es durchfuhr ihn wie ein Blitz; fast hätte er die Geldtasche fallen lassen. Nadim schreckte herum und atmete auf, als er das Gesicht von Iria erkannte.

„Mein Gott, hast du mich erschreckt“, ächzte er und verdrehte die Augen.

„Hast du etwa was gestohlen?“ fragte sie mit ernster Miene. Nadim zuckte mit den Schultern.

„Klar“, erwiderte er knapp und bemühte sich, seine nur langsam abflauende Nervosität zu verbergen. „Ich bin ja schließlich Dieb, genau wie du. Und vor allem bin ich ein Wenzelstein“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.

„Du bringst das jetzt sofort- “, sagte sie, stoppte aber mitten im Satz. Iria schaute über seine Schulter hinweg in den Gang des Waggons. Eine Reihe bewaffneter Soldaten drängte sich durch den Korridor und kam genau auf sie zu. Sie alle trugen die Rüstung des Kaiserreichs.

Nadim, der das Entsetzen auf Irias Gesicht richtig deutete, drehte sich um und erschrak ebenfalls. Iria zerrte ihn weg, wobei Nadim sich nur langsam aus seiner Erstarrung löste. Beide liefen den Gang hinab zur Tür des nächsten Waggons und zerrten wie verrückt an der Türschnalle. Diese rührte sich jedoch keinen Fußbreit.

„Geh auf, verdammte Tür!“ zischte Nadim panisch. Iria drehte sich um. Sie sah sich nun den ernsten Gesichtern der kaiserlichen Soldaten gegenüber.

„Tretet bitte zur Seite. Wir sind dienstlich unterwegs“, sagte der Erste von ihnen mit einer Stimme, die trotz ihrer Ruhe nichts an Befehlsgewalt missen ließ. Iria und Nadim drückten sich mit den Rücken an die Wand neben der Tür. Der vorderste der Soldaten öffnete die Tür, die nach außen aufschwang.

Die beiden sahen mit blassen Mienen, wie die Soldaten ihren Gang durch den Waggonübergang fortsetzten. Als der Letzte die Tür passiert hatte, rutschte Nadim die Wand hinunter und blieb auf seinem Hosenboden sitzen.

„Ich dachte, ich sterbe.“

Auch Iria atmete auf, und die Farbe kehrte nur langsam in ihr Gesicht zurück.

„Sie haben nicht uns gesucht“, sagte sie leise und schüttelte langsam den Kopf. Dann half sie Nadim hoch, der sich wie ein nasser Sack an sie hängte. „Und jetzt bringst du die Geldbörse zurück“, sagte sie mit wieder festerer Stimme.

„Wie bitte?“ fragte Nadim ungläubig. „Ist das dein Ernst? Hast du etwa unseren Beruf vergessen?“

„Nein, habe ich nicht. Aber das hier sind alles Flüchtlinge aus Mosarria, so wie wir. Sarik hat das gesagt“, fügte sie hinzu, und der leise Widerwille, Sariks Aussage anzuerkennen, klang darin mit.

„Tatsächlich? Die besitzen jedenfalls wesentlich mehr, als wir hatten, als wir in dieses Land kamen“, sagte er und hielt die wohlgefüllte Börse mit beiden Händen fest.

„Das spielt keine Rolle. Sie sind in derselben Lage wie wir, und solche Leute bestiehlt man nicht“, entgegnete sie und bekräftigte ihre Aussage damit. Nadim ließ den Kopf hängen und seufzte leise.

Ein heftiges Klopfen an der Abteiltür weckte das Pärchen. Die hagere Frau sah sich verwirrt um und der dickliche Mann schreckte hoch. Beide sahen einen jungen Burschen, der ganz weiß um die Nase war und mit zögerlichen Worten zu sprechen begann.

„Äh… Verzeihen sie die Störung, ich wollte ja warten, bis sie wach sind, aber- Jedenfalls, ich glaube, sie haben das hier verloren, als sie in das Abteil gegangen sind“, stammelte Nadim und hielt ihnen die Geldtasche hin.

„Ja, tatsächlich!“ rief der Ehemann und tastete in seine nunmehr leere Manteltasche. „Meine Tasche, unser ganzes Geld… Das ist ja ein ganz vortrefflicher Zufall, dass ein ehrlicher Bursche wie du sie findet!“

Iria, die hinter Nadim stand, lächelte ihn mit erhobener Augenbraue an. Nadim drehte sich kurz zu ihr um, um das Lächeln schief zu erwidern, dann wandte er sich wieder dem Mann zu, der seine Börse schon ergriffen hatte.

„Hier, das ist der Finderlohn, den habt ihr euch verdient“, sagte er lachend und hielt Nadim einen Geldschein vor die Nase. Dieser wurde ganz rot und nahm ihn an.

„Vielen Dank, das… das war doch selbstverständlich“, flüsterte er heiser und zog die Abteiltür wieder zu.

„Siehst du? In so einem Fall kann man auch ehrlich sein.“

„Na ja…“, erwiderte Nadim leise und drehte den Schein zwischen den Fingern. Dabei versuchte er sich vorzustellen, was wohl seine Vorfahren zu dieser Großherzigkeit sagen würden.
 

Vorhin hatte es sie alle Selbstbeherrschung gekostet, die sie aufbringen konnte, nicht gleich loszuschlagen. Doch das wäre unklug gewesen, dachte sich Brynja Peinhild, während sie durch die halbvollen Waggons schlenderte.

Als sie die Abteilung kaiserlicher Soldaten erblickt hatte, gab es genau zwei Möglichkeiten: die eine war die, die ihr Instinkt als Assassine ihr eingab. Schnell und tödlich zuschlagen, und, noch bevor der Gegner einen Gegenangriff organisieren kann, flüchten. Die andere und letztendlich Richtige war gewesen, mit aufrechter Miene und ausdrucklosem Gesicht an den Soldaten vorbeizugehen.

Letzeres hatte funktioniert, und ohnehin wäre die Flucht unter den beengten Verhältnissen des Zuges sehr schwierig gewesen. Doch diese Soldaten waren nicht auf der Suche nach ihnen, was sie immer noch wunderte. Aus den Gesprächen der Reisenden hatte sie entnommen, das die weitere Fahrt in ein von den Rebellen kontrolliertes Gebiet führen würde. Wobei natürlich kein offizielles Organ von Galdoria zugeben würde, dass diese Gruppierung, deren Ziel der Sturz des Kaisers war, ein ganzes Gebiet unter ihrer Kontrolle hatte. So war eher die Rede von ‚aufrührerischen Aktivitäten im Hinterland‘. Doch letztendlich kümmerten Brynja weder die Rebellen noch die Regierung des Kaisers.

Sie erreichte den letzten Waggon, und auch dieser war für ihre Begriffe zu voll. Auch hier sah sie keine Möglichkeit zu dem Rückzug, nach dem es sie verlangte. Erhobenen Hauptes schritt sie an den schwatzenden Menschen vorbei, die ihr Glück, dem Krieg entkommen zu sein, zerredeten.

Gram kochte in ihr hoch, und mit diesem die schmerzliche Erinnerung an jemanden, dem dies nicht gelungen war. Sie stieß die Tür am Ende des letzten Waggons auf und sog die kalte Fahrtluft ein. Mehrmals füllte sie ihre Lungen randvoll mit der angenehm kühlen Luft, in der Hoffnung, ihre in Aufruhr geratenen Gedanken dabei abzukühlen.

Bis sie merkte, dass sie nicht allein war.
 

Ein enttäuschtes Seufzen entkam ihr, als sie Hargfried sah, der am Geländer lehnte und sich so weit wie möglich hinauslehnte. Der Wind zerzauste seine Haare, und er lachte wie ein dummes Kind.

Brynja schüttelte schnaubend den Kopf und wollte schon wieder gehen, als er sie bemerkte.

„Ah, Fräulein Peinhild. Auch da?“ fragte er mit unschuldiger Stimme, was ihm zusammen mit dem riesigen Schwert auf seinem Rücken eine tragisch-komische Ausstrahlung verlieh.

„Ja. Ich wollte allein sein, aber das ist hier ja schwer möglich“, antwortete sie säuerlich. Hargfried nickte und lächelte dabei fröhlich.

„Ja, ja, das kenne ich. Ich bin nie allein, obwohl ich es gerne wäre.“ Dann senkte er die Brauen wie auch die Stimme und sah sich kurz um, bevor er weitersprach, als würde er ihr ein Geheimnis verraten. „Die Stimmen. In meinem Kopf. Sie sind immer da.“

„Aha“, erwiderte sie gedehnt und mit gerunzelter Stirn. „Übrigens… Sie erzählten von dem Überfall auf die Festung Lichtenfels. Ihr Vater wurde dabei ja… getötet.“ Sie beobachtete seine Reaktion, und genau an der Stelle, wo sie es erwartet hatte, zuckte sein Gesicht. „Diese Angreifer… können Sie sie vielleicht noch etwas näher beschreiben?“

Hargfried blinzelte, seine Miene nahm einen abwesenden Ausdruck an, und schließlich hörte sogar das Zucken in seinem Gesicht auf. Er wandte sich langsam von ihr ab und blickte über die grasbewachsene Ebene, die an ihnen vorüberzog.

„Das- Das kann ich leider nicht. Es, es ging so schnell… und es war furchtbar.“ Seine Stimme wurde brüchig. „Ich weiß nur eines: Ich werde sie finden… das Maleficium hat etwas damit zu tun, es wird mich zu ihnen führen… und dann werde ich sie töten.“ Seine Hände verkrampften sich so fest am Geländer, dass Brynja das Knirschen seiner Panzerhandschuhe hörte. „Und Sie? Warum sind Sie auf der Suche nach dem Maleficium?“ fragte er mit überraschend sanfter Stimme, die nach Resignation klang.

„Das ist eine persönliche Sache“, erwiderte sie harsch. Jeder andere Gesprächspartner hätte diesen giftigen Worten entnommen, dass sie nicht das geringste Interesse hatte, ihre Gedanken mit jemand zu teilen. Aber nicht so Hargfried, der sie nun mit einem zutraulichen Blick ansah.

„Sie haben auch jemanden verloren, stimmt’s?“

„Wie kommen Sie darauf?“ entgegnete sie brüsk und rang um ihre Fassung, die zu bröckeln begann.

„Die Stimmen, wissen Sie?“ antwortete Hargfried und tippte sich an die Schläfe. „Sie sagen mir einiges. Und sie können es spüren, wenn… wenn jemand verzweifelt ist.“ Seine Stimme nahm einen unsicheren Klang an, als ob er sich selbst über diese Behauptung wunderte.

Brynja ging auf das gegenüberliegende Geländer zu und stützte sich darauf. In der Ferne sah sie dichte Wälder stehen, deren aneinandergedrängte Baumkronen ähnlich undurchlässig waren wie ihre Gedanken. Der Gram und die Wut auf ihr Schicksal rangen mit dem Impuls, all das, was sie schon so lange mit sich herumschleppte, loszulassen und jemandem anzuvertrauen. Und wenn es nur dieser irrsinnige Mensch war, sie spürte, dass sie die Bitterkeit, die sie erfüllte, nicht mehr länger zurückhalten konnte.

„Mein Gefährte, Vikrama, er war ein Assassine, wie auch ich. Durch unsere Arbeit sahen wir uns oft Wochen oder Monate nicht. Aber wenn wir uns nach Aufträgen wieder trafen, war es immer… wunderschön.“

Welke Erinnerungen zogen an ihr vorbei, wie auch die Landschaft vor ihr, die ebenso unwiederbringlich in der Leere ihres Blickwinkels verschwand.

„Eines Tages sprach er ganz aufgeregt von einem neuen Auftrag, der uns reich machen könnte. Er war ganz begeistert und meinte, wenn er ihn erfolgreich ausführen könnte, dann bräuchten wir den Rest unseres Lebens nicht mehr dieser Tätigkeit nachgehen.“

Zuerst nur zäh, dann immer leichter flossen die Worte aus ihr, und sie spürte augenblicklich die einsetzende Entlastung. Den Gedanken, dass ihr ein verrückter junger Mann zuhörte, verdrängte sie vollständig, und es war ihr, als würde ihr nur der Wind lauschen, der ihr durchs Haar fuhr.

„Vikrama wollte mir keine Einzelheiten verraten, er war dagegen, dass ich ihn begleitete. Er war wohl besorgt und wollte mich dieser Gefahr nicht aussetzen… als ob er es geahnt hätte.“

Sie ballte eine Faust, gleichzeitig senkte sich ihre Stimme. Die schönen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit ihrem Gefährten wurden von den Gedanken an die Urheber all dieses Unheils getrübt, und der Schatten der Rachsucht legte sich wieder über ihr Herz.

„Er wollte mir seine Auftraggeber damals nicht verraten, aber es war nicht schwer herauszufinden. Sie haben sich aus der Verantwortung gestohlen, diese Feiglinge. Ein einfacher Brief war alles, was ich bekam, als der Zeitpunkt seiner geplanten Rückkehr längst verstrichen war. Das werde ich nie verzeihen“, zischte sie und biss die Zähne zusammen. Dann drehte sie sich um und erschrak beinahe, als sie sich der Gegenwart von Hargfried wieder bewusst wurde. Dieser stand mit großen Augen vor ihr und lauschte gebannt.

„Ich weiß zwar nicht die Namen seiner Auftraggeber, aber ich weiß, wo und wie ich sie am schlimmsten treffen kann“, sagte sie mit grimmiger Miene. „Das Einzige, das ich mit Sicherheit weiß, ist, dass es um das Maleficium ging. Mehr hat mir Vikrama damals nicht verraten, aber sie werden büßen dafür.“ Sie sprach mit nunmehr schwacher Stimme, als hätte sie das Verlangen, das die ganze Zeit in ihr nach Vergeltung schrie, aller Energie beraubt.

„Das ist… schrecklich!“ sagte Hargfried nach kurzem Überlegen, als müsste er erst seine ihm selbst fremd gewordenen Empfindungen ordnen. „Also wollen Sie auch Rache.“ Brynja, die ihr Anliegen nicht auf eine Stufe mit dem Wahn dieses in ihren Augen Irren stellen wollte, wandte sich ab, statt zu antworten. „Ich kann Ihnen aber ein Versprechen geben, als Bürgerin von unserem schönen Herzogtum“, sprach er weiter, ohne ihrer ablehnenden Reaktion Beachtung zu schenken. „Wenn ich die Mörder meines Vaters mithilfe des Maleficium gestellt habe, dann überlasse ich es Ihnen gerne für ihre eigenen Zwecke“, versicherte er mit treuherzigem Blick.

Brynjas Miene wurde fest, ihre Haltung straffte sich. Ein finster überlegener Ausdruck schlich sich wieder auf ihr Gesicht. Er zeigte, dass sie der Umstand, wegen der Veränderung ihrer Escutcheons keinen ihrer Begleiter in einem Kampf töten zu können, nicht daran hinderte, dunkle Pläne zu schmieden. Ihre Brauen senkten sich über ihre Augen, und ein kaltes Lächeln schimmerte auf ihren Lippen.

„Wie freundlich von Ihnen. Ich werde bei Gelegenheit darauf zurückkommen.“

Ihre Stimme besaß nun wieder all die lauernde Bedrohlichkeit, die ihr sonst immer anhaftete. Dann verließ sie das Waggonende und ließ einen einfältig grinsenden Hargfried zurück.
 

Für einige Zeit zog die vorbeiziehende Landschaft Dorian völlig in den Bann; er konnte sich kaum lösen vom Fenster ihres Abteils. Das Land breitete sich vor ihm aus und glitt mit einer Leichtigkeit vorüber, wie er es nur aus real wirkenden Träumen kannte.

Irgendwann sank er auf die Sitzbank zurück und fühlte sich gesättigt von all den Eindrücken. Zufrieden blickte er sich um und stellte fest, dass außer Sarik niemand sonst von ihrer kleinen Schicksalsgemeinschaft in dem Abteil war. Er sah, dass Sarik die Augen geschlossen hielt. Seine Hände ruhten auf dem Schwert, das quer auf seinem Schoss lag. Dorian betrachtete ihn eine Weile, doch irgendwann drifteten seine Gedanken ab, und im Geiste sah er das Maleficium wieder vor sich.

Dabei rief er sich jenes Ereignis in Erinnerung, das er bis jetzt verdrängt hatte. Zuerst hatten ihn die Gefahren ihrer Flucht vollkommen ausgefüllt, später die einsetzende Erschöpfung und dann die Freude, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Jetzt, wo ihn weder unmittelbare Gefahr noch lähmende Ermattung beeinträchtigte, gelang es ihm, sich jene Nacht in Erinnerung zu rufen, die sein Leben verändert hatte.

Nun sah er die Schatzkammer unter dem Kaiserpalast wieder vor sich, sowie seine Begleiter zu dem damaligen Zeitpunkt, Gaubert, Nikodemus, Ludowig, dazu Iria und Nadim, an seiner Seite. Er sah auch die Gitterstäbe, die ihre Wege voneinander trennten, und jene geheimnisvolle Person, die ihnen allen zuvorgekommen war. Dorian hatte wieder vor Augen, wie die nur undeutlich erkennbare Person das Maleficium öffnete. Die geisterhaften Erscheinungen, die diesem Gegenstand entflohen, als wären sie zu lange in diesem hinein gebannt gewesen, huschten wie Spukgestalten aus einem Alptraum an seinem inneren Auge vorbei. Bald wurde ihm dies selbst in der Erinnerung unerträglich, und so konzentrierte er sich auf eine andere Ungereimtheit, die ihm damals ganz am Rande seines von Panik erfüllten Verstands aufgefallen war.

„Sarik? Schlafen Sie?“ fragte er vorsichtig. Der Mann ihm gegenüber hob langsam und kontrolliert die Augenlider, und Dorian zweifelte nicht mehr daran, dass er die ganze Zeit wach gewesen war. „Ich- ich möchte Sie was fragen. Wegen dem Maleficium.“ Unwillkürlich senkte Dorian die Stimme bei dem Wort; es wunderte ihn selbst, wie schwer ihm das Aussprechen fiel.

„Allzu viel weiß ich nicht darüber. Was möchtest du denn wissen?“ fragte ihn Sarik mit sanfter, fast schon besorgter Stimme.

„Na ja, damals, als dieser… wer immer es war, das Maleficium geöffnet hat, da- “ Dorian kratzte sich am Kopf und machte ein verlegenes Gesicht. Er rang mit den Worten, die nur zögernd über seine Lippen kamen. „Sie wissen ja, was dann geschah, dass unsere Escutcheons dabei verhext wurden. Ich musste aber gerade daran denken, dass uns eigentlich nicht viel passiert ist, während die Soldaten, die ja auch in der Nähe waren… ziemlich tot wirkten. Wenn sie es denn waren.“

Dorian schluckte bei diesen Worten und rang sichtlich mit der unangenehmen Erinnerung. Sarik sah ihn einen Moment an, bevor er den Blick auf die Aussicht, die das Fenster bot, richtete.

„Das Maleficium kann, richtig angewandt, eine mächtige Waffe auf dem Schlachtfeld sein. Man darf die Kraft, die ihm innewohnt, aber nie unterschätzen“, erklärte er mit nachdenklicher Stimme. „Dieser Tor, der seine Hände daran gelegt hat… Er hat diesen Fehler wohl gemacht.“ Sein Blick traf erneut Dorian; offenbar sah er ihm die Ungeduld an, mit der er auf eine mögliche Antwort brannte. „Warum wir davongekommen sind, während die Wachen… Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass das Maleficium vieles vollbringen kann für seinen Anwender, es aber auch vermag, Verderben über seine Umwelt zu bringen.“

„Ja, mag sein…“, erwiderte Dorian, der mit dieser Antwort nicht besonders zufrieden war. „Aber was ist dieses Ding nun eigentlich?“

Sarik zog seine Waffe an sich heran und schlug ein Bein über das andere. Dann begann er in aller Ruhe zu erzählen.

„Hast du schon mal was vom heiligen York gehört? Nein? Das ist nicht verwunderlich. Der Kult, den er damals, vor Jahrhunderten, begründet hat, ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Aber etwas aus seinem Vermächtnis lebt bis auf den heutigen Tag.“
 

Dorian lauschte konzentriert; die ruhige Stimme von Sarik zog ihn schnell in ihren Bann. Nach kurzer Zeit fühlte er sich in jene Zeit versetzt, in der diese Erzählung fußte.
 

„Der heilige York war ein großer General jener Zeit, in der die Reiche Mosarria und Galdoria in der heutigen Form noch gar nicht existierten. Kriege durchzogen das Land, und die leidende Bevölkerung wünschte sich nichts sehnlicher als eine friedliche Einigung der einzelnen kriegführenden Provinzen.

Doch das Kriegsgeschick wendete sich immer wieder aufs Neue, und ein Ende der Auseinandersetzungen um Boden und Einfluss schien in weiter Ferne. General York sah dies alles mit an, und auch wenn sein Pflichtbewusstsein ihm auftrug, die Entscheidung für sein Heer herbeizuführen, so hatte er doch immer das Schicksal des gesamten Kontinents im Blick.

Er führte ein mächtiges Heer; doch im Innersten seines Herzens war er nicht Soldat, sondern jemand, der sich eine friedlichere Welt wünschte. Doch solange das Gleichgewicht zwischen den kriegführenden Parteien bestand, musste das Land weitere hin und her wogende Feldzüge erdulden.

General York war nicht nur Soldat, sondern auch Gelehrter der Schrift. In der Zeit, in der er nicht für seinen Kriegsherrn tätig war, forschte er in alten Schriften und Überlieferungen, und die Suche nach vergessenen Geheimnissen nahm immer mehr seiner Energie und Zeit in Anspruch.

Bald entdeckte er in sich Fähigkeiten und Kräfte, die sein bisheriges Leben über verschüttet gewesen waren. Fast war es so, dass das Studium dieser Aufzeichnungen etwas in ihm geweckt hatte, das lange geschlafen hatte und nun erwachte. Zu Beginn war er beunruhigt über diese Entdeckung, die so gar nicht zu seiner Berufung als General passte. Er lernte aber damit umzugehen und schließlich sie zu seinem Nutzen und der Erreichung seines Ziels, dem Frieden in der Welt, einzusetzen.

Sein Bestreben ging dahin, all die Grausamkeit, das Verderben und das Wüten des Krieges in eine Schrift zu bannen. Sie sollte wie ein Strudel die ganze Zerstörungswut in sich aufnehmen und bei sachgerechter Anwendung eine Armee damit bestärken. In der Bibliothek von Urakand, der Hauptstadt von Mosarria, gibt es viele Aufzeichnungen darüber, wie seine Streitmacht, von der Kraft des Maleficium erfüllt, eine Schlacht nach der anderen gewann, bis den Kriegsherren der einzelnen Provinzen nichts anderes mehr übrig blieb, als Friedensgespräche zu beginnen.

Doch der Preis für diesen Frieden war hoch. York, der ihn so sehr herbeigesehnt hatte, ließ alle seine Aufzeichnungen verschwinden und wählte die Abgeschiedenheit eines Klosters, um so sein Leben zu verbringen. Seine ihm verbleibenden Tage widmete er der Gründung eines wohltätigen Kultes, der den Gedanken des Friedens in die Welt hinaustragen sollte. Doch die Welt war wohl nicht reif für diese Bewegung, denn bald geriet dieser Kult wieder in Vergessenheit.

Nie wieder, so heißt es in den Überlieferungen, soll er eine Waffe angerührt oder sich mit Fragen der Kriegsführung beschäftigt haben. Das Maleficium galt lange Zeit als verschollen, und erst vor wenigen Jahrzehnten, vor dem letzten großen Krieg, tauchte es wieder auf.“

Das Bild einer längst vergangenen Welt, das Sariks leise, aber eindringliche Stimme vor ihm erstehen ließ, füllte sein Gesichtsfeld völlig aus. Erst als er verstummte und die Erzählung scheinbar zu Ende war, wurde Dorian sich wieder dem beständigen Rattern der Schienen unter dem Waggon bewusst.

„Das ist… faszinierend. Aber wo will er hin?“

Sariks Blick ging durch Dorian hindurch. Erst einige Augenblicke später reagierte er auf diese Worte, als hätte er ihn damit jener Welt entrissen, von der er erzählt hatte.

„Wen meinst du?“

„Na, der… der Typ, wer immer das war. Der jetzt das Maleficium hat.“

Sarik seufzte langgezogen; dabei glitt seine Hand über das Schwert auf seinem Schoss, wie um sich von dessen Gegenwart zu überzeugen.

„Die Macht des Maleficium hat bereits Kriege beeinflusst, aber sie wurde nie gänzlich entfesselt. Der heilige York selbst hat sie zu fürchten begonnen, nachdem er sich ihrer Tragweite bewusst wurde, so sagen die Chroniken der damaligen Zeit. Deshalb galt seine Mühe nach der Fertigstellung dem Zweck, die darin gebannte Macht zu ‚verschlüsseln‘, wenn man so will.“

„Sie meinen, man kann sie nicht einfach benützen?“ fragte Dorian, dessen Neugierde noch weiter angefacht wurde.

„Das, was wir in der Schatzkammer erlebt haben und mit unseren Escutcheons passiert ist, war nur eine Ahnung seiner eigentlichen Macht. Der Senat von Urakand war im Besitz alter Aufzeichnungen, die angeblich vom heiligen York selbst stammen sollen… Auch wenn die Gelehrten gemeinhin glauben, es wären keine mehr erhalten.“

Dorian beobachtete Sarik genau. Seine Stimme, bis jetzt ruhig, aber eindringlich, sanft, jedoch nicht ohne Festigkeit, wurde bei den letzten Wörtern unsicher, als wären diese nicht an einen Zuhörer gerichtet, sondern würden eine Frage an ihn selbst darstellen.

„Und in diesen Aufzeichnungen stand etwas über das Maleficium?“

„Es wurde etwas gestohlen, vor kurzem erst. Es soll mit dem Maleficium und seiner ‚Erweckung‘ zu tun haben…“, sprach er weiter, ohne auf die Frage zu achten, und seine Stimme wurde dabei immer leiser, als entfernte sie sich mitsamt seinen Gedanken von der Gegenwart.

„Hat dieser Typ sie etwa nun?“ fragte Dorian in einem ungehaltenen Ton. Es missfiel ihm sichtlich, dass Sariks Ausführungen in ein Selbstgespräch abdrifteten.

„Wer? Nun… Das weiß ich selbst nicht genau“, antwortete Sarik. Es wirkte für Dorian, als wüsste Sarik selbst nicht, welcher der beiden Fragen diese Antwort galt. In den Momenten danach blinzelte Sarik auffallend oft, sodass Dorian das Gefühl nicht loswurde, dass ihm die Richtung, die dieses Gespräch nahm, nicht behagte. Als ob sie ihn auf dünnes Eis führen würde…

„Was glauben Sie, was dieser Typ jetzt vorhat? Will er es vielleicht auf dem Schwarzmarkt verkaufen?“ fragte Dorian weiter, aus dem nun wieder der geschäftstüchtige Dieb sprach.

„Das sicher nicht. Ich weiß nicht genau, welche Aufzeichnungen vom heiligen York nun erhalten sind, aber wenn der Dieb sie hat, dann weiß er, oder hat zumindest eine Ahnung, wie er das Maleficium ‚erwecken‘ kann. Meine Vermutung ist, dass er auf dem Weg zu einem Ort ist, der damit zu tun hat.“

„Sie wissen es nicht genau?“ fragte Dorian. Erstaunen machte sich in ihm breit, und ein Gedanke drängte sich in den Vordergrund. Sarik blickte ihn scharf an, und die Finger seiner Hand, die auf seiner Waffe ruhte, zeigten nervöse Bewegungen. „Ich dachte, es wäre Ihr Auftrag, dieses Ding zurückzuholen.“

„Das ist er auch. Ich werde ihn erfüllen, keine Sorge“, erwiderte er eilig. Dann erhob er sich und öffnete die Abteiltür. „Ich brauche frische Luft. Ruh dich besser aus, unsere Reise hat erst begonnen.“

Dann schloss er die Tür hinter sich. Dorian blickte ihm noch eine Weile nach, und der Impuls, ihm zu folgen, wurde wach in ihm. Er tat es aber nicht, denn er spürte deutlich in seinem Auftreten, dass Sarik nichts daran lag, dieses Gespräch weiterzuführen.

Der Gedanke ließ ihn jedoch nicht los. Dorian zog die Beine an den Körper und umklammerte sie. Sein Blick ging wieder aus dem Fenster, an dem eine einförmige Landschaft aus grünen Ebenen und dunklen Wäldern am Horizont vorbeizog. Obwohl Dorian ihm nicht viel Beachtung schenkte, wuchs dieser Gedanke hinter seiner Stirn heran und gewann an Kontur.

„Wenn es sein Auftrag ist, das Maleficium zurückzuholen…“, sagte er sich leise vor, „warum weiß er dann so wenig über so wichtige Sachen… wie diese Aufzeichnungen?“

Der Gedanke wuchs, verdichtete sich, entglitt aber seinen Händen jedes Mal im entscheidenden Moment. Das Vertrauen, das Sarik bis jetzt in ihm hervorgerufen hatte und das Dorian sich selbst gegenüber eigentlich nicht recht begründen konnte, wehrte sich gegen diesen Gedanken. In der verrückten Welt, in der er gelandet war, stellte Sariks ruhige, gefestigte Erscheinung den einzigen Ruhepol dar. In dieser Welt, die aus Leuten bestand, die er entweder kaum kannte oder die verrückt waren, und die wie er auf der Flucht vor einer Macht und auf der Suche nach einer anderen, vielleicht noch größeren, waren.

In diesem Chaos war es Sarik, der mit seiner Besonnenheit, die keinerlei Zweifel an ihrem Weg vermuten ließ, die einzige Konstante. Doch dieser Gedanke, den er so schwerlich loswurde… Er stellte dies alles in Frage. Es gelang Dorian nicht, diese Mosaiksteine zusammenzusetzen. Ein leerer Platz blieb, und diese Leere verunsicherte ihn.

Das viele Nachdenken machte ihn müde, und das gleichmäßige Rattern der Schienen unter dem Zug, zusammen mit dem gleichförmigen Panorama vor dem Fenster, ließen seine Lider schwer werden. Er schloss die Augen; der ungewohnt weiche Sitz unter seinem Hintern tat das Übrige. Dorian schlief ein.

Das gleichmäßige Rattern der Schienen vereinte sich mit dem Rauschen in seinen Ohren zu einer betäubenden Melodie, die die Hintergrundmusik zu dem einsetzenden Traum bildete. Wieder waren es Erinnerungen, die in undeutlichen, vagen Fetzen an ihm vorbeizogen. Bald jedoch klarten sie sich, und von da an zeigten sie nur mehr seine letzten bildhaften Gedanken vor dem Einschlafen, nämlich die Schatzkammer unter dem Kaiserpalast, wo alles begonnen hatte.

Erneut hatte er die Szene vor Augen, wo der Unbekannte das Maleficium öffnete, wo die furchteinflößenden Erscheinungen die Schatzkammer überfluteten wie eine Armee aus der Hölle. Und er stand wieder genauso wie damals da, in geringer Entfernung, unfähig zur Flucht oder einer anderen Bewegung. Die Schemen und Gespenster, die das Maleficium damals ausgespien hatte, sie rollten auf ihn zu wie eine Welle aus greifbar gewordener Angst, wie eine Sturmflut aus schreienden und hämisch grinsenden Dämonen…
 

Durch hohe, schmale Fenster fiel Licht auf Gildensterns gebeugten Kopf, wodurch sein hellblondes Haar weiß wie Asche erschien. Diese Fenster machten deutlich, dass sie nicht um der Aussicht willen angelegt waren, und die Person, die diesen Arbeitsraum nutzte, war auch in diesem Moment alles andere als geneigt, den Blick über die Silhouette der Stadt Galdoria schweifen zu lassen.

Stattdessen war Jan Gildenstern in seine Papiere vertieft, über dessen Zeilen seine schmalen Augen tasteten. Er überprüfte die Dienstpläne der Palastwache, deren Vorstand er innehatte. Für gewöhnlich leiteten erfahrene Offiziere ihren Dienst, und er als Berater des Kaisers hatte diesen Posten mehr aus repräsentativen Gründen. Doch nun studierte er, von einem im Hintergrund seines Verstandes lauernden Zweifel dazu angeregt, die Dienstpläne der letzten Woche.

Dieser Zweifel verfolgte ihn seit jenem Tag, an dem die kaiserlichen Agenten das Maleficium aus dem Regierungsgebäude von Urakand, der Hauptstadt von Mosarria, entwendet hatten. Gildenstern erinnerte sich, dass diese Tat im höchsten Maße riskant gewesen war. Die für diesen Zweck abgestellten Soldaten waren erfahrene, vor allem aber überaus loyale Männer gewesen, die bei einer Ergreifung eher den Tod als einen möglichen Verrat ihrer Sache in Betracht gezogen hätten.

Auch hatten sie bei ihrer Unternehmung die ‚Hilfe‘ auswärtiger Söldner und Diebe in Anspruch genommen, wie Gildenstern wusste. Es sprach für ihr strategisches Geschick, dachte Gildenstern seither öfters, dass sie jene auswärtigen Helfer das Hauptrisiko hatten tragen lassen. Niemand von den Männern des Kaisers war es schwer gefallen, deren Leben für diese Unternehmung ohne Zögern zu opfern.

Aber dieser eine Verdacht ließ Gildenstern nicht los, er verfolgte ihn bis in seinen Schlaf. Alle Gespräche mit dem Kaiser, die diesen Verdacht hätten entkräften sollen, hatten ihn stattdessen nur bestärkt. Jetzt saß er an seinem Schreibtisch, in seinem karg und zweckmäßig möblierten Arbeitsraum, und studierte die Dienstpläne der Palastwache, einschließlich dem jener Nacht, in der das Maleficium entwendet worden war. Ein quälender Selbstvorwurf wurde in ihm wach, dass er neben seinen Pflichten und Aufgaben als kaiserlicher Berater dem Tun der Palastwache nicht mehr Beachtung als bisher geschenkt hatte.

Stück für Stück fügte er das Mosaik zusammen, und das Ergebnis erschütterte ihn. Ihn, der sonst kaum eine Gefühlsregung verriet, der immer beherrscht und kühl agierte, ihn schockierte das, was er herausfand. Es ergab keinen Sinn- strenggenommen ergab es sehr wohl einen Sinn, aber keinen, der in sein bisheriges Weltbild passte. Abermals studierte er mit zusammengekniffenen Augen den Dienstplan und registrierte jene subtile Änderung, die zu einer bestimmten Zeit ein Fenster in der Bewachung des Palastes geöffnet hatte. Und zwar zu jener Zeit, in der die Diebe in das Gebäude eingedrungen waren, um das Maleficium zu entwenden.

Im Geiste legte er sich bereits eine drakonische Strafe für den damals diensthabenden Offizier, Major Bruckstein, zurecht. Einen Moment lang erwägte Gildenstern sogar eine Hinrichtung, änderte seine Gedanken aber in eine Versetzung an die Kriegsfront, wo ein unfähiger, aber tapferer Mann dem Reich nützlich sein konnte. Und doch wunderte es ihn, wie ein langgedienter Offizier eine derartige Änderung im Dienstplan hatte akzeptieren können, die so eindeutig den Schutz des Palastes zu jenem Zeitpunkt vermindert hatte.

Dann wanderte Gildensterns Blick ganz nach unten, an die Stelle, an der das Siegel des Unterzeichnenden prangte. Für gewöhnlich befand sich sein eigenes dort, das ein Beamter in seiner Vertretung auf dieses förmliche und ewig gleiche Dokument setzte- doch es war nicht da. Er sah stattdessen ein anderes Siegel, das die Absegnung des Dienstplanes gültig machte.

Das Siegel des Kaisers, Modestus des Dritten.
 

Gildenstern richtete sich auf, wobei sein Mund offen stehenblieb. Er blinzelte ungläubig und machte ein Gesicht, als hätte das Stück Papier vor ihm begonnen, ihn auszulachen.

„Das ist- “ Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner Erstarrung. „Herein“, rief er mit heiserer Stimme und rang um seine Fassung. Ein Mitglied der Palastwache trat durch die nur halbgeöffnete Tür ein. Mit einem Fuß blieb er auf der Schwelle; es war offenkundig, dass dieser Soldat Respekt davor hatte, sie zu überschreiten.

„Ich bedaure zu stören…“, begann die in die kaiserlichen Rüstungsteile gehüllte Gestalt zaghaft, „Sean Hardy ist eingetroffen. Ihr habt ja befohlen, von seiner Ankunft- “

„Ja, ja, das ist in Ordnung, Leutnant“, sagte Gildenstern und klappte die Unterlagen vor sich zu. „Ich komme unverzüglich.“
 

Jan Gildenstern ging mit weiten Schritten durch die Korridore des Palasts. Die kaiserlichen Wachen machten bei seinem Vorübergehen die üblichen Gesten der Ehrerbietung, doch anders als sonst erwiderte er diese Gesten heute nicht.

Seine Gedanken, die er hinter seiner wie immer gefassten, beinahe starren Miene verbarg, tobten. Immer wieder sah er das Siegel des Kaisers vor sich, und nun wunderte ihn so manches nicht mehr. Er selbst hätte als einfacher Soldat der Palastwache eine direkte Order vom Kaiser nicht hinterfragt, und sei sie auch noch so widersinnig. Auch, dass eine ganze Gruppe von Dieben es unerkannt bis in den innersten Bereich der Schatzkammer geschafft hatte, erschien ihm in einem anderen Licht.

Unverständnis und Zorn regten sich in ihm; dazu kam das Bedürfnis, den Kaiser mit diesem Papier zu konfrontieren, das seine Mithilfe an dieser Tat dokumentierte. Diese Entdeckung erzürnte ihn auf eine Weise, wie er es nicht kannte. Es erzürnte ihn so, wie ein einfacher Bauer darüber in Rage geraten muss, dass seine gesamte Ernte vernichtet daliegt, während das Wetter doch die ganze Zeit strahlend schön gewesen war.

Es ärgerte Gildenstern auf eine subtile Weise, wie eine ausgeklügelte Foltermethode. Weil er es nicht verstand und sich alles in ihm gegen die Erkenntnis wehrte, dass sein eigener Kaiser das Land- Gildensterns Land!- in den Abgrund stieß, deshalb schüttelte er nun den Kopf und presste die Augenlider zusammen, während er dem längst bekannten Weg in die Gewölbe des Kaiserpalastes folgte.

Dies waren die einzigen physischen Zeichen seiner Wut, die er sich gestattete. Er rief sich selbst zur Mäßigung, und auch den Plan, den Kaiser zu konfrontieren, verwarf er wieder. Für Jan Gildenstern gab es genau zwei Kategorien von Dingen auf dieser Welt: Zur Ersten zählten jene, die seinen Zielen, also dem Wohl von Galdoria, dienlich waren. Zur Zweiten zählten der Rest, wie das Land Mosarria, das sein Land mit Krieg zu überziehen drohte. Seinen Kaiser, Modestus den Dritten, hatte er bis dahin nicht zu dieser zweiten Kategorie gezählt.

Mit eiligen Schritten lief er die Treppe aus rohen Mauersteinen hinab. Die Luft wurde allmählich feuchter, was die Nähe zum Kanalsystem verriet. Mit der Luft kühlten sich auch seine Gedanken ab, und eine Überzeugung reifte in ihm. Seit damals, als er die Thronfolge eingeleitet hatte, war Gildenstern überzeugt gewesen, dass Modestus ein guter Kaiser sein würde. Mit anderen Worten: Ein beeinflussbarer Kaiser. Und kein Kaiser, der überzeugt war, seine Macht von irgendeinem Gott selbst empfangen zu haben und somit unfehlbar in seinen Entscheidungen zu sein.

Damals hatte Gildenstern dieses Problem gelöst. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass eines Tages dieser sensible und oft sehr nachdenkliche junge Mann zu einem ähnlichen Problem würde werden können. Die gleichförmigen Gemäuer, die in das Innere der Schatzkammer führten, zogen an ihm vorbei, doch Gildenstern achtete ihrer nicht. Er hätte diesen Weg selbst blind gefunden, mit derselben Sicherheit, mit der er auch all seine Entscheidungen traf. Wie auch diese jetzt.
 

Die zwei Palastwachen salutierten, als Gildenstern die Schatzkammer betrat. Von weitem sah er bereits den Mann, dessen Ankunft er erwartet hatte. Sean Hardy war nicht nur ein hervorragender Schmied, sondern auch ein Experte, was jene Energie betraf, die in den Escutcheons wirkte. Er war wegen seiner Kenntnisse auch an der Entwendung des Maleficium beteiligt gewesen.

Gildenstern hätte ihn gern unter den Personen gewusst, die dem Maleficium seine Geheimnisse entlocken hätten sollen, aber der Kaiser hatte andere Gelehrte für diese Untersuchung eingeteilt. Damals hatte Gildenstern zu diesem Detail nur beiläufig genickt, doch jetzt erst wurde er sich diesem ersten Anzeichen des Verrats bewusst. Er schluckte den abermals aufwallenden Ärger hinunter und begrüßte seinen alten Freund.

„Sean… Ich freue mich, dass du so schnell gekommen bist.“

Sean Hardy, ein Mann in etwa demselben Alter wie Gildenstern, drehte sich um. Er trug grobe Kleidung und einen schlichten Brustharnisch unter seiner zerschlissenen Weste. Alles an ihm sah nach einem Schmied aus und weniger dem Experten für Kriegsführung und Nahkampf, der er ebenso war.

„Keine Ursache. Ich habe schon mal angefangen“, sagte Hardy und deutete auf die Gerätschaften, die er hier, im Innersten der Schatzkammer, aufgebaut hatte. Es waren dies diverse Apparaturen mit kleinen Glühdrahtlampen und Skalen, auf denen Nadeln hin und her sprangen.

„Ich bin dir verbunden.“ Gildenstern ließ den Blick über die Apparate schweifen. Er sah sie jedoch nicht wirklich, sondern erinnerte sich in diesem Moment an die Zeitspanne, die er Sean Hardy schon kannte. Gemeinsam hatten sie damals die kaiserliche Heeresakademie absolviert, um für kurze Zeit in der Armee zu dienen.

Doch ihre Wege hatten sich bald getrennt. Gildenstern war sich schnell bewusst geworden, dass ihn sein Weg an den kaiserlichen Hof und in die höchsten Kreise führen würde, während sein Freund, mit dem er damals Seite an Seite als junger Soldat im großen Krieg mit Mosarria gekämpft hatte, weniger hochtrabende Ambitionen gehabt hatte. Die Kunst, die hinter der Herstellung von erlesenen Waffen und den allgegenwärtigen Escutcheons steckte, hatte Sean Hardy schon immer mehr fasziniert als die Macht über andere Menschen.

Es gab nur wenige Menschen, denen Jan Gildenstern vorbehaltlos vertraute. Aber Sean Hardy gehörte zu ihnen. Deshalb hatte er ihn an den Vorbereitungen für die Entwendung des Maleficium beteiligt und auch für dessen Untersuchung vorgeschlagen. Aus demselben Grund hatte er ihn nun rufen lassen, anstatt sich an jemanden aus dem unmittelbaren Kreis um Modestus zu wenden.

„Wie kommst du voran?“ fragte Gildenstern. Bei all den Erinnerungen an ihre Vergangenheit huschte ein Lächeln über sein Gesicht, was nicht oft vorkam.

„Die Signaturen der Energieeinheiten sind zwar schon ziemlich schwach, aber ich denke, ich kann sie zurückverfolgen“, antwortete Hardy, der sein von einem Backenbart und nur leidlich gepflegtem, braunem Haar gesäumtes Gesicht auf ein Gerät in seiner Hand und danach auf Gildenstern richtete.

„Den Weg, den sie genommen haben? Oder auch den, den sie gekommen sind?“

„Beides“, antwortete Hardy und lächelte dabei vergnügt. „Du willst wohl wissen, woher die Diebe stammen?“

„Ja, auch das“, erwiderte Gildenstern und atmete tief durch dabei. Einen Moment lang erwägte er, seinen Freund in seinen Erkenntnisstand einzuweihen, doch dann verschob er dies auf einen späteren Zeitpunkt. „Wichtiger ist allerdings, welchen Weg sie genommen haben.“

„Der Kaiser hat sicher schon die Suche einleiten lassen.“ Hardy drehte an den Rädern des Apparates, den er in der Hand hielt. Nun entwich dem Gerät ein Pfeifton, der anschwoll und wieder verklang.

„Allerdings“, antwortete Gildenstern und verzog das Gesicht. „Ich möchte aber etwas in eigener Sache unternehmen.“ Hardy hob den Kopf und runzelte die Stirn, als warte er auf etwas, das diesen Satz vervollständigen könnte. Gildenstern schwieg aber und vermied es, ihn hier, innerhalb der Palastmauern, in seinen Plan einzuweihen.

„Ah?“ rief Hardy plötzlich aus. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und studierten die Anzeige auf dem Gerät. Dabei lächelte er über eine ebenso unerwartete wie angenehme Überraschung.

„Gibt es schon ein Ergebnis? Kannst du mir sagen, welches Ziel sie haben?“

Gildenstern fragte mit drängendem Ton in der Stimme, zugleich aber betont leise, als würde er annehmen, dass er innerhalb dieser Mauern nicht mehr frei sprechen konnte.

„Nun, ihr Ziel kann ich nicht sagen. Sehr wohl aber die Richtung und- sollten die Signaturen noch intakt sein- den weiteren Weg.“

„Kannst du auch sagen, von wo sie kamen?“ fragte Gildenstern mit hörbarer Ungeduld. Dabei verzog er das Gesicht, als würde er sich der Gefühlregung schämen, die ihm sonst so selten anzusehen war.

„Ich kann ihre Spuren zurückverfolgen, ein kurzes Stück aber nur. Es ist, wie zu erwarten. Das Maleficium hat ihre Escutcheons verändert. Es wird nicht allzu schwer sein, ihrem weiteren Weg zu folgen. Aber ihre Herkunft zu bestimmen, wird nicht einfach.“

„Versuch dein Bestes“, sprach ihm Gildenstern aufmunternd zu und klopfte ihm dabei auf die Schultern. „Einstweilen stelle ich einen Trupp zusammen.“

Er wollte sich schon abwenden, als ihn Hardy noch einmal ansprach. Seine Stimme hatte dabei einen leicht nervösen, fast schon bedrückten Klang.

„Und der Kaiser? Es wird ihn interessieren, vermute ich.“

Gildenstern drehte sich um. Seine Worte waren gefasst, aber aus seinen Augen sprach eine gefährliche Kälte.

„Modestus wird alles erfahren, was für ihn notwendig ist.“

Die Kälte in seinem Blick legte sich etwas, und er nickte seinem Freund zu. Dann verließ er eiligen Schrittes die Schatzkammer.

Dichte Wolken hingen am Himmel über der Stadt Galdoria. Die Sonne hatte sich von ihren Straßen und Dächern abgewandt, und allmählich errang die Finsternis die Oberhand über die Stadt.

Längst wärmte die Sonne das Pflaster der vielen Gassen und Straßen nicht mehr, doch bis die Gaslaternen ihren trüben Schein über sie werfen würden, dauerte es noch etwas. Der Strom der Menschen versiegte. Jeder, der ein Zuhause hatte, suchte es nun auf und floh vor der einsetzenden Dunkelheit dorthin. Jene, die keines hatten, suchten den Schutz enger Gassen und die Wärme, die von den in den heruntergekommenen Vierteln allgegenwärtigen Müllbergen abgegeben wurde.

Gebückt gehende und oft auch wankende Gestalten zogen ihre Lumpen enger um ihre von Krankheit und Mangel gezeichneten Leiber. Ihre Blicke waren verengt auf die nächsten Schritte, auf eine mögliche Zuflucht, auf alles, was ihr jämmerliches Dasein würde lindern können. Wie menschliche Schatten bewegten sich diese Gestalten durch die armseligen Viertel dieser Stadt, als wären sie tagsüber vom Sonnenschein geworfen worden, um nun als Gefangene der Dunkelheit umher zu irren.

Zwei Gestalten unter den Vergessenen der Stadt, die an ihrem Wohlstand keinen Anteil hatten, unterschieden sich von ihnen. Nicht durch ihre zerschlissenen, schmutzigen Umhänge, sondern durch die Rüstungsteile, die sie darunter verborgen trugen, vor allem aber durch Haltung und Gang, welche deutlich machten, dass sie nicht aus diesem Elend stammten.

Einer der beiden hielt einen Apparat in Händen, der die Richtung ihrer Schritte vorzugeben schien. Immer wieder wechselten sie diese und blieben dann für lange Momente stehen, in denen einer von beiden darauf konzentriert war, die Anzeigen des Apparates zu entschlüsseln, während der andere sich mit angespannter Erwartung umblickte.

Ihr Weg führte sie auf diese Weise in eines der ärmlichsten Viertel der Stadt. Während der eine von den beiden immer noch seine Schritte nach dem Gerät ausrichtete, das wie ein unentschlossener Kompass den eigentlichen Kurs nur nach und nach verriet, blieb der andere stehen und blickte an einer der abbröckelnden Hausfassaden hinauf. Dort hing, schief und vom Rost fast bis zur Unkenntlichkeit zerfressen, ein Metallschild. Darauf stand: Bucket-Weg.

Schließlich blieb einer von beiden stehen. Die Nacht war längst hereingebrochen, und nur noch wenige der besitzlosen Menschen irrten durch die ausgestorbenen Gassen und Straßen auf der Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht. Der andere von den beiden, dessen Geduld schon beinahe erschöpft schien, blickte zu seinem Begleiter. Dieser musterte immer noch den Apparat in seinen Händen und schüttelte den Kopf, wie ein Arzt, der feststellt, dass er für einen Patienten nichts mehr tun kann.

„Weiter kann ich die Spur nicht verfolgen“, sagte Sean Hardy. „Sie verliert sich hier.“

Jan Gildenstern nickte langsam. Dabei glitt sein Blick an dem Gebäude empor, vor dem sie Halt gemacht hatten. Es mochte einmal eine Niederlassung der Stadtverwaltung gewesen sein, vermutete er. Doch jetzt war es Teil eines der verarmten Vierteln, in denen der Abschaum von Galdoria wie Ratten in alle Löcher und Unterschlupfe gekrochen war. Diebe, Bettler, Halsabschneider und Trunkenbolde bewohnten diese Viertel und verteidigten ähnlich wie die allgegenwärtigen Ratten ihre eroberten Behausungen mit Zähnen und Krallen.

Gildenstern lächelte zufrieden. Er merkte sich das Gebäude, dann verließen sie diesen düsteren Ort wie Schatten, die der Anbruch des Tages vertreibt.
 

Einige Stunden später saß Jan Gildenstern wieder in seinem Arbeitsraum. Sean Hardy saß ihm gegenüber. Ihm fiel es wesentlich schwerer, seine Müdigkeit zu verbergen. Die Morgenstunden nahten, und sie hatten beinahe die gesamte Stadt durchquert.

„Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit?“

Hardy schüttelte den Kopf und gähnte dabei.

„Die Spuren verlieren sich an der Stadtmauer. Die Signatur eines gewöhnlichen Escutcheons zerfällt nach einer gewissen Zeit, wie ich sagte.“

„Gut. Das soll uns nicht weiter kümmern“, erwiderte Gildenstern und nickte zufrieden. „Ihren weiteren Verlauf kannst du aber verfolgen?“

„Nach dem Zwischenfall mit dem Maleficium sind sie völlig verändert“, schilderte Hardy, und mit einem Male war keine Müdigkeit auf seinem Gesicht mehr sichtbar. Begeisterung leuchtete auf seinen Zügen. „Die Signatur, die sie jetzt hinterlassen, leuchtet wie ein Feuer in der Nacht. Wir sollten aber nicht allzu lange zögern, irgendwann zerfällt auch diese.“

„Das werden wir nicht. Ruh dich nun aus, wir werden bald aufbrechen. Ich zähle auf deine Hilfe.“

„Die bekommst du“, erwiderte Hardy lächelnd und erhob sich.

„Sean?“

Hardy blieb in der Tür nochmal stehen und wandte sich um.

„Unser Land ist dir zu Dank verpflichtet“, sagte Gildenstern mit leiser Stimme. Hardys Gesicht wurde ernst, daraufhin breitete sich wieder ein unverbindliches Lächeln darauf aus. Danach ging er.

Gildenstern saß immer noch an seinem Schreibtisch, und sein Blick war starr und abwesend. Bis ihn, kurze Zeit nachdem Hardy den Raum verlassen hatte, ein Klopfen an der Tür aus den Gedanken riss. Ein Soldat der Palastwache trat ein.

„Es ist alles bereit“, begann dieser mit respektvoller Stimme. „Wir warten nur noch auf Ihr Zeichen.“

Gildenstern blickte ihn einen Moment lang wortlos an. Der Soldat in der Tür begann, von einem Bein auf das andere zu treten; seine ganze Körpersprache verriet, dass er nur darauf wartete, diesen Ort wieder verlassen zu können. Letztendlich nickte Gildenstern ihm zu. Der Soldat verneigte sich knapp, um wieder zu verschwinden. Das unheilvolle Geschehen war nun unwiderruflich im Gang.
 

Ein Tor an einem Nebengebäude des Palasts öffnete sich, und ein Trupp strömte ins Freie. Ihre Stiefel trafen in exaktem Rhythmus die Pflastersteine unter ihnen, und ihre Richtung war genauso klar und unvermeidlich.

Ein Dutzend Personen bewegte sich nun mit kraftvollen Schritten durch die schläfrige Stadt. Sie alle trugen lange Umhänge, die ihre Rüstungsteile und Waffen verbargen. Nachtwächter begegneten ihnen, doch anstatt diese verdächtigen, zumindest aber ungewöhnlichen Personen zu kontrollieren, wichen sie vor ihnen zurück. Unter den Umhängen erkannten sie die Insignien der Palastwache, doch das war nicht der eigentliche Grund für ihr Zurückweichen.

Es war eher, als würden diese Soldaten eine Bugwelle aus greifbarer Dunkelheit vor sich herschieben, die ihnen ihre Absicht verlieh. So wandten sich die Nachtwächter und auch alle anderen Personen, denen sie begegneten, ab und verbargen ihre Augen vor diesen in das Schwarz der Nacht getauchten Gesichter.

Sie erreichten ihr Ziel und nahmen mit tödlicher Präzision ihre Positionen ein. Schnell war das Gebäude umstellt. Der Vordereingang wie auch der Hintereingang. Als jede Möglichkeit zur Flucht ausgeschlossen war, gab der Anführer des Trupps ein Zeichen. Ein anderer Soldat nickte, dann traf ein Stiefel die Tür.

Sie flog krachend aus dem Rahmen; sofort strömten die Soldaten nach, wie Wasser, das durch einen Damm bricht. Mit schweren Schritten eilten sie die breite Treppe hoch. Klingen glitten aus ihren Scheiden und blitzten im Licht einer einzelnen Glühdrahtlampe auf. Weitere Türen wurden aufgestoßen. Schreie erklangen. Hektisches Getrappel, von Panik erfüllt. Weitere Schreie erfolgten, Möbel wurden umgestoßen, Menschen rannten um ihr Leben.

Die Soldaten gingen ohne Gnade und ohne Zögern vor. Sie bildeten den innersten Kreis der Palastwache; Gildenstern persönlich hatte ihre Ausbildung überwacht. Nicht nur auf ihre überragende Stärke im Kampf war Wert gelegt worden, sondern vor allem, dass sie ohne Vorbehalte töten konnten. Auch jetzt, wo sie in dieses Haus eingedrungen waren und junge Menschen, fast noch Kinder, hetzten und jagten.

Ihnen flogen Möbelstücke entgegen, Türen wurden vor ihren Nasen zu geworfen. Doch die Wurfgeschosse zerschlugen sie mit ihren Klingen, und alle übrigen Hindernisse überwanden sie mit Entschlossenheit auf ihrer Jagd nach diesen Menschen. Es waren vier, soweit sie das im Zwielicht erkannten. Drei Jüngere, und ein Älterer.
 

Der Anführer stand mitten im Raum und hielt in der Linken eine Fackel, in der Rechten sein Schwert. Seine Untergebenen durchsuchten die restlichen Räume, um sicher zu gehen. Sein Blick glitt über die zerstörte Einrichtung, über die umgeworfenen Schränke, über die zerstörten Türen. Und über das Blut.

Einer seiner Männer trat in den Raum. Ihm folgten nach kurzer Zeit die anderen, die die nähere Umgebung des Gebäudes sondiert hatten. Sie verständigten sich durch Nicken und Blicke. Worte gebrauchten sie kaum. Es war alles getan, was sie tun konnten. Mehr zählte nicht. Einer von ihnen wischte sein Schwert mit einem Tuch ab, das er dann auf den Berg von Decken und Matratzen warf, den sie in der Mitte des Raums aufgeschichtet hatten.

Der Blick des Anführers traf einen Körper, der vor einem der Fenster lag. Die Leiche war von rundlichem Körperumfang, und auf dem Kopf trug sie eine Lederkappe und eine Schweißerbrille. Alle ihre Wunden, die schnell zu ihrem Tod geführt hatten, befanden sich auf ihrem Rücken. Als hätte sie etwas schützen wollen…

„Unser Befehl…?“

Der Anführer wandte sich zu dem Soldaten um, der an ihn herantrat. Ihre Blicke trafen sich, ihre starren Gesichtszüge verrieten aber keinen ihrer Gedanken.

„Der Befehl lautete, jemanden von ihnen zu verhören, ich weiß.“

Der Soldat blickte an seinem Kommandanten vorbei auf den leblosen Körper, der wie eine achtlos weggeworfene Puppe dalag.

„Minister Gildenstern wird nicht erfreut sein.“

„Der Befehl lautete auch, niemanden fliehen zu lassen.“ Der Soldat schaute wieder auf. Seine Backenknochen bewegten sich hinter seinen schweißglänzenden Wangen, ansonsten blieb sein Gesicht ausdruckslos. „Wichtiger war aber, keine Spuren zu hinterlassen. Weder Lebende…“ Er blickte wieder auf die Leiche. „ …noch Tote. Verschwinden wir.“

Der Kommandant wandte sich von seinem Untergebenen ab, auf dessen Gesicht für einen kurzen Moment die Pein des Versagens aufleuchtete. Schnell kehrte aber wieder die Fassade der Ausdruckslosigkeit zurück.

Er warf die Fackel auf den Berg Matratzen und Decken, und im selben Moment setzten sich alle seine Männer in Bewegung, wie von einem wortlosen Befehl alarmiert. Bald qualmte das Feuer aus allen Fenstern. So verließ der Trupp den Bucket-Weg, nachdem sie das befohlene Unheil überbracht hatten.
 

Dorians Füße waren wie einzementiert. Die Waffe in seinen Händen kam ihm so nutzlos vor wie eine Weidenrute und gänzlich ungeeignet, um sich damit gegen diese geisterhaften Erscheinungen zu erwehren.

Lachende und schreiende Fratzen zogen an ihm vorbei. Überlebensgroße Schatten an den Wänden, die ihn zur Gänze einhüllten und die er wie feuchten Nebel auf seiner Haut spürte. Jede dieser Berührungen ekelte und entsetzte ihn, doch seine Füße waren gelähmt und zur Flucht unfähig. Selbst seine Lunge versagte schließlich den Dienst, was ihn mit keuchenden Lauten nach Luft ringen ließ. Nicht einmal seine Augenlider gehorchten ihm, und so war er gezwungen, dem Schrecken ins Gesicht zu sehen, der wie eisiges Wasser in seinen Verstand einsickerte, um mit beißender Kälte seine Seele zu versengen-
 

„Nein!!“

Jeder Atemzug schmerzte mehr, umso gieriger er nach Luft schnappte. Endlich ließ der Druck in seiner Lunge nach; er befand sich wieder im Zugabteil.

Es war leer, bis auf ihn. Die Tür war geschlossen, und draußen auf dem Gang war niemand zu sehen. Niemand hatte wohl etwas von seinem lebhaften Alptraum mitbekommen. Vor dem Fenster zog immer noch die monotone Graslandschaft vorbei; die herannahende Nacht senkte sich nun über die Ebene.

Dorian ließ sich in den Sitz sinken und spürte sein Herz, dessen Pochen langsam nachließ. Er bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Dabei wagte er es aber nicht, die Augen erneut zu schließen. Zu lebendig war noch der Eindruck des Traums mit den Erinnerungen aus der Schatzkammer des Kaiserpalasts. Die Aussicht aus dem Fenster langweilte ihn jedoch mit der Zeit, und so begann er zu überlegen, wie er die trüben Gedanken verwischen könnte.
 

Die Innenbeleuchtung der Waggons erwachte flackernd. Dorian schlenderte ziellos durch die Gänge. Dabei begegnete er Nadim und Iria, denen die Zeit ebenfalls lang geworden war. Sie erzählten ihm von ihrer Begegnung mit den kaiserlichen Soldaten, die ebenso im Zug waren, und dass scheinbar keine Gefahr von ihnen ausging.

Sie ermahnten sich gegenseitig zu unauffälligem Verhalten. Und das mit einem Eifer, als könnte tatsächlich ihr Verhalten sie in dieser brenzligen Situation schützen, und nicht etwa nur eine zufällige Begebenheit, die dafür gesorgt hatte, dass diese Soldaten entweder keinen Auftrag zur Fahndung nach ihnen hatten, oder eben keine eindeutigen Beschreibungen ihrer Personen.

Die beiden deuteten an, sich wieder in ihr Abteil zu begeben, um dort zu ruhen. Doch Dorian behagte der Gedanke weniger, und das trotz der bald hereinbrechenden Nacht. Zu sehr fürchtete er eine Wiederkehr seines Alptraums, würde er sich jetzt schon zur Ruhe legen.

So schlenderte er weiter durch die Waggons und beobachtete die Menschen. Sie schienen im Gegensatz zu ihm ruhig schlafen zu können. Kinder schmiegten sich an ihre Eltern und Erwachsene an ihre Taschen, in denen Dorian Wertvolles vermutete. Doch der Gedanke, etwas zu stehlen, kam ihm gar nicht bei diesem Anblick. Durch seine Beteiligung an der Suche nach dem Maleficium erschien es ihm, dass er nun mehr als genug für ein ganzes Diebesleben auf dem Kerbholz hatte.
 

Dieses Gefühl war etwas Neues für ihn. Ihre Opfer waren immer vermögende Personen gewesen, und wenn Dorian es recht bedachte, wären weniger vermögende Personen auch kein lohnendes Ziel für ihre Diebstähle gewesen. Doch hier war es etwas anderes. Es gab wohl kaum eine vermögendere Person auf der Welt als den Kaiser von Galdoria, zumindest kannte er keine. Und, nach Sariks Worten, war das Maleficium ebenfalls bereits gestohlen, als es in den Schatzkammern des Palastes gelandet war.

Und doch befielen Dorian nun Skrupel, geradeso als handele es sich hier um keinen Gegenstand, sondern eher eine Person, die man nicht einfach stehlen konnte. Dieser Gedanke beunruhigte ihn zusätzlich, und er schob ihn auf seinen Alptraum von zuvor, der ihm noch lebhaft in Erinnerung war. Er versuchte sich abzulenken, indem er an ihre Mitreisenden dachte, an Sarik, an den offenbar verrückten Hargfried und die geheimnisvolle Brynja.

Über sie wusste er am wenigsten; er nahm sich vor, ihr einige Fragen zu stellen. Er gelangte noch durch mehrere Waggons, bis er am Letzten ankam. Von dort aus sah er auf die Lok. Hier gab es nur eine schmale Plattform im Freien, aber keinen Weiterweg, weshalb er umkehrte.
 

Die Nacht brach herein, und immer noch versetzte das gleichmäßige Rattern die Waggons in sanftes Zittern. Dorian entdeckte nun kaum noch wache Menschen in den Abteilen. Fast alle schliefen; ihre Gesichter waren so friedlich, dass Dorian nicht vermutet hätte, dass diese Leute vor einem Krieg flohen.

Schließlich kam er wieder zu ihrem Abteil, in dem Iria, Nadim und auch Hargfried schliefen. Die beiden an einem Ende, und Hargfried am anderen, als wären sie ihm bewusst ausgewichen. Doch nun schliefen alle, und ihre Gesichter mit den halboffenen Mündern zeigten kein Misstrauen mehr, sondern nur noch einen friedvollen Ausdruck.

Dorian war aber noch nicht müde. Eine Weile stand er vor der Abteiltür und überlegte. Er konnte sich nicht dazu aufraffen, einzutreten; fast spürte es sich wie die Befürchtung an, diese friedliche Szenerie zu stören. So ging er weiter, ohne Ziel und ohne Absicht, und folgte so dem Gang durch die Waggons. Dabei begegnete er sogar den kaiserlichen Soldaten, von denen Nadim und Iria erzählt hatten. Es fiel ihm aber überraschend leicht, ihnen gegenüber Sorglosigkeit vorzutäuschen. In der Tat schenkten sie ihm keine Beachtung. Es wirkte eher, als würden diese Soldaten mit ihren angespannten Gesichtern irgendetwas erwarten.

Dorian sah ihnen hinterher, wie sie ihren Patrouillengang fortsetzten, und erst jetzt, wo sie allmählich außer Sichtweite gerieten, schauderte es ihn bei dem Gedanken, gefasst zu werden. Mit einer unerklärlichen Verzögerung machte sich dieses Gefühl breit in ihm, und so ging er schnell weiter, als könnte er es auf diese Weise hinter sich lassen.

Er gelangte wieder an das Ende des Zuges, wo die Lok am vordersten Waggon hing. Dorian trat auf die Plattform und spürte sofort die überraschend warme Nachtluft auf den unbedeckten Armen. Der Fahrtwind wirkte angenehm erfrischend, und erst jetzt merkte er, wie abgestanden die Luft in den Abteilen gewesen war. Die Landschaft lag unter dem tiefblauen Mantel der Nacht, und die Lampen an den Waggons blendeten seine Augen, sodass es auf ihn wirkte, als führe der Zug durch eine Leere, durch einen sternenlosen Nachthimmel.

Dorian lehnte am Geländer, während seine Gedanken wieder zu seinen Mitreisenden wanderten. Dabei fiel sein Blick auf eine schmale Leiter, die neben der Waggontür montiert war und auf das Dach führte. Aus einem Impuls heraus erklomm er sie behände und stand Momente später auf dem Waggondach.
 

Im ersten Moment lehnte er sich gegen den Fahrtwind und fürchtete, abzustürzen. Doch schnell gewöhnte er sich an den sich leicht bewegenden Untergrund. Es erinnerte ihn daran, wie er als Kind gelernt hatte, über die Dächer Galdorias zu balancieren, und sein Können in dieser Disziplin machte seine Schritte über das Waggondach schnell sicher und behände.

Das Licht aus den Waggonfenstern drang nur schwach ins Freie, und seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und überblickte die Landschaft, die er nun klarer erkannte. Sie hatte sich verändert. Die Bäume, die zuvor vereinzelt auf den grasigen Flächen standen, waren nun seltener und dann nur noch verkrüppelte Reste früheren Bewuchses. Die Wälder, die vorher den Horizont mit einem sattgrünen Saum versehen hatten, waren nicht mehr erkennbar, und der Boden selbst war von anderer Beschaffenheit als zuvor.

Er war hell, er leuchtete fast. Schließlich merkte Dorian, dass das Gras fast gänzlich verschwunden war und Sand diese Ebene bedeckte. Immer noch balancierte Dorian über die Dachmitte der Waggons, und einmal tat er sogar einen Sprung von einem Dach zum Nächsten. Allmählich gewann der Übermut die Oberhand. Er blickte während seines Laufs über die Waggondächer gar nicht mehr auf seine Füße, sondern nur noch auf die trockene Ebene, die sich links und rechts von ihm ausbreitete.

Ein Gefühl wie das eines Vogels, der seine Schwingen ausbreitet und losfliegt, überkam ihn, und damit eine Ahnung der Freiheit, die es bedeuten musste, schwerelos über endlose Ebenen dahinzugleiten. Er lachte, und seine Schritte wurden immer leichter. Wieder sprang er von einem Waggondach zum nächsten, diesmal ohne hinzusehen. Diesen Rausch kannte er von ihren Jagden über die Dächer von Galdoria, und er blendete jede Gefahr aus. Immer wieder sprang er während des Laufens, und wenn er dann den Zug unter sich dahingleiten sah, glaubte er fliegen zu können. Dann richtete sich sein Blick wieder auf die sandige Ebene, die sie durchfuhren.

Das Hochgefühl pochte in seinen Ohren und ließ ihn jedes Risiko vergessen. Das Waggondach unter sich nahm er in der Dunkelheit kaum noch wahr. Er glaubte, im rauschenden Wind weitere Schritte außer den seinen zu hören, doch darauf achtete er nicht weiter. Der Zug fuhr eine leichte Biegung, ein Windstoß erfasste ihn- und er fiel.

„Aaaah!“

Mit einem blechernen Geräusch schlug sein Körper auf der Dachschräge auf. Eine Hand krallte sich um sein Handgelenk. Dieser eiserne Griff sandte einen stechenden Schmerz durch seinen Arm, doch noch schwerer wog die nun schlagartig erwachende Furcht vor dem Absturz. Seine Beine baumelten hilflos über der Waggonkante, die Hand aber zerrte ihn zurück auf das Dach.
 

Brynja stand bei ihm und blickte auf ihn herab. Dorian saß mit an den Körper gezogenen Beinen in der Dachmitte. Jeglicher Mut hatte ihn nach diesem Ereignis verlassen, und er fühlte ihren Blick auf sich, der zu sagen schien ‚Typisch Mann‘.

„Da-danke“, stammelte er. Der Schock verebbte nur langsam, ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.

„Keine Ursache“, erwiderte Brynja und bedachte ihn mit einem Blick, der vermuten ließ, dass sie ihre Hilfeleistung schon wieder zu bereuen begann. Dann wandte sie sich ab und ging auf das näherliegende Waggonende zu.

„Bitte warten Sie!“

Im selben Moment wunderte er sich über seine eigenen Worte. Brynja drehte sich um und sah ihn fragend an. „Danke, dass Sie mich nicht runterfallen haben lassen…“, wiederholte Dorian, dem nun nichts anderes einfiel, was er ihr sagen könnte.

„Lauf hier oben lieber nicht so übermütig rum“, entgegnete sie ernst. „Es ist nicht immer jemand da, der dich dann rettet.“

„Habe ich Sie gestört? Hier oben, meine ich…“, fragte er zögernd.

„Wenn du so fragst: Ja.“

„Das… Das tut mir leid.“

Brynja, dem seine aufgewühlten Äußerungen offensichtlich zu nerven begannen, verdrehte die Augen.

„Ja, ja, ist ja schon gut. In dem Zug ist nun mal nicht so viel Platz, um sich immer auszuweichen.“

Sie sah sich um, als wäre ihr Zweifel gekommen, ob sie immer noch gehen wollte. Dorian, dessen Schock langsam abklang, überlegte fieberhaft, bis ihm etwas einfiel.

„Sie sind gern auf Dächern, stimmt’s? Wie schon in dieser Stadt, in Brimora… Ich weiß übrigens gar nicht, warum Sie- na ja, warum Sie das hier tun.“

„Schön langsam frage ich mich auch, warum ich dich nicht einfach fallen gelassen habe“, entgegnete sie. Der Ernst auf ihrem Gesicht war nun aufgeweicht von einem schelmischen Lächeln, das selbst im Dunkeln kaum zu übersehen war.

„Nein, das meine ich nicht. Ich frage mich, warum sie das Maleficium suchen“, sprach Dorian weiter, der sein früheres Selbstbewusstsein zurückerrang. „Ich meine, dieser Sarik will es für sein Land zurückholen, und dieser verrückte Hargfried redet immer von irgendwelchen Mördern, die angeblich etwas damit zu tun haben… Iria will ihre Heimatstadt damit beschützen, und, und…“ Dorian begann zu lachen. „Und Nadim ist einfach irgendwie reingerutscht. Und Sie?“ Er lächelte sie aus vollem Herzen an, und tatsächlich erweichten sich Brynjas Züge für einen Moment. „Sie müssen es mir natürlich nicht sagen…“, fügte er kleinlaut hinzu.

„Und ob ich das nicht muss“, erwiderte sie streng. Doch dann lockerten sich ihre Züge wieder. Sie sah sich um, und nach einem Moment des Überlegens setzte sie sich zwei Schritte von ihm entfernt aufs Waggondach. „Wenn du es denn hören willst…“

„Klar will ich das! Schließlich sitzen wir alle im selben Boot!“ erwiderte er fröhlich. Brynjas Miene verfinsterte sich ob dieser Nonchalance, und Dorian räusperte sich. Dann blickte sie wieder über die Ebene, die an ihnen vorbeizog.

„Ich habe jemanden verloren, weißt du? Es hat etwas mit den Leuten zu tun, die das Maleficium aus Mosarria geraubt haben. Sie suchen es ebenso wie wir, und es wird mich zu ihnen führen.“

„Ich verstehe…“, sagte Dorian so leise, so dass man es über das Rattern der Waggons kaum hören konnte. Er spürte, welcher Wunde in ihr sie sich mit diesen Worten näherte, und hatte Hemmungen, nach mehr zu fragen, als sie von selbst erzählen würde.

„Und warum bist du hier?“ fragte sie nach einigen Momenten des Schweigens. Dorian lachte verlegen, rieb sich den Nacken und hob schließlich die Schultern.

„Na ja… Ich schätze, ich bin einfach reingerutscht. Ähnlich wie Nadim.“

„Warum folgst du uns dann? Es wird noch sehr gefährlich, und es braucht schon einen triftigen Grund, sein Leben aufs Spiel zu setzen.“

„Ich- Ich habe ebenfalls jemand verloren“, erwiderte Dorian. Es kostete ihn einiges an Überwindung, es anzusprechen. „Glaube ich zumindest. Es waren noch einige Freunde mit uns, im Palast… Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.“

„So, so“, sagte Brynja leise. Im Dunkel erkannte er ihren strengen Blick, und dieser sagte ihm deutlich, dass es ihr schwerfiel, mit einer Bande von vorwitzigen Dieben Mitleid zu empfinden. Dorian erinnerte sich an den Leichtsinn, mit dem sie in diese Tragödie gelaufen waren, und er schmerzte ihn einen Moment.

Aber er erinnerte sich auch an die positiven Seiten, an ihren Zusammenhalt und die Zuversicht, die sie daraus immer geschöpft hatten. Gemeinsam waren sie stark gewesen, eine richtige Familie… Nichts hatte sie entzweien können. Bis auf das Schicksal, dessen beklemmende Gegenwart in seinen Gedanken aber nun von den wehmütigen Erinnerungen hinweggeschwemmt wurde.

Er sah wieder das Haus am Bucket-Weg, die vertrauten Räume, die er mit seinen Freunden geteilt hatte. Er sah sie über Dächer eilen, vor Wachen fliehen und im Uhrturm die Beute des Tages zählen. Dorian plapperte einfach drauflos; eine Flut schöner und oft auch lustiger Erinnerungen kam in ihm hoch. Brynja blieb nichts anderes übrig, als zuzuhören, und so tat sie es. Er erzählte von den glücklichen Tagen, die er und seine Freunde unter der Obhut von Meister Yannick erlebt hatten, und je lebhafter seine Erzählungen wurden, je bunter er sie ausschmückte, desto klarer sah er sie vor Augen.

Dorian nahm nun nicht mehr die von der Nacht bedeckte Ebene wahr, sondern stattdessen seine Heimatstadt, mit all ihren vertrauten Plätzen und Orten, den Gassen und Straßen, in denen er aufgewachsen war. Er sah den Ort, an dem er zurückkehren würde, eines Tages… Dorian erzählte Brynja von seinem Leben und vergaß so bald, dass sie überhaupt anwesend war. Sein Blick ging in eine Ferne, in der sein Zuhause lag, und mit der Kraft seiner Worte versuchte er die Verzweiflung zu vertreiben, dass dies alles womöglich nicht mehr existierte.

Er merkte gar nicht mehr, wie die Zeit verging und dass schließlich ein orangeroter Ball langsam den Horizont mit rötlichem Dunst erfüllte und so die Nacht vertrieb. Irgendwann verstummte er und blinzelte in die Morgendämmerung. Dorian sah das Glühen der erwachenden Sonne; für einen Moment, zwischen Wachen und Träumen, sahen seine übermüdeten Augen das Meer unter der Sonne glänzen, und er wähnte sich wieder auf dem Uhrturm in Galdoria, von wo aus er so oft das Meer überblickt hatte. Wo er so oft von Abenteuern geträumt hatte, in denen niemand verletzt wurde, in denen niemand starb, und in denen niemand um einen anderen trauern musste. Er spürte die Sehnsucht, die ihn damals bewegt hatte, und er spürte sie auch jetzt.

In diesem Moment, wo er halb döste und halb in den Fahrtwind hinausblickte, der seine Augen tränen ließ, da ahnte er, dass diese Sehnsucht eine Illusion gewesen war.
 

Dorian richtete sich auf und schwankte einen Moment im Fahrtwind. Dann streckte er seine Faust der aufgehenden Sonne entgegen, als könnte er so den Mächten drohen, die auf sein Leben einen bedrohlichen Schatten warfen und denen gegenüber er sich so ohnmächtig fühlte. Brynja blickte zu ihm auf- und sah, wie er auf das Dach stürzte, als ein Treffer den Waggon erschütterte.
 

Die Detonation warf einen blutigen Schein auf Brynjas Gesicht. Der Feuerball loderte in die Nacht hinaus und warf geisterhafte Schatten in die Wüste. Durch den gesamten Zug ging ein metallisches Ächzen, gleich den Klagelauten eines riesigen, tödlich getroffenen Tieres.

„Was ist das!?“ schrie Dorian in den Fahrtwind. Auf allen Vieren kroch er über das Waggondach und starrte auf die Stelle, an der der Zug brannte. Es war ganz vorne, an der Lok, wie er sah.

Brynja kauerte in der Hocke und stemmte sich gegen die Bewegung, die jetzt durch den Zug ging und das Ächzen noch verstärkte. Das Geräusch veränderte seine Tonlage und ging in ein Kreischen über, das nach langsam zerreißendem Metall klang. Die Lok war mit einem gezielten Schuss außer Gefecht gesetzt worden, ging ihr durch den Kopf, und nun waren sie ihrem Angreifer ausgeliefert.

„Bleib, wo du bist!“ rief sie Dorian zu, der Anstalten machte, kopflos zu fliehen.

„Aber wir müssen runter, zu den anderen!“ schrie er zurück. Aus seinen Augen leuchtete nackte Furcht.

„Du bleibst, wo du bist! Rühr dich nicht vom Fleck, verdammt!“ schrie sie ihn an, und es tat seine Wirkung. Ihre aggressive Gebärde drängte seine Furcht für den Moment zurück, und die Gefahr, dass Dorian aus Panik in sein Verderben lief, war fürs Erste gebannt. Er kauerte sich auf das Waggondach und duckte sich, als müsste er einen Hieb fürchten. Derweil konnte Brynja ihre Angreifer einschätzen.

Das Geräusch wurde lauter. Schließlich erkannte sie das Gefährt, das auf gleicher Höhe mit dem Zug fuhr und den Geleisen immer näher kam. Es war ein tuckerndes Ungetüm, das eine Kanone, deren Lauf noch qualmte, auf breiten Rädern durch die Wüste transportierte. Undeutlich erkannte sie Mannschaften, die auf ihr hantierten und einen weiteren Schuss vorbereiteten.

Dann sah sie weitere, kleinere Fahrzeuge, die dem Größeren folgten. Auf ihnen erkannte sie die emporragenden Spitzen vielerlei Waffen, und darunter die dazugehörigen Träger, deren entschlossene Blicke sie durch die Dunkelheit hindurch zu spüren glaubte. Der Zug verlor stetig an Tempo. Ihr hin und her springender Blick sagte ihr, dass die Geschäftigkeit auf dem Kanonenwagen nachließ; ihr wurde sofort klar, was das bedeutete.

„Leg dich flach hin!“ schrie sie Dorian an. Immer noch eingeschüchtert von ihren Schreien und dem Angriff, leistete er ihr folge. Kaum, dass er mit der Wange am Metall dalag, ertönte eine weitere Detonation. Wieder ging ein Schlag durch den Zug, und im Schein des Feuerballs erkannte Brynja nun die Anzahl der Angreifer. Sie biss die Zähne zusammen und ließ mit einem klirrenden Geräusch ihren Armstachel herausgleiten.
 

Die Detonation hallte in seinen Ohren nach, als Dorian spürte, wie der Zug ruckartig zu einem Halt kam. Es kam ihm vor, als säße er auf dem Rücken eines riesigen Tieres, das von seinem Jäger eine tödliche Wunde empfangen hatte und nun, mitten im Todeskampf, strauchelte und über seine eigenen Beine stolperte.

Verwirrt stand er auf und blickte sich um. Der Feuerball der aufgehenden Sonne kam ihm jetzt matt vor im Vergleich zu der Detonation, die der Lok den Rest gegeben hatte. Der Fahrtwind kühlte sein Gesicht nun nicht mehr; es fühlte sich heiß an. Er drehte sich zu Brynja um, die sich wie ein in die Enge getriebenes Tier umsah. Langsam wich die Starre seiner Erschrockenheit, und er wurde sich der Gefahr bewusst. Er hörte das Geräusch, das erklingt, wenn ein Schwert gezogen wird, und das vielfach. Wie als unwillkürliche Antwort tastete er an seiner Seite und spürte sein Schwert im Gurt hängen.

„Wer sind diese Leute?“

Er zweifelte, ob sie ihm überhaupt zuhörte, doch sie antwortete mit kurzer Verzögerung.

„Das werden wir sehr bald herausfinden.“

In diesen Momenten, in denen die Starre von Dorian abfiel, regte sich wieder der drängende Impuls, etwas zu unternehmen.

„Wir müssen hier runter!“ rief er und deutete auf das Ende des Waggons. Aus dem Blickwinkel erkannte er, wie helle Scharen auf den jetzt stehenden Zug zuliefen. Und zwar von beiden Seiten, was seine neu erwachende Panik noch schürte.

„Ich habe gesagt, warte!“

Dorian schüttelte ungläubig den Kopf und wedelte mit den Armen. Doch eine Geste von ihr brachte ihn zum Schweigen. Mitten im Zwietracht des ausbrechenden Chaos und den einschüchternden Worten Brynjas blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie die kaiserlichen Soldaten aus dem Zug strömten und ihren Angreifern entgegenliefen.
 

Die aufgehende Sonne warf lange Schatten in ihre Richtung. Sie zeichnete die Umrisse dutzender Gestalten auf die stehenden Waggons, deren Glieder Waffen schwenkten. Die Soldaten trafen mit den Angreifern zusammen, und der erste Kampfdom öffnete sich wie eine blaue Blüte. Dann noch einer, und bald war der Platz gefüllt mit rotierenden Kreisen aus blauem Licht, in denen um Leben und Tod gekämpft wurde.
 

Das schrille Gekreische der Frauen und das Weinen ihrer Kinder schmerzte Sarik in den Ohren. Ihre Männer riefen um Hilfe oder schrien angsterfüllt Fragen hinaus, auf die niemand antwortete. Sarik drängte sich durch die Menschenmenge, die alle dem Ausgang entgegen drängten. In ihrer kopflosen Panik merkten sie nicht, dass sie dem entfernteren Ausgang entgegenrannten.

Sarik bahnte sich fluchend einen Weg durch die hysterische Menge. Von draußen erklang bereits Kampflärm, aufeinandertreffende Klingen, die Schreie Sterbender. Mit dem Griff seiner Waffe stieß er die Menschen beiseite, die keine Rücksicht mehr kannten und in diesem Tumult die Kinder ihrer Mitreisenden zu zertrampeln drohten. Mehrmals zerrte Sarik ein weinendes Kind auf die Beine, das im Begriff war, unter die Füße der in Panik fliehenden Menschen zu geraten. Er hatte alle Mühe dabei selbst nicht umgerissen zu werden, und mehrmals stieß er Menschen zur Seite, die wie aufgescheuchte Tiere flohen.

Endlich erreichte er den Ausgang. Die Tür stand offen, aber alle Menschen in diesem Waggon rannten in die andere Richtung, in die sie der Lärm des Kampfes trieb. Er schüttelte eine Sekunde lang den Kopf über diese Hysterie, die die Reisenden zur Bedrohung für Ihresgleichen werden ließ, und trat ins Freie.

In einer ruckartigen Bewegung zog er seine Klinge. Sein gesundes Auge tastete durch das Chaos, das vor den Waggons tobte. Ringsum kämpften die unbekannten Angreifer gegen die Soldaten aus dem Zug. Die Kampfdome drängten sich immer dichter aneinander; er wusste, was gleich passieren würde.
 

„Sie werden uns töten… Sie werden uns töten…“

Nadim kauerte auf dem Boden ihres Abteils, presste die Augenlider zusammen und stammelte immer wieder denselben Satz. Iria kniete bei ihm.

„Das werden sie nicht! Und jetzt reiß dich zusammen!“ schrie sie, mit Tränen in den Augen, den völlig aufgelösten Burschen an. Ihr Blick ging immer wieder zum Fenster hinaus, wo der Kampf tobte, um dann Nadim zu treffen, der auf dem Boden kauerte.

„Sie werden uns alle- “

Ein Klatschen erklang, und Nadim öffnete die Augen. Sein Gestammel erstarb; er blickte Iria ungläubig an, die ihm gerade eine Ohrfeige verpasst hatte.

„Reiß dich zusammen!“ sagte sie nun leise, aber mit gepresster Stimme. Ihre Augen waren rot, eine Träne lief über ihr Gesicht. „Sonst passiert uns noch wirklich was!“

Nadim stand nun auf, und Iria ergriff seine Hand. Wie eine verärgerte Mutter zerrte sie ihn an der Hand aus dem Abteil, solange die Nachwirkung der Ohrfeige seinen Schockzustand unterdrückte.

Der Gang war leer, alle Menschen waren schon aus dem Waggon geflohen. Draußen kämpften die Soldaten gegen die Angreifer, und in deren Rücken ging die Sonne auf. Einen Moment blinzelte Iria mit ihren tränennassen Augen in das warme Licht. Dann setzte sie, Nadim an der Hand haltend, den Weg fort, dessen Ziel sie selbst nicht kannte.
 

„Jetzt.“

„Was jetzt?“ fragte Dorian, den immer noch seine Angst gelähmt hielt, mit zitternder Stimme.

„Jetzt mischen wir uns ein. Die Soldaten haben die Front der Angreifer zerstreut. Vorher wäre es Selbstmord gewesen, einzugreifen.“

Brynja Peinhild breitete ihre Arme aus. Elegant wie ein Raubvogel schwebte sie in die Tiefe und rollte sich geschickt ab. Im selben Moment sah Dorian mit an, wie sich all die verschiedenen Kampfdome mit einem durchdringenden Geräusch auflösten und zu einem einzigen vereinten.

Sarik hielt sein Schwert in der Rechten, mit der Klinge nach hinten. Gefasst und abwartend wie ein Scharfrichter schritt er durch das Chaos. Sein gesundes Auge schwenkte über das Schlachtfeld, über das er sich mit vorsichtigen Schritten, wie über einen mit dünnem Eis überzogenen See, bewegte.

Er sah die Soldaten des Kaisers, die gegen die Übermacht ankämpften, und ihre Angreifer, vermummte Gestalten in sandfarbenen, abgerissenen Gewändern. Und er sah die Reisenden aus dem Zug, die mit von Todesangst erfüllten Gesichtern über dieses Schlachtfeld stolperten. Hinter sich spürte er bereits die zweite Hälfte ihrer Angreifer, die von der anderen Seite in den Zug eingedrungen waren und nun ihre Opfer vor sich hertrieben. Sie alle befanden sich unter dem kollabierten Kampfdom, der sie wie ein blau glühendes Gefängnis einschloss.

Sarik beobachtete, wie die Angreifer die verzweifelt sich wehrenden Soldaten niederrangen. Ebenso, wie Reisende aus dem Zug zwischen die Kämpfer gerieten und von schlecht gezielten Hieben getroffen wurden. Weder die mysteriösen Angreifer noch die Soldaten des Kaisers kümmerten sich um die Unbewaffneten in dieser Auseinandersetzung. Ein jeder von ihnen kämpfte nur für sich, für seine Haut, wie Tiere, für die es keine Flucht, sondern nur den Tod des Gegners oder den eigenen gab.

Aus dem Gewimmel um ihn herum löste sich eine Gestalt in sandfarbenen Fetzen, die sie völlig unkenntlich machten. Schreiend rannte sie auf Sarik zu und schwang ihr bereits dunkel beflecktes Schwert. Sarik stoppte abrupt. In seiner Brille spiegelte sich das erhobene Schwert seines Angreifers, das auf ihn niedersauste - und ebenso die Gestalt, die, von seinem Aufwärtshieb erfasst, zu Boden stürzte.

Sarik senkte die Klinge und spähte nach weiteren Angreifern. Aus dem Getümmel löste sich ein kaiserlicher Soldat, der ihn angesichts der Tatsache, dass Sarik keine Rüstung aus Galdoria trug, für einen Feind hielt.
 

Der Mann, auf dessen Rüstung Blutspritzer waren, schwang sein Schwert mit beiden Händen gegen Sarik. Dieser wich zurück, parierte die von blinder Wut geleiteten Hiebe und rief ihn an. Doch der Blutrausch im Verstand des Soldaten und der Lärm um sie herum schluckten alle Worte. Sarik fluchte lautlos und ging in die Offensive vor.

Mit wenigen Angriffen durchdrang er die Deckung des blindwütig kämpfenden Soldaten, um ihm dann die Waffe zwischen die Lamellen zu rammen, die seinen Unterleib schützen sollten. Sarik zog die Klinge aus seinem zu Boden gestürzten Gegner und ging sofort wieder in eine Verteidigungsposition.
 

Dorian sah, wie Brynja sich in das Gewühl stürzte. Der gesamte Platz vor dem Zug war eine einzige Arena, von blauleuchtenden Linien begrenzt. Von seiner Position aus konnte er kaum zwischen den Parteien unterscheiden. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.

Indem er Brynjas Bewegungen imitierte, sprang er in derselben Weise vom Waggondach. Er fuchtelte mit den Armen, doch anstatt mit dieser Bewegung den Fall zu verlangsamen, so wie es bei Brynja geschehen war, kam der Boden immer schneller auf ihn zu. Dorian schrie und strampelte mit den Beinen. Letztendlich schlug er hart auf dem Boden auf.

Dorian rang nach Luft und blickte hoch. Sein Schwert lag einige Schritte entfernt, mitten zwischen den Beinen der Kämpfenden. Er schmeckte Blut im Mund und kroch auf allen Vieren los. Einmal stolperte jemand über ihn, und er hörte einen Schrei. Er wollte nur noch die Arme über dem Kopf verschränken, die Augen schließen und warten, bis alles vorbei war.

Doch er zwang sich, weiter zu kriechen. Sein Schwert, das wenige Schritte und gleichzeitig unendlich weit entfernt war, bot ihm einen Fixpunkt in dieser Hölle aus Schreien, Waffengeklirr und dem Röcheln Sterbender. In seiner Wahrnehmung kam er nur langsam voran, bis er endlich die Hand um den Schwertgriff schließen konnte. Erleichtert atmete er auf, als ob nun alles ausgestanden wäre. Dann trat ein Fuß auf die Klinge, die er anheben wollte.

Erschrocken blickte er hoch. Eine der Gestalten, die ihre Konturen mit weiten, sandfarbenen Gewändern verschleierten, blickte auf ihn herab. Das Gesicht hinter der Vermummung war nicht erkennbar. Mehr aus Reflex denn aus Überlegung wälzte Dorian sich herum und trat der Gestalt mit dem ausgestreckten Fuß zwischen die Beine. Ein gequältes Stöhnen erklang, die Gestalt sank zu Boden.

Dorian kroch weiter, das Schwert in der Hand. Sein Blick war zu einem Tunnel aus hektisch zurückweichenden Beinen und zu Boden stürzenden Kämpfern geworden, und so kroch er immer weiter, um so einen Ausweg aus dieser Hölle zu finden.
 

Hargfried stand am Geländer des letzten Waggons und überblickte das Chaos. Keiner der Angreifer schenkte diesem hintersten Waggon Beachtung. Hargfrieds Hände schlossen sich knirschend um das Geländer. Sein Gesicht wurde tiefrot bei diesem Anblick. Die Schreie, das Waffengeklirr, das Sterben- all das fachte seinen fiebernden Verstand an und ließ ihn die Kontrolle verlieren. In jedem der Kämpfenden sah er dasselbe Gesicht, dieselbe Fratze. Die Fratze eines Mörders; des Mörders seines Vaters.

Mit einer fließenden Bewegung schwang er sich über das Geländer und nahm sein Schwert vom Rücken. Seine Lippen zuckten, und seine Hand öffnete und schloss sich mechanisch. Das Bedürfnis nach Vergeltung wurde übermächtig und spülte den letzten Rest von Vernunft in ihm weg. Das kriegerische Chaos wirkte wie Funkenflug, der das ausgetrocknete Stroh seines Irrsinns in Brand setzte.
 

Dorian kam mit weichen Knien auf die Beine und drehte sich um. Er war bis an die Grenze des riesenhaften Kampfdoms gekrochen. Hinter ihm tobte die Schlacht.

Sein Blick glitt über die vielen Zweikämpfe und über die Körper, die am Boden lagen, hinweg. Unter ihnen erkannte er nicht nur die Soldaten des Kaisers und die vermummten Angreifer, sondern auch Menschen, die zu keiner der beiden Parteien gehörten. Er sah Menschen, die zwischen den Zweikämpfen umherirrten und immer wieder zurückwichen vor dem Unheil, das sie umzingelte. Er sah Kinder, die sich an ihre Eltern klammerten, und Familien, die aus Angst vor den Wänden des Kampfdoms zurückwichen, um daraufhin Opfer der Gewalt zu werden.

Dorian sah rasende Kämpfer auf beiden Seiten, die auf alles einhieben, das ihnen vor die Klinge kam. Kämpfer, die nur noch von ihrem Instinkt, der sagte ‚töten oder getötet werden‘, geleitet wurden, und keinen Unterschied mehr zwischen bewaffnetem Feind oder unbewaffnetem Opfer machten.

Unbändige Empörung machte sich in Dorian breit. Schließlich gelang es ihr, seine Angst zu verdrängen. Die Furcht um sein eigenes Leben wich in demselben Maße, wie er die Auslöschung fremden Lebens mit ansehen musste. Sein Griff um die Waffe festigte sich, und so ging er los.
 

Er näherte sich einer Stelle, an der sich besonders viele Unbewaffnete zusammendrängten. Ringsum sie tobte der Kampf. Dorian konnte ihre angsterfüllten Gesichter klar erkennen. Es kam ihm vor, als schreite er durch eine Hölle, deren Hitze ihn jeden Moment in Brand setzen könnte. Immer wieder zuckte er zusammen, wenn dicht neben ihm der Verzweiflungsschrei eines tödlich Getroffenen erklang. Jedes Mal duckte er sich dann unter dem Hieb, der einen anderen getroffen hatte.

Bei der Gruppe angekommen, sah er neue Bestürzung auf den Mienen dieser Menschen. Kinder vergruben ihre Gesichter in den Röcken ihrer bleich gewordenen Mütter. Unbewaffnete Männer hielten ihre Frauen an sich gedrückt; die Ohnmacht, die sie peinigte, sprach aus ihren Mienen. Dorians unsicherer Blick traf sie und danach seinen Escutcheon, dessen Scheiben grün flackerten.

„Ich tue euch nichts!“ sagte Dorian und verbarg sein Schwert, als könnte er sie damit beruhigen. „Glaubt mir, ich will nur- “

Er kam nicht weiter. Ein zurücktaumelnder Kämpfer stieß mit ihm zusammen und warf ihn zu Boden. Dorian wälzte den Körper von sich und sah das Blut, das nun alles bedeckte. Ungläubig starrte er auf seine Hand, die voll mit der dunklen Flüssigkeit aus dem Leib des Vermummten war, der ihn umgestoßen hatte. Dieser rührte sich nicht mehr.

Dorians Blick hob sich und traf den Soldaten, der mit seiner dunkel und nass glänzenden Klinge auf ihn zuschritt. Aus dessen Augen leuchtete die Lust am Töten, und der Blick dieser Augen tastete nun über Dorian und die Menschen hinter ihm.

„Ihr Hunde…!“ zischte der Mann und zitterte dabei. „Ich werde euch auslöschen, euch alle!“

Dann stürzte er sich auf sie.
 

Dorian, der immer noch zur Hälfte unter dem toten Körper lag, spürte einen kalten Schweißausbruch auf der Haut. Er starrte auf seinen Escutcheon, dessen Scheiben immer noch angingen und wieder verloschen. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Soldaten, der mit erhobenem Schwert auf ihn zustürzte.

In einer übermenschlichen Anstrengung wuchtete er den toten Körper wie einen Schutzschild hoch und hörte, wie die Klinge seines Angreifers diesen traf. Das Schmatzen dicht neben seinem Ohr erfüllte ihn mit Ekel. Eilig stieß er den Körper von sich. Der Soldat zog seine Klinge aus der Leiche, dann wandte er sich Dorian zu.

„Du verfluchter Hund, du erbärmlicher, ich werde dich töten!“ schrie er und setzte sofort nach. Dorian hob sein Schwert und kämpfte im selben Moment gegen den Impuls an, die Augen zu schließen. Die Wucht des Hiebes schmerzte ihn bis in das Schultergelenk, doch es war ihm keine Pause vergönnt. Mit vom Fieber des Kampfes beschleunigten Bewegungen drang der Soldat gegen ihn vor. Ein besonders starker Angriff schleuderte Dorian zu Boden. Der Soldat, der nun wenige Schritte entfernt stand, wandte sich den unbewaffneten Menschen zu, die sich inmitten dieses Unheils aneinander drängten.

Rasende Wut sprach aus seinen Augen, ebenso wie der außer Kontrolle geratene Wille, zu zerstören. Dorian sah ihn sein Schwert gegen die wehrlosen Menschen erheben, und genau in diesem Moment spürte er Hitze in sich hochwallen.

„Nein!“ schrie Dorian aus tiefster Kehle. Mit der Linken fasste er in den Sand und schleuderte eine Handvoll dem Soldaten entgegen. Etwas davon traf diesen in die Augen, was ihn ins Straucheln brauchte. Dorian sprang auf und rannte auf ihn zu. Mit der Schulter rammte er ihn nieder, und schon wälzten sie sich über den Boden.

Unfähig, die eigene Waffe gegen den Widersacher einzusetzen, rollten sie inmitten dieses Durcheinanders aus Schreien und Waffengeklirr durch den Sand. Der wesentlich schwerere Soldat errang die Oberhand und drückte ihn zu Boden. Dorian wehrte sich verzweifelt, und der Soldat versuchte, sein Schwert gegen ihn einzusetzen. Endlich bekam Dorian eine Hand frei und fasste dem Mann in seinen offenen Helm.

Seine Finger fanden die Augen und drückten zu. Der Mann schrie jämmerlich auf und wälzte sich von Dorian herunter. Atemlos kroch Dorian von ihm weg, doch der Soldat fing sich schnell wieder. Er hörte schon die Schritte hinter sich und das Klappern seiner Rüstung. Verzweifelt suchte Dorian sein Schwert, das er in dem Handgemenge verloren hatte. Er sah es- und rollte sich zur Seite, als er das Schwert des Soldaten auf sich nieder sausen hörte.

Sand stob empor. Dorian lag auf dem Rücken. Er sah zu dem Soldaten auf, dessen Klinge fußtief im Sand steckte, sowie den Escutcheon an dessen Schwertarm, auf dem ein und eine halbe Scheibe grün leuchteten. Der Soldat zog die Klinge heraus, woraufhin Dorian sich zurückrollte. Er landete auf den Knien, kurz nachdem sich das Schwert des Soldaten in den Sand bohrte, dort, wo er eben noch gelegen hatte.

Dorian bemerkte seine eigene Waffe, die genau neben ihm lag; er ergriff sie und stand auf.
 

Wieder standen sie sich gegenüber, diesmal mit gleichen Kräften. Beider Gesichter waren schweißüberströmt und glühten von der Hitze des Gefechts. Ringsum legte sich der Schlachtlärm, nur noch wenige leisteten gegen die Angreifer Widerstand. Dorian erkannte aus dem Augenwinkel seine Begleiter, die sich soweit wie möglich aus den Kämpfen heraushielten. Dann traf sein Blick wieder den Soldaten ihm gegenüber.

Dieser rannte schreiend los. Sein Gesicht war mit Blut besudelt, fremdem wie auch eigenem. Seine Schritte waren aber noch voller Kraft. Er schwang seine Waffe mit der Wut und der Verzweiflung, wie sie nur jemand aufbringen kann, der nichts mehr zu verlieren hat.

Dorian sah ihn auf sich zustürmen wie ein wildes Tier. Der Soldat hatte endgültig nichts Menschliches mehr an sich, und Dorian ahnte, dass er ihn jetzt zerschmettern würde. Auf seinem Escutcheon flackerten die Lichter immer noch unentschlossen. Die Schritte des zu einem Berserker gewordenen Soldaten näherten sich schnell. Endlich stoppte das Flackern der grünleuchtenden Scheiben auf Dorians Escutcheon.

Zwei blieben voll.
 

Aus Dorians Mund kam ein Schrei. Nun rannte er ebenfalls los, wobei jeder seiner Schritte Sand aufwirbelte.

Wie zwei kollidierende Züge rasten sie aufeinander zu. Der Soldat holte im Laufen aus. Dorian erkannte die Bewegung rechtzeitig und machte eine entgegengesetzte. Die Waffe des Soldaten traf seine; doch sein Schwung war zielgerichteter und lenkte sie ab. Dorian schlug die Waffe zur Seite, drehte sich um seine eigene Achse herum, wendete währenddessen die Klinge in seinen Händen, und stieß sie mit aller Kraft nach hinten.

Der Soldat hing in seinem Rücken. Dorian spürte, wie sein Leib erschlaffte. In einer schwungvollen Bewegung zog er die Klinge aus seiner Brust, woraufhin der Soldat zu Boden sank. Dunkle Flüssigkeit tränkte den sandigen Boden. Der Kampf war zu Ende.
 

Dorian starrte noch einen Moment auf den Soldaten, dem er die Klinge in die Brust gerammt hatte, dann lief er zu den anderen.

Atemlos gelangte er zu Sarik und Brynja, die Rücken an Rücken inmitten dieses nun zur Ruhe gekommenen Schlachtfeldes standen. Dorian wechselte einen Blick mit den beiden; doch sie erwiderten seinen Blick, aus dem ein gewisses Triumphgefühl leuchtete, mit unübersehbarem Argwohn. Dorian schüttelte den Kopf, und in seinem Überschwang wollte er schon fragen ‚Wir haben doch gewonnen?‘ Sarik deutete mit dem Kinn in eine Richtung. Da sah er es.

Der Kampf war vorüber, ohne Zweifel. Der sandige Boden war bedeckt mit toten Körpern. Es waren hauptsächlich Soldaten des Kaisers, deren einst glänzende Rüstungen nun mit ihrem eigenen Blut besudelt waren. Auch waren einige der vermummten Angreifer unter den Leichen, und Dorian erkannte ebenso unbewaffnete Reisende, die zwischen die Fronten geraten waren und nun tot im Sand lagen.

Er sah auch, wie sich die blauen Linien, die den gesamten Platz vor dem Zug überspannten, auflösten. Das Licht des Sonnenaufgangs traf den Schauplatz nun wieder ungefiltert. Die Überlebenden aus dem Zug liefen den Geleisen entlang weg und flohen so. Schließlich bemerkte er die Übermacht, die sie umzingelte.

Auch wenn einige aus ihren Reihen gefallen waren, so waren es immer noch mehrere Dutzende der vermummten Kämpfer, die sie in einem dichten Kreis umschlossen hielten. Es waren Reihen gleichartig aussehender Kämpfer, die alle dieselben sandfarbenen Tücher vor dem Gesicht trugen. Dann hörte er einen Schrei, auf den hin sie sich alle gleichzeitig umdrehten.

Hargfried zog seine Klinge aus dem letzten Gegner, einem galdorianischen Soldaten. Dann stürmte er los in Richtung des Kreises aus vermummten Kämpfern, die sie umzingelt hielten. Sarik erkannte die Lage und stellte dem vorbeilaufenden Mann ein Bein. In seiner Kampflust übersah er das gestreckte Bein und fiel der Länge nach hin.

Bevor Hargfried sich noch aufrappeln konnte, drückte ihm Sarik ein Knie in den Rücken, ohne den Blick von der Übermacht zu nehmen, die sie eingekreist hielt.

„Geh von mir runter…!“ stöhnte Hargfried völlig außer sich. „Ich werde sie alle töten“, keuchte er und rang um die Luft, die Sariks Knie aus ihm herauspresste.

„Nur mit der Ruhe“, flüsterte Sarik ihm zu. Der Blick seines gesunden Auges glitt über die Armee der vermummten Krieger, die sich kampfbereit, aber noch abwartend verhielt. Einer von ihnen trat vor und steckte sein Schwert weg. Sarik erkannte an den erwartungsvollen Blicken der anderen Kämpfer, dass dies der Anführer sein musste.

Die Gestalt lüftete ihre Vermummung. Zum Vorschein kam ein Gesicht von sehr dunkler, fast schwarzer Hautfarbe. Braune Augen musterten die kleine Gruppe mit Argwohn wie auch Neugier. Kurzgeschorenes dunkles Haar mit ausgeprägten Geheimratsecken sowie ein die Kinnpartie freilassender Backenbart umrahmten dieses Gesicht, das mehr Interesse als Feindseligkeit zu zeigen schien.

„Ihr gehört nicht zu den galdorianischen Truppen“, begann die Person mit einer rauen Stimme, die nach intensivem Tabakkonsum klang. „Normale Reisende seid ihr aber auch nicht.“

Hargfried stöhnte immer noch unter Sariks Knie. Dieser beobachtete die Situation, und aus den Worten dieses Anführers erkannte er die Bereitschaft zu Verhandlungen, zumindest aber den Wille, ihn und seine Gruppe nicht sofort zu töten.

„Wir haben keine feindliche Absicht euch gegenüber“, sagte Sarik und lockerte sein Knie in Hargfrieds Rücken. Dieser stöhnte und fluchte immer noch leise vor sich hin. Sarik legte ihm die Hände auf die Schultern, und diese Geste schien tatsächlich eine beruhigende Wirkung auf ihn auszuüben.

„Dafür habt ihr aber einige von meinen Leuten getötet“, antwortete der Fremde und verschränkte dabei die Arme. Ganz vorsichtig ließ Sarik Hargfried auf die Beine kommen. Diese Situation war ein Pulverfass und Hargfried der fehlende Funke, war er sich nur zu gut bewusst.

„Ihr habt angegriffen, und wir haben uns verteidigt“, sagte Sarik mit Nachdruck, vermied aber einen aggressiven Ton. Sein Blick schwenkte kurz zu Brynja und Dorian. Erleichtert stellte er fest, dass sie sich ruhig verhielten und nichts taten, das ihre Lage verschlimmern konnte.

„Ich werde… alle töten…“, stammelte Hargfried zwischen zwei tiefen Atemzügen. Das Rot seines Gesichts schwand nur langsam. Sein wirrer Blick glitt über die Anzahl der Kämpfer, die sie umstellt hielt. Sariks Hände lagen auf seinen Schultern und streichelten diese fast. Zugleich war er aber bereit, ihn jeden Moment zu Boden zu reißen, sollte er Anstalten machen, nach seinem vor ihm liegenden Schwert zu greifen und die Situation eskalieren zu lassen.

„Hier wird niemand mehr getötet…“, flüsterte Sarik in Hargfrieds Ohr. „Das hoffe ich zumindest. Mein Name ist Sarik Metharom“, sagte er dann lauter und für alle hörbar. „Und wer, wenn man fragen darf, sind Sie?“

Der dunkelhäutige Mann löste die Verschränkung seiner Arme und stützte sie in seine Hüften. An der Art, wie die anderen Kämpfer auf jede seiner Bewegungen achteten, erkannte er ihre unbedingte Loyalität ihm gegenüber. Und an dem sich vorsichtig auf seinem Gesicht abzeichnenden Lächeln las er die Überlegenheit ab, an der dieser Mann keinen Moment zweifelte.

„Ich bin Largo Cotter, und ich leite die Befreiungsarmee Galdorias. ‚Tod den Unterdrückern, und Freiheit dem Volke‘, das ist unser Wahlspruch. Und welche Angelegenheit führt euch in diese Gegend?“
 

Sarik zögerte einen Moment, bevor er antwortete. Dabei ließ er seine Hände keinen Moment von Hargfried. Dorian beobachtete fasziniert das Kräftemessen zwischen diesen beiden Männern und vergaß darüber völlig die Gefährlichkeit der Situation, in der sie nach wie vor schwebten.

„Unser Reiseziel ist nicht von Belang für- “

„Ich suche das Maleficium!“ schrie Hargfried plötzlich und schnitt Sarik so das Wort ab. Dieser fuhr herum, und zum ersten Mal, seit Dorian sich erinnern konnte, zeigte sein Gesicht so etwas wie Entsetzen.

Ein Raunen ging durch die Menge der vermummten Kämpfer. Der Mann namens Largo Cotter hob eine Augenbraue.

„So ist das also… Sehr interessant.“

Sarik schüttelte langsam den Kopf und seufzte gedehnt. Hargfried ballte die Fäuste und warf trotzige Blicke, wie ein in Wut geratenes Kind, in alle Richtungen.

„Ich finde das Maleficium, und damit die Mörder meines- “

„Halt deinen verdammten Mund“, zischte ihn Sarik an, und tatsächlich verstummte der junge Mann.

„Sagt bloß, ihr seid an den Geschehnissen im Palast beteiligt gewesen“, fragte Largo Cotter, und seine Stimme hatte einen belustigten Klang. Sarik, der offenbar den nächsten Zug in dieser schwieriger werdenden Partie überlegte, drehte den Kopf hin und her.

„Und wenn es so wäre?“

„Die Feinde des Kaisers sind unsere Freunde. Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?“ erwiderte er lachend.
 

„Das hat sich ja schnell herumgesprochen“, flüsterte Dorian. Brynja warf ihm einen pessimistischen Blick zu, dann richtete sie ihr Augenmerk wieder auf die sie umzingelnde Übermacht.
 

„Woher glauben Sie das zu wissen?“ fragte Sarik, der sichtlich um seine sonst so gefestigte Fassung rang.

„Wir mögen nur eine kleine Gruppe sein“, erklärte Largo Cotter, „aber wir haben unsere Informanten. Auch im Kaiserpalast, und dort herrscht seit zwei Tagen der Ausnahmezustand.“ Er begann, vor ihnen auf und ab zu schreiten, und lachte zeitweise dabei. „Der gute Modestus sieht nun sein Kaiserreich den Bach hinuntergehen. Der Krieg steht nicht zum Besten für unser Land.“

Sarik blickte den fröhlich wirkenden Mann scharf an.

„Sie wirken ja richtig erfreut über diese Situation.“

„Alles, was den Kaiser schwächt, ist gut für uns!“ entgegnete er harsch, als hätte Sarik einen wunden Punkt getroffen. „Lange genug hat dieser Unterdrücker wie ein Gott geherrscht, seine Zeit ist nun abgelaufen!“

„‘Tod den Unterdrückern‘…“,wiederholte Sarik angesichts dieses Gefühlsausbruchs die Parole der Rebellen. „Zählt ihr diese Leute“, er deutete auf die getöteten Zivilisten, die zwischen den Soldaten des Kaisers lagen, „auch zu den Unterdrückern?“

Die bis dahin überlegen wirkende Miene von Largo Cotter bekam einen Riss. Wutschnaubend ging er auf Sarik zu. Dieser hielt immer noch Hargfried fest, der nun ruhig, beinahe apathisch wirkte. Gelassen sah Sarik dem Mann entgegen, der mit weiten Schritten auf ihn zu kam. Bevor er ihn erreichte, stoppte ihn aber einer seiner eigenen Leute.

Die vermummte Gestalt hielt ihn an der Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die anderen Kämpfer ringsum tauschten verunsicherte Blicke; es war offensichtlich, dass sich etwas geändert hatte. Cotter lauschte seinem Mitstreiter, dann klarte sich seine Miene. Sie nahm wieder einen sachlichen Ausdruck an, und so wandte er sich mit ruhigen Worten an die Gruppe.

„Wir sind hier nicht mehr lange allein, habe ich gerade vernommen. Entscheidet euch: Wenn ihr wollt, könnt ihr mit uns kommen. Oder ihr bleibt hier und wartet auf die kaiserliche Armee, die diesen Vorfall schon sehr bald untersuchen wird. Weiterfahren könnt ihr jedenfalls nicht mehr“, sagte er und deutete auf die Lok, die immer noch schwarz zum Himmel qualmte.

Das Gewicht dieser Entscheidung war Sarik anzusehen. Trotzdem fällte er sie innerhalb weniger Momente. Er nickte dem Mann namens Largo Cotter zu.

„Einverstanden. Wir nehmen eure Gastfreundschaft in Anspruch, wenn es Ihnen recht ist.“

Dorian hörte ein entsetzt klingendes Einatmen von Brynja neben ihm. Dann antwortete Cotter lachend.

„Gerne! Die Feinde des Kaisers sind unsere Freunde! Und nachdem ihr jetzt unsere Freunde seid, habt ihr sicher auch kein Problem damit, uns eure Waffen auszuhändigen.“

Brynja öffnete weit den Mund, und Dorian glaubte schon, einen lebhaften Widerspruch aus ihrem Mund zu hören.

„Ist das wirklich nötig?“ fragte Sarik, der immer noch Hargfried an den Schulter hielt. Aus diesem schien aber jegliche Kampflust gewichen zu sein; er blickte nur abwesend zu Boden.

„Ich fürchte, ja“, erklärte Cotter und zeigte auf einen der getöteten Rebellen, von denen mehrere auf das Konto ihrer Gruppe gingen. „Ich traue euch ja, aber meine Leute sind noch etwas skeptisch, wie ihr sicher verstehen könnt. Und wir wollen doch kein blutiges Missverständnis riskieren, oder?“

Sariks Blick streifte Dorian und Brynja. Dann wandte er sich wieder dem Anführer der Befreiungsarmee zu.

„In Ordnung.“
 

Im Nu sahen sie sich von vermummten Gestalten umringt. Im Hintergrund hörte Dorian, wie sie ihre lärmenden Fahrzeuge in Betrieb nahmen. Sarik reichte den Männern Hargfrieds Schwert. Dabei schien er allein mit der Kraft seines Blickes den irrsinnigen jungen Mann im Zaum zu halten. Doch dieser reagierte kaum, als die Rebellen seine riesenhafte Waffe mit sichtbarem Erstaunen begutachteten und in Verwahrung nahmen.

Sarik selbst überreichte ihnen ebenfalls sein Schwert, und danach Dorian, der in diesem Moment sogar eine gewisse Erleichterung spürte. Es war ihm, als würde er nicht nur diese Waffe abgeben, sondern als könnte er sich auf diese Weise der Verantwortung und auch der Vergangenheit, die dieser Waffe anhaftete, entledigen.

Als Letztes war Brynja an der Reihe. Mit unübersehbarem Widerwillen händigte sie die vielen kleinen Dolche aus, die sie an allen möglichen und unmöglichen Stellen ihres Körpers trug. Zum Schluss deuteten die vermummten Kämpfer auf ihre Armschiene und den Stachel darin, den sie zu verbergen suchte. Dorian sah, wie sie allein mit Blicken die Umstehenden zu töten versuchte; erst auf ein Wort Sariks betätigte sie einen Mechanismus, woraufhin sie den Stachel aus der Armschiene entfernen konnte.

Sie blickte der Waffe hinterher, als hätte ihr jemand das eigene Kind geraubt. Dann funkelte sie Sarik so finster an, dass es Dorian mit der Furcht zu tun bekam. Daraufhin folgte sie mit einem Gesicht gleich einer Gewitterwolke den Anweisungen der Rebellen, die ihnen einen Platz auf der Ladefläche eines der Gefährte zuwiesen.

Dorian wandte sich nach dem Zug um und lief los. Die Aufmerksamkeit der Rebellen richtete sich auf ihn, und auch Sarik blickte ihm hinterher. Dann sahen sie, wie er mit Iria und Nadim zurückkehrte. Iria blickte sich verängstigt um und klammerte sich unwillkürlich an Dorians Arm, der versuchte, ihr die Situation zu erklären. Nadim trottete hinterher, starrte auf nichts anderes als seine Füße und wirkte in seiner emotionalen Lähmung wie ein Schlafwandler.
 

Innerhalb kurzer Zeit saßen die Rebellen auf ihren Fahrzeugen auf, von denen aus sie diesen Angriff ausgeführt hatten. Als Dorian gerade auf die Ladefläche hinaufklettern wollte, sah er unter den vielen Toten im Sand auch den Zugvorsteher, der ihnen vor der Abfahrt die Karten verkauft hatte. Eine Wunde am Hals hatte ihn getötet, und seine Augen starrten leer, beinahe friedlich in den Morgenhimmel. Wäre das viele Blut nicht auf seiner Kleidung gewesen, Dorian wäre der Illusion erlegen, dass ein zufriedener Ausdruck auf seinem leblosen Gesicht lag.
 

Die breiten Räder der mechanischen Ungetüme federten die Unebenheiten des Wüstenbodens nur zum Teil ab. Bald schmerzte ihm der Rücken. Um sich abzulenken, sah Dorian sich auf der Ladefläche des Fahrzeugs um.

Er und seine Begleiter saßen auf der einen Seite der Ladefläche. Nadim und Iria flankierten ihn. Iria hielt immer noch seinen Arm fest, und dies berührte ihn seltsam. Deutlich spürte er ihre Verunsicherung, die sie den nächstbesten Halt suchen ließ. Es weckte aber auch ein anderes Gefühl in ihm. Er spürte das Bedürfnis, sie zu schützen, doch dieses Bedürfnis hatte einen schweren Stand.

Einerseits wegen seiner Unfähigkeit, ihr weiteres Schicksal beeinflussen zu können angesichts dieser Übermacht, deren Gefangene sie in Wahrheit waren. Und andererseits wegen seiner Überzeugung, dass sie außerhalb dieser bedrohlichen Situation ihm gegenüber wieder jene Kälte zeigen würde, die sie ihn von Anfang an hatte spüren lassen.

Etwas weiter neben sich sah er Sarik, und danach Hargfried. Wie durch ein Wunder verhielt sich dieser immer noch ruhig. Es schien, dass durch den Verlust seiner Waffe auch sein Irrsinn gedämpft worden war. Aber Dorian spürte, dass dieser immer noch da war und unter seiner apathischen Oberfläche lauerte. Sarik wirkte, als wäre er bereit, ihn jederzeit überwältigen zu können, um mit einem Anfall des jungen Mannes auch eine Verschlimmerung ihrer ohnehin prekären Situation zu verhindern.

Ganz am Rand, direkt an der Ladeklappe, saß Brynja. Sie starrte die meiste Zeit nach hinten in die Ferne. Nur hin und wieder wandte sie sich den Insassen des Fahrzeugs zu. Selbst den Rebellenkämpfern, die ihnen gegenüber saßen und die hinter ihren Vermummungen keine Reaktionen sichtbar werden ließen, schienen ihre giftigen Blicke Respekt einzuflößen. Sie galten aber besonders Sarik, den nur Hargfried von ihr trennte.

Mehrmals sah Dorian einen Blick von ihr aufblitzen, der Sarik galt, und der den Umstand, sie zum Feind zu haben, als etwas im höchsten Maße Bedrohliches wirken ließ.

Dorian ließ den Blick über die anderen Fahrzeuge der Rebellenarmee schweifen. Die meisten waren längliche Metallungetüme mit geräumigen Ladeflächen, auf denen dichtgedrängt Personen saßen. Weiter vorne gab es Führerstände, die wie Käfige wirkten, und in denen immer je zwei der Rebellenkämpfer alle Hände voll zu tun hatten, die ratternden und scheppernden Fahrzeuge in der Spur zu halten.

Dann ging sein Blick zu dem größten der Fahrzeuge. Im Vergleich zu ihm wirkten die kleineren Gefährte wie Insekten, die ihre Königin umschwirrten. Es bewegte sich auf rasselnden Ketten fort, die unaufhörlich Sand aufwirbelten. Diese Konstruktion hatte nur wenig Besatzung, aber dafür eine riesenhafte Kanone, die auf seiner Oberseite in einer drehbaren Lagerung montiert war. Jede Bodenwelle ließ die Kanone auf und ab schwenken, so dass es wirkte, als könnte sie sich jeden Moment aus ihrer Halterung lösen.

Nachdem sich Dorian an dieser metallenen Monstrosität satt gesehen hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Land. Die Landschaft hatte sich stark verändert seit dem gestrigen Tag, und jetzt erst, in diesem Moment der erzwungenen Ruhe, wurde ihm dies so richtig bewusst. Soweit sein Auge reichte, setzten sich die sandigen, von Felsblöcken durchsetzten Hügel fort. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel und brannte erbarmungslos auf das trockene Land herab. Sein von dem Kampf an diesem Morgen aufgewühlter Geist kam allmählich zur Ruhe, und ihm fiel der Name dieser Gegend wieder ein.

Dorian erinnerte sich an die Erzählungen der Vagabunden, denen er in den Spelunken des Bucket-Weges gelauscht hatte. Immer wieder war dabei die Nahami-Wüste weit im Norden von Galdoria erwähnt worden. Das monotone Dröhnen des Fahrzeugs und das sanfte Wiegen des Aufbaus machten ihn schläfrig, und so wurden die Erinnerungen in seinem Geist noch lebendiger. Immer mehr drängten sie sein Wachbewusstsein zur Seite. Dorian sah nun die Erzählungen vor sich, von den Gefahren des Landstrichs, von Banditen, die diese verlassene Gegend unsicher machten, und von Ungeheuern, die Reisenden auflauerten.

Er sah deutlich die sagenumwobenen Monstren vor sich, die erlesene Schätze bewachten und auf Abenteurer warteten, um sich mit ihnen zu messen. Dorian konnte den Reichtum beinahe riechen, der hier, mitten in der Einöde, auf wagemutige Recken wartete, um ihnen den Lohn ihrer Mühen zu vergelten. Hinter jedem Felsen und jeder Sanddüne glaubte er bereits mythische Schätze zu erblicken, und je mehr ihn die Last der Wirklichkeit drückte, desto deutlicher erstanden diese Fantasien vor seinen inneren Augen zum Leben.
 

Ein plötzlicher Ruck riss ihn aus seinen Träumen. Dorian blinzelte schläfrig und sah sich um. Das Fahrzeug stand, die Ladeklappe wurde herabgelassen.

„Wir sind da“, sagte einer der Rebellen zu ihm. Seine Stimme klang erfreut bei diesen Worten. Momente später schwang er sich von der Ladefläche, wie auch seine Kameraden. Dorian richtete sich auf, und sein Rücken schmerzte dabei. Da sah er das Lager der Befreiungsarmee.
 

Eine Stadt aus Zelten ragte aus dem Wüstenboden. Zahllose Dächer aus sandfarbenem Tuch knatterten im Wind. Zwischen ihnen herrschte reges Leben. Dieser Ort wirkte friedlich für Dorian, trotz all der bewaffneten Kämpfer. Er verstand, dass dies eine Heimat war: Zwar nicht für ihn oder einem seiner Mitreisenden, sehr wohl aber für diese Menschen.

All seine Glieder schmerzten von der Fahrt, als er von der Ladefläche sprang. Er bildete mit seinen Mitreisenden einen kleinen Haufen und kam sich dabei verloren vor. Ringsum kam Bewegung in ihre Kolonne. Jetzt sah er auch die Verwundeten, die auf Tragen von den Fahrzeugen gehoben wurden.

Nun bemerkte er auch Menschen, die dieselben sandfarbenen Gewänder trugen, allerdings ohne Vermummung. Sie hießen die Kämpfer willkommen und kümmerten sich sofort um die Verletzten. Über so mancher Trage beugte sich jemand und begann zu weinen. Von weitem hörte er das Schreien eines Kindes, das wohl gerade von seiner Mutter beruhigt wurde.

Wie Ausgestoßene standen sie in diesem Wirrwarr, bis endlich der Mann, der sich ihnen als Largo Cotter vorgestellt hatte, zu ihnen kam.

„Nicht, dass wir auf euch vergessen“, sagte er zwinkernd und lächelte dabei. Es war aber ein bitteres Lächeln, wie Dorian erkannte. Er spürte, dass dieser Mann heute den Tod von Kameraden, wahrscheinlich sogar Freunden, miterlebt hatte.
 

Largo Cotter führte sie in das Lager, wobei er auf dem Weg dorthin von etlichen Personen angesprochen wurde. Jedes Mal hörte er geduldig zu, erteilte Anweisung oder Rat, je nach Art der Anfrage. So brauchten sie an ihr Ziel wesentlich länger als die kurze Wegstrecke es hätte vermuten lassen. Aber Dorian spürte in ihm das Bedürfnis, dies eigenhändig zu erledigen.

Schließlich kamen sie zu einem leeren Zelt, das er ihnen als Aufenthaltsort zuwies. Daneben ließ er zwei Wachposten Aufstellung beziehen, „zu eurem Schutz“, wie er lachend erklärte. Dann gab er Sarik ein Zeichen, ihm zu folgen. Dieser nickte ihm zu, wandte sich aber vorher noch an seine Wegbegleiter.

„Passt mir auf Hargfried auf“, wies er sie mit eindringlicher Stimme an und deutete auf den jungen Mann, der sich auf einer der bereitstehenden Liegebetten in dem Zelt niederließ. „Wenn es sein muss, überwältigt ihn, bevor er uns in noch größere Probleme bringt. Verhaltet euch selbst ebenso ruhig, dann kommen wir aus dieser Sache heil raus.“

Er nickte ihnen allen noch einmal zu, was sie erwiderten; bis auf Brynja, die nur leise schnaubte und in das Innere des Zelts ging. Dann ging Sarik mit Largo Cotter weg und ließ sie hier zurück.
 

Ziemlich in der Mitte der Zeltstadt befand sich jenes Zelt, in das Cotter Sarik nun führte. Sein weitläufiger Innenraum enthielt einen langen Kartentisch, auf dem Lineale und Kreidestücke lagen. Ebenso standen Aufhängungen mit Karten an den Wänden des Zelts. Sarik verstand schnell, dass dies die Kommandozentrale der Befreiungsarmee war.

An den Karten standen Personen in denselben sandfarbenen Gewändern, wie sie Cotter trug, die ebenso keine Rangabzeichen erkennen ließen. Trotzdem spürte er die Hierarchie, in der dieser Cotter ganz oben stand, welche diese Leute von den Karten aufblicken und vor ihrem Befehlshaber salutieren ließ.

Largo Cotter wies ihm einen Platz vor einem Klapptisch zu, auf dem sich Papiere stapelten und auf dem zu einem Funkgerät wirre Kabelstränge führten. Sarik setzte sich hin, Cotter nahm hinter seinem Tisch Platz. Eine Weile verbrachte er nur damit, in den Papieren zu blättern, mit Untergebenen, die an seinen Tisch kamen, kurze, abgehackte Gespräche zu führen und die eine oder andere Anweisung in das Funkgerät zu sprechen.

„Durch dieses Ding haben Sie Kontakt mit der Hauptstadt?“ fragte Sarik, dem bewusst war, dass er das Gespräch am besten mit etwas begann, das diesem Mann angenehm war.

„Allerdings“, antwortete Cotter nicht ohne Stolz. „Unsere Reichweite deckt die Hälfte des Landes ab. Kein Vergleich zu dem veralteten Schrott, den die Armee verwendet.“

„Interessant“, erwiderte Sarik. „Es ist übrigens ziemlich ungewöhnlich für einen Oberbefehlshaber, an einem Angriff teilzunehmen.“

Largo Cotter ließ die Papiere in seinen Händen sinken und wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu. Es entging Sarik nicht, dass er ein für diesen Mann wichtiges Thema angeschnitten hatte.

„‘Oberbefehlshaber‘ klingt ziemlich protzig“, sagte er und lächelte dabei. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Ich verfüge über nicht viel mehr als hundert Männer und Frauen unter Waffen. Es ist eine kleine, aber schlagkräftige Truppe. Von Zeit zu Zeit führen wir Nadelstiche aus, so wie heute. Und es ist mir wichtig, persönlich dabei zu sein bei unseren Operationen.“

„Trotz des Risikos?“

„Kein größeres Risiko als jenes, das für uns alle besteht“, erwiderte Cotter lebhaft. „Genau diese Ansichten sind es, gegen die wir kämpfen. Der Kaiser ist ganz oben“, dabei gab seiner Stimme einen scherzhaften Klang und hob die Hand, „und seine Soldaten sind ganz unten.“ Nun senkte er die Hand, ebenso wie den Klang seiner Stimme. „Und dort sterben sie auch, unbemerkt von ihm. Nein, mein guter Herr Metharom: wenn dieser Kampf erfolgreich und die Herrschaft des Kaisers Vergangenheit ist, dann geht die Macht vom Volke aus. Und nicht von irgendeinem Schnösel, der in seinem Palast sitzt und vom Leid seiner Untertanen nichts mitbekommt.“

Nach dieser Ansprache schnaubte Cotter empört und wandte sich wieder seinen Papieren zu. Sarik sah sich um: Es herrschte reges Kommen und Gehen in dieser Kommandozentrale. Zugleich spürte er aber auch die Zuversicht, die dieser unbedeutende Sieg am heutigen Morgen diesen Menschen verliehen hatte. Schließlich legte Cotter seine Papiere beiseite, faltete die Hände und blickte Sarik ernst, aber auch ein wenig müde an.

„Nun gut. Ich habe ein paar Fragen an Sie, und ich bin überzeugt davon, Sie sind schlau genug, mir ehrlich zu antworten.“

„Gewiss doch. Fragen Sie“, erwiderte Sarik gefasst.

„Sie sind also jene Leute, die vor zwei Tagen für ziemlichen Krawall im Palast gesorgt haben. Ich verstehe, dass sie nun fliehen. Aber warum mit der nördlichen Bahnlinie? Diese lässt der Kaiser bewachen. Nicht besonders gut, wie wir schon des Öfteren festgestellt haben“, fügte er mit einem raubeinigen Lächeln hinzu. „Und Sie wussten doch, dass diese Linie nicht besonders sicher ist. Sie wird in letzter Zeit fast nur noch von Flüchtlingen genützt, die jedes Risiko einzugehen bereit sind. Wieso also von ihnen?“

Sarik sah sich dem forschenden Blick seiner braunen Augen ausgesetzt. Seine nach außen hin gefasste Fassade täuschte darüber hinweg, dass er sich die ganze Zeit schon die Antwort für diese unausweichliche Frage zurechtlegte. Und noch jetzt, wo er sie geben musste, war er mit ihr nicht besonders zufrieden.

„Das ist richtig; würden wir einfach nur fliehen, dann gäbe es bessere Routen. Was meinem Mitstreiter vorhin herausgerutscht ist, stimmt: Wir suchen das Maleficium, und wir sind der Meinung, die Spur seines Diebes verfolgen zu können.“

Largo Cotter hob eine Augenbraue; ein ungläubiges Lächeln zeichnete sich dabei auf seinen Zügen ab.

„Tatsächlich? Wie soll das funktionieren?“

Diesen Moment hatte Sarik vorausgeahnt, mehr noch befürchtet. Er blinzelte mehrmals hinter seiner Brille und schob dabei unauffällig den Ärmel über seinen Escutcheon.

„Nördlich von hier liegt das Barantir-Gebirge. Das Ziel des Diebes liegt dort, ich bin mir sicher.“

„Ach ja? Verraten Sie mir doch, wie Sie zu dieser Feststellung gekommen sind.“

„Ich habe mich mit den Schriften des heiligen York beschäftigt. Ich suche das Maleficium schon lange. Und der Dieb ebenfalls, deshalb wird er dort sein, kein Zweifel.“

Sarik gab sich Mühe, überzeugend zu klingen, so überzeugend, dass dieser Cotter ihm unmöglich glauben konnte.

„Interessant… Nach meinem bescheidenen Wissen sind keine Aufzeichnungen des heiligen York erhalten geblieben. Und Sie erzählen mir, dass Sie doch welche gefunden haben? Und aufgrund dessen wissen Sie, wohin dieser Kerl mit dem Maleficium unterwegs ist?“

Sarik nickte eifrig. Er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen über die Stirn lief. Angestrengt forschte er in den Zügen dieses Mannes, die noch weniger als seine eigenen den Inhalt der Gedanken verrieten. Und er sah sich ebenso dem prüfenden Blick eines Mannes gegenüber, der gelernt hatte, Menschen einzuschätzen und Lügen zu erkennen. Hoffentlich nicht besser als ich, war Sariks drängendster Gedanke.

„Also gut“, sagte Cotter schließlich, nachdem eine gefühlte Ewigkeit verstrichen war. „Wenn Sie so sehr davon überzeugt sind, ihn und das Maleficium dort zu finden, bitte sehr. Das ist eine sehr ominöse Geschichte, aber ich will sie nicht davon abhalten.“

Cotter machte eine kurze Pause, lehnte sich zurück und lächelte vergnügt, bevor er weiter sprach.

„Beim alten York, bekämen wir das Maleficium in die Hände, dann wäre die Veränderung in unserem Land endgültig nicht mehr aufzuhalten.“

Dann beugte er sich vor und setzte wieder die ernste Miene des Befehlshabers und Entscheidungsträgers auf, der er war.

„Als kleine Anerkennung dafür, dass sie dem Kaiser in die Suppe gespuckt haben, will ich sie bis an den Fuß des Barantir-Gebirges bringen. Von da an können sie ihre Suche fortsetzen, bei der ich ihnen übrigens viel Glück wünsche.“
 

In der Begleitung eines Rebellenkämpfers ging Sarik zurück zu dem Zelt, in dem seine Wegbegleiter bereits bei einer Mahlzeit saßen, die ihnen ihre ‚Gastgeber‘ kredenzt hatten. Sie alle aßen gierig, wie er sah. Besonders Hargfried glich seine Apathie durch besonders angestrengtes Hineinschaufeln des dampfenden Eintopfs aus. Ähnlich wie Dorian, Iria und Nadim. Nur Brynja stocherte lustlos in ihrer Schüssel und litt sichtbar unter der Trennung von ihren Waffen.

Sarik drehte sich um und sah, wie der Rebellenkämpfer wieder seines Weges ging, nun, wo sie an ihrem zugewiesenen Platz waren. Jetzt erst gestattete er es sich, erleichtert durchzuatmen.
 

Dorian hob den Kopf von seiner Schüssel und sah Sarik, der in das Zelt trat. Er ließ sich auf einen der Stühle sinken. Im selben Moment erhob Brynja sich vom Tisch und suchte die entfernteste Ecke des Zelts auf, um sich dort auf einer Liege auszustrecken. Dorian wechselte mit Iria einen vielsagenden Blick. Nur Nadim, der sich beim Essen vor lauter Gier ständig verschluckte, bekam von alledem nichts mit.

„Und? Was haben Sie denen erzählt?“ begann Dorian. Sarik zog eine der bereitstehenden Schüsseln zu sich heran und blickte hinein, als könnte er ihrer aller Zukunft aus ihr herauslesen.

„Die Wahrheit natürlich. Zumindest den größten Teil davon“, antwortete er und begann, mit dem bereitliegenden Löffel in der Schüssel umzurühren.

„Die Wahrheit? Ob das eine gute Idee ist…?“

„Die Wahrheit war das Einzige, das- “

Sarik drehte den Kopf zur Seite. Vor dem Zelt gingen ständig Leute vorbei, doch niemand schenkte ihnen Beachtung. Selbst die beiden Wachen davor schienen ihre Tätigkeit nicht allzu ernst zu nehmen, sondern plauderten lieber mit Kameraden, die bei ihnen Halt machten.

„ -das einzige, das uns dieser Largo Cotter mit Sicherheit nicht glaubt“, sagte er und vollendete so den angefangenen Satz. Dorian bekam große Augen, auch Iria blinzelte verwirrt. Nur Nadim schenkte seiner Schüssel, die er sich aus dem Topf in ihrer Mitte nachfüllte, mehr Beachtung als ihrem Gespräch.

„Das verstehe ich nicht…“, murmelte Dorian und schob seine mittlerweile leere Schüssel von sich. Sarik begann zu essen, legte dann aber seinen Löffel wieder weg. Er stützte sich mit beiden Ellbögen auf den Tisch und faltete die Hände. Dabei schweifte sein Blick immer wieder in Richtung Zelteingang, als befürchtete er ungewollte Zuhörer.

„Sollten diese Leute tatsächlich zur Überzeugung gelangen, wir wüssten, wo das Maleficium ist, dann wäre es vorbei mit uns.“

Dorian schluckte bei diesen Worten. Unbehagen sprach aus seinen Augen, deren Blick sich mit dem von Iria traf. Sie schien den gleichen Gedanken wie er zu hegen.

„Wissen wir es denn? Ich meine, außer der ungefähren Richtung.“

Sarik begann wieder zu essen und antwortete beiläufig.

„Nur die Ruhe. Macht euch keine Sorgen und wartet ab. Wenn wir außer ihrer Reichweite sind…“

Sein Blick ging abermals in Richtung Eingang, und den beiden war sofort klar, wenn er damit meinte.

„…dann erzähle ich euch mehr. Bis dahin habt Geduld.“
 

Dorian nickte, betrachtete seine Schüssel einen Moment lang und entschied, sich fürs Erste mit dieser kryptischen Andeutung zufrieden zu geben.

Er hatte Zweifel, ob das Iria auch gelingen würde. Sie saß an ihrem Platz und fixierte den in aller Ruhe essenden Sarik. Aus ihrer Miene sprach das Bedauern über ihre im Vergleich schmächtige Gestalt, die es ihr unmöglich machte, nähere Informationen aus Sarik heraus zu prügeln. So beschränkte sie sich darauf, ihm finstere Blicke zuzuwerfen und mit hektischen Bewegungen ihre Schüssel auszukratzen.

Ihn selbst berührte dies gar nicht mehr nennenswert. Die Erschöpfung trieb ihn zu einem der Liegebetten, und Dorian wurde wieder bewusst, dass er die letzte Nacht praktisch nicht geschlafen hatte. Seufzend streckte er sich aus und schloss die Augen. Wie befürchtet, stiegen nach kurzer Zeit die Erinnerungen des Kampfes in ihm hoch.

Doch seine erdrückende Müdigkeit, die er jetzt, wo er endlich liegen konnte, deutlicher als zuvor spürte, überdeckte diese gewalttätigen Bilder sehr bald mit dem Schleier des Vergessens.

Ein heftiger Schnarcher riss ihn aus dem Schlaf. Dorian hätte schwören mögen, dass er sich nur Momente vorher zur Ruhe gelegt hatte. Doch als er nach draußen blickte, sah er, dass der Abend dämmerte. Er setzte sich auf seiner Liege auf und sah sich im Zelt um.

Es war wohl Nadim gewesen, dessen Schlaf immer wieder von lauten Schnarchern unterbrochen wurde. Eine Liege weiter erkannte er Iria, die sich hin und her drehte. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Mund stand leicht offen, also nahm er an, dass sie trotz der unruhigen Bewegungen schlief. Ebenso wie Hargfried, der wie tot auf seiner Liege ausgestreckt lag. Die Einzelteile seiner Rüstung lagen davor verstreut. Dorian dachte mit einem bitteren Lächeln, dass sein Irrsinn ihn noch zusätzlich erschöpfen musste.
 

Dann richtete er sein Augenmerk auf Brynja, die im hintersten Eck des Zelts lag. Sie lag auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch gefaltet, doch Dorian zweifelte keinen Moment, dass sie jedem, der sich an ihre Liegestatt heranschlich, sofort an die Kehle gehen würde. Selbst unbewaffnet, wie sie nun war, ging von ihr eine Ausstrahlung der Aufmerksamkeit aus, die Dorian überlegen ließ, ob sie sich wohl jemals wirklich sicher fühlte.

Er erinnerte sich an ihr Gespräch auf dem Waggondach und an die Worte, die still und zurückhaltend gewesen waren, und somit ganz anders als ihr sonstiges Auftreten. Und die zugleich tief vergrabenen Schmerz erahnen ließen, den sie solange zurückdrängen würde- dessen war Dorian sich sicher- bis sie ihr Ziel erreicht hatte.

Auf der ersten Liege neben dem Eingang lag Sarik. Seinen hellroten Mantel hatte er an eine der Zeltstangen gehängt. So lag er da, in seinem ärmellosen Wams, und schlief. Dorian hatte sich oft vorzustellen versucht, wie seine Eltern wohl gewesen waren. Meister Yannick hatte ihn aufgezogen, aber dieser war nie wirklich wie ein Vater gewesen, sondern mehr wie ein älterer Bruder, ähnlich wie Gaubert. Und so war die Vorstellung, wie sich das Wort ‚Vater‘ anfühlen sollte, immer sehr unscharf geblieben.

Er lachte leise bei dem Gedanken, vor allem angesichts der Tatsache, dass sie sich noch vor zwei Tagen als mögliche Todfeinde gegenübergestanden waren. Seine ruhige, aber respektgebietende Art, sein Umgang mit den Menschen, der Verlässlichkeit erwartete, förmlich forderte, aber nicht ohne Verständnis für menschliche Schwächen blieb- er kam dem Bild ‚Vater‘ nun am nächsten. Diesem Bild, das während Kindheit und Jugend für ihn verschwommen geblieben war.

Kopfschüttelnd stand er auf und ging auf den Eingang zu. Dabei wandte er sich kurz zur Seite und sah Sariks Gesicht. Ohne seine Brille wirkte er jünger, aber immer noch lastete das Gewicht der Jahre auf seinen Zügen. Und selbst jetzt, während er schlief, wirkte seine faltige Stirn, als würde er über ihr weiteres Schicksal und ihre mögliche Vorgehensweise nachsinnen.
 

Vor dem Zelt stand nur mehr eine der beiden Wachen. Dorian trat vorsichtig neben sie hin, doch der Mann, der seine Vermummung gelockert hatte, lächelte ihn nur an.

Er staunte darüber, wie jung er war; dieser Kämpfer, der heute womöglich in dem Angriffstrupp gewesen war, schien kaum älter als er selbst. Dorian wechselte ein paar belanglose Worte mit ihm, die der Mann freundlich, aber durchaus wortkarg erwiderte. Nachdem er sich versichert hatte, dass kein Einwand dagegen existierte, sich in der Zeltstadt etwas umzusehen, ging er los.

Die Nacht war nicht mehr fern, es herrschte aber derselbe Betrieb wie zuvor in dem Lager. Dorian sah Patrouillen um das Lager marschieren, sah Wachablösen stattfinden, und eine Weile schaute er dabei zu, wie mehrere Leute sich an den metallenen Ungetümen zu schaffen machten, die sie hierher gebracht hatten. Sie verschwanden teilweise bis zu den Hüften in offenen Luken, aus denen dabei blecherne Geräusche klangen.

„Faszinierend, nicht?“

Dorian drehte sich um. Hinter ihm stand der Mann, der sich ihnen am Morgen dieses Tages als Largo Cotter vorgestellt hatte. Statt der Verhüllung aus sandfarbenem Tuch trug er nun ein weites Hemd über einer gleichfarbigen Hose.

„Diese Dinger… Sowas habe ich noch nie gesehen“, erwiderte Dorian und deutete auf die Maschinen.

„Kein Wunder“, antwortete Cotter und trat neben ihn hin. Sein Blick glitt über das Fahrzeug, und sein Stolz war nicht zu übersehen. „Es gibt nur wenige davon, aber diese leisten uns gute Dienste. Wenngleich der verdammte Sand eine Menge Wartungsaufwand verursacht.“

„In der Hauptstadt werden Lasten mit Pferdewagen transportiert… da haben wir sowas nicht“, sagte Dorian kopfschüttelnd. Largo Cotters Miene verfinsterte sich.

„Ja, und das habt ihr eurem Kaiser zu verdanken“, sagte er mit schroffer Stimme und wandte sich ab. Dorian blickte ihm verwirrt hinterher und folgte ihm.

„Wie meinen Sie das?“

„Der Kaiser lehnt jeden Fortschritt ab, Junge“, antwortete Cotter müde. Dorian lief neben ihm her. Einer der in dieser Zeltstadt allgegenwärtigen vermummten Kämpfer wandte sich an ihn. Dorian verfolgte ihr Gespräch mit großer Neugier, wenngleich ihm die unverständlichen Redewendungen und Begriffe, die sie verwendeten, ein Rätsel blieben. Er wartete geduldig, bis die Konversation zu Ende war, um dann erneut neben ihm herzulaufen.

„Aber warum sollte der Kaiser gegen den Fortschritt sein?“ hakte Dorian nach. Cotter seufzte, lächelte dabei und schüttelte den Kopf in einer geduldigen Geste.

„Weil der Fortschritt seine Macht bedroht, ganz einfach. Wir haben hier Langstreckenfunk, während es in der Hauptstadt nur Handgeräte mit kurzer Reichweite gibt. Du wirst es wohl nicht wissen, aber diese Technik ist verboten in unserem Land.“

Dorian begleitete ihn auf seinem Weg durch das Lager. Mehrmals stoppten sie, wenn jemand der Menschen hier eine Anfrage an Cotter richtete. Er beobachtete ihn genau; diesem Mann schien nie die Geduld auszugehen. Es war für Dorian nicht zu übersehen, dass dieser Largo Cotter bereits einen langen Tag hinter sich hatte, der wohl schon vor Morgengrauen begonnen hatte. Und doch nahm er sich für jedes einzelne Anliegen seiner Mitstreiter Zeit. Schließlich kamen sie zu einem der gleichaussehenden Zelte, das Cotter offenbar bewohnte.

Largo Cotter trat ein, Dorian blieb aber vor dem Eingang stehen. Scheu blickte er ins Innere, bis sich Cotter nach ihm umdrehte.

„Dann komm halt rein, es kostet das selbe“, rief er ihm lachend zu. Dorian leistete dieser Aufforderung zögernd Folge und trat ein.

Dieses Zelt war genauso groß wie jenes, das man ihnen zugewiesen hatte. Doch es war offensichtlich, dass Cotter es allein bewohnte. Kleidung, alle in derselben Sandfarbe, lag in den Ecken verstreut. Auf einem Ständer an der Hinterseite des Zelts stand eine Reihe Schwerter. Daneben war eine großflächige Karte aufgehängt. Staunend trat Dorian an diese heran. Meister Yannick hatte ihnen einmal eine ähnliche gezeigt, wenn auch eine weitaus Kleinere. Aber er erkannte die Umrisse Galdorias und die der umliegenden Länder.

„Was ist denn mit deinem Escutcheon?“ hörte er Cotter plötzlich fragen. Erschrocken drehte Dorian sich um, als hätte er ihn bei etwas ertappt. Sein Blick traf die Armschiene, auf der die Glasscheiben unregelmäßig flackerten.

„Äh, das…“

„Hat wohl was abgekriegt im Kampf“, sagte Cotter, der auf der Liege saß, seine Stiefel auszog und danach ein kleines Metalletui aus einer Tasche zog. Dorian stand immer noch sprachlos vor ihm und sann fieberhaft nach einer Ausrede. Cotter nahm eine Zigarette aus dem Etui, steckte sie sich in den Mund und entzündete sie mit dem auf einem Tischchen stehenden Feuerzeug.

„Ja, wahrscheinlich…“, sagte Dorian leise und verbarg den rechten Unterarm mit dem Escutcheon hinter seinem Rücken. Sein Blick ging zu Boden. Cotter tat einen tiefen Zug von der Zigarette, blies den Rauch in die Luft und blickte ihn mit gerunzelter Stirn an.

„War das heute dein erster Kampf, Junge?“

Dorian hob den Blick, und seine Augen wurden groß. Er hätte schwören können, dass sein Gesicht rot wurde in diesem Moment. Umso mehr Mühe gab er sich, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen.

„Nein! Das… Das war mein dritter Kampf“, antwortete er, merkte aber im selben Moment, dass seine Stimme nicht so erwachsen klang wie erhofft. Cotter nahm einen weiteren Zug von der Zigarette und schüttelte danach langsam den Kopf.

„Noch grün hinter den Ohren, und schon mit so einer Bande Halsabschneider unterwegs… Wie bist du überhaupt zu dieser Bande gekommen?“

Vorhin vermutete Dorian, dass er rot wurde, nun war er sich sicher. Sein Blick tastete hilflos durch den Raum, und sein Kopf war völlig leer. Seine Vorwitzigkeit kam ihm nun abhanden, wodurch er kein Wort über die Lippen brachte.

„Musst es mir eh nicht sagen“, sagte Cotter zwischen zwei Zügen aus der Zigarette. „Geht mich schließlich nichts an.“

Cotter wandte sich von ihm ab und dem Tisch neben seiner Liege zu, und so machte Dorian keinen Hehl aus seiner Erleichterung. Die Nervosität, die diese unerwartete Frage in ihm ausgelöst hatte, schwand aber bald wieder, und so beäugte er erneut neugierig seine Umgebung.

„Warum haben Sie das getan?“ fragte er nach einigen Momenten der Stille, in denen Cotter in seinen Unterlagen vertieft war. Er sah auf und nahm die Zigarette aus dem Mund.

„Was meinst du, Junge?“

Dorian schaute in die Luft und blinzelte arglos.

„Na ja… Der Angriff auf den Zug heute.“

Cotter nahm einen Zug von der Zigarette und bedachte Dorian mit einem Blick, den er nur schwer zuordnen konnte. Er schwankte irgendwo zwischen Anerkennung darüber, dass er dieses Thema überhaupt anschnitt, und unterschwelliger Empörung, dass Dorian sich in eine für ihn persönliche Sache einmischte.

„Wir sind bei weitem zu wenige, um Modestus direkt herauszufordern. Also versetzen wir ihm kleine Nadelstiche, um seinen Sturz zu beschleunigen.“

Diese für Dorian schwer verständlichen, aber interessant klingenden Worte weckten seine Neugier. Sein Interesse an der Einrichtung des Zelts schwand, und so zog er sich einen herumstehenden Schemel heran, um vor Cotter Platz zu nehmen.

„Seinen Sturz? Was meinen Sie?“ fragte er in seiner ganzen Arglosigkeit. Cotter nahm die Zigarette aus dem Mund, legte sie in einem bereitstehenden Aschenbecher ab und wandte sich ihm seufzend zu, wie ein Lehrer, der ahnt, dass er eine alte Lektion erneut durchnehmen muss.

„Dieses Land geht den Bach hinunter, Junge. Es kann sein, dass man davon in der Hauptstadt nicht viel merkt, aber es ist so. Wir werden den Krieg mit Mosarria verlieren, und solange dieser Dickkopf auf dem Thron sitzt, sind auch keine Verhandlungen möglich.“

„Verhandlungen?“ fragte Dorian so, als wäre ihm die Bedeutung dieses Wortes unklar. „Aber Mosarria hat den Krieg doch begonnen!“

„Erzählt man sich das so in der Hauptstadt?“ fragte Cotter mit einem bedauernden Lächeln. „Der Kaiser hat das Maleficium aus Urakand stehlen lassen. Was glaubst du, wozu? Um das ‚friedliche Nebeneinander‘ zu stärken? Wohl kaum“, schnaubte er empört. Dorian blinzelte verwirrt, während diese neuen Anschauungen in seinen Verstand einsickerten und sich ihm langsam in ihrer Tragweite erschlossen.

„Was ist eigentlich mit den Leuten, die aus dem Zug geflohen sind?“ fragte er nun, um seinem Verstand die nötige Pause zum Verarbeiten dieser Eröffnung zu geben.

„Mit denen ist schon alles in Ordnung“, antwortete Cotter, der seine Unterlagen umblätterte. „Die Armee hat sicher schon Wind von der Sache bekommen und wird sie auflesen.“

Dorian betrachtete ihn, wie er in irgendwelchen Plänen blätterte. Die Erinnerung an diesen Morgen stieg mit einem Mal in ihm hoch. Nach den Momenten der Ruhe, die seinen aufgewühlten Verstand mittlerweile besänftigt hatten, erschien sie ihm jetzt noch schärfer und eindringlicher. Er sah wieder die Toten vor sich, die Soldaten, die Rebellen… und die unbewaffneten Flüchtlinge, die nichts weiter als überleben hatten wollen.

„Und die anderen… vergammeln jetzt im Sand“, sagte Dorian leise. Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn, und Cotter blickte von seinen Papieren auf. Einen Moment lang fürchtete Dorian eine Äußerung der Entrüstung über diese unüberlegte Bemerkung, aber Cotters Gesicht blieb ruhig. Eine Weile sah er ihn nur an, dann stand er auf und ging zum Zelteingang, hinter dem bereits die Nacht wartete. Mit verschränkten Armen blieb er im Eingang stehen. Die Luft wurde langsam kühl, und nach der Hitze des Tages kam sie Dorian beinahe kalt vor.

„Es ist schrecklich, ich weiß… Aber es ist Krieg. Da geschehen solche Dinge“, begann Cotter nach längerem Schweigen. Seine Stimme klang noch genauso rau, zugleich aber auch still, fast schwach. „Wenn alles glatt läuft, dann ist es bald vorbei, und sowas wird nicht mehr passieren.“

Die letzten Worte klangen für Dorian, als wären sie nicht an ihn oder an einen anderen Zuhörer gerichtet, sondern in erster Linie an ihn selbst.

„Ich war ungefähr in deinem Alter, damals“, sagte Cotter, dessen Stimme nun einen fröhlicheren, zugleich aber auch bitteren Beiklang hatte. „Ebenso wie du verstand ich nichts von der Welt. Ich dachte, der Krieg ist gerecht.“

„Der große Krieg vor zwanzig Jahren“, sagte Dorian nach kurzem Überlegen.

„Ja. Ich war erst seit kurzem in der kaiserlichen Armee, und voller Übermut… wie es in dem Alter halt so ist. Ich wollte ein Held sein, einen Orden kriegen oder sowas. Aber der Krieg war nicht heldenhaft. Es war einfach nur töten, und wofür?“

Mit den letzten Worten wandte er sich an Dorian und erhob seine Stimme. Dieser erschrak bei dieser Gefühlsregung, daraufhin glätteten sich Cotters Züge aber wieder.

„Es sind damals so viele Menschen gestorben. Auch von diesen waren viele nicht beteiligt am Krieg. Und jetzt kommt wieder so etwas auf unser Land zu. Das werde ich nicht zulassen.“

Mit wieder gefestigter Miene ging er zurück zu seinem Tisch und begann erneut, in den Unterlagen zu blättern. Es entging Dorian aber nicht, dass seine unter der Oberfläche wartende Müdigkeit ihm die Konzentration darauf unmöglich machte.

„Ich will diesen Krieg auch nicht“, sagte Dorian nach einer Weile, um die Stille zu durchbrechen. Cotter hob den Blick aber nicht, und Dorian wurde es plötzlich bange zumute.

Mit einem Mal empfand er starke Angst um seine Freunde in der Hauptstadt, beinahe so stark wie in jener Nacht in Brimora, wo er fast den Entschluss gefasst hätte, auf eigene Faust zurückzukehren und nach Gaubert und den anderen zu suchen. Zu dieser Angst gesellte sich auch ohnmächtige Wut gegen die Urheber all dieser Umstände.

„Warum gibt es sowas wie Krieg überhaupt? Warum, ich meine…“ Seine Stimme klang nervös und fahrig, sein Blick tastete im Raum umher und traf schließlich Cotter, der ihn nun ansah. „Warum will der Kaiser unbedingt den Krieg? Und warum wollen ihn die Leute in Mosarria ebenfalls?“

„Für den Kaiser ist der Krieg weit weg“, erklärte Cotter, und sein Gesicht wurde traurig dabei. „Andere sterben für seine Entscheidungen, so wie es immer in der Geschichte unseres Landes war. Selbst wenn wir verlieren, kann er sich immer noch Kraft seines Einflusses ins Exil retten. Deshalb möchte ich, dass Vertreter aus dem Volk entscheiden können, was mit unserem Land geschieht. Verstehst du das? So furchtbar es klingt…“

Cotter zögerte einen Moment und blickte ins Leere, bevor er weitersprach.

„Aber das ist der Grund, warum diese unbewaffneten Leute heute sterben mussten. Wenn wir nichts tun, dann ändert sich nie etwas.“

Er stützte sich auf die Ellbögen und rieb sich die übermüdeten Augen. Dabei atmete er schwer und geräuschvoll.

„Ich wünschte, es müsste keine Opfer unter der Bevölkerung geben… Ich wünschte es…“, sprach er leise in seine Handflächen hinein. Dorian wurde unwohl zumute, und er spürte, dass Cotter nun allein sein wollte. Er erhob sich mit zögernden Bewegungen und blickte sich unbehaglich um, spürte aber zugleich, dass er nicht gehen konnte, ohne noch eine Frage zu stellen.

„Sie wussten ja vom Maleficium, und dass wir damit zu tun haben… Wissen Sie sonst noch etwas aus der Hauptstadt?“

Die Furcht um seine Freunde brannte ihm immer noch auf der Seele, und einen kurzen Moment schämte er sich dafür, dass ihr Wohlergehen mehr Raum in seinem Herzen einnahm als das der übrigen Menschen.

„Was willst du denn wissen?“ fragte ihn Cotter und blickte ihn mit geröteten Augen an. Ob diese Rötung von seiner nur mühsam zurückgedrängten Erschöpfung oder von etwas anderem stammte, konnte Dorian nicht sagen.

„Na ja… Ich habe Freunde dort, und… Ich mache mir Sorgen um sie“, antwortete er zaghaft.

„So genaue Auskünfte kann ich dir leider nicht geben“, sagte Cotter und lachte verhalten dabei. „Die letzten Nachrichten aus Galdoria sprechen davon, dass Unruhe im Volk aufkommt. Trotz der Bemühungen des Kaisers dringen die schlechten Nachrichten von der Front langsam bis in die Hauptstadt vor. Wenn es so weiter geht, dann erhebt sich das Volk vielleicht sogar von selbst. Wir hoffen es jedenfalls, dann kann dieser Irrsinn früher enden.“

„Ja, vielleicht. Ich gehe dann mal“, sagte Dorian, und schickte sich an, das Zelt zu verlassen.

Cotter zündete sich eine neue Zigarette an, offenbar um seinen Schlaf damit zu unterdrücken, und beschäftigte sich weiter mit seinen Unterlagen. Im Eingang wandte sich Dorian kurz zu ihm um, doch er beachtete ihn gar nicht mehr.

Der bedeckte Himmel hing über seinem Haupt wie ein Wächter, der keine Hoffnung mehr hegt, den Flüchtenden halten zu können; Scavo sah dies aber nicht.

Seine von der Kraft des Maleficium erfüllten Schritte trugen ihn durch dieses trockene, kalte Land. Er verspürte weder Durst noch Hunger. Er war ganz erfüllt vom Lachen des Geistes darin; des Geistes, der seiner Befreiung harrte und ihm so viel dafür versprochen hatte. Scavo lief, schneller als irgendein Mensch oder Tier, durch diese Wüste, die im selben Moment, wo er sie erblickte, auch wieder zerfiel vor seinen Augen wie ein Gebilde aus Sand, das der Atem der Zeit hatte austrocknen lassen.

Ebenso trocken fühlte sich sein Hals, sein ganzer Körper an. Kein Blut floss mehr durch seine Adern, kein Atem wogte durch seine Lunge. Das Drängen, das Schreien, das Lachen des Geistes, der im Maleficium gefangen war, erfüllte ihn zur Gänze und höhlte seine Menschlichkeit immer mehr aus. Sein Geist war eine einzige ausgedörrte Ebene, gleich der, die er durchquerte. Nur, dass sie nicht aus Sand war, sondern aus der Asche seiner verglühenden Persönlichkeit.

Nach Stunden, die seinem langsam erstarrenden Geist wie Augenblicke erschienen waren, erblickte er die Stadt. Seine nunmehr schwarzen Augen, aus denen kein menschlicher Glanz mehr leuchtete, tasteten über die Dächer, die im Nebel der Dämmerung lagen. Sie glitten über Türen und hellerleuchtete Fenster, über abgestellte Zugkarren und Straßenlaternen hinweg.

Etwas in ihm erwachte bei diesem Anblick. Tief in ihm, wie ein Samenkorn, das unter Schichten von Asche einen zerstörerischen Brand überlebt hatte, regte sich etwas. Je näher er der Stadt, diesem Anzeichen menschlicher Existenz, kam, desto mehr gewann es an Kraft. Es kämpfte gegen die Fesseln, die um Scavos Geist und Verstand lagen, und lockerte ihre Umklammerung. Seine Schritte wurden langsamer. Das Feuer, das seine unnatürlichen Kräfte anfachte und zugleich seine Persönlichkeit aufzehrte, schrumpfte von der boshaft lodernden Flamme zu einem grollenden Glühen zusammen.
 

Scavo schritt zwischen den Häusern hindurch, und sein Blick klammerte sich an ihre Fassaden wie ein Ertrinkender an eine Planke im weiten Ozean.

Sein Mund öffnete sich; es kam ihm vor, als hätte er seit langer Zeit nicht mehr geatmet. Die frische Luft, die von den Bergen herabrollte und einen Gruß von fernen Gletschern brachte, füllte seine Lunge. Zum ersten Mal seit Tagen verspürte er Müdigkeit, verspürte er überhaupt etwas. Die Umklammerung des Maleficium lockerte sich. Zugleich fühlte er den düsteren Blick seines Meisters, Ares, der sich in seinen Rücken bohrte, dann aber zurückzog in sein Gefängnis, um dort dem ohnehin Unvermeidlichen zu harren.

Vor einem Fenster blieb Scavo stehen. Die Wärme, die seine vom Tau der Nacht benetzte Oberfläche ausstrahlte, fühlte sich wie ein Sonnenaufgang auf seiner pergamentartigen Haut an. In seinen Augen, die schwarz wie Seen aus Teer waren, regte sich ein Funke, eine Spiegelung des Lichts aus dem Fenster. Sein Mund bewegte sich und versuchte Worte zu formen, wollte eine längst vergessene Sprache anstimmen. Die Sprache der Menschen.

Doch was er suchte, war zu tief verschüttet, und so ging er weiter. Seine langsamen Schritte bedurften nun keines unnatürlichen, verzehrenden Feuers mehr. Die Erschöpfung, jenes Gefühl, das ihm wie aus einer vergangenen Zeit stammend vorkam, füllte seine Glieder aus und verdrängte die Leere in ihnen. Er gestattete sich zu seufzen und zu gähnen. Bruchstück für Bruchstück kehrte seine Menschlichkeit zurück.

Scavo ließ dieses beunruhigende und zugleich verlockende Gefühl die Oberhand erringen. Er spürte dabei keinen Widerstand mehr aus dem Maleficium, dessen Sturmwind seinen Geist entblößt hatte von menschlichen Regungen, so wie der Orkan Baumkronen mit seinem ungestümen Zerren entlaubt. In einer Gasse zwischen zwei der sich in die Dunkelheit duckenden Häuser suchte er Schutz.

Er lehnte sich gegen die Wand und sank langsam zu Boden. Nun spürte er fast keinen Druck mehr aus dem Maleficium. Die Hand, die seinen Geist umschlossen gehalten hatte, lockerte ihren Griff. Etwas Fremdes kam zurück in seinen Geist, so wie der Schaum der Meeresgischt an leeren Stränden Fußstapfen ausfüllt, die ein Reisender an ihrem Gestade hinterlassen hat.

Scavo schloss die Augen, und dieselbe Wärme, die ihn vorher aus dem Fenster angeleuchtet hatte, tauchte nun aus seinem Geist auf. Und sie brachte Erinnerungen mit.
 

Erinnerungen an ein Haus und dessen Zimmer, in denen Möbel aus nachgedunkeltem Holz sich eng an Mauern voller behaglicher Wärme schmiegten. An ein Fenster, durch das das Licht des Frühlings hereinschien, und sein Grün mitsamt dem Zwitschern goldgelber Vögel mit sich brachte. An einen Tisch, auf dem zwischen Kerzen und Papierrollen Speisen standen, deren belebenden Duft er in der Nase spürte.

Er saß an diesem Tisch, über ein Pergament gebeugt. Die Augen schmerzten, weshalb Scavo sich aufsetzte. Er rieb sie mit beiden Händen und atmete dabei tief den Duft des Frühlings ein. Dann blickte er zum Fenster, vor dem Beete mit überquellender Blumenpracht, leise vom Wind bewegt, den herannahenden Sommer erwarteten. Sein Blick ging weiter, über den gewundenen Pfad aus Pflastersteinen, der zum Zaun aus moosbewachsenem Holz führte. Dahinter lag das Land in stillem Harren; die Sonne schien auf seine Teiche und Haine, in denen das Leben sang und zwitscherte, wuchs und gedieh. Dann sah er die Straße hinunter, auf der eine Gestalt in einem weiten, grauen Mantel schritt.

„Meister!“ rief Scavo voller Freude. Die Schüsseln aus erdfarbenem Ton klapperten, als er aufsprang und gegen den Tisch stieß. Seine Schritte, voller freudiger Ungeduld, führten ihn bei der Pforte hinaus und über den gewundenen Pfad im Vorgarten, auf dem ihm sein Meister bereits entgegen kam.
 

„Wie war es in der Stadt? Bitte erzählt, Meister“, drängte Scavo ihn, während er zwischen der Anrichte aus altem Holz, der knisternden Feuerstelle und dem Tisch hin und her lief.

Seine Schritte und Bewegungen waren eifrig, ja tollpatschig, und sein Meister betrachtete ihn seufzend. Schüsseln klirrten und Milch wurde verschüttet. Leichter und schneller wäre es gewesen, hätte er sich einfach selbst bedient, doch er blieb an seinem Platz sitzen und sah geduldig zu, wie sein Schüler die Freude, seinen wiedergekehrten Meister zu bewirten, auskostete.

„In Urakand? Na ja, wie immer“, brummte der alte Mann in seinen Bart und verzog das Gesicht, während er beobachtete, wie Scavo einen Becher mit Wein zu befüllen versuchte. Dabei stieß er gegen einen weiteren Krug, und in seinem Bestreben, ihn nicht umzustoßen, tat er es schließlich doch und verschüttete auch noch etwas vom Wein.

„Ja, aber- verdammt…“, flüsterte Scavo angesichts seiner Tollpatschigkeit, die mit seinem Eifer, alles richtig zu machen, noch zunahm.

„Ja, ja, lass mich es einfach machen“, sagte sein Meister und nahm ihm nachsichtig lächelnd den Krug aus der Hand. „Das Haus hast du ja gut versorgt, wie ich sehe“, brummte er anerkennend. „Du hast auch dein Studium nicht vernachlässigt, vermute ich?“ fragte er im Anschluss und hob seine weißgrauen Augenbrauen.

„Nein, nein, Meister, ich habe jeden Tag gelernt, ich habe die großen Arkanen studiert, und auch die… wo waren sie gleich…“

Scavo begann, den Stapel Pergamente zu durchstöbern. Dabei fielen mehrere zu Boden. Erschrocken über seine eigene Ungeschicktheit sprang er auf und bückte sich nach den wertvollen Schriften. Dabei stieß er mit seiner Kehrseite gegen den Tisch. Sein Meister verhinderte durch eine schnelle Reaktion das Umfallen eines Kruges. Vorsichtig zog er ihn aus der Reichweite der auf dem Tisch verstreut liegenden Schriften und verdrehte dabei die Augen.

„Weißt du was, bleib einfach ruhig sitzen, und frage, was dir unklar erscheint“, sagte sein Meister und lächelte angestrengt dabei. Scavo, die zu Boden gefallenen Schriften vor der Brust, sah ihn aufmerksam an und setzte sich langsam. Dabei legte er die Schriften weg, und sein Meister zog sie mit nachsichtiger Miene aus seinem Einflussbereich.

„Das war sicher aufregend, Meister, mit all den bedeutenden Gelehrten eine Konferenz abhalten“, begann Scavo, der seine Füße immer noch nicht still halten konnte und nervöse Bewegungen unter dem Tisch mit ihnen machte.

„Wenn du drei Jahrzehnte mit ihnen jedes Jahr konferieren musst, dann siehst du das anders“, erwiderte sein Meister müde, schüttelte dabei den Kopf langsam und senkte den Blick. Aber auch von dieser Geste ließ Scavo sich nicht bremsen in seinem Enthusiasmus und stellte die nächste Frage.

„Kann ich beim nächsten Male mitkommen, Meister?“

Aus seinen Gedanken gerissen, blickte sein Gegenüber auf.

„Was? Äh… Vielleicht. Ja, nächstes Jahr kann ich dich eigentlich mitnehmen. Wahrscheinlich bist du des Haushütens ohnehin schon müde“, sagte er und lachte leise.

„Ja, ich meine, nein, Meister, das mache ich doch gerne…“, erwiderte Scavo hastig. Dabei senkte er den Blick, als würde er sich für etwas schämen. Einen Moment später hob er ihn aber wieder, und der drängende Ausdruck in seinen Augen traf erneut seinen Meister. „Gibt es denn etwas Neues, Meister? Was die Forschungen am Maleficium betrifft… “

Der Ausdruck in seinen Augen gewann an Feuer, und seine zuvor noch vorhandene Scheu wich einer lauernden Erwartung. Die Augen seines Meisters verengten sich, und dessen zuvor offene Haltung erstarrte leicht.

„Ich habe meine Bedenken dem Rat gegenüber geäußert. Und du weißt, wie meine Ansicht diesem Gegenstand gegenüber lautet. Er ist gefährlich, und hätte der heilige York geahnt, was mit ihm eines Tages- “
 

Scavo schreckte hoch. Die harte Mauer drückte in seinen Rücken, und das Maleficium in seinem Beutel brannte an der Seite, als würde es jeden Moment seinen Mantel entzünden. Er schnappte nach Luft und suchte mit schwarzglänzenden Augen nach dem Licht, das sie eben noch erblickt hatten. Doch es war finster und still um ihn. So schloss er sie wieder, um zurückzugleiten in jenen Wachtraum, der schmerzliche Erinnerungen, erfüllt von Wehmut und Bedauern, beschwor, und den er doch nicht loslassen konnte.

Es war ihm, als würde er an einem Pfeil in einer Wunde ziehen, was bei jeder Bewegung höllisch schmerzte, den er aber auch nicht einfach darin stecken lassen konnte. Scavo sank in Dämmerschlaf, und das Bild kehrte zurück, wenn auch nun trüber und undeutlicher als zuvor.
 

Giftige Gedanken und Worte begannen den Raum zu füllen, und der Wohlgeruch des Friedens, der zuvor so deutlich in seiner Erinnerung erstanden war, schien verpestet mit Gier und Ehrgeiz.

Sein Meister, sonst die Ruhe selbst, wies ihn scharf zurecht. Scavo entgegnete, argumentierte und beschwor ihn, doch nichts davon ließ sein Meister gelten. Die Stimmen erhoben sich, die Worte wurden lauter, die Unterstellungen verletzender. Eine Faust knallte auf den Tisch, womit der Streit zwischen Schüler und Meister erstarb.

Der, der die Macht hatte, ihn in die Schranken zu weisen, verließ den Raum und ließ den verwirrten Schüler zurück. Scavo sackte auf dem Stuhl zusammen. Sein Blick ging ins Leere, seine Gedanken kreisten und sein Inneres begann zu kochen. Es war entzündet von Ehrgeiz, von brennendem Verlangen und von Ungeduld. Scavo spürte deutlich, dass er nicht mehr warten konnte, dass seine Lehrzeit lang genug gewesen war und er jetzt handeln musste.

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Schwere Dunkelheit legte sich über das Haus und ebenso über seine Gedanken, die an Verwirrung verloren und an Entschlossenheit gewannen. Scavo erinnerte sich deutlich daran, wie er sich in die Kammer seines Meisters geschlichen, wie seine Hände nach dem Tarnumhang aus dem Schrank gegriffen hatten, und wie er in der Tür stehen geblieben war, um einen letzten Blick auf seinen schlafenden Meister zu werfen, der ihm vertraut hatte. Und dem auch er vertraut hatte, bis zu jenem Tag.

Seine Schritte waren schnell und von drängender Angst erfüllt. Er wusste, dass er in Wahrheit floh und nicht mehr zurückkehren konnte, doch die Verlockung war stärker. All sein Wissen über das Maleficium formte in seinem Inneren eine Hand, die lockte, verführte, und sein Ego umschmeichelte. Die Verheißungen waren süß, und so gab er sich der Illusion hin, dass eines Tages, wenn er ein mächtiger Gelehrter war, dem durch den Besitz des Maleficium keine Möglichkeit verschlossen blieb, ihm sein Meister dereinst verzeihen würde.

Scavo erkannte es nun; aber es war zu spät. Tränen entstanden in seinen schwarzen Augen und flossen über die bleiche Haut seiner Wangen. Der Abgrund hatte ihn mit Tausend Versprechung von Ruhm und Macht gelockt. Das Einzige, das die schwache Flamme seiner Menschlichkeit noch am Lodern hielt, war die Hoffnung, am Boden dieses Abgrundes einen Pfad zurück in sein früheres Leben zu finden.
 

„Sieh dir das mal an. Hast du den hier schon mal gesehen?“

„Nein, mein alter Marberg. Der hat sich wohl verirrt, hi, hi…“

Ein heiseres Lachen drang an Scavos Ohren und weckte ihn aus seinem Wachtraum. Hastig sog er die Luft ein und blinzelte mit seinen schwarzen Augen, die sich in seinem Kopf wie leere Höhlen anfühlten. Sein Kopf drehte sich in die Richtung, aus der die Stimmen kamen.

„Ist wahrscheinlich ein Flüchtling. Dieses Gesindel wird immer mehr in letzter Zeit wegen diesem verdammten Krieg“, bemerkte eine Stimme, die Verbitterung durchklingen ließ.

„Glaubst du, Karmel? Selbst für einen Flüchtling sieht er zu elend aus. Kaum vorzustellen, dass der die ganze Strecke aus eigener Kraft zurückgelegt hat.“
 

Scavos Hände tasteten zur Seite und an die Wand hinter ihm. Seine Fingerspitzen fühlten sich immer noch taub und auch irgendwie verbrannt an, als sie über raue Mauersteine glitten. Seine Beine, die sich wie Fremdkörper und nur zufällig an ihrer Stelle platziert anfühlten, schoben den restlichen Körper mit behäbigen Bewegungen empor. Er blinzelte abermals, und die Feuchtigkeit in seinen leeren Augen schwand. Nun erblickte er die Personen, die sich hinter diesen Stimmen verbargen.

Im schwachen Licht, das die Straßenlaternen in diese Sackgasse warfen, erkannte er nicht allzu viele Details. Er sah aber, dass die beiden Gestalten bodenlange Kleider trugen, die dem wechselhaften Wetter am Fuß dieses Gebirges Rechnung trugen, und von den Launen des Klimas schon erheblich angegriffen waren. Ihre Gesichter sah er nur undeutlich. Scavo erkannte aber, dass ihre Haut von der starken Sonne dieser Höhenlage sehr dunkel war. Neugierige Augen saßen in diesen Gesichtern, die ihn nun abtasteten.

„Na ja, vielleicht hat er ja doch was bei sich, auch wenn er ärmlich aussieht.“

„Das wäre möglich… Er ist auch allein, wie mir scheint“, antwortete der Zweite der beiden. Ein heiseres Lachen mischte sich in seine Worte, das weniger aus Bosheit kam, sondern mehr der Erleichterung Rechnung trug, eine noch heruntergekommenere Gestalt als seine eigene Person gefunden zu haben.

„Was… wollt ihr“, krächzte Scavo. Es waren die ersten Worte seit Tagen, seit einem Zeitalter, wie es ihm vorkam. Diese für ihn fremdgewordenen Laute krochen mühsam aus seiner Kehle, stolperten über die Zunge und wären fast an seinen dieser Tätigkeit entfremdeten Lippen hängen geblieben. Und doch erfüllte ihn das Gelingen dieses Ausspruchs mit einer neuen, einer ursprünglicheren Energie als jener, die von dem Maleficium ausging.

„Wir wollen nur überleben, nicht wahr, Karmel?“

„Marberg hat Recht. Das sind schlimme Zeiten, für dich genauso wie für uns“, sagte er, und auch diesmal wieder endeten seine Worte in einem Lachen, hinter dessen vordergründiger Bosheit Verbitterung lauerte.

Scavo, der zwar ihre Gesichter nicht genau erkennen konnte, dem aber ihr Lachen, ihre Worte und jede leiseste Regung in bunten Farben vor seinen halbblinden Augen erschien, spürte die Verbitterung und die Abstumpfung, die ein Leben im Elend bei diesen Menschen bewirkt hatte. Er sah dieses Lachen nicht, aber er spürte es, genauso wie die hilflose Wut dahinter, geboren aus Verlust und Hoffnungslosigkeit, die sich in Kürze über ihn entladen würde.

„Was hast du in dem Beutel?“ fragte die eine Stimme, und sie wurde drängender. Das Bedürfnis, diese Tat hinter sich zu bringen sowie die Bereitschaft, dafür schreckliche Dinge zu tun, war für Scavo so spürbar wie das Gewicht des Maleficium an seiner Seite.

„Du hast doch da was drinnen. Zeig es uns“, zischte der Andere. Mehr noch als in den Worten seines Kumpans klang hier das Gefühl durch, nichts mehr zu verlieren zu haben. Die beiden merkten ebenso, dass Scavo sehr wohl etwas zu verlieren hatte, und diese Einsicht richtete all seine verbliebenen Haare auf.

„Geht… Geht! Ihr wisst nicht… was ihr tut…“

Diese Worte kosteten Scavo seine ganze Kraft, wodurch er an die Wand zurücktaumelte. Die beiden kamen noch näher, und ihre Hände streckten sich nach seinem einzigen Besitz aus.

„Halt den Rand und gib das her. Dann lassen wir dich auch am Leben, ist das etwa nichts?“ fragte eine der beiden Stimmen. Es klang, als würden sie ihm einen ihrer Meinung nach fairen Tausch anbieten. Scavo hätte darüber gelächelt, wäre er dazu noch in der Lage gewesen, und würde er nicht spüren, wie sich das Maleficium an seiner Seite nun rührte.

„Nun gib schon her“, schrie eine der beiden Gestalten und packte seinen Beutel. Seine groben Hände bemerkten den schweren Gegenstand darin, und Scavo spürte das Funkeln in den Augen des Wegelagerers, das von erwartungsvoller Gier sprach.

„Sag ich doch“, knurrte die Gestalt und riss an dem Beutel. Scavos kraftlose Arme versuchten ihn wegzustoßen, doch die beiden Männer waren weitaus stärker. Einer von ihnen stieß ihn gegen die Wand, an der er hart aufschlug und zu Boden sank. Der andere hob den Beutel hoch und blickte hinein.

„Nein… nein… nein…“, wimmerte Scavo. Er spürte deutlich, wie sich sein Herr und Meister erhob und konnte bereits die Schreie aus der sich schnell nähernden Zukunft hören.

„Was ist das? Sieht aus wie ein Buch…“, flüsterte einer zum anderen. Dicht beieinander standen sie und blickten in den Beutel, dessen Inhalt ihre Gesichter mit Verwirrung überzog.

„Nein!“ keuchte Scavo auf und deutete mit einem dürren Finger auf die beiden. Einer von ihnen warf ihm einen geringschätzigen Blick zu, bevor sich wieder beide ihrer Beute zuwandten. Scavos ausgestreckte Hand zitterte, dann ließ er sie kraftlos sinken. Der Schatten wurde immer länger und traf schließlich auch Scavo. Er hüllte die beiden Wegelagerer vollständig ein, doch sie bemerkten nichts davon.

Ihre Augen waren von Gier und der Freude über den allzu leichten Diebstahl erfüllt. Sie sahen noch nicht, welche Dunkelheit sie jetzt einhüllte.

„Ihr lächerlichen Menschen…“

Die Stimme rollte durch die Gasse, hallte von den Wänden wieder und tastete mit rauen, kalten Fingern in die Seelen der beiden Wegelagerer. Wie von einem eisigen Hauch erfasst, schreckten sie hoch und blickten sich um.

Nebelschwaden umgaben sie nun, und ihre beschleunigten Atemzüge kondensierten zu weißen Wolken. Scavo legte das Kinn auf die Brust und wimmerte leise.

„Ihr wagt es, eure menschlichen Finger an mein Gefängnis zu legen?“

Die Stimme kam von überall und nirgends zugleich, und doch schien der Urheber dieser drohenden Worte so wirklich wie die Angst, die sich der beiden bemächtigte. Mit zitternden Lippen, weit geöffneten Augen und Gesichtern, aus denen jede Farbe gewichen war, wandten sie sich der Gestalt zu, die hinter ihnen aus dem gepflasterten Boden ragte.

Ein Torso, über gepanzerten Beinschienen, ragte aus dem Boden. Seine Form war durchscheinend wie rußiger Nebel. Die Augen leuchteten unter dem Helm hervor wie Fangzähne eines Raubtiers in einer finsteren Höhle, das jemand törichterweise aus seinem Winterschlaf geweckt hat. Skelettfinger ragten aus modrigen Armschienen hervor, und einer von ihnen zielte nun genau auf die ertappten Diebe.

„Ihr seid nicht als Träger geeignet. Legt es weg!“

Das Grollen der Worte, die aus den bleichen Kiefern im Helm kamen, ließ ihre Züge endgültig gefrieren, ihre Augen fast aus den Höhlen treten und ihre Hände noch fester um den Beutel verkrampfen.

„Nein… Legt ihn nicht weg“, sagte die Stimme jetzt voller giftiger Belustigung. „Ich vernichte euch sowieso.“
 

Die knöcherne Gestalt aus Nebel breitete ihre Arme aus, und ihr Kiefer öffnete sich unnatürlich weit. Die beiden Wegelagerer, in ihrer Erstarrung unfähig zu irgendeiner Bewegung, wurden eingehüllt vom Atem des Kriegsgottes. Giftiger Nebel umfloss sie wie ein reißender Fluss, von dessen Fluten tausend Schemen mitgerissen wurden.

Menschliche, zum Teil verweste und manch komplett skelettierte Krieger strömten schreiend und kreischend an ihnen vorbei. In ihren Händen hielten sie zerfallene Waffen, die ihnen selbst der Tod nicht aus den kalten Fingern hatte nehmen können. Mit sich brachten sie das Elend, die Krankheit und den Zerfall von tausend angesammelten Jahren Krieg.

Schrille Schreie entstiegen den Kehlen der Wegelagerer, bevor der Wind des Todes ihnen selbst dazu die Fähigkeit nahm. Ihre Haut blätterte ab wie verbrennendes Papier, ihr Fleisch verschmorte zu zerbröckelnder Kohle, und an ihren Knochen, die klappernd in sich zusammenfielen, blieben kleine, verbrannte Reste ihrer Kleidung als makabre Zeugnisse ihrer Menschlichkeit zurück.
 

Der Wind aus den Kiefern des Kriegsgottes legte sich, und mit ihm der Gifthauch, der nichts außer zwei ineinander gesunkenen Skeletten, den weinenden Scavo und das aufgeschlagene Maleficium zurückließ. Ein trockenes Schluchzen erschütterte Scavos Brust, mit dem er langsam den Kopf hob. Die Gestalt, deren leere Augenhöhlen ihm wie Abgründe drohten, ging auf das Maleficium zu.

Erneut hob es seine Arme, und Scavo zuckte zusammen. Die knöchernen Kiefer öffneten sich zu einem tonlosen Lachen, das wie brechende Äste in einem Wald voller abgestorbener Bäume klang. Ein Windstoß blätterte das Maleficium um, ließ die Seiten aus uraltem Pergament knattern und zwang Scavo auf die Beine. Er stand nun schnurgerade da, emporgerissen von unsichtbaren Händen.

Scavos dünne Haarsträhnen bewegten sich wie von einem Windhauch berührt, als Ares vor ihn trat. Sein Gesicht zitterte, und kalte Tränen liefen aus seinen leeren Augen. Nur ein Schritt trennte ihn vom Kriegsgott, und obwohl Scavo sich gar nicht dazu in der Lage sah, ihn direkt anzublicken, brannte sich ihm das knöcherne Gesicht in dem verrostenden Helm in seinen Verstand und selbst noch seine Seele ein. Sein Zittern wurde stärker, und fast wäre er trotz der unsichtbaren Hände, die ihn stützten und zugleich den Strom seiner Lebenskraft unterbanden, nach hinten gestürzt.

Endlich wandte sich Ares von ihm ab und dem geöffneten Maleficium zu. Ares‘ Gesicht, trotzdem es nur aus Knochen bestand, verzerrte sich zu einer Grimasse des Abscheus, als er sein Gefängnis erblickte. Er tat einen Schritt darauf zu und ballte seine skelettierte Faust. Ein Zischen entstieg seinem Brustkorb aus verwitterten Panzerplatten und bleichen Rippenknochen. Das Licht der Straßenlaternen schwand in diesen Momenten, und selbst die Ränder der Wirklichkeit wurden unscharf, als der angestaute Hass von Jahrhunderten mit einem Grollen den von Verwüstung erfüllten Gedanken dieses Wesens entstiegen.

Diese Welle aus greifbarer Schwärze und den zerstörerischen Gelüsten, die Ares in den Menschen geweckt und bestärkt hatte, versiegte plötzlich. Er tat einen Schritt auf das Maleficium zu. Seine nebelhaften Umrisse verwirbelten sich, wie von einer Macht angesogen, und strömten in das geöffnete Maleficium. Scavo konnte das Knarren des metallbeschlagenen Ledereinbandes hören, als es diese Energie in sich aufnahm.

Scavos Körper begann zu zucken und zu krampfen. Die Kraft, die seine Schritte bis hierher beschleunigt hatte, ihn tagelang ohne Ermüdung hatten reisen lassen, und ihn menschlicher Schwächen wie Hunger und Durst entledigt hatte, errang wieder die Oberhand. Seine Bewegungen hatten nichts Kraftloses mehr an sich, sondern waren wie das Losschnellen einer Armbrustsehne.

Seine zerfetzte Kleidung flatterte, als er mit weiten Schritten das Maleficium erreichte, in den Beutel warf, ihn sich umhängte und losstürmte.
 

Die Häuser der im Grau der Morgendämmerung liegenden Stadt zogen an ihm vorbei wie Trugbilder, deren er gar nicht mehr achtete. Die Kräfte des Maleficium durchpulsten ihn wie dämonisches Blut, das seine Muskeln aufschrien ließ und wie die Peitsche eines Sklaventreibers traf. Doch in jener Welt, in welche ihn diese Energie beschworen hatte, gab es keinen Schmerz für ihn, sondern nur das Gefühl der Unüberwindbarkeit.

Dieses Gefühl trug ihn aus der Stadt hinaus und zu den steilen Hängen, in denen das Gebirge fußte. Sie wirbelten Schutt und Staub in den Karen auf, die er hinauf stürmte, sie traten Felsbrocken los, die polternd in die Tiefe stürzten. Sie ließen ihn Steilstufen überwinden und Felszacken erklimmen, die für jedes menschliche Individuum unüberwindbare Hindernisse gewesen wären.

Nebelerfüllte Schluchten gähnten unter ihm, doch er sah sie nicht. Er sah die Spitze eines Berges, die ihn lockte und ihm befahl. Aus dem Maleficium drangen Bilder und Erinnerungen hoch und in Scavos Geist ein. Sie füllten seinen Verstand aus und zeichneten sich mit schmerzhafter Klarheit vor seinen Augen ab. Seine abgemagerten Hände glitten über Felskanten, zogen sich an ihnen empor, und schwangen seinen Körper sowie seine unheilvolle Last dem Gipfel entgegen.

Seine Füße berührten nun wieder ebenen Boden. Ein in den Fels gehauenes Band führte am Bergschrund entlang und in Richtung jener Höhlen, die seine schwarzen Augen schon von weitem erblickt hatten. Ein runder Eingang, offensichtlich von Menschhand geformt, gewährte ihm schließlich Einlass in das Reich des Berges.
 

Mit grobem Werkzeug behauene Minenwände bewegten sich an ihm vorbei. Scavo hielt die Augen geschlossen; die Führung durch das Maleficium war stärker denn je.

Seine Füße fanden wie von selbst den Weg, und sie zögerten an keiner Gabelung der Gänge. Kalte, feuchte Luft strömte über sein Gesicht, fast glaubte er, den Atem des Berges zu spüren. Vom Maleficium hingegen ging jetzt ein geradezu heißes Drängen aus, denn es spürte hier, an diesem Ort, die längst vergangene Anwesenheit seines Schöpfers.

Je näher er dem Ziel kam, desto langsamer wurden seine Schritte, desto mehr versiegte die Kraft, die das Maleficium durch seine Venen pulsieren ließ. Es war beinahe so, als würde wiedererstarkender Respekt vor seinem ehemaligen Gebieter seinem Willen eine unsichtbare Bande überstreifen. Doch das Maleficium hatte Scavo vollkommen im Griff, und so fand es an sein vorläufiges Ziel.

Scavo blieb letztendlich stehen. Seine Hände und Füße glühten von dem rasenden Aufstieg über Schutthalden und Felskämme, und ein Mensch wäre überwältigt worden vom Schmerz, den sie nun ausstrahlen mussten- aber das war für Scavo Vergangenheit. Er hob den Kopf und sah den Schacht, der über feuchtglänzende Felswände gerade in den grauen Himmel über ihn führte und aus dem die letzten verblassenden Sterne ihre bedauernden Blicke auf ihn herab warfen. Dann nahm er den Schneidersitz ein, holte das Maleficium aus dem Beutel und öffnete es auf den Befehl seines Herrn und Meisters.
 

Dorian ließ Cotters Zelt hinter sich. Nach der verrauchten Luft im Zelt kam ihm die leichte Brise, die über seine unbedeckten Oberarme strich, wie eine kalte Berührung vor.

Seine ziellosen Schritte führten ihn zwischen den vielen gleichförmigen Zelte hindurch; mit einem Male kam ihm dieser Ort sehr fremd vor. Es war ihm, als wäre er durch den Ausgang aus Cotters Zelt in eine unbekannte Welt gelangt, von deren Existenz er nicht das Geringste geahnt hatte. Erstaunt blickte er die Rebellenkämpfer an, die mit umgehängten, griffbereiten Waffen durch das Lager gingen, dabei zwanglos miteinander schwatzten und ihm, der sich plötzlich fehl am Platz vorkam, kaum Aufmerksamkeit schenkten.

Sie warfen ihm nur beiläufige Blicke zu, als sähen sie in ihm einen alten Bekannten, der sich dann aber doch als Fremder herausgestellt hatte. Dann gingen sie wieder ihres Weges. Dorian drehte sich nach ihnen um, ob noch eine weitere Reaktion erfolgen würde, doch es gab keine. Verwirrt sah er sich um und begann zu überlegen, in welcher Richtung das ihnen zugewiesene Zelt stand. Ihm wurde kalt, und der Drang, diesen Ort zu verlassen, wohin auch immer, wurde gleichermaßen lebendig in ihm. Mit hektischen Schritten ging er los und gab es auf, über ein Ziel nachzudenken.

Er begegnete Frauen, die mit ihren Kindern vor den Zelten spielten, in denen sie wohnten. Am Rande seines Verstandes floss der Gedanke vorbei, dass diese Rebellen, die sich hier in der Wüste mit ihren Familien versteckten, alle die unterschwellige Angst teilten, ihre nächsten Angehörigen immer in Gefahr zu wissen, und dass es ihnen trotzdem gelang, nach außen hin zuversichtlich und gelassen zu wirken.

Doch diese Gedanken wurden in den Hintergrund gedrängt, so wie das Brausen eines hochwasserführenden Stromes die Laute der Vögel an seinem Ufer erstickt. Dorian sah Kinder, die Kleider in derselben Farbe wie die Rebellenkämpfer trugen, die darin aber unschuldig und harmlos wirkten wie auch die Kinder der Stadt Galdoria, die von all dem hier nichts ahnten. Ihre Mütter streckten die Arme aus, fingen sie aus dem Lauf ab und hoben sie empor. Dorian hörte ihr Lachen und ihr vergnügtes Quietschen, hörte die Mütter Lob aussprechen und sah sie Liebkosungen austeilen.

Er sah auch ältere Kinder, eigentlich schon junge Erwachsene, die ihre jüngeren Geschwister beaufsichtigten und sich manchmal an ihren Spielen beteiligten. Dorian merkte, wie ihre Blicke erwartungsvoll und nicht ohne Stolz in Richtung der Erwachsenen gingen, die an Wachfeuern standen oder im Schein der Flammen ihre Waffen warteten, und hörte deren gelassen klingende Gespräche, die die Zukunft des Landes, und damit ihre eigene Zukunft, zum Thema hatten.

Dorian kannte diese Blicke, die die Jüngeren dieser nomadisch lebenden Rebellen den Erwachsenen zuwarfen. Er kannte sie sehr gut; bald musste er den Blick von ihnen abwenden. Dorian sah nämlich in ihren Gesichtern andere, vertrautere. Er sah Ludowigs Gesicht in ihnen, ebenso das von Nikodemus und auch das von Gaubert. Ein Frösteln lief über seinen Rücken, was seine Schritte beschleunigte. Er wollte nur noch weg- die Angst um seine Freunde verdrängte sogar den Schrecken der Tatsache, dass er nirgendwo hinkonnte.

Er lief weiter und kam schließlich in einen Bereich der Zeltstadt, wo sich weniger Leute aufhielten. Die Frage, wo ihr Zelt war, beschäftigte ihn nicht mehr, im Moment würde er sowieso nicht einschlafen können. Dorian schloss die Augen und lauschte auf das Geräusch des Sandes unter seinen Stiefeln; aber auch das konnte ihn nicht ablenken. Immer noch sah er die Gesichter seiner Freunde vor sich, in all ihrer Unbekümmertheit, derer er sich erinnerte. Abermals kam der Impuls in ihm hoch, sofort etwas zu unternehmen zu müssen. Er tastete unwillkürlich an seinen Gurt, und die Erinnerung, dass sie ja ihre Waffen hatten abgeben müssen, stach ihn unangenehm.

Die wildesten Pläne entstanden in ihm. Er wollte sich eine Waffe stehlen, dann vielleicht eines dieser unheimlichen Fahrzeuge entwenden, und damit nach Galdoria zurückkehren… wo was auf ihn wartete? Die Armee des Kaisers, vielleicht schon die Armee Mosarrias, oder, was noch schlimmer wäre als diese beiden Sachen zusammen: die Kenntnis vom Tod seiner Freunde.

Dorian biss die Zähne zusammen, rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, um diese verstörenden Gedanken zu vertreiben. Er spürte etwas Feuchtes auf seiner Hand, und sein Blick war trüb. Nun war ihm ehrlich kalt, was die Sehnsucht nach ihrem Zelt erneut in ihm weckte. Er sehnte sich ebenso nach der Liege, auf der er zuvor nur unruhigen Schlaf hatte finden können, welcher ihm aber erstrebenswerter erschien als das wach sein in dieser Ungewissheit. Dorian wollte sich nur noch unter einer Decke verkriechen und all das aussperren, was seinen Kopf schwer und sein Herz verzagt machte. Er wollte nur noch schlafen und vergessen. Sein Blick tastete durch diesen Wald aus sandfarbenen Zelten, in der Hoffnung, das Ihrige zu erkennen. Bis er eines sah, aus dem eine Gestalt ins Freie trat: Er erkannte Sarik und beschloss, ihm zu folgen.

Trotz der Nacht, die von den Wachfeuern nur schwach erhellt wurde, erkannte er ihn zweifelsfrei. Aber weniger durch seinen hellroten Mantel, der in der Dunkelheit kaum von der allgegenwärtigen Sandfarbe zu unterscheiden war, und auch nicht an seinem blinden Auge, das er auf diese Entfernung sowieso kaum ausmachen konnte. Sondern eher an der Art, mit der er wachsame Blicke nach links und rechts aus dem Zelteingang geworfen hatte, so, als befänden sie sich in einem Lager des Feindes. Und auch an der Art, mit der er seine zügigen Schritte setzte. Ruhig und doch kraftvoll, bedachtsam, aber zugleich zielstrebig.

Dorians eigene Schritte wurden vorsichtig, er bemühte sich, keinerlei Geräusch zu verursachen. Unwillkürlich schlich er nun wie der Dieb, der er war; oder der er zumindest gewesen war, in einem Leben, das ihm nun weit weg vorkam. Er hielt angemessenen Abstand, so dass er ihm ohne aufzufallen folgten konnte, ihn zugleich aber auch nicht aus den Augen verlor. Schnell wie ein Schatten in den düstersten Gassen Galdorias folgte er ihm, und die Anspannung des Nachschleichens vermochte es tatsächlich, ihn von seinem Kummer abzulenken.

Sein Kopf wurde klar, seine Gedanken zielstrebig. Anstatt sich in tausend unheilvollen Ausmalungen zu verlieren, fokussierten sie auf einen Zweck, auf ein Ziel, dessen Verfolgung ihn mit wiedererstarkender Zuversicht über seinen Daseinszweck erfüllte. Vielleicht nicht auf alle Zeit, sehr wohl aber für diesen Moment- mehr wünschte er sich gar nicht.

Sarik schien die Verfolgung zu spüren; jedenfalls beschleunigte er seine Schritte, ohne dass er sich auch nur einmal umgewandt hätte. Auch Dorian beschleunigte seine Gangart, konnte aber letztendlich nicht verhindern, dass er Sarik nach einer Biegung des Pfades zwischen den Zelten aus den Augen verlor. Er blieb stehen, sah sich um und wurde ärgerlich; aber nur in jenem Rahmen, in dem er dann den Entschluss fasste, ein neues Opfer seiner Diebeskunst zu finden. Auf keinen Fall erreichte dieser Ärger die Dimension der Beklemmung von zuvor. Und so fühlte er sich immer noch besser als in den Momenten, in denen ihm die Angst um seine Freunde einen Druck auf die Brust gelegt hatte, der ihm das Atmen unmöglich schwer erscheinen hatte lassen.

„Wo ist er nun?“ fragte er sich halblaut. Dorian drehte sich um und sah Bewohner dieser Zeltstadt, die langsamen Schrittes ihres Weges gingen. Sie wirkten nicht, als ob ihnen irgendeine Gefahr drohte. Dorian fragte sich, wie sie zu solcher Gelassenheit gelangt waren. Seufzend ging er weiter und wünschte sich, eine derartige Veränderung würde auch an ihm geschehen- als ihn eine Hand an der Schulter berührte.

„Hey!“

Dorian machte einen Satz, wirbelte herum und tastete nach seinem Schwert, das aber nach wie vor nicht an der gewohnten Stelle war. Seine erschrockenen Augen fixierten Sarik, der ihn von hinten überrascht hatte.

„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte dieser mit ruhiger Stimme und nickte unmerklich dabei.

„Das haben sie aber“, erwiderte Dorian, dessen Herz immer noch klopfte. Sein verwirrter Blick tastete über Sarik und ihre Umgebung. Er fiel dann auf einen überdachten Zelteingang, aus dem er wohl herausgetreten sein mochte, um ihn so überraschen zu können. „Sie schleichen sich einfach an mich heran“, sagte er vorwurfsvoll und schüttelte den Kopf.

„Geschlichen hast wohl du zuerst“, entgegnete Sarik streng und verschränkte die Arme. Dorian wurde sich seiner widersinnigen Behauptung bewusst und rieb sich mit verlegener Miene den Nacken.

„Na ja… stimmt schon irgendwie. Aber woher wussten Sie, dass ich es bin?“

„Ich wusste nicht, dass du es bist“, antwortete Sarik, und die Strenge schwand dabei aus seiner Stimme. „Als mir bewusst wurde, dass jemand hinter mir herschleicht, fiel mir aber außer dir niemand anderer aus diesem Lager ein, der Grund hätte, sich an mich heranzuschleichen. Außer Brynja vielleicht“, fügte er hinzu und lächelte verhalten.

„Ja, das ist wohl wahr. Sie ist ziemlich sauer auf Sie, was?“

„Das wäre jeder Assassine, der sich seiner Waffen beraubt sieht“, sagte Sarik und ging los. Dorian sah mit großen Augen, wie er an ihm vorbeiging und folgte ihm auf dem Fuß.

„Sie haben uns damit vor diesen Leuten bewahrt, die wer weiß was mit uns gemacht hätten“, sagte er eilig, während er sich bemühte, mit Sarik Schritt zu halten. „Es war das einzig Richtige.“

„Nicht für einen Assassinen“, erwiderte Sarik, der geradeaus blickte, als würde er zwischen den sandfarbenen Zelten sein geplantes Ziel erblicken.

„Was meinen Sie damit?“

„Ein Assassine lässt sich eher töten, als in die Gefangenschaft zu gehen, in der er vielleicht unter Folter seinen Auftraggeber verrät.“

Dorian kratzte sich am Kopf, als würde ihn das Verstehen dieser Aussage Mühe bereiten.

„Aber- Sie hat keinen Auftraggeber, diesmal zumindest…“, sagte Dorian leise und sprach so seine Schlussfolgerung aus.

„Allerdings. Diesem Umstand haben wir wohl den glimpflichen Ausgang der Situation heute Morgen zu verdanken.“

„Ich verstehe…“, flüsterte Dorian, für den sich die Steine eines Mosaiks zusammenfügten. „He, woher wissen Sie das?“, rief er aus, als er sich an das Gespräch mit Brynja auf dem Waggondach erinnerte, und an die Tatsache, dass sie ihre Beweggründe seines Wissens nach noch mit niemand anders aus ihrer Gruppe geteilt hatte.

„Sie hat einige der Grundsätze ihrer Zunft über Bord geworfen, nicht nur diesen“, erklärte Sarik. Sie näherten sich dem Rand der Zeltstadt, und bald standen sie am Beginn der Einöde, in der sie eine Oase der menschlichen Existenz bildete. Dorians Blick glitt über die endlose Ebene, die nun im Sternenlicht lag, und er wurde sich der Einsamkeit dieses Ortes bewusst.

„Daher also wissen Sie das?“

„Ja. In dem Moment, in dem sie entschied, sich uns anzuschließen, wusste ich, dass sie aus persönlichen Beweggründen handelt. Etwas muss sie dazu gebracht haben, die Richtlinien ihrer Zunft außer Acht lassen.“

Seine Stimme bekam einen nachdenklichen Ton. Dorian erinnerte sich an Brynjas Worte, die ihm von ihrer leidvollen Vergangenheit gekündet hatten. Einen Moment lang wollte er Sarik davon erzählen, doch dann scheute er sich davor. Das Geständnis ihres tragischen Verlusts kam ihm wie etwas Heiliges vor, von dem er fürchtete, es zu entweihen, würde er es in ihrer Abwesenheit offen aussprechen.

„Wohin wollten Sie eigentlich?“ fragte er stattdessen, und auch um das Thema zu wechseln. Er erkannte einen schelmischen Ausdruck um Sariks von Bartstoppeln bedecktem Gesicht.

„Du bist ja zum Glück kein bisschen neugierig“, antwortete dieser. Dorian glaubte ein schalkhaftes Glänzen hinter seinen Brillengläsern zu erkennen, was er mit einem breiten Grinsen erwiderte. „Ich muss etwas überlegen, und dein Freund- du nanntest ihn Nadim, richtig? Er schnarcht ziemlich laut.“

Nun lachten beide leise in sich hinein, und für kurze Momente vertrieb dieses Geräusch der Heiterkeit die leblose Stille dieser Wüstengegend.
 

„Sie kennen sich ziemlich gut mit dem Kämpfen aus, richtig?“

Eine Frage, die ihn seit dem heutigen Morgen bedrängt hatte, die ganze Zeit aber von anderen Überlegungen in den Schatten gestellt worden war, kam nun in den Vordergrund.

„Das mit dem Kampfdom… Ich verstehe es nicht ganz.“ Dorian kratzte sich am Hinterkopf, während er seine Worte überlegte. „Die vielen Einzelnen, sie wurden zu einem Großen… Warum?“

„Du meinst, bei dem Angriff heute Morgen?“

„Ja, sowas habe ich noch nie gesehen“, sagte Dorian leise, als würde er sich seiner Unerfahrenheit in diesen Dingen schämen.

„Das geschieht immer in großen Schlachten“, begann Sarik zu erklären. Sein Blick ging wieder in die sternenbeschienene Ferne, und seine Stimme wurde ernst. Von der Fröhlichkeit, die sie vorher hatte durchschimmern lassen, war nichts mehr zu hören. „Du kannst dir die Energie eines Kampfdoms wie einen Wassertropfen vorstellen. Wenn sich mehrere berühren, so geht ihre Energie in einem auf. Im großen Krieg damals passierte das ständig. Der Himmel… Er war dann wie von blauen, lautlosen Blitzen erfüllt.“

Sariks Stimme wurde leiser und verklang schließlich. Dorian blickte ihn erstaunt an. Hätte er plötzlich losgeschrien, er wäre nicht weniger erstaunt gewesen. Sarik hielt den Blick gesenkt, und sein Mund blieb einen Spalt weit offen, als würden noch weitere Worte zur Aussprache drängen.

„So ist das also“, sagte Dorian zum Zeichen, dass er ihn soweit verstanden hatte, aber auch, um die unheimliche Stille zu verscheuchen.

„Ja, so ist das“, sprach Sarik nach dieser Pause weiter und räusperte sich dabei. „Wenn eine bestimmte Menge Kämpfer zusammenkommt, dann werden die Regeln aufgehoben, die sonst gelten. Außer der, dass jemand sterben muss.“

Seine letzten Worte besaßen wieder jenen Ernst, den Dorian von ihm gewohnt war. Zugleich hatte seine Stimme aber den eigentümlich sanften Klang, der Dorian das Gefühl gab, Sarik spräche von Krieg und Zerstörung wie von alten, liebgewonnenen Bekannten.

„Ich frage mich nur, warum der Zug nicht besser bewacht worden ist, wenn dem Kaiser doch bekannt ist, dass es hier gefährlich ist.“

„Der Kaiser setzt Prioritäten, ganz einfach“, antwortete Sarik. Auch aus diesen Worten konnte Dorian wieder jene Sanftheit, fast Gleichgültigkeit hören, als würde er über ein Schauspiel mit außer Kontrolle geratenen Darstellern sprechen, und nicht von der Tragödie, die sich in diesem Land ereignete. „Er wird den Großteil der Kräfte aus dem Hinterland abziehen und auf den Krieg konzentrieren.“

„Ich verstehe“, erwiderte Dorian leise, der in Wahrheit nichts verstand. Das Schicksal seiner Freunde in der Hauptstadt- wie auch sein Eigenes- steckten schmerzhaft in seinem Bewusstsein wie ein Stachel, während das Elend der Flüchtlinge und der Krieg an der Grenze für ihn wie hinter Nebel verborgen lagen. Das Elend eines ganzen Volkes vermochte es kaum, die Tragödie in seinem Umfeld aufzuwiegen, und am Rande seines Bewusstseins schämte er sich dafür. „Dieser Largo Cotter… Er meint, Galdoria hätte den Krieg angefangen“, sagte Dorian nach diesem Moment des Grübelns.

„Weil der Kaiser das Maleficium hat stehlen lassen? Da hat er wahrscheinlich nicht unrecht“, antwortete Sarik. „Obwohl das keine allzu große Rolle spielt. Der Krieg hätte wohl so oder so angefangen. Es liegt eher an den Geschichtsschreibern, nach dem Ende dieses Krieges jene Seite festzulegen, die ihn ausgelöst hat.“

„Die Geschichtsschreiber? Woher wissen die es dann?“ fragte Dorian, der mit Geschichtsschreibern eher kauzige Männer mit langen Bärten verband, denn Soldaten, die mit Kriegen zu tun hatten. Sarik blickte ihn direkt an, zum ersten Mal, seit sie auf dieses Thema gekommen waren. Dorian erkannte ein mitleidiges Lächeln im Halbdunkel.

„Sie erkennen es daran, dass diese Seite verloren hat“, sagte er langsam und mit einer Spur des Bedauerns in der Stimme, in die sich auch eine bittere Belustigung mischte. Dorian verstand endgültig nichts mehr. Aber er nickte lebhaft und bemühte sich, seine Verwirrung zu verbergen. Doch Sarik wandte sich schon wieder ab von ihm und blickte in die Ferne.

Dorian stand noch eine Weile neben ihm, sie sprachen aber nichts mehr. Mehrmals wandte er den Blick von der Einöde um sie herum ab und richtete ihn auf Sarik, um irgendeine Reaktion, einen Hinweis oder etwas anderes zu entdecken. Er wusste selbst nicht, was er zu sehen erhoffte. Wahrscheinlich irgendwas, das sein Verstehen der Lage erleichtern würde, in der sich das Land nun befand.

Kaiser und Aufständische, die ihn bekämpften, Kriege und Geschichtsschreiber, die dessen Auslöser auf dem Papier entschieden: Diese Dinge schienen ihm wie eine Erzählung, die sich jemand ausgedacht hatte, und überstieg alles, was er sich bisher hatte vorstellen können. Seine Träume von Reisen in ferne Länder, von Abenteuern, in denen mutige Helden triumphierten; sie wurden von diesen Ereignissen in ein lebloses Licht getaucht, in denen niemand wegen seiner Heldenhaftigkeit siegte, sondern in denen es nur Tote und Überlebende gab. In denen es nur jene gab, die Leid zufügten, und andere, denen es zugefügt wurde. In denen es keine Gerechtigkeit gab, sondern nur das Glück, überlebt zu haben, oder das Schicksal, als Leiche auf einem namenlosen Schlachtfeld zu verrotten.

Dorian begann zu zittern, als hätte ihn ein eiskalter Windstoß treffen. Die Gegenwart von Sarik war ihm plötzlich unangenehm.

„Ich gehe dann mal schlafen“, sagte er mit heiserer Stimme. Sarik nickte leicht, sah ihn dabei aber nicht an. Aus irgendeinem Grund war Dorian froh, seinem Blick nicht begegnen zu müssen, und so machte er sich eilig davon.
 

Nadims Schnarchen empfing ihn wie ein vertrautes, fast liebgewonnenes Geräusch, als Dorian in das Zelt trat. Wie ein Flüchtender lief er zu seinem Bett und zog sich die bereitliegende Decke bis an das Kinn. Es dauerte eine Weile, bis die Kälte, die in seine Knochen gekrochen war, schwand.

Endlich hörte er zu zittern auf und starrte dabei an die Zeltdecke. Der Wind strich leise darüber, ein Geräusch, das von Nadims Schnarchen immer wieder übertönt wurde. Dorian lauschte auf seinen eigenen Atem und spürte den Schlaf herannahen. Er erwartete ihn und die wirren Träume, die mit ihm kommen würden, gleichmütig. Langsam glitt er in jenen Dämmerzustand hinüber, in dem sich die Eindrücke des Tages mit den kommenden Träumen der Nacht vermischen. In ihnen sah er sich mit einer tödlichen Wunde im Sand liegen, so wie sie die Soldaten, die Rebellen und auch manche der Unbeteiligten, zwischen denen der Tod keinen Unterschied gemacht hatte, erlitten hatten.

Diese düstere Vorstellung hatte nun aber etwas Tröstliches an sich; sie erfüllte ihn mit einem Frieden, der in dieser Welt, die so ganz aus den Fugen geraten war, unmöglich schien. Der Gedanke, die ewige Ruhe mit den Toten des Schlachtfeldes zu teilen, umschmeichelte seine letzten wachen Gedanken mit einer morbiden Zärtlichkeit, die ihn nicht mehr zu beunruhigen vermochte, sondern in einen tiefen Schlaf versinken ließ.
 

„Ihr… braucht mir… doch nicht… zu danken…“, flüsterte Nadim. Ein Sonnenstrahl, der durch eine Ritze des Zeltdaches fiel, kitzelte ihn in der Nase. Er verzog die selbige, um schließlich zu niesen. Dabei schreckte er hoch.

Die Traumlandschaft, in der er sich inmitten seiner Bewunderer sah, die ihm zur Entwendung des Maleficium gratulierten, löste sich in eine sich verflüchtigende Wolke auf. Sie wurde abgelöst durch das Innere eines Zeltes, in dem mehrere leere Liegen standen. Ein muffiger Geruch von Schweiß und grober Leinwand stieg in seine Nase und verscheuchte den Duft des Ruhms, der in seinem Traum geherrscht hatte.

„Schade“, flüsterte er gähnend und streifte die Decke ab. Er war allein in dem Zelt, wie er feststellte. Auf dem Tisch standen hartes Brot und Krüge mit abgestandenem Wasser bereit. Ein bloßer Blick auf dieses kulinarische Angebot brachte das Knurren in seinem Magen zum Verstummen, und so verließ er naserümpfend das Zelt.

Draußen stand die Sonne bereits hoch am Himmel, rege Geschäftigkeit herrschte in der Zeltstadt. Einen kurzen Moment der Orientierungslosigkeit lang fragte er sich, wo um alles in der Welt er sich befand.

„Ach ja. Irgendwo in der Wüste mit irgendwelchen Rebellen“, seufzte er und zog die Nase kraus. Die Sonne stach aus purer Bosheit in seine Augen, so schien es ihm. Schließlich setzte er seine immer noch müden Knochen in Gang, die zuerst erheblichen Widerstand leisteten, sich dann aber doch fügten.

Nadim kratzte sich abwechselnd an Hintern und Nacken, während sein Blick über die Menschen in diesem Lager glitt. Er sah Leute, die seltsame Geräte bedienten, die auf unerklärliche Weise Wasser aus dem trockenen Boden förderten, er sah, wie Zelte repariert wurden, und er beobachtete, wie Waffen in Stand gebracht und gehalten wurden. Dieser so offenkundige Fleiß verwirrte ihn- er fragte sich, warum Irgendjemand einen so aufreibenden Beruf wie Rebell ergriff.

Die Bewegung seiner Füße schaufelte Sauerstoff in seinen Kopf, woraufhin sich seine Gedanken langsam ordneten. Sie wechselten von der Sparflamme, die nur nach Plätzen zum Schlafen und nach Dingen zum Essen Ausschau hielt, zum müden Lodern, das sich mit weitreichenderen und Weltbewegenderen Dingen beschäftigte. Zum Beispiel achtlosen Leuten, die man um ihren Geldbeutel erleichtern konnte. Letztendlich gelangte er in jenen fast schon fieberhaften Zustand geistiger Aktivität, die ihm eine Perspektive weit oberhalb so naheliegender Dinge ermöglichte.

„Ich will ja das Maleficium erringen!“ sprach er laut aus, während er an nähenden Frauen und spielenden Kindern vorbeikam. Mehrere der Kinder umringten diesen offenbar tagträumenden Gesellen und sangen Spottlieder über ihn, die Nadim jedoch gar nicht registrierte. Kaum, dass sein Geist die ihm sonst innewohnende Trägheit abgestreift hatte, schwebte er schon wieder in höheren Sphären.

„Ja, ich will das Maleficium, um es Iria zu geben und ein großer Dieb zu werden, wie Johann Wenzelstein“, plapperte er weiter. Entgegenkommende Wachen der Rebellen blickten ihm stirnrunzelnd hinterher. „Ach ja, und um diesen Krieg zu beenden“, vervollständigte er seine immer noch leicht wirren Gedanken. „So in der Reihenfolge ungefähr.“

Nadim kam auf einen offenen Platz, auf dem ein Mann an einer Maschine die Waffen seiner Kameraden bearbeitete. Die Maschine kreischte wie ein gequältes Tier, und eine Scheibe sprühte Funken, an der der Mann das Metall der Waffen offenbar schärfte. Nadim schaute ihm eine Weile fasziniert zu, dann traf sein Blick die vielen Waffen, die auf Tischen aufgelegt waren und auf die Behandlung warteten. Auch dabei verstummten seine gemurmelten Gedanken nicht.

„Die bösen Männer des Kaisers wollen das Maleficium auch“, flüsterte er betrübt, „und die haben alle solche scharfen Dinge, um mir wehzutun“, sagte er bei dem Anblick dieser in der Sonne glänzenden Tötungsinstrumente. Plötzlich lichtete sich sein Gesicht. „Ich brauche auch so etwas, genau!“

Sein verstohlener Blick ging zu dem Handwerker, der in seine Arbeit vertieft war. Dann sondierte er die Umgebung, doch keiner der vorbeigehenden Menschen schenkte ihm nähere Beachtung. Daraufhin tastete sein Blick wieder über die auf den Tischen aufgelegten Waffen. Er begann sich die Hände zu reiben, seine Bewegungen wurden eckig und wirkten gehetzt. Schließlich ging er mit zögernden Schritten neben dem Tisch her und ließ immer wieder den Blick auf höchst auffällige Weise in alle Richtungen schweifen, bis seine Wahl schließlich auf einen größeren Dolch fiel, der gerade in seine Weste passte.

Mit fahrigen Bewegungen ließ er ihn dort verschwinden, steckte daraufhin beide Hände in die Säcke und verließ pfeifend diesen Ort.

Etwas außerhalb der Zeltstadt, hinter einem in der Ebene liegenden Felsblock, holte er sein Beutestück hervor und betrachtete es hoffnungsvoll, als sei das Gelingen seines Vorhabens nun so gut wie gesichert.

„Sie sollen nur kommen, diese Rüpel, und mir das Maleficium streitig machen“, schimpfte er und begann, mit dem Dolch herumzufuchteln. Er erstach reihenweise imaginäre Gegner, die sich zwischen ihn und das Maleficium und damit dem zukünftigen Ruhm, der ihm als Wenzelstein gebührte, stellten. Nach kurzer Zeit aber packte ihn Verdrossenheit, und er ließ den Dolch sinken.

„Ich habe aber nicht mal einen Escutcheon wie die anderen“, jammerte er leise. „Und wie man mit so einem Ding umgeht, weiß ich auch nicht“, sagte er und blickte auf den Dolch, der in der Sonne schön glänzte, darüber hinaus aber seinen konkreten Nutzen vor ihm, der noch nie gekämpft hatte, geheim hielt. Nadim hörte ein Geräusch hinter sich. Reflexartig verbarg er den Dolch hinter seinem Rücken und drehte sich um.

Nadim erschrak zutiefst, gab sich aber alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Dieser durchgedrehte Hargfried vom Hellen-Stein, oder wie sein Name auch immer gewesen sein mochte, kam um den Felsen herum und blickte ihn blinzelnd an. Dabei verzog er seine Nase wie ein Hund, der die Witterung eines Stückes Wurst aufgenommen hat.

„Äh, hallo, Herr, äh, Hargfried“, stammelte Nadim und zwang sich zu einem Lächeln. „Sie haben gut geschlafen, hoffe ich?“ fügte er schwitzend hinzu.

„Danke der Nachfrage“, erwiderte er mit überraschend sanfter Stimme. „Ich habe davon geträumt, wie ich dem Mörder meines Vaters den Kopf von den Schultern schlage. Und du?“ fragte er freundlich.

„Ja, äh, ich hab‘ auch was Schönes geträumt“, stotterte Nadim und verschluckte sich fast an den Worten. Dabei ließ er die Hände sinken und blickte mit einem unbehaglichen Lächeln zu Boden. Hargfrieds Blick senkte sich auf die Höhe von Nadims Hüften, und er verzog dabei das Gesicht.

„Der ist aber klein“, sagte er mit unüberhörbarer Geringschätzung. Nadim schreckte hoch und machte ein ebenso verwirrtes wie auch empörtes Gesicht.

„Was heißt hier klein?“ fragte er ärgerlich zurück. Dann fiel sein Blick auf den Dolch, den er auf Höhe seines Unterleibs hielt.

„Als ich Knappe war, habe ich mit ähnlich winzigen Waffen geübt, bis ich ein richtiges Schwert empfangen habe“, erzählte Hargfried und nickte dabei vor sich hin. „Willst du etwa das Kämpfen lernen?“ fragte er als Nächstes und grinste dabei erwartungsvoll. Nadim betrachtete den Dolch in seiner Hand mit hochgezogener Augenbraue und überlegte, ob es eine gute Idee sei, diesen Menschen in seinen Plan einzuweihen.

„Na ja…“, sagte er unsicher. Bevor er aber eine Antwort überlegen konnte, kam Hargfried bereits mit weiten Schritten und begeisterter Miene auf ihn zu. Nadim bekam große Augen, die Flucht gelang ihm aber nicht mehr. Hargfried packte seine Hand, die den Dolch hielt.

„Das Wichtigste ist der richtige Griff“, begann er voller Enthusiasmus zu erklären. Dabei drückte er Nadims Hand so fest zusammen, dass die Gelenke knirschten und er sich einen Schmerzensschrei nur mit Mühe verbeißen konnte. „Nicht zu fest, aber auch nicht zu locker. Einfach schön aus dem Handgelenk, verstehst du?“

Nadim blickte den in fröhlichem Irrsinn lachenden Hargfried mit einem leidenden Ausdruck an.

„Ich glaube, mit der Hand kann ich gar nichts mehr halten“, flüsterte er ächzend und hielt sich seine schmerzenden Finger. Aber Hargfried achtete seinen Leidensbekundungen nicht und fuhr mit der unfreiwilligen Lehrstunde fort.

„Das Nächste ist das Parieren, das man zu Beginn lernen muss“, erklärte er. „Versuche, mich zu erdolchen!“

„Ich soll was…?“ entgegnete Nadim ungläubig, der sich eingestehen musste, dass diese Tat, würde sie gelingen, ihm einen Irren vom Hals schaffen würde.

„Kein Problem“, rief Hargfried und klopfte sich gegen seinen Brustharnisch. „Mir kann nichts passieren, also, nur Mut!“

Nadim betrachtete ihn eine Weile, wie er mit in die Hüften gestützten Händen und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht dastand. Er blickte auf den Dolch in seiner Hand und erinnerte sich an vorhin, als dieser Hargfried fast seine Hand zerdrückt hatte. Dann sammelte er all seine Wut und stieß mit dem Dolch genau in Richtung seiner weniger gut geschützten Halsregion. Das breite Grinsen Hargfrieds füllte sein Blickfeld aus, und die blitzende Klinge bewegte sich rasend schnell darauf zu.
 

„Aaargh!“

Die ganze Welt drehte sich. Schließlich empfing ihn der Erdboden mit unnachgiebiger Härte. Nadim wimmerte und biss die Zähne zusammen. Der Blick seiner tränennassen Augen haftete an seinem Handgelenk, das sich im eisernen Griff von Hargfried befand. Dieser stand über ihm und lächelte wohlwollend.

„Das war gar nicht mal schlecht für den Anfang!“

„Bitte, loslassen…“, jammerte Nadim, der immer noch am Boden lag, nachdem Hargfried seine zustoßende Hand gepackt und ihn auf den Rücken geschleudert hatte.

„Du solltest weniger weit ausholen und dein Ziel nicht so leicht verraten, dann kannst du bald- “

„Loslassen!“ schrie Nadim nun, woraufhin Hargfried seine Hand öffnete. Nadim kämpfte sich mit zitternden Bewegungen auf die Beine, und Hargfried beobachtete ihn unschlüssig dabei.

„Das ist die erste Stunde, du solltest also keine Wunder erwarten“, sagte Hargfried im Tonfall eines Lehrers, der seinem Schüler Mut machen will. Nadim stand wieder; doch seine Knie schlotterten und seine Hände fühlten sich so kraftlos an, dass er glaubte, nicht einmal mehr den Dolch halten zu können. Sein verängstigter Blick traf die Waffe, die er daraufhin eilig wegsteckte.

„Ich glaube, das ist doch nichts für mich.“

„Aber, aber! Als ich in deinem Alter und Knappe war, da musste ich stundenlang solche Übungen mit meinem Lehrer machen. Diese Mühen haben mich aber zu dem gemacht, was ich heute bin!“ sagte er mit unüberhörbarem Stolz. Nadim verzog das Gesicht zu einem mitleidigen Ausdruck.

„Das glaube ich gerne… he, was ist das?“ rief er plötzlich aus und deutete mit dem Zeigefinger in die Ferne. „Ein Walfisch!?“

Hargfried drehte sich um und blinzelte. Hinter ihm war nichts außer Wüstensand, und so wandte er sich wieder Nadim zu- der nun weg war.

„Hm?“ Schließlich wandte er sich erneut dem Anblick der sich bis an den Horizont erstreckenden Wüste zu. „Ein Walfisch, hier?“ flüsterte er und beschirmte seine Augen, um besser sehen zu können. „Vielleicht führt mich dieses Untier ja zu dem Mörder meines Vaters…“, murmelte er und hielt weiter Ausschau.
 

Dorian registrierte eine Unruhe, die sich im Laufe des Tages über die Zeltstadt ausbreitete. Sie wirkte für ihn nun wie das Innere eines Ameisenhaufens, dessen Bewohner sich für ein zu erwartendes Hochwasser rüsten. Nur dass hier keine Furcht, sondern eher Zuversicht herrschte.

Erstaunt beobachtete er, wie sich Dutzende der Rebellenkämpfer auf einem Platz außerhalb der Zeltstadt versammelten, nochmal die Ausrüstung überprüften und dann einzelne Rotten bildeten. Währenddessen formierten sich die Fahrzeuge, die sie tags zuvor hierher gebracht hatten, in einer Kolonne. Dorian stand inmitten dieser geschäftigen Aufbruchsstimmung und kam sich nutzlos vor. Er wusste nur, dass ein Untergebener von Largo Cotter sie alle verständigen hatte lassen.

So stand er nun hier, zusammen mit Iria und auch Nadim, der später zu ihnen gestoßen war. Nadim machte ein seltsam verwirrtes Gesicht und betastete immer wieder seine Weste mit sorgenvoller Miene, wie ihm auffiel. Dann ging Dorians Blick zum Rand des Lagers, von dem jetzt Cotter und Sarik auf sie zukamen.

„Und was geschieht jetzt?“ fragte Dorian Sarik, der zu ihrer Gruppe ging. Cotter trennte sich von ihm und wurde Momente später von mehreren seiner Hilfskommandanten umringt, mit denen er offenbar Vorkehrungen, diesen Auflauf betreffend, besprach.

„Diese Leute sind so freundlich und nehmen uns ein Stück mit“, sagte Sarik, dessen Blick über die Kolonne der abfahrbereiten Fahrzeuge glitt.

„Und wohin?“ fragte Iria mit unverhohlenem Argwohn.

„Sie bringen uns Richtung Norden, und zwar zur Stadt Kurrel“, antwortete Sarik mit knappen Worten. Sein Widerstand, offen zu reden, war nicht zu übersehen.

„Ja, aber was machen wir dann dort?“ fragte Dorian, dem es schwer fiel, seine Ungeduld zu verbergen.

„Das werdet ihr dann erfahren“, sagte Sarik leise und warf einen verstohlenen Blick auf seinen Escutcheon. „Das Maleficium ist in dieser Richtung. Mehr erfahrt ihr später.“

„Dieser Geheimniskrämer…“, flüsterte Iria verärgert und warf Sarik einen giftigen Blick zu. Dieser hatte sich inzwischen abgewandt von ihnen und blickte abwartend in Cotters Richtung. Dorian trat neben Iria und begegnete ihrem vorwurfsvollen Blick. „Ich traue ihm nicht“, hörte er sie leise sagen.

„Er weiß schon, was er tut“, entgegnete Dorian mit einer Zuversicht, die er sich selbst nicht so recht erklären konnte.

„Ja, aber wir wissen nichts davon, was er weiß.“ Dorian wollte etwas erwidern, zögerte aber, als er Brynja und Hargfried nacheinander eintreffen sah.
 

„Ich werde mit einem guten Teil unserer Kräfte das Barantir-Gebirge umgehen, und dann werden wir versuchen, die Versorgungslinien der Armee zu sabotieren“, erklärte Largo Cotter vor der versammelten Truppe. „Wir nehmen euch mit bis nach Kurrel, dort trennen sich dann unsere Wege.“

Dorian hörte aufmerksam zu, ebenso wie Iria und Sarik. Nadim wirkte weiterhin abwesend und wich Hargfried, der wie ein gelangweiltes Kind in die Luft sah, bewusst aus. Brynja stand am Rande der Gruppe und blickte mit verschränkten Armen finster zu Boden. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war schwer deutbar, doch Dorian ahnte, dass sie der Verlust ihrer Waffen immer noch peinigte.

„Sie wollen unserer Armee in den Rücken fallen?“ fragte Dorian aus einem Impuls heraus. Einen Moment später bereute er diese unüberlegte Äußerung.

„Davon ist keine Rede, Junge“, antwortete Largo Cotter langsam und mit bemühter Nachsicht in der Stimme. „Wir wollen sie nur schwächen. Im nördlichen Bereich der Nahami-Wüste gibt es kaum Besiedlung, sie schützen also mit ihrem Vorgehen in dieser Gegend niemanden. Sehr wohl können sie aber die Dauer dieses Krieges ausdehnen, der besser heute als morgen entschieden wird.“

Dorian wollte etwas erwidern, wollte ihm zustimmen, doch Largo Cotter wandte sich schon von ihnen ab. Die versammelten Mannschaften begannen nun in geordneten Reihen auf die Fahrzeuge aufzusteigen, und Cotter überwachte diesen Vorgang persönlich. Niemand schien ihnen in diesem Durcheinander Beachtung zu schenken. Die Angehörigen dieser Rebellenarmee schulterten ihre Packsäcke und kletterten auf die Ladefläche der brummenden Ungeheuer, die sie schon zu dem Überfall am vorigen Morgen getragen hatten.

Jemand trat an sie heran und wies ihnen ebenfalls ein Fahrzeug zu. Mit behänden Bewegungen erklommen sie die Ladefläche, und selbst dabei konnte Dorian den Blick nicht von den Rebellenkämpfern nehmen, die abermals einem ungewissen Ziel entgegenfuhren. Mit einem Rumpeln wurde die Ladefläche hinter ihnen verriegelt. Dorian streckte sich, um über sie hinwegzusehen und einen Blick auf die anderen Fahrzeuge erhaschen zu können.

Unter Getöse und dem Ausspeien schwarzer Qualmwolken setzten sich die Fahrzeuge eines nach dem anderen in Bewegung. Dorians Blick galt vor allem den Mannschaften, die lachten und scherzten, während sie von den losfahrenden Fahrzeugen durchgeschüttelt wurden. Er sah ihre gelassenen Mienen und erahnte ihre Gespräche, die nichts mit den ihnen bevorstehenden Gefahren zu tun haben schienen. Und Dorian begann zu verstehen, dass diese offenkundige Gelassenheit, diese Fröhlichkeit, der wirksamste Schutzschild gegen die zerstörerische Kraft war, die dieser Krieg im Inneren des Landes auf ihre Seelen sonst ausüben würde.

Das gleichmäßige Rumpeln schmerzte Dorian in seinem Rücken, den er noch von der Fahrt am Vortag spürte. Sein Blick wanderte über die Ladefläche, die sie nur mit vernagelten Kisten unbekannten Inhaltes teilten. Iria und Nadim saßen beieinander, ebenso wie Hargfried und Sarik. Nur Brynja saß am anderen Ende der Pritsche, und ihr Blick hatte immer noch etwas Unbestimmtes, Düsteres.

Nach einer Weile stand Hargfried von seinem Platz auf und stellte sich auf die Pritsche. Er beschirmte dabei sein Gesicht mit der Hand und suchte den Horizont ab. Dorian, der sich am Anblick der gleichförmig daliegenden Steinwüste schon sattgesehen hatte und nun die Fahrt lang wurde, stand auf und ging zu ihm.

„Haben Sie was entdeckt?“ fragte er ihn über das Brummen des Motors. Hargfried wandte sich kurz um, bevor er seine Beobachtung fortsetzte.

„Ich halte nach dem Walfisch Ausschau“, antwortete er mit ernster Stimme und nickte dabei. Dorian blinzelte ungläubig. Sein Blick streifte dabei Iria und Nadim, von denen Letzterer sein Gesicht verlegen zur Seite drehte.

„Nach einem… Walfisch? Hier?“

„Es mag ungewöhnlich klingen“, gab Hargfried zu, „aber das Erscheinen eines solchen Tieres hier, in der Wüste, kann nur mit dem Verschwinden des Mörders meines Vaters zusammenhängen. Daran zweifle ich keinen Moment.“

Dorian nickte langsam, seufzte tief und kratzte sich dabei am Kopf.

„Keine Frage, das muss wohl… etwas damit zu tun haben“, sagte er langsam und betonte dabei jedes einzelne Wort, bevor er sich kopfschüttelnd wieder an seinen Platz setzte.
 

Jan Gildenstern beobachtete mit starren Augen, wie die Generäle an ihm vorbeigingen. Einer nach dem anderen verließen sie den Konferenzraum, aber keiner von ihnen begegnete seinem Blick. Sie alle blickten entweder auf ihre glänzenden Stiefel oder an die Ränder ihrer prächtigen Tellermützen. Als wäre es der versteinernde Blick einer Medusa, so eilig gingen sie an Gildenstern vorbei.

Als der Letzte von ihnen den Raum verlassen hatte, verschloss Gildenstern die Tür. Einen Moment blieb er vor dieser stehen, geradeso, als forschte er nach möglichen Lauschern auf der anderen Seite der massiven, goldlackierten Holztür. Nachdem er Sicherheit über ihre Ungestörtheit gewonnen hatte, wandte er sich in Richtung seines Kaisers, der nun allein vor dem Kartentisch stand.

Gildenstern ging gemessenen Schrittes auf ihn zu und sah, wie Modestus der Dritte vor dem Kartentisch stand, die Hände in den weißen Handschuhen auf seinen Rand gestützt, den Kopf tief über die Anzahl an verworrenen Linien und anderen Eintragungen gebeugt. Neben ihm blieb er stehen. Gildenstern schenkte der Karte jedoch keine Aufmerksamkeit, sondern ignorierte sie, als befänden sich nur die Kritzeleien eines Kindes darauf, und nichts von Bedeutung.

„Es sieht nicht gut aus, nicht wahr, Gildenstern?“

Gildenstern hatte eine geschlagene Stunde gelauscht, wie der versammelte Generalstab dem Kaiser versichert hatte, dass die letzten Schlachten allesamt ‚relativ‘ erfolgreich gewesen wären, nur dass der Feind trotzdem mit jeder Stunde ein Stück vorgerückt war, wie die wirren Linien auf der Karte andeuteten.

„Allerdings, eure Hoheit“, erwiderte Gildenstern. Er hatte all seine Beherrschung aufbieten müssen, als die Generäle dem Kaiser zuvor hatten erklären wollen, sie hätten der mosarrianischen Armee eine Reihe von Niederlagen beigebracht, welche den Feind etliche Meilen weit in das Land hineingeführt hatten.

„Was kann man da machen…“, sagte Modestus leise und begann, vor dem Tisch auf und ab zu gehen.

„Es ist zu spät, den Generalstab seines Amtes zu entheben“, dozierte Gildenstern kühl und gelassen. „Der Krieg ist im vollen Gange, und bis unsere Verteidigung neu formiert ist, steht der Feind wahrscheinlich schon vor den Mauern der Stadt. Das alles ist sehr bedauerlich, vor allem angesichts der Tatsache, dass es nicht so weit hätte kommen müssen“, sagte Gildenstern und warf dem Kaiser einen anklagenden Blick zu. Dieser bemerkte ihn jedoch nicht und sah Gildenstern erst einen Moment später ins Gesicht, da dieser wieder seine gefasste Miene trug.

„Gibt es Neues vom Maleficium?“ fragte Modestus mit unsicherer Stimme, als fürchtete er die Antwort. „Haben deine Leute schon etwas herausgefunden?“

Gildenstern blickte ihm scharf ins Gesicht, und die offen darauf hervortretende Schwäche widerte ihn an. Wie ein Bittsteller stand der Kaiser vor ihm, mit der Karte im Hintergrund, die sein Versagen als Feldherr wie als Herrscher dokumentierte. Wie ein Kind, das um eine mildere Bestrafung fleht. Gildenstern bot alle Beherrschung auf, um sich nicht vor Ekel abzuwenden.

„Es gibt eine Spur, sehr wohl“, begann er langsam und mit bedachten Worten. „Ich wollte genau darüber mit Euch sprechen, Eure Hoheit.“

Modestus nickte, und ein Schimmer der Hoffnung zeichnete sich auf seinem müden Gesicht ab. Gildenstern zweifelte keinen Moment, dass er den höchst halbherzigen Respekt, den er seinen Worten gerade noch verleihen hatte können, nicht bemerkt hatte.

„Tatsächlich? Das sind gute Neuigkeiten. Erzähle sie mir“, sagte Modestus und begann wieder, auf und ab zu gehen. Dabei verschränkte er die Arme auf dem Rücken und machte ein interessiertes Gesicht, als würde er damit rechnen, eine unterhaltsame Geschichte zu hören. Gildenstern senkte die Brauen, und es gelang ihm nur mit größter Mühe, seine Empörung nicht durch die folgenden Worte klingen zu lassen.

„Ein Teil der Urheber dieses Diebstahls wurde auf mein Geheiß hin eliminiert. Die Spur, die zu ihren entflohenen Komplizen führt, konnte mittlerweile verifiziert werden. Ich gedenke, die Verfolgung höchstpersönlich zu übernehmen. Darum wollte ich Euch fragen. Euer Hoheit.“

Für jeden anderen Zuhörer wäre sein Widerwille an dieser Stelle nicht mehr zu überhören gewesen, doch nicht so für Modestus, der immer noch mit einem interessierten Gesicht und unveränderter Miene auf und ab ging.

„Das sind gute Neuigkeiten, Gildenstern. Fürwahr, es ist eine Tragödie, dass gerade jetzt das Maleficium geraubt werden musste. Du selbst willst die Verfolgung aufnehmen? Du verfügst doch sicher über fähige Leute, die das übernehmen können. Dein Rat ist mir wichtig. Wem sonst soll ich hier vertrauen?“

Wieder sah Gildenstern sich seinem hilflosen Blick gegenüber, und er versuchte, die Gedanken dahinter zu lesen. Doch er sah nichts als Unsicherheit und Erschöpfung dahinter, und so antwortete er geradeaus.

„Diese Aufgabe ist sehr wichtig, vor allem angesichts des Kriegsverlaufs, Eure Hoheit. Ich möchte kein Risiko bei dieser Aktion eingehen, das versteht Ihr doch sicher.“

Modestus blickte ihn eine Weile an, und Gildenstern spürte etwas für ihn höchst Ungewohntes. Er spürte Unsicherheit darüber, wie er reagieren würde, sollte Modestus ihm dies abschlagen. Sein gut verborgener Zorn wallte hoch und pochte gegen seine Schläfen, die er förmlich erröten spürte.

„Also gut. Hole das Maleficium zurück, Gildenstern. Für unser Land.“

„Für unser Land“, wiederholte Gildenstern, der den Druck in seinen Schläfen nachlassen spürte. Dabei atmete er tief durch und wartete sicherheitshalber noch auf einen Einwand seines Kaisers. Doch es kam keiner, und Modestus wandte sich wieder dem Kartentisch zu.

Gildenstern bedachte ihn noch mit einem abschätzigen Blick, dann verließ er den Konferenzraum.
 

Jan Gildenstern ließ den Konferenzraum mit weiten Schritten hinter sich. Er fühlte, wie eine schwere Last von ihm abfiel, die die letzten Tage jedes Mal in des Kaisers Gegenwart an ihm gezerrt hatte. Diese Befreiung ließ ihn tief durchatmen, und so führten ihn seine Schritte mit sichtlicher Eile in das obere Stockwerk des Palastes.
 

Die Stufen der Metalltreppe unter seinen Füßen warfen den Klang seiner Schritte mit blechernem Echo in die Halle. Jetzt, wo er sich dem Ziel all der Anstrengungen der letzten Zeit nahekommen fühlte, überkam seine Bewegungen eine neue Energie. Jetzt erst realisierte er, welche Kraft es ihn gekostet hatte, sein Misstrauen dem Kaiser gegenüber zu verbergen, ebenso wie sein Nachsinnen über den ihm vollkommen unverständlichen Verrat.

Von weitem sah er bereits die Techniker, die unter der Aufsicht von Sean Hardy die letzten Vorbereitungen trafen. An verschiedenen Stellen des stromlinienförmig gewundenen Metallkörpers machten sie sich zu schaffen, und so wie es aussah, wurden sie keinen Moment zu früh fertig. Gildensterns Schritte führten ihn die Metallbalustrade entlang, in deren Schatten das Gefährt wie ein schlafender Wal ruhte.

„Alles bereit, Sean?“ rief er seinem alten Freund entgegen. Dieser stand mit einem Techniker an einer offenen Luke des Metallkörpers, zu dem eine vorgelagerte Plattform reichte.

„Du weißt, dass die Erprobung dieses Apparates noch nicht abgeschlossen ist“, sagte dieser, mit in die Hüfte gestützten Händen vor der offenen Luke stehend. Der Techniker, dessen grüblerischer Blick schwand, als er das Nahen Gildensterns bemerkte, tat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sein nervöser Blick zeugte von dem Ruf, der Gildenstern vorauseilte, doch dieser beachtete ihn gar nicht.

„Darauf können wir keine Rücksicht nehmen“, erwiderte er mit eiligen Worten, während sein Blick über den Metallkörper strich. In ihm lag eine Schärfe, als könnte er diesem Apparat durch die bloße Energie seines Willens befehlen. „Endlich habe ich freie Bahn; der Kaiser wird meine Abwesenheit nun nicht mehr verdächtig finden, und die Zeit drängt. Ich frage dich nur eines: Wird es seinen Zweck erfüllen?“

Sean Hardy sah sich seinem strengen, zugleich aber auch Vertrauen weckenden Blick gegenüber, dem er schon damals, im großen Krieg, den sie beide überstanden hatten, in manch bedrohlicher Situation empfangen hatte.

„Nach den letzten Tests läuft das Aggregat innerhalb seiner Parameter. Aber es sind eben nur Tests“, gab er zu bedenken. Gildenstern nickte ihm zu, und ein forsches Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

„Das wird reichen, Sean. Wir brechen sofort auf. Und du wirst die Spur verfolgen können?“ fragte er in jenem Ton besorgter Befehlshaber nach, die keine Antwort, sondern eine Bestätigung erwarten, die nicht nur ihn zufrieden stellen, sondern auch den Mut des zweifelnden Fragestellers aufrichten sollte.

„Das Gerät ist im Steuerraum montiert, und wenn wir nicht zu lange warten, sollte sich die Spur auch über große Distanz verfolgen lassen.“

„Wir werden nicht mehr warten“, erwiderte Gildenstern und klopfte ihm auf die Schulter. Ein Nicken seinerseits in Richtung des nervös wartenden Technikers genügte, ihn mit den letzten Vorbereitungen zum Start zu betrauen. Eilig lief er los, und zusammen mit seinen Kollegen machte er den Apparat startklar.
 

Das Röhren des Aggregats erfüllte den Saal und hallte pochend von den Wänden wieder. Gildenstern beobachtete, wie die Rotoren unter den Gitterabdeckungen in der Oberfläche des Apparates Drehzahl aufnahmen, sich wieder verlangsamten und dann in einem neuen Anlauf ihre ganze Kraft entfalteten. Das Surren und Brausen wurde immer stärker, ein Rütteln ging durch den Metallkörper, als erwache ein Ungeheuer unter schmerzhaftem Herzrasen zu neuem Leben.

Eine Tür öffnete sich. Gildenstern beobachtete, wie eine Reihe Männer in vollständiger Rüstung und Bewaffnung auf die Balustrade trat. Ihre Rüstungen waren von höchster Güte, zeugten aber auch von häufigem Einsatz. Ihre Waffen hingen mit der Selbstverständlichkeit natürlich gewachsener Gliedmaßen an ihren Seiten. Ihre Gesichter, keines davon mehr jung, strahlten Ruhe und auch die Bereitschaft aus, Befehle in aller Konsequenz auszuführen und dabei niemanden zu schonen.

Gildenstern lächelte. Es war der Kern der Palastwache, das Rückgrat der innersten Verteidigung, die Elite, die unter seiner harten Faust unerbittlich und nahezu unüberwindlich geworden war. Sein Blick glitt über ihre Rüstungen, die sie durch jahrelangen Drill wie eine zweite Haut trugen, ihre Waffen, mit denen sie selbst blind kämpfen gelernt hatten, und über ihre Escutcheons, die alle vier volle, in grünem Schein drohende Glasscheiben trugen.

Eine Luke glitt hoch, alle stiegen ein. Sie schloss sich wieder, und die Techniker des Saales suchten Deckung hinter Schränken und Gerätschaften. Ein Tor schwang auf, von einem verborgenen Mechanismus bewegt, und enthüllte das unter Sonnenschein liegende Panorama der Stadt Galdoria. Windstöße drangen ein und wirbelten umherliegende Papierblätter auf. Das Dröhnen der Rotoren verstärkte sich, und die Techniker mussten ihre Augen vor dem aufgewirbelten Staub schützen.

Der walgleiche Apparat setzte sich wankend in Bewegung. Er schwebte auf das Tor zu, unter dem die Mauern des Palastes in die Tiefe fielen, welche sich am Fuße des Kaiserpalastes mit dem Pflasterboden vereinten. Mancher der Techniker lehnte sich gegen den Sturmwind und öffnete seine Augen einen Moment, um den Start dieses Prototypens mitzuerleben. Oder auch seinen Absturz, was für sie nichts Neues mehr gewesen wäre.

Doch die Kräfte, die von den in seinen fischgleich gewundenen Metallkörper eingelassenen Rotoren entfesselt wurden, bezwangen die Schwerkraft und ließen den Apparat über die Dächer Galdorias schweben.
 

„Unglaublich…!“ seufzte Hardy, der neben dem Steuermann des Apparates stand. Auf seiner anderen Seite stand Gildenstern, der mit verschränkten Armen und einem zufriedenen Lächeln aus dem Sichtfenster blickte.

„Ja, dieser Apparat hat eine große Zukunft, daran zweifle ich nicht.“

„Wenn unsere Armee solche Geräte zur Verfügung hätte…“ Hardy schüttelte den Kopf angesichts seiner ungeheuerlichen Ausmalungen. „…dann könnten sie eine Invasionsmacht direkt vor den Mauern Urakands abladen, und der Krieg wäre mit einem Handstreich gewonnen!“

Jan Gildenstern musste angesichts der Überschwänglichkeit seines Freundes lächeln.

„Weiß du, wie lange ich diesen Gedanken schon mit mir herumtrage? Es war der Kaiser, der diese Technologie für Hokuspokus erklärt und ihre Entwicklung nicht fördern wollte. Meinem Einfluss ist es zu verdanken, dass es zumindest diesen funktionierenden Prototyp gibt.“

„Das heißt, die Massenfertigung für die Armee muss noch eine Weile warten“, sagte Hardy mit betrübtem Tonfall, während er die Ameisen gleichenden Menschen in den Straßen Galdorias beobachtete.

„Nun, es gibt einen zweiten Prototyp, der aber noch nicht einsatzbereit ist. An ihm sollten verbesserte Fertigungstechniken erprobt werden…“ Sein Gesicht verdüsterte sich angesichts der Erinnerungen an all die Steine, die seinen Bemühungen in den Weg gelegt worden waren. „Aber bald ändert sich das. Sehr bald“, sagte er mit fester Stimme.

Der Apparat, der Beobachtern vom Boden wie ein metallener Fisch erschienen sein musste, glitt über den Himmel dahin, angetrieben von den in seinen Rumpf an verschiedenen Stellen eingelassenen Rotoren. Allerlei verwunderte Blicke folgten ihm, und so strebte er unnachlässig seinem Ziel im Norden des Landes zu.
 

Die Stunden gingen hin. Es fiel Dorian immer schwerer, auf seinen vier Buchstaben sitzen zu bleiben. Immer wieder erklomm er die Wand der Ladefläche und hielt Ausschau nach etwas, das letztendlich aber nicht auftauchte.

Die Erinnerung an all die Geschichten über die Wüstengebiete, in denen rätselhafte Untiere leben und vom Sand der Wüste bedeckte Tempel ihrer Entdeckung harren sollten, ging ihm durch den Kopf. Doch hier gab es wesentlich realere Bedrohungen, wie die kaiserliche Armee, die ihnen vielleicht schon auf den Fersen war, und mit denen die Rebellen keinen Kampf scheuen würden. Dagegen konnte er aber weder mystische Ungeheuer noch versteckte Schätze in diesen einförmigen, vom Wind geglätteten Landstrichen entdecken.

Wenn er sich aber an seine Erlebnisse hier erinnerte, an den Überfall auf den Zug, an die Schlacht der kaiserlichen Soldaten mit den Rebellen, zwischen deren Fronten nicht nur sie, sondern auch die Flüchtlinge aus Mosarria gelangt waren- dann erschienen ihm die Erzählungen von geheimnisvollen Monstern und versteckten Tempeln langweilig und schal dagegen. So ganz anders eben als damals, als er sie das erste Mal gehört hatte.

Dorian wunderte sich darüber und setzte sich wieder auf die ungleichmäßig schaukelnde Pritsche. Damals, in seiner Kindheit, hatte diesen Erzählungen eine mystische Aura angehaftet, die nun nach und nach verblasste- wie ein guter Freund, von dem man Abschied nimmt und der schließlich am Horizont verschwindet. Stattdessen erschienen ihm seine Erlebnisse hier von einer Deutlichkeit und einer Schärfe, von der er spürte, dass sie ihm bleibende Erinnerungen verschaffen würde. Sein Kopf wurde schwer von all diesen Gedanken, und so blickte er sich um.

Sarik saß mit verschränkten Armen da und machte den Eindruck, nicht gestört werden zu wollen. Dorian hatte dies respektiert, ebenso wie bei Brynja, die am anderen Ende der Pritsche saß und dabei wie ein dem Ausbruch aus seinem Gefängnis harrendes Raubtier wirkte. Hargfried saß zwischen ihnen, blickte gedankenleer und auffallend fröhlich in die Luft und machte insgesamt den Eindruck eines Kindes, das seinen Geburtstagsgeschenken freudig erregt entgegensieht.

Keiner von den Dreien schien ein geeigneter Gesprächspartner. Brynja aufgrund ihrer schlechten Laune, Hargfried wegen seines kaum zu übersehenden Irrsinns, und Sarik wegen dem Respekt, den er Dorian selbst im schweigenden Zustand gebot. Er blickte sich nach Iria und Nadim um, die auf seiner Seite der Pritsche saßen. Mit beiden hatte er bereits versucht, die Fahrtzeit verkürzende Gespräche zu beginnen, doch in beiden Fällen war es nicht so recht gelungen.

Nadim hörte nicht auf, seine Weste zu betasten, als erfüllte ihn die Ahnung eines krankmachenden Geschwürs darunter mit quälender Sorge. Auf Dorians Frage hin erwiderte er, dass es ihm gut ginge, danach kehrte er aber wieder in seinen in sich gekehrten, von spürbarem Schuldgefühl kündenden Zustand zurück. Dorian hatte daraufhin nur sachte den Kopf geschüttelt und sich Iria zugewandt.

Diese saß neben ihm und ließ ihre Beine über dem Ladeflächenboden baumeln. Manchmal kam es Dorian vor, als höre er über den Motorenlärm hinweg Iria eine Melodie summen. Auch sie gab sich nicht sehr gesprächig. Sie war nicht abweisend, wie sie es schon mehrmals während ihrer Reise gewesen war; es schien ihm eher, dass sie von der Schwere ihrer Gedanken zu sehr erfüllt war, um ihm die entsprechende Aufmerksamkeit schenken zu können.

Und er ahnte auch sehr gut, wo diese nun weilen mochten. In diesem Moment traf ihn selbst ein kurzer Stich, dessen Schmerz aber schnell wieder verklang. Dorian fragte sich, ob es richtig war, dass ihn die Angst um seine in der Hauptstadt verbliebenen Freunde nun nicht mehr so stark berührte, während sie ihm zuvor noch beinahe überstürzt hatte weglaufen lassen.

Iria hatte damit offenbar größere Probleme. Obgleich er sich leise schämte, erfüllte ihn diese Beobachtung auch mit Zuversicht. Er würde sich nun auf das Notwendige konzentrieren können, ohne ständig in Sorge um seine Freunde zu leben, denen er zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin nicht helfen konnte.

Schlagartig wallte ein Gefühl der Zuversicht in ihm auf, sowie die Gewissheit, das alles gut ausgehen würde. Davon beflügelt, sprang er auf und lugte über die Wand der Ladefläche. Der Fahrtwind zerzauste sein Haar, und die trockene, warme Luft fühlte sich wie eine raue Hand an, die sanft über seine unbedeckten Oberarme strich. Seine Augen verengten sich gegen den Staub, und er blinzelte in den Dunst, der am Horizont vor ihnen hing. Plötzlich glaubte er etwas zu entdecken, woraufhin er seine Augen mit der Hand beschirmte.

Hinter den dunstigen Schwaden, die den Horizont in ein sattes Grau tauchten, zeichneten sich feine Linien ab. Sie blieben noch unklar, was Dorian neugierig in den Fahrtwind blinzeln ließ. Doch die endlos anmutende Entfernung lag bald zu einem guten Teil hinter ihnen, und die Linien wurden klarer.

Eine Gebirgskette schälte sich aus dem Dunst. Dorian öffnete den Mund weit. Wie schlafende Riesen lagen die Gebirgszüge vor ihnen, am Rande dieser Wüste. Er konnte förmlich ihre schneebedeckten Gipfel riechen. Weißen Titanen gleich schmiegte sich diese Gebirgskette in die Landschaft und überblickte sie wie ein ruhendes Urzeittier aus längst vergangener Epoche.

„He, die Berge, die Berge!“ rief Dorian, der seine Aufregung plötzlich kaum im Zaum halten konnte. Er sprang auf und ab, dass die Pritsche unter seinen Füßen knarrte. Iria und Nadim blickten überrascht zu ihm hoch. Kurz begegnete er ihren verständnislosen Blicken, dann wandte er sich wieder dem Panorama zu, das sich in seiner Herrlichkeit vor ihm ausbreitete.

Je näher sie dieser Gebirgskette kamen, desto deutlicher zeichneten sich die Gipfel und die Grate, die Rücken und die Scharten ab. Wie Monumente kolossaler Baukunst hoben sich diese Wälle aus Fels und Eis von der sie umgebenden Ebene ab. Schließlich erkannte er auch eine Stadt am Fuße dieses Gebirges, die sich wie ein schutzsuchendes Tier in ihren steinernen Schoss schmiegte.

Zwei Fahrzeuge scherten aus der Kolonne aus und hielten an, während die anderen mit verminderter Fahrt ihrem Ziel im Osten zustrebten. Dorian und seine Wegbegleiter stiegen von der Ladefläche. Largo Cotter erwartete sie bereits mit mehreren seiner Untergebenen. Sie standen ein Dutzend Steinwürfe von der Stadt entfernt, deren graue Häuser sich kaum von den Bergriesen in ihrem Rücken abhoben.

„Von nun an seid ihr auf euch allein gestellt“, sagte Cotter, der sich wieder eine Zigarette angezündet hatte. Männer aus seinem Trupp öffneten eine Kiste, aus der sie ihnen ihre bis jetzt verwahrten Waffen überreichten. „Aber ihr kommt schon zurecht, schätze ich“, brummte er und nahm die Zigarette aus dem Mund.

„Wir werden uns Mühe geben. Und Danke für die Gastfreundschaft“, antwortete Sarik, während die anderen sich auf ihre zurückerlangten Waffen stürzten. Brynja verstaute mit hektischen Bewegungen ihre Dolche und setzte den Stachel in ihre Armschiene ein. Danach atmete sie tief durch und machte auf Dorian den Eindruck, als fühle sie sich jetzt erst wieder als ganzer Mensch.

Hargfried wog sein riesiges Schwert in der Hand, als sei er sich über den Verwendungszweck dieses Gegenstands im Unklaren. Daraufhin wandelte sich seine Miene, und er begann, den Gegenstand aus scharfem Metall wie ein Kind in den Armen zu wiegen.

Dorian steckte sein Schwert in die Halterung am Gürtel. Auch er fühlte sich erleichtert. Dann aber kamen die Erinnerungen zurück an das Ereignis, bei dem er diese Klinge errungen hatte. Seine Euphorie schwand, und so wandte er sich seufzend der Stadt zu, die in geringer Entfernung auf sie wartete.

„Nochmals vielen Dank“, sagte Sarik. Largo Cotter winkte ab und murmelte etwas Unverständliches. Dann warf er den abgebrannten Zigarettenstummel weg.

„Passt auf euch auf. Ich fahre mit meinen Männern nach Osten, und dann umgehen wir das Gebirge Richtung Norden. Aber wenn ihr das gefunden habt, was ihr sucht, werdet ihr wohl die andere Richtung nehmen…“ Einen Moment lang blickte er nachdenklich zu Boden. „Sei’s drum. Ich hoffe, wir treffen uns wieder, wenn dieser verdammte Krieg vorbei ist und kein Irrer mehr auf dem Thron in Galdoria sitzt.“

Er schüttelte ihnen allen die Hand zum Abschied, und wenige Momente später waren es nur noch Staubschwaden, aufgewirbelt von riesigen Rädern, die von ihrer Ankunft kündeten. Dorian blickte den beiden Fahrzeugen hinterher, die sich mühten, zu den anderen aufzuschließen; er fragte sich, ob er diesen Largo Cotter jemals wiedersehen würde. Schließlich merkte er, dass die anderen schon auf dem Weg in die naheliegende Stadt waren, und so lief er ihnen eilig hinterher.
 

Dorians Blick pendelte zwischen den in ruhiger Eintracht aneinander liegenden Fachwerkhäusern und den sich dahinter auftürmenden Gebirgsriesen hin und her. Dann wieder ging sein Blick in die Richtung, aus der sie kamen. Dort sah er die steinige Wüste, die sie hinter sich gelassen hatten, und auch den Schienenstrang, der ihm bis jetzt nicht aufgefallen war.

Er erinnerte sich an die abrupte Unterbrechung ihrer Zugfahrt, und dass sie schließlich genau durch jene Leute, die diese unterbrochen hatten, nun doch hierher gelangt waren. Dann kehrte Dorian wieder in die Gegenwart zurück und betrachtete die Hausfassaden, die alle wie von grauem Staub bedeckt wirkten. Dadurch machten sie den Eindruck, verlassene Ruinen zu sein; doch geöffnete Fenster, aus denen Wäsche hing und Geklapper von Geschirr drang, widerriefen diesen Eindruck.

Diese Stadt war größer als Brimora, aber immer noch deutlich kleiner als Galdoria, schätzte er. Es waren nur wenige Leute auf den Straßen; in der Mehrzahl Kinder, Frauen und ältere Männer. Dorian wurde sich bewusst, dass die Mobilisierungsmaßnahmen für den Krieg auch an dieser Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen hatten. Ihm ging nun auf, dass sich dies in der Hauptstadt längst nicht so stark bemerkbar gemacht hatte.

Die Ungerechtigkeit dieser Maßnahme, die im Umfeld des Kaisers weniger Wirkung getan hatte als an diesen eher entlegenen Orten, ließ stummen Ärger in ihm aufsteigen; nun verstand er Largo Cotters Beweggründe besser. Der Kaiser hatte wirklich alles versucht, die Stimmung in der Hauptstadt möglichst gut zu halten, und sei es dadurch, dass er dort die geringere Menge Soldaten einziehen ließ.

Es begegnete ihnen Frauen mit Kindern an der Hand; die Kinder bekamen angesichts ihrer Truppe große Augen, deuteten mit Zeigefingern und plapperten begeistert. Ihre Mütter hingegen senkten den Blick, beschleunigten ihre Schritte und zogen ihre vor Neugier lachenden Kinder mit sich.

„Jetzt sind wir hier“, begann Iria nach einer Weile, in der sie schweigend durch die Straßen dieser Stadt gegangen waren. „Was haben Sie jetzt vor? Glauben Sie, das Maleficium ist hier?“ fragte sie und richtete sich dabei direkt an Sarik. Dieser begegnete ihrer unverhohlenen Ungeduld mit einem diplomatischen Lächeln.

„Hier in dieser Stadt nicht. Aber dort oben“, antwortete er und deutete dabei auf den steinernen Kegel, der das Gebirgsmassiv oberhalb dieser Stadt dominierte. Dorian folgte mit den Augen seinem Zeigefinger. „Das ist der Berg Galgasot. Dort liegt unser Ziel.“

Wie ein Herrscher inmitten seiner Untertanen, so hob sich dieser majestätische Berg von den umstehenden Felsgiganten ab. Dorian öffnete den Mund und hörte Nadim neben sich nach Luft schnappen.

„Da rauf?“ fragte dieser ungläubig. Es schien, als würde Nadim angesichts der Größe dieses Bergriesen im Gegenzug schrumpfen.

„Keine Sorge. In seinen Flanken wird seit Jahrzehnten Erz abgebaut, es gibt eine Gondelführe, die bis fast auf den Gipfel führt“, erklärte Sarik. „Und weiter müssen wir nicht hinauf.“

„Aber wieso auf diesem Berg…?“ fragte Iria und blickte ihn verständnislos an. Sarik begegnete ihrem Blick; es war für Dorian nicht zu übersehen, dass er immer noch zögerte, ihnen reinen Wein einzuschenken. Dann blickte er sich um, während Iria ihn immer noch fragend anblickte, bis sein Blick auf einen Punkt am Ende der Straße fiel.

„Ihr werdet bald alles erfahren. Vorher müssen wir uns nur eine Fahrt mit der Gondelführe verschaffen. Sie ist momentan nicht in Betrieb…“, sagte er langsam und kniff sein gesundes Auge dabei zusammen. Dorian folgte seinem Blick und sah das Seil, das sich undeutlich als dünner, schwarzer Strich gegen die felsigen Wände des Berges abzeichnete. Es war keine Gondel zu sehen, nichts bewegte sich. „Am besten, wir fragen jemand.“
 

Das Gasthaus, das Sarik am Ende der Straße erblickt hatte, beherbergte in seinem Inneren nur wenige Gäste.

Diese lehnten an der Theke aus schwerem, nachgedunkeltem Holz. Ihre leisen Gespräche erfüllten die mit Gerüchen von Bier und Abwaschwasser geschwängerte Luft. Hin und wieder durchbrach ein jähes Auflachen diese heimelige Ruhe. Dann wieder setzten sich die eifrigen und doch leise geführten Gespräche fort.

In Dorian wurde die Erinnerung an die Gaststätten am Bucket-Weg wieder wach. Dieselbe von Rauch und Alkohol durchsetzte Luft, dieselben roten Nasen und unterlaufenen Augen, die von häufigen Besuchen in diesem Etablissement kündeten. Nur, dass diese Kneipe weniger schäbig war und die Einrichtung von einer gewissen Gediegenheit kündete. Hinter sich hörte er Sarik mit dem Wirt reden. Iria stand daneben, scheinbar darum besorgt, Sarik könnte einen eigenmächtigen Schritt unternehmen.

Nadim hingegen spazierte pfeifend durch den Gastraum und ließ sich bald an einem Tisch nieder. Dorian beobachtete, wie er die Augen schloss, beide Hände auf den Tisch legte und ein verzücktes Gesicht machte. Im Geiste wähnte er sich wohl schon vor einer reichlich gedeckten Tafel, während in Wahrheit nur ein leerer, zerkratzter Tisch vor ihm stand. Dorian musste lächeln, dann fiel sein Blick auf Hargfried.

Dieser stand mitten unter den Gästen, die ihm unauffällige und zugleich interessierte Blicke zuwarfen. Hargfried, dem nicht entging, dass seine Rüstung Aufmerksamkeit erregte, stand mit einem unglücklichen Lächeln in der Gaststube, ähnlich wie eine stolze Statue, die feststellen muss, dass sie in das Visier vorüberfliegender Tauben geraten ist.

Brynja stand ein Stück entfernt von Sarik, ließ ihn jedoch keinen Moment aus den Augen. Ebenso wie Iria schien sie Bedenken zu haben, Sarik könnte ihnen irgendeine Information aus seiner Besprechung mit dem Wirt vorenthalten. Dorian, den dies im Moment eher gleichgültig ließ und seine Umgebung jetzt mehr faszinierte als ihr Ziel, ging auf die Rückwand der Kneipe zu.

Dort hingen an der dunklen, vom Rauch geschwärzten Vertäfelung eine Reihe von Bildern und grafischen Darstellungen. Auf ihnen sah er die Abbildungen von weitläufigen Höhlen und Schachtsystemen, von riesenhaften Stalagmiten, die wie steinerne Eiszapfen von gewaltigen Höhlendecken herabhingen, und von schimmernden Erzadern, die inmitten ihrer Entdecker funkelten. Er sah auch Abbildungen mannshoher Kristallgebilde und anderer seltener Funde, vermerkt mit Funddatum und den stolzen Unterschriften derer, die sie aus dem Schoß der Erde zu Tage gefördert hatten.

Sein Blick glitt über diese Ansammlung von Bilddokumenten, die allesamt den Abbau von wertvollen Gesteinen zum Thema hatten. Er war ganz gefangen von diesen Eindrücken, die den Geist von Entdeckerstolz und Berufsehre ausdrückten. Fast kam ihm diese Wand wie ein Reliquienschrein vor, in denen die Menschen hier das aufbewahrten, was ihnen am heiligsten war.

Erst ein langgezogenes Seufzen, gefolgt von leisen, aber aufgeregten Worten, riss ihn aus diesen Gedanken.
 

„Wieso müssen wir bis morgen warten?“ fragte Iria. Sie gab sich wenig Mühe, ihre erboste Stimme zu zügeln. Sarik saß ihr gegenüber, und Dorian, der sich neben Iria gesetzt hatte, wunderte sich über ihre Forschheit.

„Die Gondelführe ist stillgelegt. In den Mienen wird nicht gearbeitet. Gegen eine kleine ‚Aufwendung‘ können sie sie für uns in Betrieb setzen, aber eben erst morgen.“

„Na großartig“, brummte Iria und blickte auf die Tischplatte. Dorian staunte über die Energie, die sie in die Verfolgung des Maleficium setzte. Sein Blick ging weiter zu Nadim, der auf der anderen Seite neben Iria saß. Seine Miene war ebenso von ungeduldiger Erwartung angespannt, aber weniger wegen des Maleficium, wie Dorian vermutete, sondern eher wegen dem Essen, das sie in der Zwischenzeit bestellt hatten.
 

Dichter Dampf stieg von den Speisen in den Schüsseln auf, und Dorian sog ihn begierig durch die Nase. Wasser sammelte sich in seinem Mund wie in einer Zisterne. Er wagte es kaum, mit dem Essen zu beginnen; im Gegensatz zu den anderen, allen voran Nadim, der sich mit wahrem Heißhunger auf die Mahlzeit stürzte.

Dorian öffnete langsam die Augen und ließ den Blick über die Teller schweifen. Sie standen da, gefüllt mit Gebratenem, Klößen und Kraut, wie verheißungsvolle Oasen zwischen den Krügen mit dunklem Bier. Dabei kaute er ins Leere und ließ den Duft auf sich wirken, um seine Vorfreude, die, angeheizt von der kargen Verpflegung bei den Rebellen, sich ins Unermessliche steigerte. Dann tauchte er das angelaufene Silberbesteck, das mit dünnen Ketten am Tisch befestigt war, in diese Ansammlung lukullischer Köstlichkeiten und erstickte prompt um ein Haar am ersten Bissen.

„Nicht so gierig!“ rief ihm Hargfried zu, der im Gegensatz zu allen anderen ausschließlich mit dem Besteck und ohne Zuhilfenahme seiner Finger aß. „In dieser, äh… vornehmen Restauration gibt es gewiss genug für uns alle“, sagte er mit einem schiefen Lächeln, bevor er sich wieder seinem Teller zuwandte.

Dorian blickte ihn kurz an, nachdem er sich von seinem Hustenanfall erholt hatte, dann beschäftigte er sich wieder mit dem Füllen seines Magens, der sich wie eine durchhängende Wäscheleine anfühlte.

Bald saßen sie vor leeren Tellern. Nadim und auch Brynja ließen sich einen Nachschlag geben. Die anderen wandten sich satt und zufrieden ihren Krügen zu, die sie gemächlich leerten, um nach dieser kräftigen Mahlzeit die Mägen zu verschließen.

Nur Iria machte einen rastlosen Eindruck. Dorian beobachtete sie unauffällig und bemerkte, dass es ihm schwerfiel, den Blick von ihr zu nehmen. Er redete sich ein, dies käme daher, dass er auf ihre Reaktionen gespannt war, die mit der Annäherung an ihr Ziel immer heftiger wurden. Das erheiterte ihn, der er selbst den Entschluss in sich trug, das Maleficium zu finden, was ihn im Moment aber weniger berührte. Dorian blickte in seinen Krug, in dem das trübe Bier schäumte.

Dabei dachte er an seine eigene Zielstrebigkeit, die in der Vergangenheit immer wieder aufgewallt war, um dann wieder in abwartende Gelassenheit überzugehen. Dorian erinnerte sich an die Nacht in Brimora und die darauffolgende im Rebellenlager, in denen er geglaubt hatte, sich nicht mehr halten zu können aus Angst um seine Freunde. Nun spürte er kaum noch etwas davon, wie auch am Tag zuvor. Er wurde sich bewusst, dass ihn die Gegenwart seiner Wegbegleiter von diesen Gedanken ablenkte und sie ihn nur dann peinigten, wenn er allein war.

Dorian lehnte sich zurück, spürte seinen wohlgefüllten Magen und auch das Bier, das ein schweres Gefühl in seinem Kopf verbreitete. Das Bedürfnis, sich hinzulegen, erwachte in ihm. Ein Bett, etwas Schlaf… diese lockende Aussicht drängte all seine Sorgen in den Hintergrund. Aber für wie lange? fragte er sich. Wenn er dann wieder allein sein würde, allein mit seinen Gedanken, ohne Ablenkung… würde die Furcht dann wieder hochsteigen, so wie die Schatten bei Anbruch der Nacht lebendig werden? Er wusste es nicht, und diese Ungewissheit trübte die Vorfreude auf die zu erwartende bequeme Nacht in diesem Gasthaus.

„Jetzt kann ich frei zu euch sprechen“, begann Sarik mit einem Mal. Dorian horchte auf und war froh, Ablenkung von seinen Bedenken zu erfahren. Iria richtete sich unmerklich auf, als hätte sie die ganze Zeit auf diese Worte gewartet. Nadim aß munter weiter, und Dorian sah ihn schon seinen vermutlich bald schmerzenden Magen halten. Brynja hingegen schob ihre Schüssel beiseite und richtete den Blick auf Sarik. Hargfried betrachtete indessen seinen Krug, als könnte ihm die Maserung des Steinguts etwas über seine Zukunft verraten.

„Das Maleficium ist auf diesem Berg, sagen Sie“, erwiderte Iria, nachdem Sarik nicht gleich weitersprach.

„Aller Wahrscheinlichkeit nach, ja. Dazu muss ich etwas weiter ausholen.“

„Erzählen Sie nur“, antwortete Iria, die einen kurzen Seitenblick auf den immer noch eilig essenden Nadim und den abwesend wirkenden Hargfried warf. Sarik nickte unmerklich, faltete seine Hände und begann mit der Erklärung.

„Aus den Fragmenten der Aufzeichnungen, die uns der heilige York hinterlassen hat, habe ich die Orte entnommen, an denen er sich damals zurückzog, um das Maleficium zu verfassen. Für diesen ‚Vorgang‘ waren spezielle Orte in der Abgeschiedenheit nötig, um jene Kräfte zu bannen, die nun in dem Maleficium hausen.“

„Das klingt nach Hokuspokus“, warf Brynja mit einem verächtlichen Tonfall ein. Sariks gleichmütiger Blick traf sie, und ihr leises, abfälliges Lachen erstarb.

„Man kann es nennen, wie man will“, fuhr Sarik mit sanfter Stimme fort und hielt Brynjas unnachgiebigem Blick stand. „Auf jeden Fall entstand an diesen Orten die Macht, die sich uns in der Schatzkammer des Kaisers zu einem Teil schon offenbart hat. Und dorthin wird das Maleficium zurückkehren.“

„Einen Moment“ unterbrach ihn Iria, die ihm mit ungeduldiger Miene zugehört hatte. „Was soll das bedeuten? Es kann doch nicht aus eigener Kraft dorthin?“

„Das nicht“, erwiderte er. Sein Blick traf die Tischplatte, er wirkte, als würden seine Gedanken abschweifen. Dorian und Iria tauschten einen Blick und schienen sich beide zu fragen, ob er überhaupt weitersprechen würde. „Wer immer diese Person war“, fuhr Sarik nach mehreren Momenten des Schweigens fort, „sie hat das Maleficium schon einmal geöffnet, und darin liegt eine große Gefahr, wenn ich die verbliebenen Aufzeichnungen des heiligen York richtig deute.“

„Wird man von diesem Teufelsding besessen?“ fragte Brynja nun, die ihn mit schmalen Augen und einem leicht zur Seite gedrehten Kopf anblickte, aus dessen Mienenspiel unübersehbarer Argwohn sprach.

„Es wohnt ein sehr mächtiges Wesen darin. Der heilige York hat damals sein ganzes Wissen und Energie aufbieten müssen, um es darin zu bannen. Wer immer es unbedacht öffnet, setzt sich einer großen Gefahr aus.“

Dorian lauschte ihm gebannt. Er spürte die Wirkung des dunklen Biers gar nicht mehr; stattdessen erfüllte ihn eine schleichende Furcht, die ihn das Finden dieses Gegenstandes mit einem Mal nicht mehr erstrebenswert vorkommen ließ.

„Das alles sagen Sie uns jetzt?“ fragte er ihn und lachte gezwungen dabei. Keiner am Tisch teilte diese offensichtlich aufgesetzte Geste.

„Unter den Rebellen dieses Largo Cotter konnte ich nicht frei sprechen. Hätten diese Leute ernsthaft angenommen, wir wüssten, wo das Maleficium zu finden sei, dann säßen wir jetzt nicht hier.“

Dorians gespielte Erheiterung löste sich endgültig in Beklemmung auf. Er erinnerte sich an seinen Besuch in Cotters Zelt und seine Bemerkung, den ‚verrücktspielenden‘ Escutcheon betreffend. Bei dieser Erinnerung lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, trotz der warmen Luft in der Gaststube.

„Und auf diesem Berg finden wir das Maleficium?“ hakte Brynja nach. Ihre Miene drückte immer noch Argwohn aus, zugleich aber auch die Ruhe, seine Ausführungen fürs Erste zu akzeptieren. Ihre Augen hingegen blickten immer noch scharf und forschend.

„Ich weiß nicht genau, welche Tat das Wesen darin seinem Träger eingibt; wir müssen aber damit rechnen, dass er unter dessen Einfluss steht. Das Wesen im Maleficium wird dieselben Orte aufsuchen, an denen es entstanden ist. Und demnach…“ Er warf einen Blick auf seinen Escutcheon unter seinem Ärmel, der bei der Ausrichtung nach Norden immer noch das mysteriöse Farbenspiel zeigte. „…muss er jetzt dort sein. Außerdem wüsste ich keinen anderen Grund, warum der Träger dieses Gegenstands in die Einöde nördlich der Hauptstadt flieht.“

„Und es gibt keine andere Möglichkeit, auf diesen Berg zu kommen?“ fragte Iria. Ihre Miene hatte nichts an Zielstrebigkeit verloren, zumindest erschien es Dorian so. Er selbst verspürte nicht mehr allzu viel Verlangen, in die Nähe dieses fluchbehafteten Gegenstands zu gelangen, nicht nach Sariks Erzählungen.

„In den Schächten und Höhlen des Berges Galgasot hat der heilige York gefastet und geforscht. Damals waren diese Höhen nur mühsam über schmale, gefährliche Wege erreichbar. Heute gibt es die Gondelführe, und der Weg ist mit ihr bedeutend kürzer und vor allem sicherer.“

Dorian wurde immer unwohler zumute. Vielleicht war es nur die gerade herrschende Behaglichkeit, die ihm die Gedanken an Eis und steilen Fels, an Mühsal und Gefahr so abschreckend erscheinen ließen. In der Wärme der Gaststube, auf der bequemen Holzbank, kam es ihm als eine unverantwortbare Narretei vor, sich in die eisigen Flanken dieses Berges zu begeben.

„Dann gibt es keinen anderen Weg…“, murmelte Iria, an deren Gesicht Dorian sah, dass sie diese Tatsache notgedrungen akzeptierte.

„Morgen gelangen wir problemlos in den Bereich der Schächte, in denen sich York damals aufgehalten hat. Heute können wir nicht mehr viel ausrichten; es wäre höchst töricht, in der kommenden Dunkelheit den Aufstieg zu wagen.“

Dorian sah sich um. In der rauchgeschwängerten Luft der Gaststube, die sich gegen Abend zu füllen begann, erschienen ihm die Mienen seiner Wegbegleiter düsterer als noch am Tage. Sie saßen um einen Tisch, in behaglicher Wärme, und gerade hier schienen sich die zu erwartenden Schwierigkeiten noch stärker auf ihrer aller Gemüter auszuwirken. Bis auf Hargfried, dem in seiner wechselnden geistigen Gesundheit von alledem nichts zu berühren schien, und natürlich Nadim, der mit einem wohlgefüllten Magen und der Aussicht auf ein warmes Bett mit sich und der Welt zufrieden war.

Anders war dies bei Brynja, von der er wusste, dass hinter ihrer beherrschten Fassade die Rachegelüste wie ein im Verborgenen schwelender Buschbrand lauerten. Sie verbarg ihre Ungeduld gut, ebenso wie ihren Argwohn diesem mosarrianischen Offizier gegenüber, und doch konnte Dorian beides hinter den scharf geschnittenen Zügen ihres wettergegerbten Gesicht erahnen.

Ähnlich war es bei Iria, die abwechselnd auf ihren leeren Teller und, nachdem der Wirt abgeräumt hatte, auf die leere Stelle starrte, um dann den Blick wieder zu heben und auf Sarik zu richten. Auf ihrem Gesicht war der Widerwille gegen seine Führung ebenso sichtbar wie das Eingeständnis, dass sie ohne ihn kaum eine Chance hatten.

Schließlich fiel Dorians Blick auf Sarik, der mit gefalteten Händen ihnen gegenüber saß, immer wieder einen Schluck von seinem Krug nahm und den unauffälligen, aber wachen Blick seines Auges durch die Gaststube schweifen ließ. Der Bereich an der Theke war mittlerweile gut gefüllt. Schallendes Lachen, ausgelöst von derben Kalauern, hallte zu ihnen herüber. Auch ringsum saßen Leute an den Tischen, nahmen einfache Mahlzeiten ein und sprachen über alltägliche Dinge.

Doch selbst jetzt schien dieser Sarik auf eine Gefahr gefasst. Dorian dachte an sich selbst und wie es ihm ergangen war: An seine Panik in den Momenten der Bedrohung, und an seine wiederkehrende Gelassenheit, wenn sie als sicher anzunehmende Orte erreicht hatten. Dass dies genauso gut eine Illusion sein konnte, fiel ihm nun ein; ebenso, dass er weit entfernt war von der Besonnenheit, die Sarik nicht nur jetzt bewies, sondern auch in brenzligen Situationen gezeigt hatte.

Draußen vor der Gaststube erwachten die Straßenlaternen zum Leben, und ihre Gesellschaft zerstreute sich. Dorian sah Sarik beim Wirt das Quartier für sie alle für diese Nacht begleichen. Kurz darauf wurde Nadim lebendig, der nach seiner Mahlzeit mit teilnahmslosem Gesicht und einer Hand auf dem sich vorwölbenden Bauch nur dagesessen hatte. Er fragte den Wirt noch nach den zugeteilten Unterkünften, dann war er weg. Hargfried verließ die Runde ebenfalls, sichtlich froh, dem gemeinen Volk entronnen zu sein, und suchte ebenfalls den oberen Stock auf, in dem die Fremdenzimmer lagen.

Brynja hatte hingegen ihren beinahe leeren Krug genommen, schlenderte zur Theke und ließ sich dort zwischen den mehrheitlich männlichen Tavernengästen nieder, mit der unmissverständlichen Aufforderung an den Wirt, ihren Krug nachzufüllen. Dorian blickte über Sariks Schulter hinweg, der immer noch am Tisch saß, und beobachtete das Geschehen, das sich anbahnte.
 

Ihr Auftauchen hatte ihnen bisher schon den einen oder anderen Blick der Einheimischen beschert, die die Neuankömmlinge mit der allen Provinzlern eigenen Mischung aus Neugier und der Argwohn Fremden gegenüber betrachteten. Dass sich diese Frau ohne Begleitung an ihrer Theke breitmachte, verunsicherte diese Leute aber nun sichtbar.

Dorian betrachtete interessiert, wie sich um Brynja herum ein Vakuum der Stille bildete, indem alle Gespräche verebbten. Erst einige Momente später, als die Einheimischen diese Störung ihrer gewohnten Ordnung einigermaßen verdaut hatten, flammten sie wieder auf. Nun schienen sie alle dasselbe Thema zu haben, nämlich die Fremden und vor allem diese Frau, die sich nicht genierte, das Heiligtum der örtlichen Männer- den Tresen aus mit Bier vollgesogenem Holz- zu entweihen. Dorians Neugier, was passieren würde, erstarkte, und er stand mit seinem Krug in der Hand auf.

„Sie kommt schon klar“, hörte er Sarik sagen, der gar nicht aufgesehen hatte von seinem Krug. Dorian, den diese Situation mit erwartungsvoller Anspannung erfüllte, blickte ihn erstaunt an.

„Meinen Sie? Aber irgendwie- “

„Sie kann es mit jedem Störenfried aufnehmen, keine Sorge“, unterbrach er ihn und schüttelte langsam den Kopf. Doch auch diese Geste vermochte Dorian nicht zu beruhigen, und so ging er los.

Mit ziellosen Schritten schlenderte Dorian durch den gut gefüllten Gastraum, in dem getrunken, gescherzt und geraucht wurde. Er, der einen Kopf kleiner als die meisten Gäste war, suchte sich mit gewandten Schritten einen Weg durch die dichter werdende Menge. Mehrmals ertappte er sich dabei, wie er seine freie Hand nach so manch allzu gut exponierter Brieftasche ausstreckte. Doch er unterdrückte diesen Reflex und näherte sich in einem Bogen der Theke.

Durch die Leute hindurch sah er, wie sich immer mehr Blicke auf Brynja sammelten. Sie schwankten zwischen erbost und neugierig, wie er feststellte. Sein Augenmerk glitt über die Leute, auch über die Frauen dieser Stadt, und ihm fiel auf, dass Brynja in ihrer herben Eleganz deren einfache, zurückhaltende Erscheinungen mühelos ausstach. Mehrmals sah er, wie feiste, gebieterische Ehefrauen ihren Männern grobe Knuffe versetzten, deren Augen sich allzu offensichtlich zur der attraktiven Unbekannten verirrt hatten und dort hängengeblieben waren.

Dorian ging an ihr vorbei und registrierte die teils begehrlichen Blicke, die sie völlig ungerührt über sich ergehen ließ. Am anderen Ende der Theke, an der noch eine Schulterbreit Platz war, nahm er Aufstellung und beobachtete das sich abzeichnende Geschehen. Einer der Männer, er stand zwischen zwei anderen, zog die Nase hoch, schnäuzte sich geräuschvoll und leerte seinen Krug, offenbar um Mut zu gewinnen, dann ging er in Brynjas Richtung.

Der Mann drückte die Brust heraus, zog den Bauch ein und setzte sein schäbigstes Grinsen auf. Die beiden Männer, mit denen er eben noch zusammengestanden hatte, verfolgten die Sache höchst amüsiert, zu der sie ihren Zechkumpanen offenbar überredet hatten. Brynja zeigte immer noch die kalte Schulter in Richtung des sich nähernden Mannes, und schließlich stand er vor ihr.

Dorian begann jetzt schon zu kichern, dann geschah das Unvermeidliche.
 

„Neu hier in dieser Stadt? Dann brauchen Sie sicher jemanden, der ihnen alles zeigt.“

Dorian hörte die Stimme über den lauten Hintergrund hinweg. Unüberhörbar stammte der daraus hervorklingende Mut aus den Tiefen eines einst wohlgefüllten Kruges. Brynja wandte sich dem schon leicht wankenden Gesellen zu, erwiderte sein Lächeln, welches gelbe Zähne offenbarte, aber nicht.

„Wohl kaum“, erwiderte sie knapp und musterte ihn mit einem Blick von Kopf bis Fuß, um sich danach wieder ihrem Krug zuzuwenden.

„Na, hey, Lady, so ein Ton ist aber nicht angebracht bei uns“, lallte er mit hörbarem Ärger in der Stimme.

„Wirt, schenk mir nochmal ein“, rief Brynja und hob ihren Krug. Der Mann sah sich mit wachsender Unsicherheit um. Sein Blick pendelte zwischen seinen Kumpanen, die ihn mit Gesten anfeuerten, und dem abweisenden Frauenzimmer ihm gegenüber. Dann räusperte er sich lautstark, schüttelte seinen rot werdenden Kopf und legte Brynja seinen Arm um die Schulter. Dorian schlug sich auf die Stirn.
 

„Nun komm schon, wir müssen uns nur etwas besser kennenlernen!“ raunte er ihr zu. Der Wirt, der gerade ihren Krug nachfüllte, sah ihre versteinerte Miene, die sich angesichts des sich daneben drängenden, breit grinsenden Gesichts kein Fingerbreit verzog.

„Nimm deine Finger weg, und zwar jetzt“, hörte er sie leise sagen. Dabei stellte er ihr den wieder gefüllten Krug hin.

„Komm schon, Sigismund. Du siehst doch, dass die Dame allein sein will“, sagte er mit geduldiger Stimme, aus der auch alle vergangenen Ermahnungen klangen, die er seinem Stammgast wohl schon hatte aussprechen müssen.
 

Dorian beobachtete gebannt, wie der Kerl seinen Arm auf ihrer Schulter liegen hatte und ihr etwas ins Ohr zu flüstern begann. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und er sah, wie sich ihre Hand von der Theke löste und langsam nach unten bewegte.

Schlagartig gefror das rote Gesicht des Mannes, um sich im nächsten Moment zu einer Grimasse des Schmerzes zu verziehen. Seine Gesichtszüge machten alle möglichen Verrenkungen und schöpften ihren Bewegungsspielraum völlig aus. Brynja sprach ein paar Worte, die Dorian aber nicht hören konnte. Dann ging ein Ruck durch ihren Arm, der vor dem Mann herabhing, und sein Gesicht zeigte sämtliche vorstellbaren Grimassen gleichzeitig, bevor er langsam in die Knie ging.

Dorian beobachtete noch, wie sich der Mann mit verdrehten Knien zu seinen Freunden schleppte, die aus vollem Halse lachten. Bei ihnen angekommen, verkroch er sich hinter seinem Krug, so dass kaum noch etwas von ihm zu sehen war.

„Wirt? Bring mir eine Schale Wasser. Ich möchte mir die Hände waschen“, rief Brynja. Der Wirt, der dies alles aus nächster Nähe mit angesehen hatte, blickte sie noch einen Moment starr an, um danach eilig eine solche Schüssel zu holen. Dorian lachte in sich hinein, bis sein Bauch schmerzte. Dann leerte er seinen Krug und schickte sich an, die Gaststube zu verlassen. Dabei ging er an Brynja vorbei, zu der die Umstehenden nun einen sichtbaren Respektsabstand hielten, und die anstatt der begierigen nun ehrfurchtsvolle Blicke trafen.

Die Gäste der Herberge verfielen wieder in ihre Gespräche, in ihren Tratsch und Klatsch. Im Vorbeigehen hörte er so manchen Wortfetzen. Bei einem jedoch stoppte er, da diese Worte mit hörbarer Verunsicherung und auch Furcht ausgesprochen wurden. Etwas darin klopfte an die Tür seines Verstandes, und auch wenn er dieses Etwas hinter der Tür nicht demaskieren konnte, so wollte er doch einen Blick durch den Türspalt darauf werfen. Dorian blieb in der Nähe dieser Leute stehen und lauschte unauffällig mit.

„Ich will ja nicht sagen, dass diese beiden Taugenichtse es nicht verdient hätten- “

„Wenn sie es denn waren.“

„Bestimmt waren sie es! Seit damals hat sie niemand mehr gesehen, und auch wenn sie niemand vermissen wird… Ein schreckliches Ableben, fürwahr.“

„Bestimmt hat sie der Fluch ihrer Schlechtigkeit ereilt, keine Frage.“

„Ich glaube nicht an Flüche, die gibt es nur in Märchen…“

„Und was sollte sie sonst so bis auf die Knochen abgenagt haben?“

„Na ja… Vielleicht Schakale aus der Wüste?“

„Mitten in der Stadt, und innerhalb einer Nacht? Unfug…“

Dorian schüttelte langsam den Kopf. Diese eilig geflüsterten Worte zwischen zwei der Tavernengäste beunruhigten ihn auf seltsame Weise. Nachdem es ihm aber nicht gelang, die Quelle dieser Unruhe zu orten, schob er den Gedanken beiseite und verließ den Schankraum.

Erst auf der Treppe, die in das obere Geschoss führte, merkte er, wie schwer seine Füße waren. Doch dies mochte eher von der ausgiebigen Mahlzeit und vom schweren Bier gekommen sein, dachte er, während er Stufe um Stufe überwand. Zu Fuß waren sie heute nicht viel gegangen; nichtsdestotrotz hatte ihn die Fahrt mit der Rebellengruppe ermüdet.

Er brauchte einen Moment zur Orientierung, in dem er feststellte, dass das Fremdenzimmer in dem Stockwerk aus einem langen Raum bestand, in dem schmale, einfache Betten in Reih und Glied standen. Weitere Gäste außer ihnen gab es hier offenbar nicht, und so fand er nur Nadim und auch Hargfried in dem Raum vor. Nadim lag da, die Decke bis zur Nase gezogen; es klang, als würde sich eine Truppe Holzfäller an einem Wäldchen zu schaffen machen.

Von dieser Geräuschkulisse unbeeindruckt lag Hargfried mehrere Betten weiter. Neben seiner Liegestatt lehnte sein Schwert an der Wand, die Teile seiner Rüstung lagen geordnet davor. Im Halbdunkel des Raums, das nur vom kargen Licht einer vereinzelten Glühdrahtlampe im Gang erhellt wurde, erkannte Dorian, dass er schlief und nur hin und wieder mit den auf der Brust gefalteten Händen zuckte.

Dorian betrachtete dieses friedliche Bild eine Weile. Er spürte die Müdigkeit ebenso, doch etwas hinderte seinen Entschluss, es ihnen gleichzutun. Nach einem Moment des Zögerns schloss er die Tür wieder.
 

Seine Schritte führten ihn durch den Flur, ohne ein Ziel erraten zu lassen. Dorians Gedanken bewegten sich langsam im Kreis, auf angenehme Weise, wie ein Schiff, das sich auf sanften Wellen wiegt. Sein voller Magen und das Bier versetzten ihn zusätzlich in eine entspannte Dumpfheit. Doch etwas hinderte ihn daran, sich schlafen zu legen, was im Moment das Vernünftigste gewesen wäre.

Einen Moment wälzte er den Gedanken, wieder hinunter in den Gastraum zu gehen. Doch dafür war sein Kopf, in dem die Geräusche seiner Umgebung mehrfach widerhallten, schon zu schwer. Am Ende des schwach erleuchteten Flurs sah er eine Tür einen Spalt offen stehen. Sie lag an der Wand, in der auch eine Reihe von in Zinn gefassten Fenstern war. Das Licht der Straßenlaternen brach sich in ihnen und warf dunkelrote Schatten in den Flur. Aus einem Impuls heraus ging er auf die Tür zu und öffnete sie ganz.

Sie führte auf einen schmalen Balkon, wie er herausfand. Von diesem aus konnte man die Straße überblicken, die sie am späten Nachmittag entlanggegangen waren. Die Luft hier draußen war kühl und kitzelte ihn in seinen müden Augen. Dann fiel sein Blick auf Iria, die am Ende des Balkons stand. Sie hatte ihn offenbar gleich gesehen und blickte ihn nun traurig an.

„Ich kann auch wieder gehen, wenn du allein sein willst“, sagte Dorian eilig. Er wollte schon die Tür zuziehen, doch Iria schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

„Es macht mir nichts“, antwortete sie mit gleichgültiger Stimme. Dorian nickte als Antwort, obwohl sie ihn gar nicht mehr ansah. Einen Moment blieb er unschlüssig auf der Schwelle stehen. Er merkte aber, wie erfrischend die Luft hier draußen war im Vergleich zur verrauchten Gaststube. Die kühle Nachtluft prickelte auf seinen unbedeckten Oberarmen; sie roch nach dem Eis ferner Gletscher.

„Tja… Vielleicht finden wir das Maleficium morgen“, sagte Dorian, um die Stille zu durchbrechen. In der Tat war es ruhig auf den Straßen, und das einzige Geräusch, das zu ihnen heraufdrang, waren die lauten Gespräche aus der Gaststube, die gedämpft durch den Holzboden klangen.

„Wenn er es uns nicht vor der Nase wegschnappt“, antwortete Iria, als er es gar nicht mehr erwartet hatte. Erstaunt blickte er sie an. Sie hielt den Kopf gesenkt, und es sah aus, als würde sie jemanden erwarten, der unterhalb des Balkons auf der Straße auftauchen mochte. Doch die Straßen waren wie ausgestorben, und aus einem ihm selbst unbekannten Grund tat sie Dorian plötzlich leid.

„Wie meinst du das?“

„Na ja… Diese ganzen Geschichten. Es ist doch offensichtlich.“ Dorian sah im Licht der Straßenlaterne, wie sie die Augen verdrehte.

„Geschichten“, wiederholte Dorian, der in seinen zähflüssigen Gedanken nach der damit verbundenen Erinnerung suchte.

„Na, diese Geschichten, dass das Maleficium einen bösen Geist hat und so gefährlich ist“, sagte sie und rief ihm damit Sariks Ausführungen ins Gedächtnis. „Wenn du mich fragst, er will uns nur Angst machen.“

„Glaubst du?“ Dorian lehnte sich auf das gemauerte Geländer, das sich angenehm kühl anfühlte. „Warum sollte er das tun? Er hat uns bis jetzt auch nicht geschadet.“

„Glaubst du denn, er wird es so tun, dass wir uns nachher noch darüber beklagen können!?“

Ihre Stimme wurde schrill. Auf ihrem Gesicht loderte heller Zorn, der aber schnell wieder versiegte. Nach einem Moment, in welchem sich ihr Blick von verärgert zu resigniert wandelte, blickte sie wieder auf die nächtliche Straße hinab. Dorian blinzelte unschlüssig und schämte sich, wenngleich er nicht wusste, wofür.

„Es… Es tut mir leid“, sagte sie einige Augenblicke später. „Ich wollte dich nicht anschreien.“

„Äh, keine Ursache“, antwortete Dorian, der verwirrt war, über ihren plötzlich aufflammenden Ärger genauso wie über sich selbst.

„Es ist nur… Dieser Sarik weiß mehr, als er sagt. Er benützt uns, und er weiß, wie er uns von sich abhängig machen kann.“

Dorian sah, wie sie die Fäuste ballte. Er versuchte, sich die Einzelheiten ihres Gesprächs heute bei Tisch in Erinnerung zu rufen, um nach dem Quell ihres Ärgers zu forschen. Er gab dies bald aber wieder auf und rieb sich seufzend den Nacken.

„Das glaube ich weniger. Wenn er sich unser entledigen wollte, hätte er das schon tun können.“

„Glaubst du das im Ernst?“ fragte sie ihn und sah ihn mit schmalen Augen an. „Er braucht uns nicht, aber wir brauchen ihn. Irgendwas steckt dahinter…“ Ihre letzten Worte verloren sich in einem Murmeln, das schließlich in Schweigen überging.

„Du willst das Maleficium unbedingt finden, nicht wahr?“

Dorian sah sie nicht an, während er diese Worte sprach. Sein Blick ging zum Himmel, an dem hinter dichten Wolken der Mond fahl leuchtete. In der Ferne konnte er die Wüste erahnen, die sie durchquert hatten, und allein der Gedanke, jetzt dort draußen zu sein, ganz allein in dieser kargen Einöde, ließ ihn frösteln.

„Pielebott ist keine große Stadt, wie ich dir ja schon erzählt habe“, begann Iria nach einer Weile. Dorian vermied es, sie anzusehen. Sein Blick war auf die endlos anmutende Ebene gerichtet, die er zwischen den Dächern der Häuser auf der anderen Straßenseite erblicken konnte. „Nach dem Krieg damals kamen viele Flüchtlinge durch. Manche blieben und siedelten sich an, andere zogen weiter… Angeblich waren meine Eltern unter ihnen. Sie kamen aus Urakand und brachten mich nach Pielebott. Sie sind dann- “ Ihre Stimme stockte. Dorian hörte sie tief durchatmen. Dann sprach sie weiter. „Noch als ich ganz klein war, wurde ich von unserer Diebesgruppe aufgenommen. Meister Paltram hat mir alles beigebracht.“

Dorian, der immer noch zwischen den Hausdächern nach der Wüste schaute, konnte sie lächeln hören. Der Wind strich ganz leicht über die Dächer, und Irias Stimme mischte bei diesen Erinnerungen einen wohltuenden Klang in das leise Geräusch. Ganz anders als vorher, wo ihr unterdrückter Ärger durchgeklungen war.

„Meister Paltram hat immer dafür gesorgt, dass wir das Notwendigste haben. Vor allem für uns Mädchen in der Gruppe. Ich habe oft daran gedacht, wenn wir in den Straßen unterwegs waren und Frauen sahen, die an den Straßenecken standen und warteten. Männer kamen dann vorbei, laute und schmutzige Kerle oft. Die Frauen gingen dann mit diesen Männer mit.“

Leiser Abscheu trübte den Klang ihrer Stimme, und Dorian schauderte es. Weniger wegen dem Sinn ihrer Worte, sondern mehr, weil nun in dieser Nacht, die sich wie eine kühle Hand über Kurrel gelegt hatte, etwas fehlte. Als hätte der Klang ihrer Stimme den in Dunkelheit liegenden Häusern ringsum eine eigene warme Farbe verliehen, die man weniger sehen, sondern eher spüren konnte.

„Sie mussten es tun. Jeder will überleben, irgendwie. Aber trotzdem fand ich es schlimm… Es machte mich traurig. Meister Paltram hat dafür gesorgt, dass es uns besser ging als diesen Frauen.“

Die bittere Farbe, die ihre Stimme angenommen hatte, lichtete sich wieder. Dorian schloss die Augen und atmete die frische Luft tief ein. Es war ihm, als wäre nun, da ihre Stimme die Farbe wieder aus glücklicheren Erinnerungen gewann, alles um sie herum in ein sanftes Licht getaucht. Er wunderte sich einen Moment, als er die Augen öffnete, dass es dunkel war.

„Du hattest den Plan von Anfang an, richtig?“ fragte er sie. Sofort merkte er die Änderung, im Licht und im Klang, der nicht nur das Außen, sondern auch ihn selbst zu erfüllen schien.

„Es fiel Meister Paltram schwer, aber er musste ein paar von uns zu einem befreundeten, zu eurem Gildenhaus schicken. Er hatte auch Angst um uns, wegen des Krieges. Kurz nach unserer Ankunft habe ich die Gerüchte über das Maleficium gehört, dass es nun in Galdoria sein soll. Von da an wusste ich, was ich tun würde.“

Zum ersten Mal, seit Iria von ihrer Heimat zu erzählen begonnen hatte, blickte Dorian sie an. Die Haut ihrer Wangen schimmerte in einer Farbe ähnlich des Sonnenaufgangs im schwachen Licht der Straßenlaterne, die unter dem Balkon stand. Ihre Augen blickten klar und fest in die Ferne, ihre Haltung war aufrecht, beinahe stolz.

Er spürte keine Müdigkeit mehr, und die Schwere in seinem Kopf, hervorgerufen durch das dunkle Bier, war ebenfalls in den Hintergrund gedrängt. Dies rührte nicht nur von der erfrischenden Nachtluft her, dessen war er sich sicher. Darüber hinaus war ihm die Quelle dieser plötzlichen Klarheit, dieses Friedens, den er empfand, unklar.

Es war nicht der Frieden, den das Vergessen den Menschen schenkt, die von ihren Sorgen gebeugt durchs Leben gehen. Es war die Zuversicht, wie sie auch in den Bäumen und Trieben wohnt, die unter Schnee verborgen liegen und doch wissen, dass sie der Frühling mit seinen lebensspendenden Sonnenstrahlen wecken wird.

Auch hatte er Irias Erzählung klar vor Augen: Ihre Kindheit in einem vom Krieg zerrütteten Land, ähnlich der seinen, das Gefühl der Heimat, das ihr die Diebesgilde gegeben hatte, und die Tragik, die der mögliche Verlust derselben in sich trug. Und doch hatten ihn diese Worte aufgemuntert, ja geradezu mit einem warmen, angenehmen Gefühl erfüllt, fast so, wie die reichliche Mahlzeit seinen Magen mit Wärme versorgt hatte.

Doch dies war anders. Anders selbst noch als der Rausch, der im Alkohol wartet. Es war ihre Gegenwart, ihre Stimme, ihr Gesicht, ob traurig oder auch ärgerlich- es war etwas, das in ihrem Wesen lag und von dem er ahnte, dass es ihm schwer fallen würde, darauf in Zukunft zu verzichten. Dorian erschrak über sich selbst.
 

„Ich lege mich jetzt hin“, hörte er Iria sagen. „Es ist spät, und morgen wird wahrscheinlich ein langer Tag. Und wenn wir verschlafen, ist dieser Sarik womöglich schon über alle Berge.“

Bei den letzten Worten zeichnete sich ein vorsichtiges Lächeln auf ihrem Gesicht ab, das im Licht der Straßenlaterne schimmerte. Dorian sah sie verwirrt an. Es gelang ihm gerade noch, das Lächeln unbeholfen zu erwidern und ihr eine gute Nacht zu wünschen, bevor sie den Balkon verließ. Zurück blieb Dorian, der die Welt- vor allem aber sich selbst- nicht mehr verstand.
 

Die Schwere in seinem Kopf und in seinen Gedanken kehrte zurück; Dorian benötigte einen Moment, um zu realisieren, dass Iria gegangen war.

Der Wind, der immer noch in kaum spürbaren Böen über die Dächer strich, war derselbe wie vorhin, ebenso wie die Straßenlaterne unter dem Balkon, die ihr bernsteinfarbenes Licht auf das Kopfsteinpflaster darunter warf. Auch die kahlen Ebenen, die sich von hier aus in kalte, lebensfeindliche Fernen erstreckten, wie auch die Felsriesen aus Stein und Eis, die sich unsichtbar in seinem Rücken hinter der Gaststube auftürmten- all diese Dinge waren unverändert und würden es auf Zeitalter hin auch bleiben. Aber in ihm, in Dorian Alberink, hatte sich etwas verändert.

Eine Weile stand er noch am Balkongeländer, blickte nach dem hinter einem dunklen Vorhang verborgenen Mond und vermisste die Sterne, die er so oft vom löchrigen Dach am Bucket-Weg aus beobachtet hatte. Schließlich wurde ihm kalt, und er trat wieder in den Flur.

Die Wärme des Gasthauses umfing ihn. Jetzt erst spürte er die Schwere seiner Schritte, in die die Müdigkeit des Abends zurückkehrte. Sie führten ihn in das Fremdenzimmer, indem nun auch Iria schlief. Zumindest lag sie in einem Bett, ihre Schuhe davor, die Decke bis an ihre Schulter gezogen. Sie wandte ihm den Rücken zu, und ihr dunkles Haar fiel in unordentlichen Strähnen über das vergilbte Leintuch. So stand Dorian da und betrachtete sie, um immer wieder aufs Neue von Nadims plötzlichen Schnarchern aus seinen Gedanken gerissen zu werden.

„Wie soll ich da schlafen?“ fragte er halblaut und betrachtete den Nachfahren der Wenzelsteins, der mit offenen Mund und zitternden Augenlidern dalag, und dessen Schnarchlaute von den kahlen Wänden des Fremdenzimmers widerhallten.

„Man gewöhnt sich an alles“, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Erschrocken fuhr er herum.
 

Sarik stand in der halboffenen Tür. Dorian ärgerte sich darüber, ihn nicht gehört zu haben, und Irias Verdacht befeuerte nun seine von Erschöpfung und Bier zähen Gedanken. Im selben Moment schämte er sich vor Sarik für diesen Verdacht, während sein Blick nervös durch den Raum tastete.

„Hoffentlich“, sagte er verlegen. Dabei entschied er sich für eines der freien Betten und ging dorthin.

„Als Soldat lernt man, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu schlafen. Denn man weiß nie, wann die Nächste kommt“, erklärte Sarik mit sanfter und zugleich ernster Stimme. Dabei stellte er seine Waffe neben einem freien Bett ab. „Aber er schnarcht wirklich furchtbar.“

Dorians drehte sich bei dieser Bemerkung um und bemerkte die Mischung aus Hilflosigkeit und Erheiterung auf Sariks Gesicht, das im Schein der Glühdrahtlampe aus dem Flur lag. Einen Augenblick blinzelte er verwirrt, bis Sarik leise zu lachen begann. Dorian lachte ebenso und dachte daran, dass er Sarik so noch nie erlebt hatte.

„In diesem Gasthaus gibt es keine Einzelzimmer, so müssen wir wohl hiermit Vorlieb nehmen“, sagte Sarik darauf und richtete sich das bereitliegende Bettzeug her. Dorian, von diesem unerwarteten Scherz aufgemuntert, wandte sich ebenso dem Herrichten seiner Schlafstätte zu. Ein fröhliches Lächeln hielt sich hartnäckig auf seinem Gesicht; schließlich setzte er sich auf sein gemachtes Bett.

„Darf ich Sie was fragen?“ fragte er leise, aber gedankenvoll. Sarik, der gerade seine Stiefel auszog, warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor er sie vor seinem Bett abstellte.

„Frag nur.“

„Warum- “ Für einen Moment wurde Dorian unschlüssig. Dann schüttelte er seufzend den Kopf und sprach die Frage geradeheraus aus, ohne den Versuch, sie umzuformulieren. „Warum begleiten Sie uns? Warum lassen Sie zu, dass wir sie begleiten? Ich meine…“ Dorian zögerte erneut, blickte zu Boden und rieb sich den Nacken, in banger Erwartung der Antwort. „Ich meine… Sie brauchen uns nicht. Aber wir brauchen Sie.“

Es kostete ihn Überwindung, den Kopf wieder zu heben, und fast scheu begegnete er dem Blick von Sarik. Dieser saß auf dem einfachen Holzbett aus roh gehobelten Balken. Sein hellroter Mantel lag zusammengelegt auf seinen Knien, und nach einem Moment des Schweigens legte er ihn auf das kleine Nachttischchen neben der Liegestatt.

„Das ist eine gute Frage“, sagte er schließlich. Dorian hörte aufmerksam zu; diese Worte klangen für ihn, als wäre er sich selbst über die Antwort nicht ganz im Klaren. „Ich bin schon bald zwanzig Jahre in der mosarrianischen Armee“, sprach er weiter. „In diesen Jahren habe ich viele verschiedene Kommandos innegehabt, und viele Soldaten angeführt. Ich habe gelernt, worauf es dabei ankommt, und was es für ein Gefühl ist, wenn andere Menschen einem vertrauen und sich auf einen verlassen. Ich schätze, ich kann nicht anders“, sagte er lächelnd und legte seine Brille auf den Mantel. Danach streckte er sich auf dem Bett aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Dabei glühten die Scheiben seines Escutcheons im Halbdunkel.

Dorian nickte langsam, wenngleich ihm der flüchtige und auch ausweichende Ton in seinem letzten Satz nicht entgangen war.

„Diese Brynja vertraut ihnen nicht“, sagte Dorian, der in diesem Moment das drängende Gefühl hatte, etwas entgegnen zu müssen, als könnte er ihn damit auf die Probe stellen.

„Brynja Peinhild hat so wie alle Assassinen gelernt, Niemandem auf dieser Welt zu vertrauen.“

„Das glaube ich weniger“, flüsterte Dorian, der sich an ihre Eröffnung damals, auf dem Dach des Waggons, erinnerte. „Es wundert mich trotzdem“, fügte er lauter hinzu, sodass Sarik es hören konnte. Dabei streckte er sich aus und genoss die weiche Matratze unter sich, die sich unvergleichlich bequemer als die Feldbetten im Rebellenlager anfühlte.

„Ein einzelner Soldat kann nur wenig ausrichten, unabhängig davon, wie stark er ist. Dies wird einem am ersten Tag in der Armee gesagt, und all jene, die dies vergessen, beenden ihre Karriere sehr rasch“, hörte er Sarik erzählen. „Die Militärfriedhöfe in Mosarria sind voller Leute, die sich für Helden hielten, glaub‘ mir, Junge.“

„Wenn das so ist, dann frage ich mich, warum Sie ganz allein geschickt wurden?“

Einen Moment herrschte Stille in dem Fremdenzimmer, von Nadims unregelmäßigen Schnarchern und dem leisen Rumoren aus der Gaststube abgesehen. Bevor Sariks Zögern ihn stutzig werden ließ, hörte Dorian seine Antwort.

„Dies ist keine normale Operation, so wie etwa ein Angriff. Ein einzelner Mann hatte einfach die besten Chancen, unerkannt in die Hauptstadt Galdorias vorzudringen. Außerdem- “

Ein polterndes Geräusch aus dem Flur drang durch die immer noch halbgeöffnete Tür des Fremdenzimmers. Es unterschied sich so deutlich von dem gedämpften Rumoren aus der Gaststube, dass sich Sarik ebenfalls erhob, einen alarmierten Blick mit Dorian austauschte und seine Hand zu der neben seinem Bett bereitstehenden Waffe glitt.
 

Ein Schatten zeichnete sich im Licht ab, das durch die halboffene Tür hereinfiel. Der Schatten wurde größer und nahm schließlich die Form von Brynja Peinhild an, die in den Raum trat.

„Gab es ein Problem?“ fragte Sarik. Brynja warf ihm einen geringschätzigen Blick zu, dann schloss sie die Tür hinter sich und suchte ein freigebliebenes Bett am Ende des Zimmers auf.

„Nein. Ich musste nur einem aufdringlichen Burschen den Weg die Treppe hinunter zeigen.“ Ohne etwas ihrer umfangreichen Ausrüstung abzulegen, setzte sie sich auf das Bett, richtete sich das Kissen so, dass sie im Sitzen würde schlafen können und verschränkte die Arme vor der Brust. „Diese Provinzler hier haben keine sonderlich guten Manieren.“

Dorian lachte bei der Vorstellung dieser Begebenheit in sich hinein, um daraufhin den Kopf in seinem Kissen zu vergraben. Endlich gab er der Erschöpfung nach und schlief mit dem Gedanken ein, dass er sich in der Gegenwart solcher Wegbegleiter sorglos zur Ruhe legen konnte.
 

Dorian wurde den Eindruck nicht los, dass Nadim absichtlich trödelte. Als Letzter von allen war er aufgestanden. Die meiste Zeit hatte er benötigt, sich in den Eimern frischen Wassers zu waschen, die ein Bediensteter in das Fremdenzimmer gebracht hatte, und auch beim Frühstück aß er mit einer Seelenruhe, als hätten sie alle Zeit der Welt. Endlich brachen sie auf, und das Unbehagen, diesen Ort der Bequemlichkeit zu verlassen, stand Nadim unübersehbar ins Gesicht geschrieben.

Der Himmel hing immer noch voller Wolken. Die Gipfel der umliegenden Berge blieben verborgen hinter grauen Wattebäuschen aus feuchter Luft. Das Pflaster glänzte vor Feuchtigkeit. Dorian ahnte, dass diese mächtige Bergkette alle vorbeiziehenden Wolken aufhielt und an sich band, bevor sie Gelegenheit bekamen, die ausgetrocknete Oberfläche der Einöde südlich von hier mit lebensspendendem Nass zu benetzen.

Der Weg, den ihnen der Wirt der Gaststube beschrieben hatte, führte sie durch die Stadt, deren Bewohner schon in den Läden standen und hinter deren Scheiben mit lebhaften Handbewegungen diskutierten, mit Schubkarren und Pferdewägen Waren transportierten oder allerlei andere Geschäfte erledigten. Auch hier fiel Dorian genau wie in Brimora auf, dass ihnen fast ausschließlich Frauen allen Alters mit ihren Kindern sowie ältere Männer begegneten. Diese beschauliche Stadt schien dem Krieg so fern, doch durch die Abwesenheit der wehrfähigen Männer hatte er auch über diesen Ort einen bedrückenden Schatten geworfen.

Ihre buntgemischte Truppe steuerte unter so manch argwöhnischem Blick jenen Ort an, der sich durch das in die Steilflanken des Berges führende Seil bereits verriet. In ziemlich zentraler Position innerhalb der Stadt fanden sie die Talstation der Gondelführe. Auf einem weiten Platz, der durch den Abstand der umstehenden Gebäude auf die Wichtigkeit dieser Einrichtung hinwies, standen Kabelrollen in Reih und Glied, deren Stränge wie zusammengerollte Schlangen glänzten. Zwischen ihnen ragte ein Haus empor, das sich deutlich von den übrigen unterschied.

Ein Gebilde aus Metall, das wie eine Kombination aus einer halbfertigen Scheune und einem Bahnwärterhaus wirkte, stand auf dem Platz wie ein Tempel, dem diese Sonderstellung gebührte. Aus seinem zum Teil offenem Dach führten Kabelstränge in die dichten Wolken oberhalb der Stadt. Das Gebilde war zur Gänze mit Grünspan und Flugrost überzogen, was bei diesem merkwürdigen Gebäude aber nicht wie ein Anzeichen des Verfalls wirkte. Die Stützpfeiler und Wände dieses Gebildes trugen diese Auswirkungen der Zeit eher wie Symbole der Würde, so wie graues Haar und tiefe Falten die Autorität eines Patriarchen noch unterstreichen.

An der Außenseite hingen eine Vielzahl an Zahnrädern, kleine und große, völlig verrostete und neu wirkende. Diese mechanischen Bestandteile wirkten durch ihre liebevolle Anordnung für Dorian und seine Begleiter allerdings weniger wie in Bereitschaft verharrende Ersatzteile, sondern mehr wie Ausschmückungen, wie Zeichen der Weihe, die dieser Ort ausstrahlte. Sie erkannten keinen Eingang auf Straßenniveau, und so gingen sie die schmale Treppe hinauf, die zu einer rundum verlaufenden Plattform führte.

Auf der Plattform angekommen, sahen sie eine breite Fensterfront, die den Blick in das Innere der Talstation ermöglichte. Darin erblickten sie, ähnlich wie auch draußen, eine Unzahl an Kabelrollen, Zahnrädern und tausend andere mechanische Dinge, wie Werkzeug, Ölkanister, losen Draht und vieles mehr. Auch hier wurden sie den Eindruck nicht los, es handele sich nicht einfach um einen Platz der Arbeit und Betriebsamkeit, sondern eher um ein Heiligtum.

„He, da ist jemand. Vielleicht weiß er, wie wir- “, rief Dorian, als er eine Gestalt in einem schattigen Winkel des Gebäudes erblickte. Er stoppte jedoch mitten im Satz, weniger aus Schreck, sondern mehr aus Erstaunen, auf welche Weise die Gestalt sich aus dem Hintergrund löste, vor dem er sie zuerst übersehen hatte.

Er erkannte, dass es ein Mann fortgeschrittenen Alters war, dessen schlohweißes Haar nur mehr ausgedünnt auf seinem Kopf saß, der aber einen umso dichteren und auch etwas struppigen Bart im Gesicht trug. Der Mann wandte sich von einer Werkbank ab, die als solche in der hier herrschenden Unordnung kaum zu erkennen war. Seine Umrisse wurden nun erst deutlich wahrnehmbar, als wäre er einen Moment zuvor noch Bestandteil dieses Durcheinanders aus Metallrohren, ölverschmierten Lappen und Sägen gewesen.

Nachdem er die Besucher von seinem Platz aus einen Moment blinzelnd betrachtet hatte, lief er mit kleinen, emsigen Schritten los und erklomm eine Treppe, die ins Freie und auf die Plattform führte. Dabei hallte das Metall der Stufen von seinen kurzen, schnellen Schritten wieder wie ein blecherner Herzschlag, der von plötzlicher Aufregung kündete. Dorian, Sarik und die anderen erwarteten die seltsame Gestalt mit Geduld und leisem Misstrauen. Schließlich stand er vor ihnen, in seinem blauen Overall, den aufgekrempelten Hemdsärmel und den vor Öl schwarzen Händen, die aus ihnen herausragten.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ hörten sie ihn mit einer missmutigen Stimme sagen, die nicht gerade nach der Erwartung eines ‚Vergnügens‘ klang.

„Mein Name ist Sarik Metharom“, stellte Sarik sich vor und übernahm so das Wort für die Gruppe. „Ich und meine Freunde möchten gern die Gondelführe benützen, um zu den Schächten im Berg Galgasot zu gelangen. Der Wirt der Gaststätte hat uns an Sie verwiesen…?“

Der Mann betrachtete ihn mit seinen kleinen, glänzenden und unter dichten, schneeweißen Brauen verborgenen Augen. Dabei nickte er eifrig während Sariks Ansprache, und nickte noch weiter, als dieser bereits verstummt war, bis er die unausgesprochene Aufforderung verstand.

„Ach ja, ach ja. Ich bin Helmbert Gustafson, technischer Überwacher der Gondelführe von Kurrel. Der Wirt hat Sie also an mich verwiesen? Hat er nicht erwähnt, dass die Führe außer Betrieb ist?“ krächzte er ihn mit unüberhörbarem Ärger an. Nicht so sehr aus Ärger über ihr Ansinnen, wie seine aufgeregte Stimme anklingen ließ, sondern eher aus Ärger über den Stillstand dieser Anlage.

„Doch, er hat es erwähnt“, antwortete Sarik ruhig. „Er hat auch erwähnt, dass es möglich ist, sie in Ausnahmefällen wieder in Betrieb zu nehmen.“

„So, so! Das hat er gesagt!“ rief Helmbert Gustafson und wandte sich von ihnen ab. Mit wedelnden Armen und denselben kurzen Schritten wie zuvor betrat er wieder das Gebäude und marschierte die Treppe hinab. Dorian, Sarik und die anderen sahen sich an; nachdem kein Zeichen des Widerspruchs von dem alten Mann kam, folgten sie ihm in sein Reich.
 

„Sie ist nicht mehr in Betrieb, seit genau 961 Betriebsstunden, wisst ihr das?“ rief er ihnen zu, während er durch das Innere des Gebäudes lief, das, wäre es weniger vollgeräumt gewesen, ziemlich viel Platz geboten hätte. So aber mussten sie ständig achten, nicht über herumliegende Rohre und Kabelstränge zu stolpern, was Helmbert Gustafson mühelos gelang.

Die Vermutung lag nahe, dass er sich hier wohl auch in vollständiger Dunkelheit zurechtgefunden hätte, so behände lief er zwischen den vielen Metallteilen mit seinen kurzen, hektischen Schritten umher. „So ein Unsinn“, rief er plötzlich, „wenn sie nicht in Betrieb ist, dann können es auch keine Betriebsstunden sein, nicht wahr?“

Angesichts dieses kuriosen Ausspruchs blickten sie sich schulterzuckend an. Der Mann namens Helmbert setzte seine ziellosen Schritte fort, hie und da ein Werkzeug anhebend, um es zu betrachten und danach gleich wieder wegzulegen, als hätte er eigentlich etwas anderes gesucht.

„Es wäre also möglich, die Gondelführe in Betrieb zu setzen?“ fragte Sarik. Iria stand inmitten des Gerümpels und blickte sich voller Unbehagen um. Nadim begutachtete glänzende Metallteile unbekannten Verwendungszweckes, um sie dann aber doch nicht in seine Weste wandern zu lassen. Brynja verfolgte mit verschränkten Armen das mühsame Gespräch mit dem wunderlichen alten Mann, und Hargfried fand Beschäftigung in einem auf einer Werkbank stehenden Räderwerk, das keinen offensichtlichen Nutzen erfüllte, das aber auf eine Kurbelumdrehung hin betörend schön ratterte. Dorian stand unter dem Herzstück der Anlage, einer gewaltigen Spule, die von einer ganzen Kette von Zahnrädern angetrieben schien und deren Seil in den wolkenverhangenen Himmel über ihnen führte.

„Sie ist nicht mehr in Betrieb, die Gondelführe!“ rief der alte Mann und wiederholte damit diese offensichtliche Tatsache. „Und zwar wegen diesem dreimal verfluchten Krieg! Alle jungen Männer wurden eingezogen, und jetzt arbeitet niemand mehr in den Minen, eine Schande ist das!“

Sarik seufzte angesichts des alten Mannes, der seine Frage so geflissentlich überhört hatte. Dabei folgte er ihm durch die Anlage und musste bei jedem Schritt auf die kreuz und quer umherliegenden Hindernisse achten.

„Der Wirt hat gemeint, dass es gegen eine kleine ‚Aufwendung‘ möglich ist, die Führe trotzdem in Betrieb zu setzen.“

„Der Wirt? Ja, ja, er hat mir schon ausrichten lassen, dass sie auf den Galgasot wollen. Ich mache diesen Beruf übrigens schon in der dritten Generation! Genau wie mein Vater, Gustaf Gustafson!“ Nun blieb er vor einem ziemlich vergilbten Bild stehen, das über einer Werkbank hing und die einzeln eingefassten Darstellungen mehrerer Männer in schmutziger Arbeitskleidung zeigte.

„Das ist sehr interessant“, sagte Sarik mit geduldiger Stimme. „Wir möchten wirklich gerne diese Anlage benützen, und wir wären auch einverstanden, eine angemessene- “

„Und auch wie mein Großvater Torwig Gustafson, der erste technische Überwacher der Gondelführe von Kurrel! Er hat damals am Bau mitgewirkt, als ich noch ganz klein war“, erzählte er mit wehmütiger Stimme und begann, das Bild mit einem herumliegenden Lappen abzuwischen, was den Staub darauf gleichmäßig verteilte.

„Ihre Familiengeschichte ist wirklich interessant, aber wir möchten auf den Galgasot“, sagte Sarik und nahm einen neuen Anlauf. Die Geduld in seiner Stimme schwand und wurde ersetzt durch Nachdruck. Der alte Mann ließ den Lappen fallen und wandte sich ihm zu. Dabei machte er ein überraschtes Gesicht, als sähe er seine Besucher in diesem Moment zum ersten Male.

„Was wollten Sie also nochmal?“ fragte er mit freundlicher Stimme. Sarik atmete tief durch, bevor er mit erzwungener Ruhe antwortete.

„Wir möchten zu den Schächten im Berg Galgasot, wohin diese Anlage führt. Ist es nun möglich oder nicht?“

„Nun ja…“, erwiderte Helmbert Gustafson und kraulte sich seinen ungepflegten Bart. Sarik schüttelte den Kopf, holte einen Geldschein hervor und steckte ihn in die große Brusttasche von Helmberts Overall. Augenblicklich veränderte sich seine Miene. „Tja, ich schätze, wir können das Gerät anwerfen! Ist schließlich lange genug stillgestanden! Aber warum wollen Sie auf den Galgasot?“ fragte er als nächstes und legte dabei den Kopf schief. Sarik seufzte leise und steckte einen zweiten Geldschein zu dem Ersten dazu.

„Wir möchten bald aufbrechen. Verstehen Sie das?“

„Ja klar verstehe ich das! Warum sagen Sie das nicht gleich?“ rief der alte Mann und verfiel wieder in seine trippelnden Schritte, die nun an Energie gewannen, und lief so an Sarik vorbei. Dieser blickte ihm stirnrunzelnd hinterher und beobachtete seine jetzt überbordende Aktivität.

„Hast du gehört, Greta? Jetzt geht es wieder hinauf auf den Galgasot! Spann‘ die Kabel und schmier‘ die Rollen! Glück auf und frohes Gelingen!“

Seine Stimme wurde immer lebhafter und überschlug sich schließlich fast. Dorian, Iria und die anderen beobachteten ihn und bemühten sich, ihm auszuweichen, während er wie ein weißhaariger Derwisch durch die Anlage sauste.

„Siehst du hier eine ‚Greta‘?“ flüsterte Nadim zu Iria. Helmbert Gustafson lief mit einer für ihn erstaunlichen Beweglichkeit von einem Kontrollpult zum nächsten, die oft unter Werkzeug und öligen Lappen verborgen lagen, bis er sie mit hektischen Bewegungen freilegte und Schalter darauf umlegte. Iria beäugte ihn dabei misstrauisch und zuckte nur mit den Schultern als Antwort auf Nadims Frage.

„Siehst du, Greta? Du gehörst doch noch nicht zum alten Eisen, auch wenn keiner in den Mienen arbeitet!“ rief er zur zentralen Spule empor, die wie ein metallener Baldachin über ihnen hing und bei diesen Worten unter statischen Entladungen und durchdringendem Geknirsche zum Leben erwachte.

Dorian erschrak und blickte hoch. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte ihm, dass seine Begleiter von dem Vorgang ebenso gefesselt waren. Iria starrte mit schmalen Augen und offenem Mund hinauf, und Nadim versteckte sich hinter ihrer Schulter, den beunruhigten Blick ebenfalls emporgerichtet. Brynja wich bei diesem Getöse einen Schritt zurück und wirkte, als würde sie sich auf die Flucht vorbereiten.

Hargfried stand mit großen Augen und hinunter geklappter Kinnlade da. Das Räderwerk, das ihn eben noch beschäftigt hatte, lag auf dem Boden, seine Hände waren mitten in der Bewegung erstarrt. Nur Sarik ließ sich nichts anmerken. Mit unbewegter Miene verfolgte er, wie sich die riesige Spule in Bewegung setzte.

Weitere Rollen und Scheibenführungen, durch die das Kabel verlief, setzten sich geräuschvoll und unter Funken in Bewegung. Kabelstränge, die in dunkle Schächte führten und aus ihnen wieder herauskamen, glänzten in den matten Lichtverhältnissen wie umherkriechende Schlangen. Eine Türe schwang auf, hoch über ihnen, und gab eine Öffnung frei, aus der nun eine Gondel an dem Kabel herausschwebte. Im schwachen Licht erkannten sie verschnörkelte Verzierungen an der Gondel, die in ihrer Pracht über die reine Zweckmäßigkeit des Transportmittels hinausging.

„Schon mein Großvater Torwig Gustafson hat mit dieser Gondelführe Arbeiter zu den Schächten des Galgasot hinaufgebracht“, rief Helmbart über den Lärm der erwachenden Maschinen hinweg. „Generationenlang mussten die Minenarbeiter gefährliche Pfade überwinden auf dem Weg zu den Erzadern, bis die gute Greta errichtet wurde!“ erzählte er voller Begeisterung. Dabei klapperte er auf den Kontrollpulten herum, als könnte er damit die erwachten Maschinen in ihrem Funktionieren noch zusätzlich anfeuern.

„Ich glaube, mit ‚Greta‘ meint er die Anlage hier“, sagte Dorian zu Iria, die das Geschehen mit geduldigem Zweifel überschaute. Ein komplizierter Mechanismus lenkte das Kabel über mehrere Umwege, bis die Gondel über sie hinweg durch eine Öffnung im Dach schwebte, und schließlich an der außenliegenden Plattform Halt machte.

Sie alle standen auf der Plattform vor der leicht schwankenden Gondel. Helmbert Gustafson, dem die Inbetriebnahme seiner ‚Greta‘ sichtlich weit mehr Freude gemacht hatte als das Geld, das Sarik ihm zugesteckt hatte, trat unruhig von einem Bein auf das andere.

„Es geht alles automatisch, jawohl!“ erklärte er. „Oben angekommen, müssen sie nur aussteigen. Die Station sieht ähnlich aus wie hier, oh ja! Zulange, ach ja, zulange ist schon niemand mehr gefahren mit der guten Greta!“

„Herr, äh… Gustafson, wenn ich fragen darf“, begann Nadim in einem schüchternen Tonfall. „Wenn keine Minenarbeiter zu transportieren waren… Warum sind sie dann nicht selbst damit gefahren?“

Auf diese zurückhaltend angebrachte Frage hin erschauderte der alte Mann, schüttelte seine nervösen Arme und blickte betreten zu Boden.

„Ich bin noch nie mit Greta gefahren…“, flüsterte er kleinlaut. Es klang, als hätte er in diesem Moment seine schlimmste Sünde gebeichtet.

„Aber ich dachte, Sie sind der technische Bewacher oder sowas?“ fragte Dorian mit verwirrter Miene.

„Das bin ich auch, und zwar schon in der dritten Generation!“ rief er aus, und seine Haltung straffte sich wieder. Bei diesen Worten befiel ihn das stolze Strahlen von zuvor, bevor es erneut einem Ausdruck leiser Scham wich. „Aber, ich- ich habe Höhenangst. Ich kann mit ihr nicht fahren“, gestand er mit zittriger Stimme. Dabei blickte er sich verstohlen nach der Anlage um, als befürchtete er eine Geste der Schmähung von ihr.
 

Dorian drückte sich die Nase am Glas platt. Die Stadt Kurrel wurde immer kleiner und glich bald einer Ansammlung von Bauklötzen, bevor sie endgültig im alles verhüllenden Dunst entschwand.

Das leichte Schwanken der Gondel gab ihm das Gefühl, in ein weißes Nichts hinein zugleiten. Unter ihnen sah er hin und wieder rauen Fels mit Flecken aus Eis vorbeigleiten, und von Zeit zu Zeit schälten sich die Stützpfeiler der Gondelführe aus den Wolken, die wie eiserne Riesen die Gondel weiterreichten und dem Berg entgegentrugen.

Die Wolken, die alles in Watte einhüllten und mit ihren klammen Fingern bei den Fenstern der Gondel herein tasteten, schienen immer dichter zu werden. Bald konnte Dorian kaum noch die Felsflanken erkennen, die unter ihnen vorbeiglitten. So drehte er sich um und ließ seinen Blick durch den Innenraum schweifen.

Hargfried streckte seinen Kopf durch ein heruntergezogenes Fenster und lachte über die Tautropfen, die sich in seinem langen Haar bildeten. Brynja stand ein Stück daneben und betrachtete ihn misstrauisch. Die Überlegung, ob er wohl zur Gänze durch dieses schmale Fenster passen würde, war ihrem Gesicht deutlich ablesen.

Iria und Nadim saßen auf einer der Bänke der Gondel, die locker zwei Dutzend Männern Platz geboten hätte. Iria machte ein geduldiges, fast schon erwartungsvolles Gesicht. Daran las Dorian ihre Gewissheit ab, dem Ziel nahe zu sein. Nadim neben ihr hingegen fixierte den Boden aus geriffeltem Metall und vermied auch nur den Versuch, aus dem Fenster zu blicken. Sein Mund bewegte sich tonlos, als spräche er sich selbst Mut zu.

Sarik stand nicht weit von Dorian, und sein Blick war gefasst und kontrolliert wie immer. Nur ein leises Schimmern um seine Mundwinkel und in seinem gesunden Auge ließ die bevorstehende Möglichkeit des Endes ihrer Reise erahnen.

„Glauben Sie, dass wir es dort oben finden?“ fragte Dorian, den das Bedürfnis überkam, diesen Punkt anzusprechen. Sarik senkte seinen Blick ganz leicht, und Dorian merkte, dass er nach seinem Escutcheon blickte. An die rätselhafte Verbindung zu ihren Armschienen erinnert, richtete er sein Augenmerk auf seinen eigenen. Er schwenkte ihn probeweise, und wieder zeigten die Glasscheiben ihr mysteriöses Farbenspiel in der besagten Richtung.

„Mit großer Sicherheit“, antwortete Sarik. Die unterschwellige Bemühung, diese Aussage fest und überzeugt klingen zu lassen, entging Dorian jedoch nicht. Er verschob die Grübelei, ob und was ihnen Sarik noch verschwieg, auf einen späteren Zeitpunkt, da ihn im Moment andere Dinge beschäftigten.

„Ein seltsamer Kauz, dieser technische Bewacher, nicht wahr?“ sprach Dorian lächelnd und blickte zurück in Richtung der Anlage in Kurrel, die hinter den Wolken verborgen unter ihnen lag.

„Ich bin mir sicher, wir hätten schon gestern losfahren können. Dem Wirt ging es wohl eher darum, dass wir für die Nacht seine Gaststube in Anspruch nehmen.“

„Ja, wahrscheinlich.“ Dorian lächelte erheitert, doch das, was er eigentlich aussprechen wollte, ließ sich nicht länger zurückdrängen, und sein Lächeln erlosch. „Wenn wir dann das Maleficium finden, und den, der es jetzt trägt… Er wird es uns nicht freiwillig geben, nicht wahr?“

Sarik erwiderte seinen Blick ernst. Dorian wurde den beschämenden Eindruck nicht los, er könnte in seinen Augen seine Verunsicherung ablesen.

„Allerdings. Er wird es uns sicher nicht einfach aushändigen. Es wurde viel Blut vergossen für das Maleficium, selbst zu Friedenszeiten.“

Dorian nickte ihm zu. Diese Worte trugen mehr Bestätigung in sich, als er erhofft und zugleich auch befürchtet hatte.
 

Er rief sich all die Gründe in Erinnerung, warum er hier war, was ihn auf diesen Weg geführt hatte und weshalb er nicht aufgeben konnte. Er dachte an seine Freunde in der Hauptstadt und ihr ungewisses Schicksal, und er dachte an den Krieg.

Dorian rief sich die früheren Momente zurück, in denen er um sein Leben hatte kämpfen müssen. Sein Kampf mit der Palastwache auf ihrer Flucht aus den Kanalgewölben, der Überfall auf den Zug, bei dem er ebenso keine andere Wahl gehabt hatte, als zu töten… Doch der Unterschied zu der bevorstehenden Situation ließ sich nicht verdrängen. All diese Menschen hatten ihn bedrängt und ihm sein Leben nehmen wollen. In diesem Fall wollte aber er jemand Anderem etwas nehmen. Und zwar das Maleficium.

Dorian wusste nicht, wer der Dieb war. Er hatte nicht mehr von ihm gesehen als die diffusen Umrisse, die seine Erscheinung auf rätselhafte Weise verborgen hatten. Dorian kannte ihn nicht, und er fragte sich, ob ihm dies es erleichtern würde, ihn zu töten. Er ist ein Dieb wie ich, dachte er mit einem bitteren Lächeln, er will womöglich dasselbe wie ich. Und ich werde ihn vielleicht töten müssen.

Dichte Schwaden hüllten die Gondel ein und hinterließen schwere Tropfen am Fensterglas. Dorian beobachtete, wie sie langsam die Scheibe herabliefen. Die Tropfen wurden mehr, vereinten sich zu größeren und gewannen so an Gewicht; wie auch die Hindernisse, die sich vor ihm abzeichneten. Wenn er bereit war, für das Maleficium zu töten, mussten es seine Wegbegleiter nicht ebenso sein?

Beinahe verschämt glitt sein Blick über die anderen in der Gondel, und die Idee, sie könnten seine Gedanken erahnen, nahm lächerlich viel Platz in seinem Kopf ein. Ihre vom Maleficium beeinflussten Escutcheons verhinderten eine Auseinandersetzung unter ihnen. Dorian fragte sich, wie lange dieser Effekt aber noch anhalten würde. Wenn es ihnen tatsächlich gelingen würde, es zu erringen, würde ihr fragiler Pakt dann zerfallen?

All diese Gedanken machten ihm das Herz schwer, und Dorian strengte seine Augen noch mehr an, die Wolken zu durchdringen, nur um sich von ihnen abzulenken. Dies fruchtete nur wenig; die weiße Wand hinter der Scheibe der Gondel schien an Festigkeit eher zu gewinnen. Bis die Gondel aus dem Wolkenmeer auftauchte.
 

Wie ein Wal, dessen massige Formen die Oberfläche eines trüben Ozeans durchbrechen, so bahnte sich die Gondel den Weg durch die Wolkenschicht, die auf dem Land lastete.

Dorians Mund wurde weit, ebenso wie seine Augen. Mit einem Schlag waren alle Bedenken und Sorgen aus seinem Verstand gewischt, als er das Wolkenmeer sah, das sich bis an die Ausläufer der Wüste vor Kurrel erstreckte. Dann presste er die Augenlider wieder zusammen, als die ungefilterte Kraft der Sonne sie traf. Ein stahlblauer Himmel lag nun über ihnen, gleißend und klar. Die Sonne stand an ihm wie ein blendender Stern, und sofort spürte er, wie es wärmer in der Gondel wurde.

Dann drehte er sich um, sah seinen Schatten, der scharf und konturiert auf das geriffelte Metall des Bodens fiel, und lief los. Dabei beachtete er Sarik gar nicht, der ihm auswich. Bei der gegenüberliegenden Fensterfront angekommen, drückte er auch dort seine Nase gegen das Glas. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Sie hatten mittlerweile schon eine beträchtliche Höhe erreicht, und die Gondel schwebte oberhalb der Wolkendecke als glitzerndes Stück Metall von Stützpfeiler zu Stützpfeiler. Vor ihnen lag das Barantir-Gebirge, das sich ausbreitete wie ein Meer aus schroffen Zacken und Spitzen, aus eisbedeckten Gipfeln und schneeumhüllten Kämmen. Und inmitten dieser Welt aus Fels und Eis stand ihr Ziel, erhaben und mächtig: Der Berg Galgasot.

Schon bemerkten sie die Bergstation, zu der sie das Seil der Gondelführe hinbrachte. Ein Gebäude, ähnlich dem in der Stadt, wurde in ihrem Blickfeld immer größer. Bald erkannten sie Details und die Spuren, die Wind und Wetter an der Metallkonstruktion hinterlassen hatten. Schließlich schwebte die Gondel in das Gebilde hinein; plötzlich einsetzender Schatten verdunkelte das Gondelinnere.

Die Tür glitt ratternd zur Seite, und sie verließen die Gondel. Sofort spürten sie die kalte Luft in dieser Höhe. Stetiger Wind zerrte hier an allem und drang auch in das nach mehreren Seiten offene Gebäude ein. Ebenso wie Schnee, der in das Innere dieser Anlage kroch und unter ihren Schritten knirschte.

„Willkommen auf dem Galgasot“, hörten sie die Stimme des alten Helmbert aus einem Lautsprecher krächzen. „Ihr seid nun oben, und jetzt tut, was immer ihr vorhabt. Wollt ihr wieder runter, dann betretet die Gondel und zieht den roten Hebel. Aber lasst euch nicht zu lange Zeit, denn ich brauche meinen Mittagsschlaf.“

„Wie lange dauert sein Mittagsschlaf wohl“, hörten sie Nadim sagen, der einen Blick in die Gondel und auf den besagten Hebel warf.

„Dieser Pfad führt zu den Schächten“, sagte Sarik und verließ das Gebäude. Brynja folgte ihm, ebenso Hargfried. Iria sah sich nach Nadim um, der etwas zu überlegen schien.

„Iria, ich…“, begann er nervös, „vielleicht ist es besser, wenn jemand hier bleibt und auf die Gondel aufpasst.“ Sein Blick fiel durch die Öffnung, in der das Seil der Gondelführe im Wolkenmeer unter ihnen verschwand; es lag eine Mischung aus Furcht und der Sehnsucht nach dem Ort ihrer Abfahrt darin. Iria ging auf ihn zu, ballte die Fäuste und redete leise, aber eindringlich zu ihm. Dorian, der schon beim Ausgang stand, konnte nicht anders als mitzuhören.

„Du kannst mich doch nicht mit denen allein lassen“, zischte sie ihm zu. Nadim wich ihrem Blick aus und schien sich für seine schlecht verborgene Angst zu schämen. Dann nickte er mit halbgeschlossenen Augen und folgte ihr. Die beiden gingen an Dorian vorbei, Iria mit energischen Schritten, aber unübersehbarem Argwohn auf dem Gesicht. Nadim mühte sich, mit ihr Schritt zu halten; sein Gesicht hatte den Ausdruck der Resignation, der sich wenig von jenem unterschied, den Delinquenten auf dem Weg zur Hinrichtung tragen.

Dorian würdigten sie dabei keines Blickes. Es schmerzte ihn etwas, dass Iria ihn zu ‚denen‘ dazugerechnet hatte. Er rieb sich seine unbedeckten Oberarme, auf denen die kalte Luft wie winzige Messer schnitt, und folgte ihnen.
 

Der Wind kam in steifen, jähen Böen, und die Temperatur schien in diesen Momenten noch mehr zu sinken.

Sie verebbten wieder, und dann fühlten sie die Wärme der Sonne, die über dem Gebirgsmassiv leuchtete. Dorian beschirmte seine Augen gegen ihre grellen Strahlen, und blickte immer wieder die steilen Felsflanken hinab, an denen sie der Pfad vorbeiführte.

Der Pfad war breit genug, dass drei Männer problemlos nebeneinander gehen konnten. Auch war an seinem Rand ein metallenes Geländer in den Fels geschraubt, der ein Abstürzen unwahrscheinlich machte. Aber trotzdem, oder vielleicht genau deshalb, übte dieser Abgrund eine magische Anziehungskraft auf Dorian aus. Er ging dicht neben dem Geländer, und manchmal blieb er stehen. Dann verlor sich sein Blick in den Felsschründen, den Schuttkaren und den Eiszungen, die wie Tiere wirkten, die während ihres Versuchs, diese Hänge zu erklimmen, eingefroren waren.

Nur mit Mühe riss er sich von den Tiefblicken los und lief seinen Wegbegleitern hinterher, die schon ein Stück voraus waren auf diesem sich die Bergflanke entlang schlängelnden Pfad. Er beschleunigte seine Schritte, woraufhin die dünne, kalte Luft ihm bald in den Lungen brannte. Durch seine zusammengepressten Augenlider erkannte er dann die anderen, die gesenkten Haupts gegen den Wind kämpften.

Von weitem erkannte Dorian Metallröhren, die aus der Öffnung im Berg ragten. Wie der Schlund eines erstarrten Ungeheuers zeichnete sich der Mineneingang vor ihnen ab. Die Röhren, von dünnem wie auch dickem Durchmesser und oft rostiger Farbe, wirkten wie Finger, die den Schlund von Innen auseinanderspreizten.

Er folgte ihnen mit den Augen, doch sie verloren sich in den wolkenverhangenen Tiefen unter ihnen.
 

Dorian legte den Kopf in den Nacken und blickte an die Minendecke empor. Der roh behauene Fels glitzerte im Sonnenlicht, das hier, beim Eingang, noch hinreichte. Bald ließen sie die wärmenden Strahlen hinter sich und drangen in das Innere des Berges vor.

Der Wind, der zuvor durch ihre Kleider geschnitten und auf der Haut geschmerzt hatte, blieb draußen. Aber ebenso die Sonne, die es zuvor noch vermocht hatte, ihnen in windstillen Momenten etwas ihrer Wärme zu schenken. So umhüllte sie nun eine sich kaum bewegende, gleichmäßig kalte wie auch feuchte Luft.

Neben ihnen verliefen die Röhren an den Minenwänden in das Innere des Berges. Mal in dicken Bündeln, dann wieder einzeln und von Zeit zu Zeit rätselhafte Maschinen erreichend, führten sie an den Wänden entlang gleich Wurzeln eines Baumes, der den Fels ausgehöhlt hatte. Dorian bemühte sich, sein Bibern zu unterdrücken, doch es gelang ihm ebenso wenig wie Nadim und auch Iria, die mit vorsichtigen Schritten Sarik in das Minensystem folgten. Brynja wie auch Hargfried schien in ihrer Kleidung nicht zu frieren. Beim Ausatmen bildeten sich bei allen kleine Wölkchen vor dem Mund.

„Wo müssen wir überhaupt hin?“ rief Dorian Sarik hinterher. Das darauf dutzendfach widerhallende Echo der Minenwände ließ ihn erschrecken.

„Einfach den Escutcheons nach“, antwortete dieser, der den Blick immer wieder auf seine Armschiene senkte. Dorian lief ihm im Licht der blauen Glasröhren, die alle zehn Schritte an den Wänden hingen und über dicke Kabel mit den Metallrohren verbunden waren, hinterher und schüttelte ärgerlich den Kopf. Sein Unmut kam weniger von der unklaren Antwort, sondern eher von der Ahnung, noch eine Weile an diesem feuchten Ort verbringen zu müssen. Die Minendecke, obwohl etliche Mannslängen über ihnen, schien sich mit jedem Schritt, den sie taten, weiter auf sie herabzusenken.

Das Gewicht des Felsens über ihm bekam spürbare Dimension für Dorian, und er wünschte sich nichts mehr, als möglichst schnell zu finden, weshalb sie hier waren und dann wieder umzukehren. Seine Bedenken, einem Dieb wie Ihresgleichen das Maleficium mit Gewalt aus den Händen zu nehmen, wurden von dem drückenden Gefühl, hier lebendig begraben zu sein, völlig verdrängt. Fast spürte er eine Angriffslust in sich, einen animalischen Instinkt, der jegliche Skrupel vertrieb und nur Flucht oder Kampf als Alternative gelten ließ.

Ohne das Maleficium würden sie nicht fliehen; so blieb nur eine einzige Möglichkeit.

„Was sind das für Apparate?“ hörte er Nadim fragen. Der Bursche hielt sich dicht an Iria und deutete auf eine Apparatur, zu der einige der Rohrstränge hinführten. Sie war zur Gänze mit einer dünnen Rostschicht überzogen und wirkte wie ein überdimensionierter Ofen zur Wärmegewinnung.

„Mit diesen Vorrichtungen wird das Erz gleich an Ort und Stelle raffiniert und über die Röhren ins Tal gebracht, wenn ich mich richtig erinnere“, erklärte Sarik. Nadim, dem es wohl mehr um den zuversichtlichen Klang seiner Stimme gegangen war als um die Auskunft, drückte sich noch dichter an Iria. Beinahe schien es, als wollte er durch diese Nähe seinen zuvor geäußerten Mangel an Mut wiedergutmachen.

Ihr Weg führte sie immer tiefer in den Berg. Das Mahlen des Felsriesen, in dessen Eingeweide sie eingedrungen waren, wurde zu einem drückenden Hintergrundgeräusch, das der Schwere, die auf ihnen lastete, eine hörbare Dimension verlieh. Die Luft wurde immer feuchter, und zeitweise zerriss ein Tropfen die Stille des Berges, die von dem andauernden Mahlen wie ein langgezogenes Atmen untermalt wurde.

„Und hier wurde das Maleficium geschaffen?“ fragte Brynja, deren skeptischer Blick über vor Feuchtigkeit glitzernde Minenwände tastete. Im Licht der blauen Glasröhren glänzten sie wie massiver Kristall.

„Der heilige York hat einige Zeit an diesem Ort verbracht“, antwortete Sarik. Dorian horchte auf und beobachtete ihn genau. „Die Kräfte der Erde und der Wesen, die in ihr wohnen, sind hier angeblich besonders gut zu spüren.“

„Ich spüre nur, dass es kalt ist“, warf Nadim ein, der sich kopfschüttelnd umblickte. Er wirkte auf Dorian, als habe er gerade festgestellt, in genau die falsche Richtung zu laufen. Dann ging sein Blick wieder zu Sarik und Brynja. Entweder ließ sie sich nichts anmerken, oder sie hatte den feinen Unterton in Sariks ausweichender Antwort nicht registriert. Dorian fröstelte es, aber sein alarmierter Zustand verdrängte diesen Gedanken gleich wieder.

Die Schächte wurden schmäler, und die Decke senkte sich im Laufe des Weges nun wirklich auf sie herab. Was vorher nur klaustrophobische Einbildung gewesen war, wurde beklemmende Wirklichkeit. Der natürliche Reflex, angesichts einer unsichtbaren, aber spürbar lauernden Gefahr die Bewegungen zu beschleunigen, ergriff sie alle, und bald hetzten sie im Laufschritt durch fahl beleuchtete, glitzernde Schächte, immer wieder auf ihre Escutcheons blickend.

Die Gewissheit, bald an das Ziel ihrer Reise zu gelangen, drang in ihre Gedanken ein, genauso wie sie selbst in diesen Berg eingedrungen waren und seinem Kern zustrebten.

Eine Säule glimmender Energie, ein dunkles, geisterhaftes Lodern, stieg empor, warf zitternde Schatten an die Wände des Schachts und verlor sich in der Öffnung weit über Scavo, wo sie im Tageslicht zerfiel.

Das Maleficium lag aufgeschlagen vor ihm. Aus seinen Seiten strömte finstere Energie empor, wie ein umgekehrter Wasserfall aus Zorn und angestautem Verlangen. Scavo saß im Schneidersitz davor. Sein Mund bewegte sich schnell und zitternd, doch kein Wort war zu hören. Seine halbgeöffneten Augen waren leicht nach oben verdreht, doch sie sahen nichts von dem, was hier geschah.

Sein Geist glühte und pulsierte wie ein Freudenfeuer, das heftige Windstöße immer weiter angefacht hatten. Das Wesen rang mit den Gitterstäben, die das Maleficium bildete, und saugte Scavos Energie wie ein Vampir, um mit ihnen diese Stäbe zu zerbrechen. Ares, der sich als Schatten in der Säule aus Rauch, schwarzem Licht und geflüsterten Verwünschungen abzeichnete, murmelte jene Formeln, mit denen er vor Jahrhunderten in dieses Gefängnis gebannt worden war.

Schon spürte er, wie sich das Fundament lockerte, in dem die ehernen Stäbe seines Gefängnisses ruhten. Unter seinen knochigen Fingern begann das Metall weich zu werden. Der Duft der Freiheit stieg ihm bereits in die Nase seines Skelettkopfes wie ein Lockruf aus weiten Ebenen, die auf einen verwegenen Eroberer warteten.

Nach und nach fielen die Bannformeln, die Schlösser, die seinen Kerker Jahrhunderte lang zu dem Grab seiner Macht gemacht hatten. Er spürte, wie die Kraft eines neuen Krieges seine Knochenarme mit frischer Energie erfüllte, so wie der Frühling den Saft des Lebens in schlafende Zweige treibt. Von weitem spürte er den Kampf und das Morden, das Hin und Her-wogen gewaltiger Schlachten; sein Durst wurde stärker denn je. All die Jahrhunderte der Verbannung in dem Maleficium schienen ihm nun unbedeutend und nichtig. Ein neuer Morgen wartete, und die Menschheit brauchte ihn dringender denn je.

Er spürte, dass sich sein Gefängnis lockerte, und tauchte erneut ein in den Traum, von dem er sich die letzten Jahrzehnte über genährt hatte. Eine Welt des Krieges, des ewigen Ringens zwischen den Völkern, die alle ihre Götter vergessen würden und nur noch ihm huldigten. Eine Welt, in der der Hass der Menschen und ihre Zwietracht das Blut bildeten, das in seinem neu erstandenen Körper fließen würde.

Einen Tag und eine Nacht dauerte dieses Ritual schon, und endlich hatte er das verlorene Flüstern gefunden, das in diesen Wänden aus Fels widerhallte, zweihundert Jahre nach seiner Verbannung. Die Stimme jenes Menschen, der ihm dies angetan hatte, klang wieder in seinen Gehörhängen. Ekel und Wut durchflutete ihn bei der Erinnerung an diesen Menschen, der ihn in das Maleficium gebannt hatte, aus Furcht vor seiner Macht und vor seinem eigenen Ich, das sich so sehr in ihm, dem Gott des Krieges, widergespiegelt hatte. Die Gebeine dieses Menschen lagen seit über einem Jahrhundert zerfallen in der feuchten Erde eines unbekanntes Landes, aber er, den er verehrt und zugleich gefürchtet hatte, dem er das Schlimmste angetan hatte, er tat heute einen wichtigen Schritt zu seiner Freiheit.

Ares erstarrte. Er spürte die Anwesenheit weiterer Menschen außer Scavo. Sein forschender Blick schwenkte herum; erkannte er sie schnell. Ares blickte in ihre Herzen. Dort fand er dieselbe Gier, die seit Anbeginn der Zeit die Menschen in ihr Unglück gestürzt hat und ihre Welt mit Verwüstung überzog. Er spürte aber noch mehr. Ares spürte ein Verlangen, das so hell und rein loderte, dass selbst er es kaum beeinflussen würde können. Er sah Herzen, die so sehr daran glaubten, ihr Schicksal formen zu können, dass sie ihn, Ares, niemals die Freiheit schenken würden.

„Scavo, erhebe dich. Hier ist alles getan. Wir müssen weiter.“

Der kleine, schwache Mensch, dessen Begierde zur stärksten Waffe für Ares gegen ihn selbst geworden war, erhob sich aus seiner Trance. Sein Blick war leer, und sein Mund murmelte immer noch lautlose Silben. Dann griffen seine zitternden Hände nach dem Maleficium, das bald schon keinen Widerstand mehr gegen den darin eingekerkerten Geist würde bilden können. Bevor er es zuklappen konnte, weiteten sich Ares‘ knöcherne Kiefer auf gespenstische Weise, und er spie den schlimmsten Alptraum aus, den er die Jahrhunderte über in seinen Träumen aus Verwüstung und Zerstörung gehegt und gepflegt hatte.

„Vernichte sie, Tiamat! Werde deinem Ruf als Spalter von Himmel und Erde gerecht!“
 

Von weitem schon sah Dorian etwas, er konnte es aber nicht bestimmen. Er sah jetzt nur, dass Sarik zu laufen begann, und im selben Atemzug erhöhte auch Brynja ihr Tempo. Hargfried folgte ihnen ebenso, und schließlich zogen auch Iria und Nadim, der sich halb an ihr festhielt, an ihm vorbei. Aus Verwirrung wäre er fast stehengeblieben.

„He, wartet doch!“ schrie er ihnen hinterher, doch er realisierte, dass ihre plötzliche Eile nur einen Grund haben konnte. Und zwar jenen Grund, der die ganze Zeit über ihrem fragilen Pakt wie ein Damoklesschwert gehangen hatte, und der die Bande ihrer Freundschaft mühelos durchtrennen würde. Dorian schluckte seine Angst und seinen Zweifel hinunter und begann ebenfalls so schnell zu laufen wie er nur konnte.

So gelangten sie in den Schacht, in dem das Maleficium auf sie wartete.
 

Dorian wäre fast in Hargfrieds breiten Rücken gelaufen. Dieser stand da wie angewurzelt, ebenso wie Sarik, Brynja, Iria und Nadim. Dorian sah über ihre Köpfe hinweg ein dunkles Lodern voller dämonischer Schatten, ein Feuer, aus dem Funken einem düsteren Himmel emporstiegen. Er ging an ihnen vorbei und sah, was sie vor Entsetzen erstarren hatte lassen.

Der Schacht hatte in seiner ganzen kreisförmigen Ausdehnung locker fünfzig Schritte im Durchmesser. Es gab hier dieselben verrosteten Apparate, wie er sie schon früher gesehen hatte, die zusammen mit Stapeln von Kisten am Rand des Schachts verteilt standen. Dorian sah, dass sich der Schacht weit nach oben erstreckte, immer mehr verjüngte und schließlich eine Öffnung freigab, durch die Tageslicht in seine Tiefe fiel. Und er sah die hölzernen Aufgänge, die an den Rändern des kreisförmigen Schachts bis fast an seine Öffnung hinaufführten. Vor allem aber bannte ihn das gigantische Ungetüm, das auf sie wartete.

Im Zentrum des Schachts, auf dem Boden, lag das Maleficium. Dunkle Flammen züngelten aus ihm empor und erreichten fast das Ende des hohen Schachts. Funken tanzten umher, gleich boshaft glühenden Leuchtkäfern. Und inmitten dieser sich auftürmenden Flamme aus rötlichem Rauch, schwarzen Flammen und unheilvollen Schatten schwebte ein Wesen.

Beine, mit Schuppen überzogen und mit Klauen an ihren Enden, gleich denen eines Raubvogels, ragten aus der Rauchsäule. Ein Körper, mit kurzen, glänzenden Haaren bedeckt, wie der Leib eines Rosses, bildete den Rumpf der über ihnen schwebenden Abscheulichkeit. Schwingen, kraftvoll schlagend wie im vollen Flug, hielten das Wesen in der Luft. Schwarze Federn lösten sich von ihnen, um langsam der Glut darunter entgegen zu sinken. Sehnige Arme, bedeckt von sandfarbenem Fell, saßen an dem Rumpf, und die Klauen einer Raubkatze schlossen und öffneten sich mechanisch an ihren Enden.

Und über all dem, wie die Krone dieser Monstrosität, die jedweder der Schöpfung innewohnenden Vernunft spottete, saß das Haupt eines Dämonen, einer Zerrform all der Geschöpfe, die für diese diabolische Kreatur Pate gestanden hatten. Ein Schädel, in dessen knöchernen, gelblichen Rundungen sich das darunter lodernde Feuer spiegelte. Ein Schnabel, aus bleichem Horn, sog mit kratzendem Geräusch die Luft dieser Welt ein. Eine rote Zunge spielte darin, und als Gipfel des Grauens, der Dorian und seine Begleiter erstarren ließ, brannten zwei Augen in der aufgekommenen Finsternis, die nun den Schacht erfüllte.

Zwei Rubine, in denen das Blut zahlloser Opfer wogte und pulsierte, warfen ein verderbtes Licht auf die Gruppe um Dorian.
 

Dieses Wesen schwebte in all seiner Schrecklichkeit vor ihnen, und doch war Dorian verzückt in seinem Grauen und seiner Furcht.

Endlich konnte er den Blick von dem Wesen losreißen und ihn auf das Maleficium lenken, das am Boden des Schachts lag. Zwei Hände, die von der aufsteigenden Säule aus Rauch und schattenhaften Flammen wohl verdeckt gewesen waren, ergriffen es.

„Da ist es! Schnell!“ rief er reflexartig. Doch die Hände schlossen das Maleficium, hoben es hoch und trugen es mit schnellen Schritten fort.

Dorian rannte los. In diesem Moment setzte alles in ihm aus. Seine Furcht vor der drohenden Monstrosität, die ihnen sicher nichts Gutes wollte: Er ließ sie hinter sich wie sein früheres Leben und rannte dem Maleficium hinterher.

Seine Füße berührten kaum noch den Boden, er lief so schnell wie noch nie in seinem Leben. Sein Herzschlag war wie eine außer Kontrolle geratene Trommel, und sein Atem blieb halb stecken in seinem weit aufgerissenen Mund. Nach wenigen Schritten hatte er die sich auflösende Rauchsäule durchquert. Er erschrak noch mehr, als Iria ihn überholte.

Mit einer Geschwindigkeit, die er der jungen Frau nie zugetraut hatte, rannte sie an ihm vorbei, und das auch noch mit Nadim im Schlepptau, den sie an einer Hand hielt. Seine Füße berührten wahrlich nicht mehr den Boden, sondern strampelten verzweifelt im Leeren.

Sie steuerten auf die andere Seite des weiten, kreisförmigen Schachts zu, in dem ein weiterer Gang klaffte. Von dem Träger des Maleficium waren nur das Maleficium selbst und bleiche, es umklammernde Hände sichtbar. Diese erreichten den Gang und verschwanden darin. Irias Abstand zu ihm vergrößerte sich noch. Dorian hatte nicht einmal mehr genug Sauerstoff in seinem Gehirn, um zu überlegen, ob die anderen ihm ebenfalls schon folgten.

Dorian wollte den Mund öffnen und etwas schreien, doch das war ihm unmöglich. Iria verschwand mitsamt Nadim in dem Gang, und er selbst war nur noch wenige Schritte entfernt- als er an einer Wand aus blauen, überkreuzten Linien abprallte.
 

Er saß im Staub des Felsenbodens und hielt sich seinen Kopf, der sich wie eine geschlagene Trommel anfühlte. Dann öffnete er die Augen und sah die Begrenzung des Kampfdoms, die ihn abgestoßen und Nadim sowie Iria hindurch gelassen hatte. Er gönnte sich einen kurzen Moment der Verwirrung in dem Chaos, in dem alles versank, dann fiel ihm sein Escutcheon ein, den er trug- im Gegensatz zu Iria und Nadim.

Wankend kam er auf die Beine; das bläuliche Glühen des Kampfdoms tauchte ihn dabei in sein Licht. Langsam drehte er sich um und sah, wer ihn geöffnet hatte. Es war das riesenhafte Wesen von bizarrer Hässlichkeit und verstörender Anmut, das nun ihr Gegner auf Leben und Tod war.
 

Dorian stand da wie versteinert. Sein Blick huschte zwischen der Monstrosität und seinen Begleitern, die am anderen Ende des Kampfdoms standen, hin und her. Sie standen bereits angriffsbereit mit gezogenen Waffen da; in diesem Moment erinnerte er sich seiner eigenen Waffe.

Beinahe wurde ihm schwindelig, als er an sich hinabblickte und mit zittrigen Fingern nach seinem Schwert tastete. Es kam ihm lächerlich klein vor angesichts der mitten im Schacht schwebenden Kreatur. Dorian drehte sich um und blickte in die Richtung, in die das Maleficium, Iria und auch Nadim verschwunden waren, und in der jetzt eine für ihn unüberwindliche Barriere lag. Dann kam ihm eine Idee.

Mit der linken Hand umfasste er den Rand seiner Armschiene und zerrte daran. Aber es war genauso, wie er es befürchtet hatte: Sie saß wie verwachsen an seinem Unterarm.
 

Sarik stand mit gezogenem Schwert da und blickte mit seinem gesunden Auge über die polierte Oberfläche seiner Klinge. Davor schwebte das Ungeheuer, das die geisterhafte Stimme vorhin Tiamat genannt hatte. Hinter sich erkannte er aus dem Augenwinkel Brynja und Hargfried, die ebenfalls mit gezückten Waffen Seite an Seite mit ihm standen.

Diese Kreatur, dessen Leib verglühende Funken entströmten und langsam dem Felsboden entgegen sanken, schlug heftig mit den Raubvogelflügeln. Schwarze Federn stoben davon, und ein durchdringendes Kreischen ertönte. Sarik duckte sich und biss die Zähne zusammen. Das schrille Geräusch ging ihm durch Mark und Bein. Gerade im richtigen Moment hob er den Blick wieder, denn nun stürzte sich das Ungeheuer auf sie herab.

Fast wäre er mit Brynja zusammengestoßen, die in dieselbe Richtung rannte. Hinter sich hörte er das Peitschen schlagender Flügel sowie das kratzende Geräusch riesiger Klauen, die über den Felsen scharrten. Mit wenigen weiten Schritten erreichten sie einen der Raffinerie-Apparate am Rande des Schachts.

Beide suchten sie hinter einem der Rohre Zuflucht. Das Wesen kauerte auf dem Boden, am Rande des Kampfdoms, und sein Kopf fuhr ruckartig in alle Richtungen. Mit seinem bleichen Schnabel beschnupperte es den Platz unter seinen Krallen; das Bedauern, keinen zerschmetterten Menschen darunter vorzufinden, war seinem bizarren Antlitz förmlich anzusehen.

„Was macht er jetzt?“ hörte Sarik Brynja über seine Schulter hinweg fragen. Er sah genauer hin, dann erkannte er Hargfried, der sich hinter der Kreatur aufbaute.
 

„Ich bin Hargfried von Lichtenfels, und wer seid Ihr?“

Hargfrieds Stimme, die zwischen der Empörung, beinahe getötet worden zu sein, und der Förmlichkeit, die er von offiziellen Anlässen gewohnt war, schwankte, hallte durch die steinerne Arena. Das Wesen Tiamat wandte sich mit ruckartigen Bewegungen um und beäugte die im Vergleich zu ihr winzige Kreatur.

„Also keine Vorstellung? Na gut, dann soll unser Duell eben so beginnen!“
 

„Er bringt sich um“, flüsterte Sarik.

„Ist das so tragisch?“ Er wandte sich zu ihr um und sah ein verschmitztes Lächeln. Sie nickte ihm zu, und er verstand den Wink. Er lächelte zurück, dann machten sie sich zum Angriff bereit.

Das Wesen namens Tiamat holte mit einer seiner gelblichen Klauen aus, hatte aber offensichtlich nicht mit Hargfrieds Unerschrockenheit und Schnelligkeit gerechnet. Dieser vollführte eine Drehung, nutzte sein mannshohes Schwert als Gegengewicht, schwang es mit beiden Händen und ließ sich seitlich zu Boden fallen.
 

Die zwei Schritte lange Klinge sauste wie das Blatt einer Guillotine herab und erwischte das Wesen an der Brust. Kreischend wich es zurück und ließ Hargfried langsam auf die Beine kommen. Dann schnellte es wieder nach vorne, um seinen in diesem Moment wehrlosen Gegner mit einem Klauenhieb zu spalten.

Hargfried sah die gebogenen Krallen bereits auf sich herabschnellen- als das Wesen plötzlich Inne hielt und zusammenzuckte. Hargfrieds Blick ging zwischen den Raubvogelbeinen hindurch; so erkannte Sarik sowie Brynja, die das Wesen von seiner Kehrseite nach Kräften attackierten.
 

Sarik schwang seine schlanke Klinge mit beiden Armen gegen den Leib der Kreatur. Federn stoben davon, und dunkles Blut triefte bald von seiner Klinge. Das Wesen krampfte sich zusammen unter den Hieben, sammelte aber nebenbei Kraft, um sich mit einer vernichtenden Attacke umzuwenden, wie Sarik spürte. Schon wich er zurück vor den herumwirbelnden Schwingen des Wesens. Brynja neben ihm jedoch sprang hoch und suchte Halt am Leib des zischenden und grollenden Wesens. Sarik traute seinen Augen nicht.

Mit einer Hand hielt sie sich an der Schulter des Wesens fest, mit der anderen rammte sie ihren Stachel direkt in die Brust des rossartigen Leibes. Ein Pfauchen, gleich dem eines Teekessels, entwich der Wunde. Die Kreatur schnappte mit einer Raubkatzenpfote nach Brynja, als sich diese mit dem Fuß von dem Leib abstieß. Ihre Absicht, einen Rückwärtssalto zu vollführen, wurde aber von der Klaue, die sie streifte, vereitelt. So stürzte sie unkontrolliert zu Boden und schlug hart auf.

Sarik eilte herbei und zog sie auf die Beine. Keinen Moment zu spät, denn das Wesen, das zwar schon aus mehreren Wunden blutete, dabei aber nichts seiner Geschwindigkeit eingebüßt hatte, setzte sofort nach. Mehr stolpernd als laufend entkamen sie den Krallenschlägen, die Funken vom Felsboden sprühen ließen, und retteten sich hinter einen der Apparate.

Tiamat brüllte und röhrte, dass ihnen die Ohren schmerzten, und dabei schlug und trampelte es gegen die Apparaturen in dem Schacht. Metall knirschte und zerbarst, Röhren wurden durchgerissen wie Grashalme, und die Schreie aus Wut und Schmerz hallten donnernd wider in dieser Arena, aus der die einzigen Fluchtwege Sieg oder Tod waren.

Sarik und Brynja drückten sich mit den Rücken gegen den Apparat, der unter dem Anstürmen Tiamats zitterte und schepperte. Metallteile flogen ihnen um die Ohren, und Sarik merkte, dass der Spalt zwischen dem Kampfdom und dem Apparat zu schmal für diese Kreatur war.

Zumindest solange der Apparat noch stand…
 

Jeder Schritt fühlte sich für Dorian an, als hinge je ein Mann an jedem Fuß. Das Schwert in seiner Hand hatte das Gewicht eines Baumstamms, und seine Augenlider bewegten sich nervös und unkontrollierbar, als er beobachtete, wie Sarik, Hargfried und Brynja ihren verzweifelten Kampf gegen die übermächtige Kreatur führten.

Sarik und Brynja verbargen sich hinter einem der am Rande des Schachts stehenden Raffinerie-Apparate. Hargfried attackierte das Wesen von seiner Rückseite, und dieses reagierte sofort. Mit ausschweifenden Bewegungen trieb es den jungen Ritter in die Enge und schlug ihm sein riesiges Schwert mühelos aus den Händen. Hargfried ergriff die Flucht und suchte Deckung hinter einem Stapel hoch aufgetürmter Kisten.

Tiamat schlug mit seinen Raubtierklauen auf die Kisten ein. Holz splitterte, Metall knirschte, der Stapel wurde immer kleiner. Dorians Blick sprang hektisch zwischen Sarik und Brynja, die sich immer noch versteckten, und Hargfried, der dem Ungeheuer gleich zum Opfer fallen würde, hin und her.

Sein Hals war trocken wie Sandpapier, und seine Hände, die immer noch das Schwert hielten, fühlten sich ebenso taub an wie seine Füße, von denen er sich nicht mehr sicher war, ob sie noch Kontakt mit dem Fels darunter hatten.

„Ich glaube, ich muss was tun…“, flüsterte er zitternd.
 

Nun war es soweit. Seine Freunde waren im Begriff, von einem mythischen Wesen zerrissen zu werden, und weit und breit war kein Held in Sicht, der sie retten würde. Nur Dorian war hier, der Dieb vom Bucket-Weg. Der Träumer und Kindskopf, der jetzt alle seine Fantasien zu Wirklichkeit werden sah. Bis auf die Tatsache, dass sie dabei waren, zu verlieren.

Eine Erinnerung hob sich aus dem Chaos, das in seinem Kopf herrschte. Er sah Sarik vor sich, auf der lieblichen Wiese bei Brimora, wie er ihm zeigte, auf was es im Kampf ankam und wo seine Stärken lagen. Dorian erinnerte sich, welche Position er ihm gelehrt hatte. Dabei schloss er für einen Moment die Augen und atmete tief durch, während ein scheinbar unbesiegbares Ungeheuer brüllte und tobte.

Dann öffnete er die Augen und wunderte sich über seinen eigenen Irrsinn, einen unschlagbaren Gegner frech herauszufordern.
 

Sarik blickte vorsichtig über die Ruine, die vom Schutz bietenden Apparat übrig geblieben war und sah Dorian, der das Wesen angriff.

„Er hat den Verstand verloren… oder seinen Mut gefunden“, flüsterte er und lächelte beinahe dabei.
 

Tiamat wuchs immer mehr in die Höhe vor ihm. Gleich würde er Hargfried erreichen und mit seinem bleichen Schnabel zerreißen- als ein schmächtiger Dieb vom Bucket-Weg ihn mit seinem Schwert traf.

Dorian schwang es mit einer Hand, nützte das Drehmoment, wirbelte herum und sah, wie schwarze Federn und dunkles Blut den Fels trafen. Die Beine weit auseinander, das Schwert gerade nach hinten haltend, kam er nach einer machtvollen Kombination zum Stehen. Die Schwere seiner Füße war weg, ebenso die Taubheit seiner Hände. Er fühlte sich richtig gut- bis er den Blick hob und den glühenden Augen Tiamats begegnete, der ungläubig auf den Winzling zu seinen Füßen hinabblickte.

„O-Oh…“, flüsterte Dorian. Seine Augen wurden immer größer, und nichts als eine Staubwolke blieb zurück, als er zur Seite sprang. Die Krallen Tiamats zogen tiefe Furchen im Fels. Dorian rannte um sein Leben.

Er blickte nur noch nach vorn. Die klatschenden Geräusche Tiamats, wenn seine Raubvogelklauen über den Felsboden schliffen, waren Beweis genug dafür, dass sein Verfolger ihm dicht auf den Fersen war. Wieder erinnerte er sich an Sarik, ohne es bewusst herbeigerufen zu haben. Er hörte seine Worte:

‚Wenn du mit jemandem deine Kraft misst, wirst du wahrscheinlich unterliegen. Stattdessen musst du deine Stärke einsetzen.‘

„Das glaube ich sofort!“ schrie er mit seinem verbliebenen Atem. Mehrmals schlug er Haken, gerade als würde er ahnen, von welchen Seiten die Klauen Tiamats auf ihn hernieder sausten. Schnell merkte er, dass dies nicht mehr lang gut gehen würde, und sein Blick ging weiter als nur geradeaus. Schließlich fiel er auf eine hölzerne Rampe, die sich korkenzieherförmig an den Schachtwänden emporwand.

Der hölzerne Aufgang klapperte unter seinen Schritten und kam dem Rand des Kampfdoms bedrohlich nahe. Doch dann wich er von selbst zurück, wie Dorian erstaunt merkte. Da sah er den Grund: Je mehr er an Höhe gewann, desto höher flatterte auch Tiamat, der sich in die Luft erhoben hatte. Im gleichen Maße folgte ihnen der Kampfdom, der bald wie eine volle Kugel aus blauglühenden Linien um sie rotierte.

Dorian warf hektische Blicke auf seinen Gegner, der mühelos die gleiche Höhe hielt. Dann richtete sich sein Augenmerk wieder auf die morschen Holzplanken des Rundgangs, der ihn beständig höher führte. Tiamat schien abzuwarten und machte jetzt keine Anstalten mehr für einen Angriff- da traf Dorians Blick das Ende des Rundgangs, das ein Stück über ihm lag und ins Leere führte.

Sein Herz blieb stehen und sein Atem stockte, als er die Ausweglosigkeit seiner Flucht realisierte. Doch seine Füße liefen weiter, als könnte sie nun nichts mehr bremsen. Die Ahnung zog an seinem Verstand vorbei, dass dieses Wesen genug Intelligenz hatte, um die Zwecklosigkeit seines Tuns zu erkennen.

Die Stelle, an der der Rundgang ins Nichts abbrach und nur die Umkehr oder der Sturz in die Tiefe übrig blieben, kam immer näher, und Dorian stoppte schließlich abrupt. Tiamat schien ebenso die Geduld zu verlieren und stieß zu.

Wenige Schritte vor Dorian schlug das Wesen seine Raubtierkrallen in das morsche Holz und riss ein breites Stück heraus. Holzsplitter und Bruchteile regneten in die Tiefe, der gesamte Rundgang erzitterte. Dorian rang nach Luft und machte kehrt, aber gerade jetzt kehrte die Schwere in seine Füße zurück. Die Bewegungen des Tiamat wurden dafür umso schneller. Dorian sah sich abermals zu einem plötzlichen Halt gezwungen.

Jetzt schlug das Wesen seine Klauen in den Steg hinter ihm, und auch hier riss es ihn mühelos auseinander. Das Holz unter Dorians Füßen ächzte wie ein sterbendes Tier. Heftiges Knirschen pflanzte sich durch den verbliebenen Steg fort.

Das verbliebene Stück, so ging es ihm durch Mark und Bein, war im Begriff, mangels tragender Teile aus der Wand zu brechen und in die Tiefe zu stürzen.
 

Dorian stand da, das Schwert in der Hand und den sicheren Tod vor Augen. Es blieb nur noch die Wahl, in die Tiefe zu stürzen oder von Tiamat, dessen rasselnder Atem durch den Schacht rollte, zerrissen zu werden. Es blieb ihm aber keine Besonnenheit mehr, eine Entscheidung zu treffen.

Alles um ihn herum wurde still; die Zeit schien stehen zu bleiben. Dann fühlte er, wie sich der verbliebene Bruchteil des Stegs zu neigen begann. Ganz langsam senkte sich sein Blick mit seiner Standfläche, und in der Tiefe, am Grund des Kampfdoms, glaubte er Sarik und die anderen zu erkennen, die zu ihm emporblickten.

Dann hob sich sein Blick, und Tiamats Schädel, eine Maske aus gelblichem Knochen, in dessen Tiefen feurige Augen loderten, kam auf ihn zu. Schon spürte er den Lufthauch seiner schlagenden Flügel. Schon sah er die Klauen sich heben, die seine Einzelteile in das fürchterliche Maul befördern würden, das sich öffnete und einen Schlund offenbarte, auf dessen Grund ein nie verlöschendes Feuer glühte-
 

Dorian tat einen Schritt. Dann noch einen, und dann sprang er. Er registrierte nicht mehr, wie die Plattform unter ihm knirschend zerbarst und in die Tiefe stürzte. Er registrierte nur ganz am Rande seines Bewusstseins, wie er das Schwert hob, es geradeaus richtete und damit auf Tiamats Schlund zu sprang.

Er glaubte, fliegen zu können, so langsam schwebte er Tiamat entgegen. Es kam ihm vor, als beobachtete er jemand anderen, dessen Schwert sich in den Schlund des mythischen Ungeheuers bohrte, um auf der anderen Seite des Schädels wieder auszutreten.
 

Die Realität nahm wieder ihre gewohnte Geschwindigkeit an; Dorian spürte, dass er fiel.

Er spürte ebenso, dass ihn zwei Klauen links und rechts hielten. Er fühlte, wie sich ihre Krallen durch seine Kleidung bohrten, und während des Fallens überkam ihn die Erkenntnis, dass sie gleich sein Fleisch würden erreichen- bis sie stoppten und ihr Griff sich lockerte.
 

„Das ist nicht möglich…!“ murmelte Sarik und ließ nach der letzten Silbe den Mund offen stehen.

Tiamat flatterte ruckartig und unkontrolliert, doch sein Tod setzte bereits ein. Der Körper landete krachend auf dem Boden, von den letzten Flügelschlägen nur wenig abgebremst. Ein junger Bursche wurde von der Wucht davon geschleudert, flog in ihre Richtung, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich zu ihren Füßen liegen.

Es war Dorian Alberink, und er war blass wie eine Leiche.

Irias Lunge fühlte sich wie ein vor dem Zerreißen stehender Blasebalg an. Ihre Füße drohten immer wieder auf dem feuchten Untergrund auszugleiten, und ihr Blick tastete angestrengt nach dem Maleficium, das im Begriff war, im Zwielicht vor ihnen zu verschwinden.

Nadim gab sich alle Mühe, ihren Schritt zu halten, und schließlich war es nicht mehr notwendig, ihn an der Hand mit zu zerren. Seite an Seite lief er mit ihr durch die Gänge dieser Minenschächte; nur selten blickte sie zur Seite, um sich davon zu vergewissern.

„Ir… ia…!“ keuchte Nadim während des Laufens. „Was… ist… mit den anderen?“

„Egal!“ antwortete sie während ihrer Hetzjagd durch die Schächte, von denen ihre Schritte wie unrhythmisches Getrommel widerhallten. „Das Maleficium- Wir holen es uns!“ rief sie atemlos.
 

Ihr Ziel, das Paar bleicher Hände, deren Körper wie unter einer Luftspiegelung verborgen wirkte, war ihnen etliche Schritte voraus- und es wurden immer mehr. Das Maleficium, der Grund ihrer Reise, befand sich in diesen Händen, und sie entschwanden immer mehr aus ihrem Blickfeld.

Der Schacht gabelte sich bald darauf mehrmals auf, und irgendwann hatten sie ihr Ziel endgültig aus den Augen verloren. Nadim, der ein ähnliches Verlangen in sich trug, es zu erringen, den aber die Konfrontation mit seinem momentanen Besitzer schreckte, blieb mehr erleichtert als bekümmert stehen. Iria lief weiter, und mit dem ersten Atemzug Luft, den er erhaschte, rief er ihr hinterher:

„Bleib doch stehen, Iria! Es hat keinen Sinn…“

Doch sie blieb nicht stehen. Bald verhallten ihre Schritte in der Entfernung. Die Hitze der Jagd und die Aufregung über ihre Begegnung mit dem Ungeheuer zuvor schwanden in Nadim, und die Furcht vor diesen unheimlichen Schächten kehrte wieder.

Gegen das Stechen in der Seite und die Schwere in seinen Füßen ging er los und rief dabei nach Iria, ohne die er sich in diesen Gängen mit einem Mal sehr allein fühlte.
 

Seine Schritte wurden automatisch schneller. Die aufkeimende Angst, sich ganz allein in diesen Gängen zu verlaufen, bescherte ihm neue Energie.

Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er auf Iria stieß. Diese stand vor einer Gabelung, an der sich der Mienenschacht in insgesamt drei Richtungen aufteilte. Durch alle verliefen die gleichen rostfarbenen Leitungen, und an allen leuchteten dieselben blauen Glasröhren, die auch schon den Weg hierher erhellt hatten. Sie unterschieden sich nicht voneinander; die Abwesenheit eines Hinweises, welchen davon der Dieb mit dem Maleficium genommen hatte, erzürnte Iria sichtlich.

Nadim trat neben sie hin und blickte sie vorsichtig an. Iria stand da, mit geballten Fäusten, und ihre Brust hob und senkte sich noch in schneller Folge von der Anstrengung der Verfolgungsjagd. Der finstere Blick ihrer Augen tastete über die drei verschiedenen Wegmöglichkeiten. Die Verbissenheit darin forderte diese Öffnungen im kalten Fels förmlich heraus. Doch sie gaben keine Antwort, und auch sonst zeigte nichts an, welchen Weg das Maleficium genommen hatte.

„Iria…“

„Verdammt!“

Ihr empörter Ausruf hallte gellend von den Wänden wieder, woraufhin Nadim erschrak. Iria zitterte vor Zorn. Wäre es ihr möglich gewesen, sie wäre in alle drei Schächte gleichzeitig gelaufen, daran zweifelte er keinen Moment.

„Iria, wir sollten- “

Doch sie hörte ihn nicht an, sondern ging los. Dabei nahm sie den mittleren Gang. Nadim folgte ihr, und der Eilschritt, den Iria jetzt an den Tag legte, kam ihm wie ein gemächliches Tempo gegen die Hetzjagd von vorhin vor.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Nadim nach einer Weile, in der sie nur wortlos nebeneinander gegangen waren. Iria warf ihm einen aufgebrachten Blick zu, und er fürchtete bereits eine Schmähung ihrerseits- es kam aber keine; stattdessen begann sie leise und auch traurig zu sprechen.

„Wir müssen es finden… Sonst war alles umsonst.“

„Sollten wir nicht- “ Nadim zögerte angesichts dessen, was er als Nächstes sagen wollte. Es verwunderte ihn selbst, der er sich nicht gerade als großmütig kannte. „Sollten wir nicht nach den anderen sehen? Ich meine, da war doch dieses Ungetüm, dieses abscheuliche, wer weiß, was es- “

„Die kommen schon klar“, schnitt sie ihm rasch das Wort ab. „Die haben ihre Waffen und ihre Escutcheons. Die kommen klar“, wiederholte sie, wie um sich selbst zu beruhigen.

„Ja, du hast wohl recht“, gab Nadim ihr Recht. Nicht so sehr deshalb, weil er ihrer Meinung war, sondern eher, weil er spürte, dass sie nun jeden Zuspruch brauchen konnte angesichts ihres Scheiterns.
 

Iria lauschte angestrengt, doch es war vergebens. Das allgegenwärtige Mahlen des Berges vermischte sich mit ihren Schritten zu einer traurigen Melodie, die von Versagen und enttäuschten Hoffnungen erzählte. Dazu kam das langsam erwachende Schuldgefühl, ihre Freunde im Stich gelassen zu haben.

Unsinn, sagte sie zu sich selbst, während sie durch gleichförmige Schächte gingen, ebenso orientierungslos wie ziellos. Sie haben Waffen und können kämpfen, sagte sie sich vor. Sie können kämpfen und töten, dachte sie weiter, genau wie die Soldaten, die jetzt vielleicht schon Pielebott zerstört haben. Und wenn sie dabei umkommen… sind sie selbst schuld.

Immer wieder sagte sie sich das vor, und irgendwann glaubte sie es sogar. Sie war überzeugt, sich alleine durchschlagen zu können, nur mit Nadim und sonst niemandem. Die Eintönigkeit der Minenschächte, die Abwesenheit anderer Geräusche als die ihrer Schritte zusammen mit dem sich vor ihnen auflösenden Ziel, versetzte sie in einen Zustand, in dem alles Böse der Welt, die kriegführenden Armeen, das Ungeheuer aus dem Maleficium und selbst Dorian und die anderen zu einem einzigen Feindbild gerinnen ließ.

Sie brauchte etwas, gegen das sie ihren Groll richten konnte, auf das sie ihre Energien konzentrieren konnte, jetzt, wo alles zwecklos schien. Sie wussten nicht, wo sie waren, der Dieb mit dem Maleficium war wahrscheinlich schon über alle Berge, und sie hatten in Ermangelung eines Escutcheons keine Möglichkeit, ihn weiter zu verfolgen. Selbst wenn sie ihn fänden… Das Ungeheuer, das zuvor aus dem Maleficium entstanden war, hatte die anderen wahrscheinlich schon getötet; was konnten dann sie dagegen ausrichten?

Nach einer endlos scheinenden Zeit spürten sie einen Lufthauch, der stärker wurde und sie schließlich zu einem Ausgang brachte. Sie kamen zu einer Öffnung des Minenschachts. Das Tageslicht der hochstehenden Sonne schmerzte ihnen in den Augen. Vor ihnen begann ein schmaler Pfad, der auf einer Seite abrupt in die Tiefe abbrach und auf der anderen Seite an einer steilen Felswand verlief.
 

Hargfried kam hinter seinem Kistenstapel hervor, dessen Trümmer im weiten Umkreis verstreut lagen. Seine Hände zitterten ganz leicht, als er sein Schwert aufsammelte. Dann ging er zu Brynja und Sarik, die bei Dorian knieten.

Sarik ohrfeigte ihn, woraufhin schnell wieder Leben in das blasse Gesicht kam. Dorian blinzelte mehrmals, bis er die Leute über ihm erkannte. Danach fuhr er hoch und blickte sich mit aufgerissenen Augen um. Doch das Ungeheuer, mit dem er den Schacht hinuntergestürzt war, sah er nicht.

„Es hat sich in demselben Rauch aufgelöst, aus dem es entstanden ist“, antwortete Brynja auf die Frage, die ihm so deutlich in die geweiteten Augen geschrieben stand. Daraufhin atmete er vor Erleichterung auf und wäre fast zu Boden gesunken, hätte Sarik ihn nicht gestützt.

„Gut gemacht, Junge“, sagte dieser, klopfte ihm auf die Schulter und half ihm auf die Beine. Trotz des sachlichen Tons dieser Worte begann Dorian zu strahlen, als hätte er nie in seinem Leben ein überschwänglicheres Lob gehört.

„Ich- Ich habe nur das getan, was sie mir beigebracht haben!“ rief er aufgeregt. Sein Blick sprang zwischen Sarik und Brynja hin und her, und seine Füße gaben gleich wieder nach.

„Ja, ja, ist schon gut“, sagte Sarik, stützte ihn erneut und warf Brynja einen vielsagenden Blick zu. Brynja bemerkte nun Hargfried, der hinter ihnen stand und sich nervös umsah.

„Dieser Kerl, er hat das Maleficium“, stammelte er. Dabei deutete er mit dem Zeigefinger seines Panzerhandschuhs in Richtung des nun wieder freiliegenden Ausgangs. Seine Augen bewegten sich ruckartig hin und her, ihre Lider zitterten vor Aufregung. „Und er kennt den Mörder meines Vaters, ich weiß es!“ schrie er und rannte los.
 

Brynja war sofort auf den Beinen und setzte zur Verfolgung an- als ihr Blick zurückging zu Sarik und Dorian, der immer noch benommen auf dem Boden lag. Ein kurzes, heftiges Ringen in ihrem Inneren verzerrte ihr Gesicht und ließ einen deftigen Fluch ihren Lippen entweichen. Sie warf Hargfried, der wie von Furien gehetzt in den Ausgang rannte, einen finsteren Blick nach, dann kehrte sie um.
 

„Es geht schon, es geht schon“, sagte Dorian und rang sich aus Sariks Griff frei. Mit unsicheren Schritten näherte er sich der Stelle, an der sein Schwert auf dem Felsboden lag und er mit dem Ungeheuer zu Boden gestürzt war, von dem aber nun nichts mehr zu sehen war.

Dorian hob es auf und betrachtete es mit großen Augen und offenem Mund. Das Blut der Kreatur war ebenso verschwunden, und die Klinge wirkte völlig unverändert, als wäre dies alles nie geschehen. Einen Moment kam es ihm vor, als wäre er wieder in einer der Spelunken am Bucket-Weg, als hätte er dort einer aufregenden, abenteuerlichen Geschichte gelauscht, die ihn sosehr in Bann gezogen hatten. Dann realisierte er allmählich, dass dies keine Geschichte gewesen, er es wirklich erlebt hatte und dass es furchtbar gewesen war.

Er war sich nun sicher, dass er damals nur Maulhelden und Lügnern gelauscht hatte, und dass er vielleicht nie oder erst in vielen Jahren so unbeschwert und ausmalend von diesem Erlebnis würde erzählen können. Oder dass er es womöglich nie tun würde, da es ihm wahrscheinlich niemand glauben würde. Denn diese Wirklichkeit erschien ihm unglaubwürdiger als jedes Märchen…

„Wo sind die anderen hin?“ fragte er nun, und sein Kopf folgte seiner Stimme erst mit einem Moment Verzögerung.

„Sie sind dem Maleficium hinterher“, hörte er Sarik sagen. Dann fiel es ihm wieder ein: Der Moment, in dem Iria und Nadim durch die Barriere gelaufen waren, die ihm als Escutcheonträger verwehrt geblieben war. Sein Blick senkte sich auf seinen Armreif; dessen Scheiben flackerten immer noch, wenn er ihn in eine bestimmte Richtung hielt. Das Flackern erlosch, wenn er ihn weiterschwenkte, und schließlich wurde seine eigentliche Füllung erkennbar. Dorian erschrak.

„Du hast da eben einen ganz schönen Brocken erledigt“, sagte Brynja, die ihm über die Schulter sah. Dorians verwirrter Blick sprang zwischen Brynja, die ihn aufmunternd und auch ein wenig verschmitzt anlächelte und seiner Armschiene, die nun in seltenen Momenten zwei volle, grünglühende Scheiben anzeigte.
 

Den hohen, kreisförmigen Schacht, in dem fast ihre Reise das Ende gefunden hatte- und ebenso auch ihrer aller Leben- ließen sie hinter sich zurück.

Gemeinsam folgten sie dem Gang, in dem der Dieb mit dem Maleficium verschwunden war. Dorian ging zwischen Sarik und Brynja. Es wurde kein Wort gesprochen. Das Geschehen von vorhin, das Dorian immer noch wie eine ins Absurde verzerrte Geschichte vorkam, war gerade erst im Begriff, in all seinen Einzelheiten in seinen Verstand einzusickern.

Er schaute nach seinen Begleitern, die ernsten Schrittes neben ihm hergingen. Sarik war wortkarg wie immer. Er wunderte sich einen Moment über den ungerührten Ausdruck auf seinem Gesicht nach diesem turbulenten Ereignis. Dann entsann er sich den vielen Schlachten, die er schon hinter sich haben mochte, und fragte sich, wie viel er erleben musste, bis er eine ähnliche Kaltschnäuzigkeit an den Tag würde legen können.

Dann fiel sein Blick auf Brynja. Er konnte ihr ansehen, dass sie Mühe hatte, das Tempo ihrer Schritte zu zügeln. Es war ihr bewusst, dass ein Voranstürmen in diesen Minenschächten wenig Sinn hatte, und sie machte auf Dorian auch den Eindruck, dass sie den Vorteil, mit zwei fähigen Kämpfern unterwegs zu sein, nicht außer Acht ließ.

Mit zwei fähigen Kämpfern… Sarik und ihm selbst. Dorian schwankte zwischen Schaudern und Lachen, zwischen der nachhallenden Kälte der Todesangst und dem Gefühl des Triumphes, das sich allmählich einstellte und wie der Rausch eines vergorenen Getränks in seinen Kopf zu steigen drohte.

Ich habe Tiamat besiegt. Ich! wiederholte er in Gedanken, und er hatte alle Mühe, nicht wie schwachsinnig loszulachen. Ich habe ihn besiegt! Wer immer dieser Tiamat war… dachte er. Einen kurzen Moment überkam ihn Verwirrung, wer oder was diese Kreatur denn gewesen sei. Die Gewissheit, dass sie furchtbar gewesen war, siegte aber über allen anderen Überlegungen, und umso mehr er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihm vor. War das ich? Oder habe ich nur geträumt?

„Hargfried kann noch nicht weit sein“, hörte er Sarik sagen, der dabei zu Brynja blickte, als hätte er ihre Miene gelesen. „Er verläuft sich höchstens in diesen Gängen. Das Maleficium ist wahrscheinlich schon weit weg.“

„Weit weg!?“ schrie Brynja beinahe und blieb stehen. „Sie sagen das so locker, als ginge es um nichts!“ fügte Brynja nicht mehr ganz so laut hinzu.

„Es geht hier um Einiges. Zumindest für mich“, erwiderte er mit fester, aber gefasster Stimme. Brynja ging an Dorian vorbei, der unwillkürlich vor ihr zurückwich, und baute sich dicht vor Sarik auf, der seine Position allerdings keinen Fußbreit änderte.

„Glauben Sie etwa, für mich nicht?“ herrschte sie ihn an. Dorian betrachtete die Auseinandersetzung bange und spürte, dass Brynja immer weniger Aufwand betrieb, sich zu beherrschen.

„Wir haben dasselbe Ziel, es gibt also keinen Grund für Unterstellungen“, antwortete er in seiner gewohnten Ruhe, auch wenn an den Rändern seiner gewählten Worte der Unwille, die Zeit mit einem Streit zu vertun, durchschimmerte.

„Was heißt hier Unterstellungen? Ich habe Ihnen nie vertraut, also kann ich Ihnen auch nichts unterstellen!“

Brynjas Entgegnung kam scharf wie ein Peitschenhieb, und jedes einzelne Wort schien scharfe Kanten zu haben.

„Sie trauen niemanden, und man kann auch Ihnen nicht trauen“, gab Sarik zurück, der jedes Wort langsam und fest aussprach, so wie man den Deckel auf einen Kessel mit siedendem Wasser drückt. „Das ist wohl der Grund, warum ihr immer alleine arbeitet, und warum ihr Assassinen in Kämpfen nicht gefangen genommen werdet, sondern immer gleich an Ort und Stelle hingerichtet!“

Brynjas Augen wurden groß und gefährlich wie der geöffnete Schlund einer angriffsbereiten Giftschlange, und blitzten auf wie die Zähne darin. Sie wich einen Schritt zurück, und der Stachel ihrer Armschiene glitt klirrend heraus.

„Elender Bastard! Ich werde Ihren mosarrianischen Arsch- “

Schon wollte sie auf ihn losgehen, ohne Kampfdom und ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass sie sich gegenseitig nicht töten konnten. Sarik zog seinerseits das Schwert und nahm eine kampfbereite Position ein.

Dorian, der mit ansah, wie seine verbliebenen Begleiter sich gegenseitig an die Gurgel gingen, hob die Arme. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, warf er sich dazwischen und hielt die beiden aufeinanderprallenden Kontrahenten mit bloßen Händen auf.

Doch die Kraft ihrer Schritte drückten seine Arme zusammen. Dicht neben sich spürte er ihre beiden Gesichter, aus denen entfachte Wut leuchtete, vor allem bei Brynja. Mit seiner verbliebenen Kraft drückte er sie auseinander und ächzte dabei.

„Hört endlich auf damit!“ schrie er fast. Im nächsten Augenblick wunderte er sich selbst über den Klang seiner Stimme, von der er sich nicht erinnern konnte, sie schon einmal so befehlend gehört zu haben. Tatsächlich taten sie beide einen Schritt zurück.

„Was soll das, verdammt“, flüsterte er jetzt. Der Blick seiner traurigen Augen wechselte zwischen den beiden hin und her, und sie senkten ihre Waffen. „Wir müssen zusammenhalten, sonst sind wir verloren“, sagte er leise und blickte dabei nur mehr zu Boden.

Sarik und auch Brynja steckten beide ihre Waffen weg. Sie vermieden es, sich anzusehen und betrachteten stattdessen den grauen Felsboden des Minenschachts. Betretene Stille herrschte für einige Momente, in denen nur das Mahlen des Berges im Hintergrund flüsterte.

„Ich nehme das zurück“, sagte schließlich Sarik. „Es war nicht meine Absicht, Sie zu verdächtigen.“

Brynja, deren Blick unruhig umherwanderte, traf für einen Moment Sarik, bevor sie kehrt machte und weiterging. Dorian blickte ihr hinterher, dann wandte er sich Sarik zu.

Dieser begegnete seinem verwirrten Blick einen Moment lang, bevor er ebenso weiterging. Schließlich blieb Dorian in dem Schacht zurück und beobachtete, wie seine beiden Begleiter mit stoischer Ruhe, als wäre nichts passiert, den Weg ins Ungewisse fortsetzten.
 

Er folgte ihnen in geringer Entfernung, um ihre Reaktionen beobachten zu können: es kamen jedoch keine mehr, die auf eine neuerliche Eskalation hindeuteten.

Darüber erleichtert, lenkte er sein Augenmerk wieder auf seine gleichmäßigen Schritte und genoss die Stille, die keine weitergehenden Gedanken von ihm verlangte. Alles um ihn herum, sein unglaubliches Erlebnis mit dem Ungeheuer, das Verschwinden von Iria, Nadim und nun auch Hargfried, traten in den Hintergrund und bescherten ihm Momente erholsamer Gedankenleere. Bis sie zu einer Gabelung kamen.

„Das habe ich befürchtet“, sagte Sarik in einem gelassenen Tonfall, der nicht so ganz zu seiner Aussage passte. Brynja lief voraus, ging immer wieder in die Hocke und betrachtete den Steinboden eingehend. Dorian beobachtete sie fasziniert dabei und tat es ihr gleich, obwohl er keine Ahnung hatte, auf was er dabei achten sollte.

„So ein Mist“, murmelte Brynja und erhob sich dabei. Ihr Blick wechselte zwischen den Schächten. Dorian, der neben ihr stand, folgte ihr mit seinen Augen, als hätte Brynja schon etwas entdeckt.

„Dieser Boden lässt keine Spuren zurück“, hörte er Sarik sagen. Dieser blickte auf seinen Escutcheon, dabei schwenkte er langsam den Arm von einer Seite zur anderen. „Zumindest die Richtung ist aber klar.“

Brynja warf ihm einen ärgerlichen Blick zu angesichts dieser selbstredenden Bemerkung, sagte aber nichts. Dann deutete sie auf den linken Schacht der drei, die sich vor ihnen öffneten.

„Ich bin für diese Richtung“, sagte sie mit einer Entschlossenheit, die angesichts der Tatsache, dass alle drei Gänge gleich gut waren, hilflos wirkte. Dann ging sie los. Sarik beging nicht den Fehler, ihr zu widersprechen und folgte ihr.

Dabei kam er an Dorian vorbei und flüsterte im Vorbeigehen etwas, das sich wie Tja, Frauen anhörte.
 

Vorsichtig tat er einen Schritt zurück, nachdem er sich gedankenlos an den Rand des Grates herangewagt hatte.

Angesichts des jähen Abbruchs und des Windes, der hier im Freien an ihm zerrte, hielt er lieber Abstand. Nicht lange, nachdem sie an der Gabelung gestanden waren, hatte sie der Berg wieder ans Tageslicht gelassen, und nun fanden sie sich auf einem schmalen Felsband wieder, das über die benachbarten Gipfel führte. Sein unsicherer Blick suchte immer wieder die Flanken, die entlang des Grates in die Tiefe fielen, obgleich sie ihm Schwindel bereiteten.

Brynja und Sarik waren schon ein Stück voraus. Das Licht des Tages schmerzte ihn immer noch in den Augen, doch zugleich verspürte er kein Verlangen, in die düstere Öffnung, die sie freigegeben hatte, wieder zurückzukehren. So folgte er den beiden über den schmalen Felsgrat, auf den sie gelangt waren.

Es bereitete ihm Mühe, mit seinen Begleitern Schritt zu halten, die sich hier mit erstaunlicher Leichtigkeit fortbewegten. Zusätzlich brachten die Tiefblicke links und rechts ihres Weges Unsicherheit in seine Schritte. Von Zeit zu Zeit trieb der kalte Wind Nebelschwaden durch die Felswände, die unter ihnen abfielen, und verdeckten die Abgründe neben ihrem Weg.

Dann aber öffnete sich wieder die Sicht, und jene Tiefblicke, die ihn von der Gondelführe aus fasziniert hatten, erfüllten seine Bewegungen mit Verzagtheit. Mehrmals musste er gegen den Drang ankämpfen, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf Sarik und Brynja zu konzentrieren, die auf dem nur schlecht erkennbaren Pfad vor ihm gingen, der genau den Grat entlang führte.
 

„Ich kann das nicht… Ich kann das nicht…“, jammerte Nadim. Seine Füße waren wie einzementiert, seine Finger krallten sich in den Fels. Er hielt die Augenlider zusammengepresst, um so dem Anblick der gähnenden Tiefe vor ihm zu entgehen.

„Jetzt komm schon, es ist doch nur ein Schritt.“

Iria stand auf der anderen Seite des Spalts, und sie war im Begriff, die Geduld zu verlieren. Das schmale Sims, das sie an der abweisenden Felswand entlangführte, war an dieser Stelle durch einen etwa einen halben Schritt breiten Spalt unterbrochen. Schon vorhin war Nadim nur im Schneckentempo vorangekommen, doch dieser Spalt, den es mit einem entschlossenen Spreizschritt zu überwinden galt, schien sich zu einem unüberwindlichen Hindernis für Nadim zu entwickeln.

Eine halbe Ewigkeit stand sie nun da und redete ihm gut zu. Mehrmals hatte sie versucht, ihn an der Hand zu nehmen, doch seine unkontrollierten Bewegungen hatten sie letztendlich alle beide in Gefahr gebracht. Und so versuchte sie es mit guten Worten, die aber auch nicht allzu viel bewirkten.

„Komm schon, Nadim, es kann nichts passieren“, sagte sie mit erzwungener Geduld. „Du brauchst nur einen Schritt zu tun. Dann hast du es hinter dir. Und schau, danach wird der Weg einfacher, siehst du?“ fügte sie mühsam lächelnd hinzu und deutete hinter sich, wo das Sims noch schmaler zu werden drohte. Doch Nadim wagte es gar nicht, die Augen zu öffnen, und schüttelte nur den Kopf.

„Das ist so verdammt hoch… Es ist so verdammt- “

Zuerst erschrak Iria, die ihn kommen gesehen hatte, dann erst Nadim, der die Augen öffnete, jetzt, wo er seine Hände spürte. Hargfried stand hinter ihm auf dem Sims und hielt ihn fest.

„Keine Angst, junger Knappe. Ich helfe dir.“

Nadim starrte ihm ins Gesicht, und die Furcht vor dem Ritter mit den langen Haaren und dem verwirrt-fröhlichen Gesicht überstieg für diesen Moment sogar noch seine Angst vor dem Abgrund. Bevor er aber noch schreien konnte, hoben ihn zwei starke Hände über den Spalt.

Nadim sog krampfhaft die Luft ein, die er vorhin angehalten hatte. Dann blinzelte er fassungslos Hargfried an, der lächelnd den Spalt überwand und vor ihm und Iria stand.

„War doch nicht so schwer, oder?“
 

Kaiser Modestus der Dritte stand am Vorhang zu dem Balkon, von dem aus man den weitläufigen Platz vor dem Palast überblicken konnte. Eine große Menschenmenge hatte sich hier eingefunden, und auch wenn er sie durch den Spalt im Vorhang nicht sehen konnte, so hörte er deutlich den vielstimmigen Chor aus Rufen und Fragen, das breite Gemurmel verunsicherter Stimmen.

Einer seiner Adjutanten stand draußen auf dem Balkon und verlas einen Text. Die Lautsprecher auf dem Platz trugen diese Rede aus wohlklingenden Phrasen und ausweichenden Formulierungen über die Menge hinweg, und Modestus sah förmlich, wie das einfache Volk sich unter diesen Worten duckte. Von ihm war auch die Rede, und zwar dass er nicht in der Hauptstadt weilte, sondern an der Front nach dem Rechten sehe, die „nicht wanken und nicht stürzen soll“, wie seine Sekretäre in der Ansprache so gelungen gedichtet hatten. Jene Kriegsfront, die schon so nahe am Stadtgebiet war, dass man in stillen Nächten den Lärm der Schlacht zu hören glaubte.

„Keine Angst, liebes Volk, bald wird alles gut. Ich werde euch und unser Land retten, wie ich es versprochen habe“, flüsterte er hinter den Vorhängen, zwischen dessen Hälften er hindurch spionierte. Einen Moment lang empfand er ein kindliches Vergnügen dabei, auf diese Weise Zeuge seiner offiziell verkündeten Abwesenheit zu sein. Dann verdrängte er diesen übermütigen Gedanken und trat von dem Vorhang zurück.

Hinter ihm, neben der Tür zu dem Raum, wartete Major Bruckstein, der das Kommando der Palastwache in Gildensterns Abwesenheit inne hatte. Der Soldat stand da, mit durchgestrecktem Kreuz, die Hände an den Beinschienen und einem Blick, der die Stuckverzierungen an der Decke zu zählen schien.

„Ist alles vorbereitet, Major Bruckstein?“ fragte Modestus in einem freundlichen, beinahe schon kameradschaftlichen Ton.

„J-jawohl, euer Hoheit“, antwortete Bruckstein und behielt dabei den Stuck aufmerksam im Auge.

„Dann lass uns keine Zeit verlieren“, erwiderte Modestus mit fröhlichem Gesicht und ging auf die Tür zu. Vor lauter Strammstehen hätte Bruckstein um ein Haar vergessen, ihm die Tür zu öffnen. Eilig folgte er dann seinem Kaiser und schloss sie hinter sich, während der Adjutant auf dem Balkon weiterhin ein Märchen von Galdorias militärischen Erfolgen in diesem Krieg ausbreitete.

In den Korridoren des Palastes, in denen Modestus‘ Schritte und die seines Begleiters lange nachhallten, waren kaum noch Angehörige der Palastgarde zu sehen. Entweder hatten sie mit Gildenstern die Stadt verlassen, oder sie waren einer Fronteinheit zugeteilt worden, wie Major Bruckstein wusste.

„Ähm, eure Hoheit, ich wollte…“

„Reden Sie nur, Major“, erwiderte Modestus, der mit weiten, selbstsicheren Schritten einen bestimmten Ort im Palast ansteuerte, in jovialem Tonfall. Bruckstein trippelte eilig hinter ihm her. Es wirkte, als wollte er vermeiden, seinem Kaiser ungebührlich nahezukommen, um zugleich aber bei zu großer Entfernung eine drakonische Bestrafung zu befürchten. Er räusperte sich nochmal, um dann sein Anliegen vorzutragen.

„Eure Hoheit sind wirklich großzügig, dass… dass Ihr mir erlaubt, hier im Palast euch zu dienen, und nicht… nicht an der Front, wie es Minister Gildenstern beantragt hat.“

Modestus winkte beiläufig ab und schüttelte den Kopf mit einer Miene voller Genugtuung.

„Hier kann ich Sie am besten brauchen, und was Gildenstern anbetrifft- “ Sein Gesicht veränderte sich. Ein Schatten breitete sich darauf aus, als würde er nur allmählich eine Kränkung aus einer unerwarteten Richtung verarbeiten. „Der gute Gildenstern hat in letzter Zeit großen Eifer gezeigt, was sein Amt betrifft… Zu großen, manchmal.“

Bruckstein nickte eifrig und achtete nach wie vor darauf, genau drei Schritte hinter seinem Kaiser zu gehen, nicht weniger, nicht mehr. Der Sinn dieser Worte entzog sich ihm weitgehend. Sie verrieten ihm nur, dass Gildenstern in der Gunst des Kaisers gesunken war, was ihn, der seit jenem unseligen Vorfall Gildensterns Gunst nicht mehr genoss, hoffen ließ.

Die im letzten Moment abgewendete Versetzung an die Front erfüllte ihn immer noch mit unbehaglichem Schauer, und so bemühte er sich, seinen Dienst mehr als nur korrekt auszuüben.
 

Ihre Schritte führten sie mehrere Treppen hinauf bis in den obersten Bereich des Palasts.

Diese kahlen Räumlichkeiten gehörten nicht mehr zu den kaiserlichen Gemächern, sondern erfüllten einen ganz anderen Zweck. Niemand am Hof wusste- vor allem nicht Gildenstern- dass der Kaiser dem Tun in diesen Hallen durchaus nicht gleichgültig gegenübergestanden war.

Eine breite Tür schwang auf, und ein Spalier Techniker erwartete den Kaiser bereits. Sie alle verneigten sich tief, woraufhin Modestus ihnen zunickte. Am Ende dieses Spaliers befand sich ein riesenhafter Gegenstand, der zur Gänze unter einem Tuch verborgen lag. Bruckstein folgte seinem Kaiser dorthin, und eine kleine Abteilung der Palastwache empfing die beiden dort.

Modestus blieb vor dem Gegenstand stehen und wartete. Einer der Techniker sah sich nervös um, als er diese unausgesprochene Aufforderung registrierte, dann strömten sie aus, um verschiedene Abläufe in Gang zu setzen. Einer davon bewegte ein Seil, an dem das Tuch befestigt war, und lüftete den darunter befindlichen Gegenstand. Ein metallener Körper mit stromlinienförmigen Umrissen kam zum Vorschein. Sofort öffneten Techniker Luken und machten sich daran zu schaffen.

An vielen Stellen wirkte die Verkleidung provisorisch. Einige Teile waren mit groben Schweißnähten befestigt, die noch rau und verkohlt dalagen, wie frisch entstandene Narben. In Gedanken ging Modestus noch einmal alle Vorkehrungen durch, mit denen er verhindert hatte, Gildensterns Aufmerksamkeit auf die Arbeit an dem zweiten Prototyp zu lenken. Dieser war es gewesen, der die Konstruktion dieser Maschinen überhaupt erst angeregt hatte.

Modestus erinnerte sich mit Kopfschütteln an all seine vordergründigen Bestrebungen, diese Arbeiten zu unterbinden, in die Gildenstern so große Hoffnungen gelegt hatte. Nur mit Mühe hatte er sein Amüsement angesichts der Tatsache, dass er selbst die Arbeiten an diesem zweiten Prototyp ohne Gildensterns Wissen vorantrieb, vor diesem verbergen können. Doch er hatte sich täuschen lassen, und nun stand die Schachfigur auf dem Brett der Intrige bereit.

Bald erklang heiseres Motorengeräusch, das wieder erstarb, um erneut anzuspringen, wie das Husten eines Asthmatikers. Nach kurzer Zeit dröhnten die Rotoren in dem metallenen Leib mit annähernder Gleichmäßigkeit, und eine angespannte Erwartung war den Technikern anzumerken.
 

Major Bruckstein hielt sich an der Lehne des Sitzes fest, in dem sein Kaiser vor ihm saß. Seine Finger krallten sich in den Stoff, seine Augen waren fest geschlossen. Ein einzelner Schweißtropfen wurde unter seinem Helm sichtbar, und dieser bekam bald Gesellschaft.
 

Modestus betrachtete das Panorama der Hauptstadt, das an ihnen vorbeizog. Das Dröhnen der Rotoren erfüllte den Innenraum des Flugschiffes und übertönte sein leises Lachen. Einen Moment wunderte er sich über seine Fröhlichkeit und fragte sich, ob er nicht zulange mit diesem Schritt gewartet hatte. Auch stieg jetzt die leise Furcht in ihm hoch, Gildenstern könnte alles verderben, und dass sie zu spät kommen würden.

Doch dann stellte sich erneut jene Zuversicht ein, die ihn diesen Plan hatte schmieden lassen und ihn auch jetzt stärkte, wo das mosarrianische Heer unweit der Hauptstadt stand. Er sah die Landschaft unter ihrem Flugschiff vorbeiziehen, sah die Wälder und Weiden seines Landes und die Behausungen seines Volkes, als dessen Retter er in die Geschichte eingehen würde. Und nicht nur das, wie er überzeugt war. Auch als der Gründer eines gewaltigen Reiches, das Galdoria und Mosarria zu einem Land zusammenfassen würde.

Nur noch wenige Hindernisse standen zwischen ihm und dem Traum, den selbst sein Vater nicht zu träumen gewagt hatte, den er aber verwirklichen würde. Nur mehr wenige Hindernisse trennten ihn davon … Und eines davon war Jan Gildenstern.
 

Mal gerade und gleichmäßig, dann wieder in schroffen Stufen schlängelte sich das Band an der Felswand entlang, unter den wachsamen Blicken der Gipfel aus Fels und Eis, zwischen denen ihr Weg verlief.

Der kaum als solcher zu erkennende Pfad wurde manchmal breit genug, um nebeneinander zu gehen, dann wieder verengte er sich so sehr, dass nur eine Person zugleich sich mit vorsichtigen seitlichen Schritten auf dem brüchigen Felsband entlang bewegen konnte.

Iria ging immer noch voran, und Nadim dicht hinter ihr. Doch von jetzt an kannte er kein Zögern und keine Furcht mehr vor dem Abgrund. Hargfried, der hinter ihm folgte, ließ ihn seine Höhenangst vergessen. Ein Blick in sein ständig zwischen forscher Zuversicht und aufflackerndem Irrsinn schwankendes Gesicht genügte, die bodenlos erscheinenden Abgründe vergessen zu machen. Vor ihrer Begegnung mit Hargfried hatte Iria ihm an mehreren Stellen endlos zureden müssen, und nun lief er Gefahr, mit ihr zusammenzustoßen.

Endlich wurde der Weg einfacher. Sie gelangten in eine Scharte, von der aus sich braune Wiesen und schottrige Hänge vor ihnen ausbreiteten. Das Reich der Felsen und Abgründe blieb hinter ihnen zurück, was Nadim hörbar aufatmen ließ. Von der Angst vor dem Absturz und danach vor Hargfried ganz mitgenommen, ließ er sich auf dem ersten geraden Stück Erdboden niedersinken.

Offenbar machte er auf Iria einen so erbarmungswürdigen Eindruck, dass sie es vermied, ihn gleich wieder anzutreiben, und ihm diese Pause vergönnte.
 

Iria blickte zurück, in die Welt steiler Klüfte und schroffer Felswände, die hinter ihnen lag. Nebelschwaden zogen zwischen diesen hindurch, wie sie von ihrem Platz aus sah, und hüllten das Gebirge, das sie durchquert hatten, in einen dichten Schleier, gleich einer abwehrenden Festung, deren Bewohner keine Gastfreundschaft kennen.

Dann richtete sie den Blick auf die Wiesenhänge, die unterhalb der hier beginnenden Geröllhalden begannen. Auch wenn das Gras braun und verdorrt war, so erfüllte sie dieses Bild doch mit Zuversicht, nachdem sie solange kein Anzeichen von Leben gesehen hatte. Sie wandte sich von den anderen ab und atmete erleichtert auf. Als sie sich wieder im Griff hatte, wandte sie sich Hargfried zu, der mit einem kühnen und auch leicht verwirrten Blick die Hänge vor ihnen betrachtete.

„Und Sie sind sich sicher, dass die anderen in Ordnung sind?“ fragte sie ihn und wiederholte so die Frage, die sie ihm schon bei ihrem Zusammentreffen vorhin gestellt hatte.

„Oh ja“, antwortete er und nickte eifrig. „Große Ritter hätten aus diesen Leuten werden können, vor allem aus dem Jungen.“

„Sie meinen Dorian“, sagte sie leise und trat zu Nadim, der wie erschlagen im Geröll lag.

„Ja, ich war sehr überrascht von ihm. Er könnte aus unserm Herzogtum stammen, so tapfer war er“, erzählte Hargfried überschwänglich und gestikulierte dabei lebhaft. Iria beugte sich über Nadim und sah, dass er schlief.

„Das ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt“, flüsterte sie ihm zu. „Wir können hier nicht übernachten.“ Er antwortete mit einem gedehnten Murren. Sie ergriff ihn an einer Hand und zog ihn hoch. Nadim schüttelte den Kopf und fügte sich in sein Schicksal. Hargfried marschierte an ihnen vorbei mit schwungvollen Bewegungen wie ein Feldmarschall aus dem Karneval, wobei ihn Iria mit einem mitleidigen Blick bedachte.

Eigentlich wollte sie froh sein, die anderen losgeworden zu sein. Sie hatte sich vorgenommen, das Feindbild, das sich aus den kriegführenden Parteien, die ihre Heimat bedrohten und auch aus allen anderen Menschen, die Gewalt anwandten, zusammensetzte, zu behalten und wie einen Schild vor sich zu führen. Wer Gewalt anwendet, der kommt auch irgendwann durch sie um, so lautete ihre Ansicht, und so jemand war nicht besser als die Soldaten, die ihre Heimat zerstörten.

Auch auf diesen Sarik, diese Brynja und auf Dorian wollte sie dieses Urteil anwenden- doch es gelang ihr nicht. Sie ertappte sich dabei, sich Sorgen um sie zu machen, und wieder verspürte sie das Bedürfnis, Hargfried nach diesen Menschen zu fragen, die sie eigentlich nie wiedersehen wollte. Verwirrt von diesen Regungen, konzentrierte sie sich wieder darauf, Hargfried, der voraus ging, nicht aus den Augen zu verlieren, sowie darauf zu achten, dass Nadim nicht zurückfiel.

Ihr Blick heftete sich auf den jungen Mann in dem Harnisch, der mit stolzer Haltung voranschritt und dabei genauso wenig um ihr Ziel wusste wie sie alle.
 

Iria ging in der Entfernung von etwa ein Dutzend Schritten hinter Hargfried, und Nadim gleich hinter ihr. Immer wieder schaute sie nach ihm, um sicherzugehen, dass er sich nicht einfach auf einen Stein setzte und einschlief. Sie sah ihm die Müdigkeit an, die nicht so sehr von den körperlichen Strapazen, als vielmehr von der nervlichen Anspannung kam.

Schon als Kind war er so gewesen, erinnerte sie sich nun. Gern und lang hatte er immer von Diebstählen und Beutezügen erzählt, und die Ausschmückungen seiner Geschichten hatten alle in ihrer Gruppe in den Bann gezogen. Er wirkte dann wie ein großer Dieb, wie ein Wenzelstein eben.

Doch wenn es dann an die Tat ging, wenn es das Tagessoll zu erfüllen galt, dann drängte er sich wahrlich nicht vor. Zu gern überließ er es dann anderen, das Notwendige zu tun. Und wenn er tatsächlich mal nicht umhin kam, dann geschah dies immer unter Schwitzen und Zittern. Aber auch der misslungenste Beutezug hatte ihn nie in dem Enthusiasmus, sich seinen Ahnen gegenüber als würdig zu erweisen, gebremst. Es war gerade so, dachte sich Iria, als würde ihn das Drumherum und die Ahnung glorreicher Diebestaten mit neuem Mut erfüllen, ganz egal wie sehr er mit seinen Nerven bei alltäglichen Diebstählen wieder versagt hatte.

„Sag mal, Iria…“, hörte sie hinter sich.

„Ja?“

„Nicht, dass ich Misstrauen gegenüber unserem Führer zeigen will- er ist ja schließlich nur vollkommen verrückt“, fügte er leiser hinzu. „Aber wohin gehen wir eigentlich?“

Sein Gesicht wurde ernst. Iria blickte ihn missmutig und auch verzagt an.

„Er hat einen Escutcheon, ich schätze, er weiß zumindest die Richtung.“

Hargfried lief ein Stück weiter unten auf dem von Grasflecken durchzogenen Geröllfeld mit abgewinkelten Armen, die lebhaft mitschwangen, bergab. Seine Bewegungen waren voller Elan, als wäre er auf dem Weg zum Bäcker um die Ecke, um Brötchen für das Frühstück zu holen, und nicht etwa, als wäre er auf der gefahrvollen Suche nach einem apokalyptischen Objekt.

„Ja, aber…“, begann Nadim von Neuem, zog dabei die Schultern hoch, ließ sie wieder sinken und seufzte unbehaglich dabei. Iria las in seinen Augen deutlich, was er sagen wollte und was auch ihr am Vernünftigsten vorgekommen wäre. Wir sollten auf die anderen warten, flüsterte ihr eine Stimme zu und sprach damit aus, was weder Nadim noch sie offen sagen wollte. Eine andere jedoch entgegnete Sie wollen das Maleficium, und du willst es auch. Sie sind bewaffnet und du nicht. Wer, glaubst du, wird es bekommen?

Iria ärgerte sich über ihre innerliche Zwietracht, gerade jetzt in dieser Situation, in der es galt, besonnen zu handeln. Sie atmete betont tief durch, als könnte ihr dies die Entscheidung für ihr weiteres Vorgehen erleichtern, und wandte sich wieder dem Hang zu, der in ein von Nebel erfülltes Tal führte. Hargfried war mit seinen weiten Schritten schon ein ganzes Stück unterhalb von ihnen. Er ging gerade zwischen mehreren hochaufragenden Felsblöcken hindurch, die wohl vor ewigen Zeiten aus den Wänden oberhalb von ihnen ausgebrochen und hier hinunter gerollt waren.

Sie blinzelte, als sie eine Bewegung im Nebel erkannte. Zuerst glaubte sie an eine Täuschung ihrer müden Augen- doch die Bewegung wiederholte sich an mehreren Stellen. Es waren Gestalten, Männer mit Waffen. Von mehreren gut geschützten Stellen kamen sie hervor, als hätten sie dort bereits gelauert- und jetzt kreisten sie Hargfried ein.

„Pass auf!“ schrie Iria so schrill, dass Nadim zusammenzuckte. Ihr Ausruf hallte von den Felswänden wider, und sie wunderte sich selbst über die Lautstärke. Hargfried drehte sich um, wie sie von ihrer erhöhten Position sehen konnten. Einen schnellen Atemzug später wurde er bereits angegriffen. Metall traf Metall, und das Geräusch vervielfachte sich als bedrohliches Echo in den schroffen Wänden um sie herum.

Nadim und Iria blickten sich an. Angst sprach aus ihren Augen und sprang zwischen ihnen hin und her wie zwischen zwei Spiegeln. Ohne ein Wort zu sagen, wussten beide, dass eine Flucht auf das brüchige Sims, das bereits ohne Verfolger gefährlich genug gewesen war, aussichtslos war.

So duckten sie sich zwischen die Steine des Hanges, wie verängstigte Tiere, die hoffen, der gefräßige Räuber möge sie übersehen, und beobachteten vor Angst gelähmt, wie Hargfried mit den unbekannten Angreifern um sein Leben kämpfte.

Der Grat, der sie auf fast gleicher Höhe mit den schroffen Gipfeln ringsum den Bergkamm entlangführte, wurde allmählich breiter. Erstaunt betrachtete Dorian die Felszacken, die den einen Moment unter milchigen Nebelschwaden verdeckt lagen, um dann im nächsten von ihnen wieder freigegeben zu werden. Dann traf sie wieder die Sonne mit all ihrer Kraft und ließ das weißgraue Gestein fast leuchten.

Weiter tiefer hing der Nebel dichter, und die Schwaden lösten sich dort kaum auf. Manchmal schien es ihm, als wanderten sie über eine zerklüftete Insel, die in einem Meer aus grauem Schaum lag. Dieser Vergleich erheiterte ihn, er musste unwillkürlich lachen. Sarik und Brynja, die infolge des sich verbreiternden Pfades neben ihm gingen, warfen ihm skeptische Blicke zu, vor allem Brynja.

Er selbst wunderte sich über seine Fröhlichkeit. Die Ungewissheit über Hargfrieds Verbleib erfüllte ihn mit wechselhaften Gefühlen. Er war sich noch nicht sicher, ob er über diesen Umstand erleichtert sein sollte. Mehr noch bedrückte ihn die Abwesenheit von Nadim und Iria. Auch wenn sie aus freien Stücken ihren Vorteil genutzt hatten, er konnte es ihnen nicht anlasten.

Vor allem Iria nicht, deren Erinnerung ihm nun seltsam vorkam. Auch wenn er sie selten- oder eigentlich nie- lächeln gesehen hatte, in seiner Erinnerung, da lächelte sie… Ja, er vermisste sie. Aber trotzdem war er fröhlich, lachte über die Sonne, die scheu zwischen den vorüberziehenden Nebelfetzen hindurch blinzelte und wollte ihr schon zuwinken, bis er sich an seine ernsten Wegbegleiter erinnerte.

Trotz der Ungewissheit seiner Freunde, seiner alten wie seiner neugewonnenen, trotz der genauso vorhandenen Ungewissheit seines eigenen Schicksals, trotz alledem war er nun fröhlich. So fröhlich wie jemand, den eine schwere Krankheit schon seit längerem bekümmert, der sich aber dann doch in den kurzen Pausen seines Leidens an der Wärme und dem Licht der Sonne, die ja doch Tag für Tag wieder aufgeht, erfreut.

„Vergessen Sie besser, was ich vorhin gesagt habe“, hörte er plötzlich Brynja sagen. Er blickte lächelnd in ihr abwesend wirkendes Gesicht, wenngleich er wusste, dass sie den Grund seiner Fröhlichkeit nicht teilen konnte. Sie blickte zu Boden, und Dorian fragte sich, wenn sie gemeint hatte. Dann erinnerte er sich an das ‚Sie‘, das nur einem von ihnen gegolten haben konnte.

„Die Sache ist für mich erledigt“, erwiderte Sarik in einem ruhigen, sanften Ton, der aber nichts Gönnerhaftes an sich hatte. Er nickte Brynja zu, die ihn aber immer noch nicht ansah.

„Sie haben nicht unrecht; wir Assassinen vertrauen wirklich fast niemanden. So lernen wir es, und so handeln wir. Und es ist auch wahr, dass uns das unter gewöhnlichen Soldaten nicht beliebt macht.“

Dorian wunderte sich über ihre Worte. Er bemerkte, dass Sarik es vermied, sie zu unterbrechen oder etwas zu erwidern. Er ließ sie einfach reden.

„Ich verstehe, dass Sie mir nicht trauen“, fuhr sie fort, „und tatsächlich haben sie wenig Grund dazu. Aber- “ Sie machte eine kurze Pause und schüttelte den Kopf auf eine Art, wie es ein Pferd tun mochte, das widerwillig aus seiner Koppel geführt wird und doch den Auslauf ersehnt. „Aber es ist nicht wahr, was ich gesagt habe. Dass ich Ihnen nie getraut habe.“ Sie seufzte, und Dorian spürte, dass ihr diese Worte Überwindung kosteten. „Ich traue Ihnen, was diese Sache hier angeht. Ich habe gelernt, Menschen einzuschätzen, und ich liege selten falsch.“

Sarik lächelte verlegen, als würde er ein Kompliment darin sehen, von dem er noch nicht wüsste, wie er es aufzufassen hatte.

„Und deshalb frage ich Sie etwas“, sagte sie und blieb stehen. Sarik stoppte ebenfalls. Dorian ging noch ein paar Schritte weiter, da er spürte, dass dies zu einem gewissen Grad eine Sache zwischen ihnen war. „Sie wissen ziemlich gut über dieses Maleficium Bescheid, besser, als irgendjemand, den ich habe auftreiben können.“
 

Die beiden standen sich gegenüber, wie Dorian beobachtete. Brynja stand mit in die Hüften gestützten Händen da, als würde sie etwas erwarten. Auf ihrem Gesicht lag jedoch ein sanfter, bei ihr ungewohnter Ausdruck. Sarik hingegen begegnete ihrem ebenso geduldigen wie erwartungsvollen Blick gelassen, eine Hand durch den Schlitz seines Mantels gehängt, und mit einem undurchschaubaren, unbeteiligt wirkenden Lächeln.

„Sie müssen mir nicht alles verraten, was Sie wissen“, sagte Brynja. „Das werden Sie ohnehin nicht, soweit ich Sie bis jetzt kenne. Aber sagen Sie mir eins: Jagen wir einem Phantom nach? Wohin will es, und wie finden wir es?“

Sarik warf einen knappen Blick zu Dorian, der einige Schritte abseits stand, als wollte er ihm wortlos bedeuten, dass ihn der Inhalt ihres Gesprächs ebenso betraf. Auf dieses Signal hin tat er einen Schritt auf die beiden zu.

„Der heilige York hat sich einige Zeit in die Höhlen des Berges Galgasot zurückgezogen, als es hier noch keinen Bergbau gab. Er hat hier in der Einsamkeit gelebt, um seine Kräfte zu sammeln und das Maleficium zu erschaffen.“

„Das ist sehr interessant“, erwiderte Brynja und verdrehte die Augen ganz leicht, als wollte sie sagen Und weiter?

„Wer immer der Träger des Maleficium nun ist, das Ritual, das es ihm für diesen Ort aufgezwungen hat, hat es vollendet. Aber so, wie der darin wohnende Geist nicht endgültig hat ausbrechen können, so war dies auch nicht der Ort, an dem das Maleficium vollendet wurde, damals.“

Brynja hob beide Augenbrauen und drehte den Kopf ganz leicht zur Seite.

„Das bedeutet…?“

„Das bedeutet, dass das eigentliche Ziel des Maleficium woanders liegt. Und zwar weit im Norden von hier, in den Ruinen der Stadt Zanardis.“

Nun veränderte sich Brynjas Gesicht dramatisch. Der Ausdruck der Geduld schwand, stattdessen leuchtete nun Empörung aus ihren Augen. Sie hielt den Mund mehrere Momente offen, bevor sie zu sprechen begann.

„Ist das Ihr Ernst? Wir sind also den ganzen Weg hierher völlig umsonst gekommen?“

„Durchaus nicht. Ich hatte gehofft, wir könnten ihn hier schon stoppen. Wer immer er ist, er ahnt gar nicht, welches Unheil er über sich selbst bringt“, sagte er mit leiser Stimme, aus der ehrliches Bedauern klang. Ein Bedauern, dass Brynja offensichtlich nicht teilte.

„Das ist sein Problem. Mich beschäftigt eher, wie wir dort hin kommen. Zanardis liegt etliche Meilen von hier, jenseits der Steppe, und ich weiß nicht- “

Das Echo eines schrillen Schreis hallte zu ihnen herauf, was Brynja augenblicklich verstummen ließ. Alle sahen sich alarmiert um, besonders Dorian. Denn er erkannte sofort, dass es Irias Stimme gewesen war.
 

Dorian rannte sofort los und lief den Grat entlang, hinein in eine Nebelschwade, die sich langsam über den Bergkamm schob. Seine Sicht wurde immer kürzer, er verfluchte den Nebel. Dann brach er hindurch, und sein Herz blieb fast stehen.

Wenige Schritte vor ihm ging das eben noch fast ebene Gelände in einen schroffen Hang über, der dann jäh abbrach. Wäre er hier über einen der umherliegenden Felsbrocken gestolpert, sein Fall wäre erst jenseits der Nebelschwaden unter ihm zu Halt gekommen. Vorsichtig ging er weiter, doch der Grat endete und ging hier in eine fast senkrechte Wand über, aus der immer wieder Stufen brüchiger Gesteinsschichten ragten.

Dorian stand da und versuchte, die Nebelschwaden mit Blicken zu durchdringen. Es tat sich aber keine Öffnung auf, und so machte er sich fluchend daran, einen Weg hinab zu suchen.
 

Ganz vorsichtig ließ er sich mit dem Hintern voran eine Stufe hinab. Mit beiden Händen hielt er sich an vorstehenden Steinplatten fest, die sich aus dem Körper des Berges herausschälten. Mit dem ausgestreckten Fuß tastete er nach einem Vorsprung, der groß genug war, um ihm Halt zu geben. Doch die Stufe erwies sich als unangenehm glatt.

„Verdammt“, zischte er und spürte, wie immer mehr Gewicht auf seine Hände kam. Endlich, noch ein gutes Stück tiefer, stieß er mit dem Fuß auf eine Leiste, die vertrauenerweckend war. Dorian atmete auf und belastete sie- als sich der linke Griff löste.

Seine rechte Hand verkrampfte sich um den anderen Griff, und er presste seinen Körper gegen die senkrechte Felsstufe. Die Finger seiner linken Hand tasteten über den Fels auf der Suche nach Halt; er hörte, wie der ausgebrochene Griff in der Tiefe irgendwo aufschlug.

Sein Herz schlug schmerzhaft heftig. Nachdem er einigermaßen sicher stand, drehte er vorsichtig den Kopf, um zu sehen, wohin der Stein, der ihm eben noch als Griff gedient hatte, verschwunden war. Im nächsten Moment bereute er dies, denn die durchziehenden Nebelschwaden lüfteten sich für einen Moment, und er sah erst, wie hoch über Grund er war.

„Scheiße“, flüsterte er und rang nach Luft. Doch er konnte den Blick nicht abwenden von der saugenden Tiefe. Dann sah er die Linien eines Kampfdoms weit unter ihm leuchten- und brach in Panik aus.
 

„Iria!“

Er hätte fast den Halt verloren. Der Nebelfetzen zog weiter, und ein neuer verhüllte das Geschehen unter ihm wieder.

Mit einem Male fiel es ihm nicht mehr schwer, seine Vorsicht über Bord zu werfen. Er ging in die Knie und tastete wieder mit dem Fuß in die Tiefe. Dabei ließ er sich so schnell hinunter, dass er gar nicht näher auf passenden Halt für seine Hände achten konnte. Er fand ihn aber und stoppte so sein kontrolliertes Fallen, bis sein Fuß auf Widerstand stieß.

Nun bevölkerten viele fremde Gedanken seinen Kopf. Er sah nicht mehr sich selbst und die Felswand, die er hinabzustürzen drohte, sondern er sah Nadim und Iria, die in Gefahr waren. Eine Gefahr, die ihm gänzlich unklar war, die aber in seiner Vorstellung den Schrecken des zu Tode-Stürzens vollkommen verdrängte. Er nahm sich auch nicht die Zeit, sich darüber zu wundern, sondern fand mit immer schnelleren und wagemutigeren Bewegungen den Weg durch die strukturierte Wand hinab.

Mehrmals lehnte er sich zurück, um die Distanz zum Boden zu erkennen und riskierte dabei gedankenlos sein ohnehin wackliges Gleichgewicht. Doch der Nebel lichtete sich nicht wieder, der Boden blieb verborgen. Endlich war er soweit herab, dass er trotz der geringen Sichtweite erkennen konnte, wie die Felsstufen in flacheres Gelände übergingen. Einen Moment erwägte er sogar, zu springen, doch ein Rest von Vernunft, der die Stellung in seinem von Panik ergriffenen Verstand hielt, ließ ihn weiter hinabklettern. Bis sich sein Schwert, das an seinem Gürtel hing, an einem Vorsprung verhakte.

Seine Waffe hebelte ihn förmlich aus der Wand, und ihm blieb nichts anderes übrig, als mit den Armen zu wedeln und zu schreien. Seine Finger tasteten während des Falls ins Leere; es vergingen endlose Momente, bis er auf Widerstand traf.
 

Er schlug mit dem Gesäß zuerst auf, um dann rücklings durch grobes Geröll zu purzeln. Die Geröllhalde war ziemlich steil, was sein Sturzmoment weitgehend auffing. Dorian überschlug sich noch einmal, bis er von einem größeren Brocken unsanft gestoppt wurde.

Atemlos sprang er auf und achtete nicht auf die Abschürfungen, die seine unbedeckten Oberarme überzogen. Vor sich sah er im Nebel die Linien eines Kampfdoms glühen, der seiner Größe nach mehrere Kontrahenten beinhalten musste. Immer noch leicht benommen von seinem Sturz, stolperte er den Hang hinab und zog seine Waffe.
 

Hargfried schwang sein langes Schwert wie eine Sense, um sich den von mehreren Seiten auf ihn einströmenden Angreifern zu erwehren. Doch er geriet trotz seiner Anstrengungen immer mehr ins Hintertreffen.

Einige wenige seiner Gegner hatte er bereits niedergestreckt, doch die Verbliebenen fochten umso heftiger. Hargfried ging kaum noch in die Offensive, sondern wehrte nur mehr ab, und selbst dies würde ihm nicht mehr lange gelingen. Etwas hemmte seine sonst so wild lodernde Kampflust; sein verwirrter Verstand realisierte, dass er im Begriff war, zu unterliegen. Ja, ein Teil seines zerrütteten Verstandes hieß das sogar willkommen.
 

Dorian fiel mehr, als er lief, den Hang hinab, und erkannte eine der Personen im Kampfdom.

Mit Erleichterung stellte er fest, dass es Hargfried war und Iria nicht zu sehen war. Zugleich aber wuchs seine Entschlossenheit, und keine der Überlegungen von vorhin, die Hargfrieds Person als entbehrlich erwogen, hatte nun Wirkung.

Die Barriere des Kampfdoms sog ihn förmlich ein, und schon befand er sich inmitten des Getümmels. Hargfried hatte gerade die Angriffe mehrerer seiner Widersacher einstecken müssen und sank bereits halb auf die Knie unter der Wucht der Hiebe- als Dorian unter einem Schwerthieb durchtauchte und sich vor ihn stellte.

Das halbe Dutzend Angreifer, das noch auf den Füßen war, blickte ihn überrascht an, alle stoppten zugleich ihre Angriffe. Doch dann kam schnell wieder Bewegung in ihre Reihen, und Dorian schlug los.
 

Mit der Beweglichkeit seiner Beine und der Elastizität seines Oberkörpers duckte er sich unter den Hieben der Angreifer hinweg, die alle ähnlich große und damit langsame Schwerter wie Hargfried verwendeten. In seinen geschmeidigen Ausweichmanövern erhaschte er kurze Blicke auf ihre entschlossenen Gesichter in mattschimmernden Helmen. Er sah auch, wie sich diese Züge in schmerzverzerrte Grimassen auflösten, wenn er mit seinem deutlich kleineren Schwert ihre schlechter geschützten Stellen erwischte.

Keinen einzigen Hieb musste er parieren, und dies wäre auch denkbar ungünstig gewesen angesichts der schieren Wucht ihrer Waffen. Stattdessen führte er instinktiv das aus, was während des Duells mit Tiamat ganz jäh in ihm aufgestiegen war. Anstatt sich auf ein Kräftemessen einzulassen, bei dem er unterlegen wäre, nutzte er alle Lücken, die die vernichtenden, aber schwerfälligen Angriffe seiner Widersacher ließen.

Seine Klinge fand den Weg zwischen Lamellen schwerer Panzerung und kam voller Blut wieder hervor. Seine Füße kamen nicht mehr zum Stillstand; er floh vor ihren Angriffen wie ein Zwerg den langsamen Fußstapfen eines Riesen ausweicht, die ihn sonst zermalmen würden. Knirschend bahnte sich seine Klinge den Weg durch stählerne Krägen. Seine erwachte Raserei nahm ihm jegliche Skrupel. Auch wenn Iria und Nadim nicht in unmittelbarer Nähe waren, so würden sie doch zu Opfern dieser Angreifer werden, die ihn nicht verschonten und noch weniger die beiden.

Hinter sich hörte er ebenso Kampfgeräusche. Ganz am Rande seines fast völlig im Kampfgeschehen aufgelösten Verstandes fragte er sich, ob dies Hargfried war, oder ob Sarik und Brynja ihm schon zur Hilfe geeilt waren. In diesem Moment forderte er einen der Angreifer, der aber immer weiter vor ihm zurückwich. Dorian, den eine Leichtigkeit beflügelte, wie er sie bisher nicht gekannt hatte, drängte auf ihn ein, bis sie beinahe den Rand des Kampfdoms erreichten- als ihn ein Schwertknauf im Rücken traf.

Dorian schien es, als würde sein Rückgrat bersten.

Ein peitschenartiger Schmerz durchlief in quälenden Wellen seinen Rücken, um sich in seinem Nacken zu ballen. Er spürte gar nicht mehr den scharfkantigen Kies, auf den er aufschlug, und seine Lunge fühlte sich an wie eine ausgepresste Frucht.

Langsam hob er den Blick, sah zuerst die blauen, sich überkreuzenden Linien des Kampfdoms, dann das Paar Beine in Panzerstiefel, vor denen sich eine Klinge hob. Unfähig zu einer weiteren Bewegung, drehte er den Kopf weg, als könnte er auf diese Weise dem tödlichen Hieb entgehen. Aus dem Augenwinkel erkannte er hinter sich ein weiteres Paar Beine der gleichen Art, und die dazugehörige Person schien nur noch seinen Tod abzuwarten- bis ein weiteres Paar Beine hinter dem Kämpfer erschien und auf diesen zustürzte.
 

Der Angreifer in der mattschimmernden Rüstung konnte sich nicht mehr vollständig umdrehen, bevor Hargfried ihm den Kopf abschlug. Ein blechernes Geräusch erklang, als der Helm samt Inhalt über den Boden des Kampfdoms sprang.

Ein in prächtig verzierten Stahl gehüllter Fuß bohrte sich mit der Ferse dicht neben Dorians Kopf in den Kies. Dieser zog ihn ein und zitterte heftig, als Hargfried über ihm stand und den herabsausenden Hieb, der ihn wohl gespaltet hätte, abwehrte. Mit einem Schrei wuchtete Hargfried die abgefangene Klinge hoch und stieß seine eigene dem Angreifer durch seinen Brustharnisch.
 

Dorians Zähne klapperten heftig. Ein beidhändiges Schwert fiel vor ihm zu Boden, und im nächsten Moment der Rest des Kämpfers, in dessen Brustharnisch nun ein schmales Loch klaffte. Dorian blickte an dem Panzerstiefel neben seinem Kopf hoch und sah Hargfrieds schweißüberströmtes Gesicht sowie die Hand, die er ihm entgegenstreckte.
 

Dorians Rücken fühlte sich an, als wäre er zwischen Amboss und Hammer gekommen.

Ein stechender Schmerz pflanzte sich durch seinen Körper fort, als er mit Hargfrieds Hilfe auf die Beine kam. Die blauen Linien des Kampfdoms waren mit dem Tod des letzten Widersachers erloschen. Das Grau der durchziehenden Nebelfetzen hüllte wieder alles um sie herum ein. Dorian spürte ihre klamme Berührung auf den Abschürfungen seiner Arme.

Jeder Atemzug versetzte ihm einen Stich, was sein Ringen nach Luft noch quälender machte. Um sich davon abzulenken, überblickte er den Schauplatz des Überfalls. Ringsum lagen in Rüstungen gehüllte Körper, etwa ein Dutzend. Dann traf sein Blick Hargfried, der diesen mit einer ebenso hilflosen wie erleichterten Miene erwiderte.

„Ich danke dir, junger Knappe. Deine Hilfe war vonnöten, ja, ja…“, sagte er mit leicht zitternder Stimme und festigte dabei den Griff um seine Waffe.

„Diese Leute- wie ist das- was ist mit Nadim und Iria?“ fragte Dorian, in dessen Kopf sich die wieder einsetzenden Gedanken überschlugen.

„Die beiden? Sie sind, äh…“
 

Nadim machte einen großen Bogen um die verstreut liegenden Körper, die dunkle Flecken auf dem grauen Kies hinterließen. In gebührender Entfernung setzte er sich auf einen Stein und beobachtete, wie Sarik und Brynja die getöteten Männer untersuchten. Seine Haltung war dabei alles andere als entspannt; er wirkte, als würde er damit rechnen, diese Männer könnten sich von Neuem erheben und ihm Veranlassung zur Flucht geben.

Iria umkreiste die Stelle, an der der Kampf stattgefunden hatte. Sie kam keinem der Körper, die wie achtlos weggeworfenes Spielzeug verteilt lagen, zu nahe. Gleichzeitig aber wandte sie nicht den Blick von ihnen, als hoffte sie, mit einer eingehenden Beobachtung jenes Grauen, das sie fast ereilt hätte, verständlicher werden zu lassen.

„Das ist seltsam“, sagte Dorian leise, der sein Schwert immer noch in der Hand hielt und von Körper zu Körper ging. Sein Blick traf immer wieder die Männer in ihren aufwändig verarbeiteten Harnischen, um dann zu Hargfried zu wechseln, der wie ein verlorenes Kind mitten auf dem Kampfplatz stand. „Die tragen fast dieselbe Rüstung wie Sie- “

Dorian stoppte an der Stelle. Es war ihm, als hätte er etwas Verbotenes ausgesprochen, und in der Tat zuckte Hargfried zusammen bei dieser Feststellung. Sarik, der eben noch bei einem Körper gekniet hatte, stand auf und begegnete seinem vielsagenden Blick.

„Das hat auch einen bestimmten Grund“, sagte er leiser, führte den Gedanken aber nicht zu Ende. Sein Blick richtete sich auf Hargfried, als wollte er ihm dies überlassen. Hargfried jedoch sagte nichts, sondern senkte nur den Blick, wie ein Kind, das eine Strafe erwartet.

Brynja, die mit verschränkten Händen und einer finsteren sowie auch auf seltsame Weise erheiterten Miene von Körper zu Körper ging, sprach es schließlich aus.

„Der Grund dafür ist, dass sie dem Hof des Herzogs von Lichtenfels angehören.“

Alle horchten auf bei diesem Satz; nur Sarik nicht, der sich dessen wohl schon bewusst war, und Hargfried aus naheliegenden Gründen.

„Das heißt, seine eigenen Leute wollten ihn umbringen?“ fragte Dorian.

„Es sieht so aus“, antwortete Brynja, die Hargfried zu umkreisen begann. Dabei zeichnete sich ein Anflug von Häme auf ihrem Gesicht ab. Hargfried stand da, sein riesenhaftes Schwert immer noch in der Hand, und hielt den Blick gesenkt, wie ein Hund, der den Riemen seines Herrn fürchtet. „Ich glaube, Sie sollten uns was erzählen. Schließlich betrifft es uns alle, wenn ihre eigenen Leute uns angreifen.“
 

Hargfried hob den Kopf. Sein Blick, flehend und verzweifelt zugleich, ging von einem seiner Begleiter zum Nächsten, wie der eines Verurteilten, der ein milderes Urteil erhofft.

„Diese Leute… sie… sie glauben, ich hätte etwas mit dem Tod meines Vaters zu tun… sie geben mir die Schuld…“

Seine zitternde Stimme mühte sich bei jedem Wort wie jemand, der einen schweren Stein einen Abhang hinaufrollt.

„Wir können ja leider keinen von ihnen mehr fragen“, sagte Brynja mit forscher Stimme, „aber angesichts der Tatsache, dass sie keinen Moment diskutieren wollten, könnten sie Recht damit haben.“

In Hargfrieds Blick, der bisher kraftlos und verschreckt war, kam Leben, welches sich schnell in hitzige Wut wandelte. Schnellen Schrittes ging er auf Brynja zu. Sarik und Dorian machten sich unwillkürlich bereit, einzugreifen, doch er blieb knapp vor ihr stehen.

„Sie haben ja keine Ahnung!“ zischte er Brynja an. Diese drehte den Kopf leicht zur Seite, setzte ein abwehrendes wie auch erbostes Gesicht auf und stützte die Hände in die Hüften.

„Dann erklären sie uns das hier, damit wir ‚Ahnung‘ bekommen“, erwiderte sie leise, aber scharf. Hargfried schüttelte den Kopf, rang sichtlich mit den Worten und wurde rot im Gesicht.

„Diese Leute… diese Soldaten aus Lichtenfels…“, brachte er mit erstickter Stimme hervor, „sie geben mir die Schuld am Tod meines Vaters… ich habe versagt… ich konnte nicht… er musste wegen mir… sterben“, stammelte er, bevor er den Kampf mit den Tränen endgültig verlor.
 

Sarik durchsuchte einen der Körper. Brynja und Dorian hielten Ausschau, doch kein Anzeichen eines weiteren Angriffes störte die Ruhe in den Geröllhängen um sie herum.

Nadim und Iria standen mittlerweile beieinander, in angemessener Entfernung, und unterhielten sich leise. Hargfried saß ein Stück abseits der Gruppe auf einem Stein, sein Schwert neben sich an den Fels gelehnt. Sie ließen ihn keinen Moment unbeobachtet.

„Was haben wir hier?“ fragte Sarik sich selbst und betrachtete dabei einen Gegenstand, den er bei einem der Männer gefunden hatte. Dorian und Brynja kamen herbei, um ihn ebenfalls in Augenschein zu nehmen.

„Was ist das?“ fragte Dorian beim Anblick des kleinen Kasten, der an der Vorderseite von einem engmaschigen Gitter bedeckt war.

„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das ist ein Gerät zum Verfolgen eines Signals oder etwas ähnlichem. Ich möchte wetten, damit haben sie ihn gefunden.“

„Aber warum das Ganze? Ich verstehe es nicht“, sagte Dorian mit verunsicherter Stimme und schüttelte dabei den Kopf. Sarik schaute in Richtung von Hargfried, der immer noch auf seinem Felsen saß und ins Leere stierte.

„Ich denke, er weiß warum“, erwiderte Sarik und wandte sich den beiden zu. „Aber er hat Schwierigkeiten, es sich selbst einzugestehen. Geschweige denn uns.“

„Er ist wahnsinnig“, sagte Brynja voller Ablehnung. „Ich bin dafür, dass wir ihn zurücklassen. Er bringt uns nur in Schwierigkeiten.“

Sarik hörte ihren Vorschlag, dann blickte er Dorian unvermittelt an. Dieser bekam große Augen, bis er realisierte, dass er wohl auch seine Meinung hören wollte.

„Na ja… Ich meine, uns hat er nichts getan.“

„Ja, noch nicht“, murmelte Brynja.

„Und er hat mich davor bewahrt- “ Dorian erstarrte für einen kurzen Moment, als ihm die Erinnerung an die Situation kam, in der er dem Tod so nahe wie vielleicht noch nie gewesen war. „Ohne ihn wäre ich jetzt wohl tot“, sagte er schwach lächelnd.

„Ohne ihn wäre das gar nicht passiert“, erwiderte Brynja harsch. Jetzt kamen auch Nadim und Iria hinzu, die wohl gemerkt hatten, dass hier etwas Wichtiges besprochen wurde.

„Brynja hat nicht unrecht. Zusätzliche Probleme können wir schlecht brauchen. Es geht darum, ob wir unseren Weg von Hargfrieds nicht besser trennen“, sagte er, um Nadim und Iria den Inhalt ihrer Diskussion zu erläutern. Die beiden sahen sich einen Moment an, dann äußerte Iria sich.

„Ich weiß nicht, ob er eine Gefahr für uns darstellt- diese Leute tun es auf jeden Fall, und ebenso die Soldaten des Kaisers. Ich weiß es ehrlich nicht“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Es war überdeutlich, dass die Schwere ihrer Gedanken ihr eine eindeutige Entscheidung unmöglich machten.

Dann richteten sich aller Blicke auf Nadim. Unter dieser Aufmerksamkeit zeichnete sich leise Panik auf seinem Gesicht ab, und Dorian musste lächeln bei dem Gedanken, wie gern er früher immer im Mittelpunkt gestanden hatte. Bald aber festigte sich sein Gesicht wieder, und die Worte sprudelten aus ihm, der die meiste Zeit bisher geschwiegen hatte, nur so hervor.
 

„Ja, er ist schon seltsam, sehr seltsam, nicht wahr? Auch mir wird bange zumute, wenn ich ihn ansehe. Aber ich glaube, er ist kein schlechter Kerl. Ja, er ist verrückt, ziemlich sogar, aber…“ Nadim hörte sich selbst sprechen und wunderte sich fast noch mehr über seine Worte als die Umstehenden.

All der Schrecken der letzten Stunden, das Ungeheuer in den Minenschächten, der schauerliche Weg die Felsenschlucht entlang, und nun das Gemetzel, das in ihrer unmittelbarer Nähe stattgefunden hatte: Auch wenn er sich mit Iria in einer Vertiefung versteckt und sie ihn an sich gedrückt hatte, um seine Angst zu lindern- dies alles hatte ihm zugesetzt und die ständig schwelende Gefahr, in der sie seit Tagen waren, soweit zurückgedrängt, dass nun nicht sein in stetiger Angst verharrender Verstand sprach, sondern sein Herz, das sich an die wenigen positiven Erinnerungen klammerte.

Und darunter war eben Hargfrieds freundlich-verwirrtes Gesicht, wie er ihm im Rebellenlager in guter Absicht das Kämpfen hatte lehren wollen, wie er ihm über den gähnenden Spalt geholfen hatte, und wie er hier alle Aufmerksamkeit ihrer Angreifer auf sich gezogen hatte.

„Ich, ich finde- er sollte bei uns bleiben. Ja, er ist kein schlechter Kerl“, wiederholte er, da er sich nicht in der Lage sah, diese beklemmenden, aber auch von der Hoffnung, es könnte sich alles zum Guten wenden, durchzogenen Eindrücke in klare Worte zu fassen.
 

„Also gut“, sagte Sarik und musterte alle mit einem prüfenden Blick. „Frau Peinhild ist dagegen, Dorian eher dafür. Fräulein- Halloran, richtig? Sie enthält sich der Stimme. Was mich angeht, ich neige immer noch dazu, ihn in meiner Nähe zu wissen, als in meinem Rücken. Sein Escutcheon führt ihn in jedem Fall in unsere Richtung, und er kann keinen von uns angreifen. Er kann sehr wohl aber ein wertvoller Mitstreiter sein, denn es warten noch genügend Hindernisse auf uns.“

Brynja schnaubte leise, äußerte sich aber nicht weiter. Dorian beobachtete die Reaktionen seiner Begleiter. Iria machte dasselbe sorgenschwere Gesicht wie vorhin, das wenig Bezug zu diesem Thema hatte, und Nadim neben ihr blickte mit vorsichtiger Erwartung in die Luft.

„Nun, dann sollten wir unseren Weg fortsetzen. Es ist noch eine schöne Strecke bis Zanardis, und womöglich tauchen noch mehr von denen auf.“
 

Ihr Weg führte sie über steile Geröllhalden und vertrocknete Wiesen, zwischen denen riesige Findlinge verstreut lagen. Diese wirkten wie verstoßene Kinder der weitaus größeren Aufschichtungen aus Fels, die sie hinter sich ließen. Ein schmaler, kaum erkennbarer Pfad, der sich oft im Nichts verlor, um dann, etliche Schritte weiter, wieder zu beginnen, erzählte von den Wegen, die die Menschen dieser Gegend vor langer Zeit eingeschlagen haben mussten.

Brynja Peinhild ging an der Spitze. Niemand machte ihr den Platz streitig, und auch Sarik, der gleich hinter ihr folgte, war sich bewusst, dass ihre geschärften Sinne dort den besten Platz hatten. Ihnen folgten Iria, Nadim und Dorian, in dieser Reihenfolge. Hin und wieder drehte sich Dorian nach Hargfried um, der das Schlusslicht bildete.

Hinter ihnen, bereits unter Nebelschwaden verborgen, lagen ihre Angreifer aus dem Herzogtum Lichtenfels. Nach ihrem Aufbruch hatten sie Hargfried gesehen, der begann, die Leichen mit Steinen zuzudecken. Sie hatten nicht versucht, ihn davon abzuhalten, hatten aber auch keine Anstalten gemacht, ihm dabei zu helfen. Schließlich hatte er es aufgegeben und war ihnen gefolgt. Und so blieben die Körper dort liegen. Dorian erschauderte bei der Vorstellung von Krähen, die hier ein reichliches Mahl finden würden.

Bald entschwanden die Gebirgsriesen endgültig hinter einer undurchdringlichen Wand aus weißem Dunst. Ihr Weg wurde flacher, und der Pflanzenbewuchs reichhaltiger. Bald tauchten Sträucher und niedrige Bäume auf, die sich vor ihnen aus dem Nebel schälten, der nicht nachließ. Das Gras war hier nicht mehr braun, sondern nahm die Farbe von Stroh an. Trotzdem fühlte sich die Luft nicht trocken an, und als Dorian seine Hand durch das Gras gleiten ließ, fühlte sich seine Handfläche feucht an.

In den dichten Wolken, die den Himmel beherrschten, war der Stand der Sonne nicht zu erkennen. Dorian merkte aber, dass die Dämmerung nicht mehr fern war. Sein Magen meldete sich mit einem unzufriedenen Knurren, und seine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. Der Dunst, der die Sicht stark einschränkte, ließ die gleichförmige Landschaft endlos erscheinen. Er beschleunigte seine Schritte, bis er an Nadim und Iria vorbei und auf gleicher Höhe mit Sarik war.

„Sagen Sie, wie weit ist es bis in diese- wie hieß sie gleich?“

„Die Stadt Zanardis. Wenn wir in dem Tempo weitermarschieren, könnten wir sie vor Sonnenaufgang erreichen.“

„Sonnenaufgang? Aber es ist doch noch hell!“ entgegnete Dorian bestürzt. Sarik schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln und nickte.

„Ja, es ist noch eine schöne Wegstrecke. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es ist vielleicht schon zu spät, aber- “ Etwas hemmte seinen Redefluss, als hätte er an etwas gerührt, das besser verborgen bliebe. „Ich gehe in jedem Fall weiter. Euch kann ich nichts befehlen, es ist eure Entscheidung.“

„Wenn es so eilig ist… was könnte denn passieren?“

Sarik mied seinen Blick. Sein Augenmerk haftete am Horizont, der hinter dichtem Dunst verborgen lag.

„Das Maleficium wurde in Zanardis vollendet, und jetzt sucht es diesen Ort, um seine Freiheit zu erlangen. Das darf nicht passieren“, beharrte er, ohne konkreter zu werden. Dorian blickte ihn von der Seite an. Seine sonst so gefasste Fassade zeigte Risse, und feine Lichtstrahlen drangen heraus. Lichtstrahlen, in deren Schein die Umrisse eines persönlichen Bedürfnisses sich zeigten, einem Verlangen nach Vergeltung, das so wenig zu diesem Mann passte, sodass Dorian diesen Gedanken wieder verwarf.

„Und dieses Zanardis… wohnen dort viele Menschen?“ fragte er, um den seltsamen Eindruck zu verwischen.

„In Zanardis? Dort wohnen heute höchstens noch Ratten“, antwortete Sarik und lachte leise. Dorian fühlte Beschämung angesichts seiner Unwissenheit. Oft hatte er den Erzählungen von durchreisenden Abenteurern gelauscht, doch nie hatte er sich näher mit den Gegebenheiten ihres Landes auseinandergesetzt. Dieser Name war ihm fremd, und die Ahnung, dass diese ganzen sogenannten ‚Abenteurer‘ ebenso wenig Bescheid gewusst haben mochten, beschlich ihn.

„Was ist mit dieser Stadt passiert?“

„Im Krieg vor zwanzig Jahren, da konzentrierten sich große Mengen an Flüchtlingen in dieser Stadt. Ich war damals an einem anderen Frontabschnitt, aber ich hörte die Geschichten. Der Krieg dauerte schon lange, zu jenem Zeitpunkt. Nicht immer waren die richtigen Leute an den befehlshabenden Stellen. Die Verzweiflung bewirkte, dass schlimme Verbrechen begangen wurden. Es gab viele Opfer unter der Zivilbevölkerung… und unter den Flüchtlingen. Eine hässliche Sache.“ Dorian beobachtete ihn genau und merkte, wie viel Überwindung ihm dieses Thema kostete. Er spürte förmlich die Schmach und die Schuld, die Sarik für seine Armee zu übernehmen müssen glaubte. „Jedenfalls wurde die Stadt nach ihrer Zerstörung nicht wieder aufgebaut. Alle Überlebenden flohen, und heute ist Zanardis ein riesiger Friedhof.“

Dorian schauderte es bei dieser Vorstellung. Plötzlich fühlte er sich seltsam verloren zwischen den Dornbüschen und dem strohfarbenen Gras, das sich in einem nicht spürbaren Wind leicht wiegte. Er drehte sich um, um zu sehen, ob die anderen noch da waren. Iria und Nadim waren gleich hinter ihm. Ihren nervösen Mienen nach mussten sie zumindest Teile des Gesprächs mitbekommen haben.

„Dann ist es also noch ziemlich weit?“ fragte Dorian in einem harmlosen Ton, um das Gespräch weg von Massakern und Friedhöfen und hin zu trivialeren Themen zu lenken.

„Ja, wir haben noch einige Meilen zu gehen.“

„Aber mir knurrt der Magen, und verdursten werde ich auch bald.“ Wie zur Demonstration ertönte ein Grummeln aus seiner Magengegend, woraufhin Sarik amüsiert lachte.

„Glaube mir, Junge, so schnell verhungert man nicht. Und was das Wasser betrifft, so werden wir ziemlich sicher welches finden. Diese Gegend ist nicht so trocken, wie sie aussieht.“

Von diesen Verheißungen entmutigt, die weder seinen Magen füllen noch seine Kehle befeuchten konnten, ließ sich Dorian wieder auf die Höhe von Nadim und Iria zurückfallen. Auch ihnen waren die Strapazen anzusehen, und er vermied es, die vor ihnen liegende Wegstrecke anzusprechen. Er konzentrierte sich stattdessen auf seine Füße, die einen Schritt nach dem anderen taten.

Bald war es ihm, als würde er eine Maschine beobachten, die auch ganz ohne sein Zutun funktionierte. Er ahnte, dass ein Verlassen dieses gedankenfreien Raums dieses Funktionieren nur stören und Gefühlen wie Hunger und Durst Einlass gestatten könnten. So vermied er jedes Nachsinnen und betrachtete bald seine Füße, bald die Umgebung, die in graue Schwaden getaucht langsam an ihnen vorbeizog.

In seiner Monotonie störte ihn jedoch ein Eindruck, der sich ihm einmal, und von da an öfter, bot. Ein dunkler Fleck, gleich einem schwarzen Farbklecks, prangte in der weitgehend strohfarbenen Landschaft. Von dieser Abwechslung aus seiner Dumpfheit gerissen, sah er näher hin. Schließlich erkannte er Sumpflöcher in ihnen, die in dieser Steppe, von der Brynja vorhin gesprochen hatte, deplatziert wirkten.

Es schien ihm, dass der allgegenwärtige Nebel aus diesen Löchern entströmte, und als er an eines herantrat, stellte er enttäuscht fest, dass sie nur Schlamm, aber kein trinkbares Wasser enthielten. Seufzend wandte er sich von dem Dreckloch ab, um wieder in jener Gedankenlosigkeit zu versinken, in der sich nur zwei Füße bewegten und einen Schritt nach dem anderen taten, einen nach dem anderen… bis ihn ein laut gesprochenes Wort aus seiner Monotonie riss.
 

Es war Brynja, die ein gutes Stück entfernt im hohen Gras hockte, und deren Silhouette mit der strohfarbenen Umwelt fast vollständig verschmolz. Sie hatte ihre Kapuze übergezogen und machte ihnen Handzeichen, die Sarik offenbar verstand. Derweil beobachtete sie weiter, auf was sie gestoßen war, was Dorian und den anderen aber aufgrund der Sichtverhältnisse verborgen blieb.

„Was sieht sie?“ zischte Dorian zu Sarik, der ebenso ins Gras geduckt verharrte. Er gab keine Antwort, sondern wartete weitere Signale ab. Dorian, den diese Ungewissheit in einen Zustand der Nervosität versetzte, die jede Änderung der momentanen Situation begrüßt, drehte sich um. Nadim und Iria warteten ebenfalls in das Gras geduckt, und ihre Gesichter fragten ihn das, was er selber wissen wollte.

Nur Hargfried stand- wie bestellt und nicht abgeholt- ein Stück weiter hinten und machte ein ratloses Gesicht.
 

Eine gefühlte Ewigkeit nachdem Brynja in geduckter Haltung im Dunst verschwunden war, kam sie aufrechten Ganges auf sie zu. Sarik, dessen Gesichtszüge sich bei ihrem Anblick augenblicklich entspannten, stand auf.

„Es sind ein paar alte Bekannte“, sagte sie in einem abfälligen Tonfall.
 

Sean Hardy war die Erleichterung anzusehen. Er atmete tief durch und löste dabei die Schnallen, die ihn mit Riemen am Sitz gehalten hatten. Dann verharrte er noch einen Moment in dem bequemen Sitz, während Jan Gildenstern neben ihm bereits aufsprang.

Dieser eilte mit schnellen Schritten zum Piloten, der ihr Flugschiff zwischen den schroffen Türmen und abweisenden Eisflanken des Barantir-Gebirges hindurch gesteuert hatte. Hardy konnte von seiner Position sein Gesicht nicht sehen, aber er spürte förmlich den Schweiß, den dieser Mann beim Steuern dieser erst vor kurzem fertiggestellten Erfindung vergossen haben musste, von der bisher niemand genau gewusst hatte, ob sie die nötige Höhe, ein derartiges Gebirge zu überqueren, überhaupt verlässlich halten konnte.

Das Leder des Sitzes knirschte einen Moment, als Hardy aufstand. Sein Magen war von den Turbulenzen, die den Flugapparat erschüttert hatten, immer noch etwas beleidigt. Seine Knie fühlten sich wie Mus an, als er neben Gildenstern trat.

„Wir hätten die Berge auch umfliegen können“, bemerkte er vorsichtig lächelnd. Das Lächeln schwand aber wieder, als sein Blick durch das Sichtfenster fiel, hinter dem dichter Nebel ihre Sicht stark einschränkte. Hätte er das während ihres Fluges durch die bergige Region gewusst, seine Nerven wären einer noch anspruchsvolleren Probe unterzogen worden.

„Es ist keine Zeit zu verlieren“, erwiderte Gildenstern, der festen Blickes aus dem Fenster sah, obwohl kaum etwas zu sehen war. Hardys Blick fiel auf den Piloten, der sich hauptsächlich anhand mehrerer Instrumente und eben seinem eigenem Gerät, das zu dem gesuchten Signal führte, orientierte. Und er beneidete ihn keinen Moment um seinen Sitz.

„Ja, ich habe gehört, dass es an der Front nicht zum Besten steht. Ich glaube, wir werden diesen Krieg nicht gewinnen.“

„Kriege wurden auch schon früher verloren“, sagte Gildenstern mit kalter Stimme, „aber die eigentliche Gefahr… geht von woanders aus.“

Hardy wandte sich ihm zu, und der fragende Ausdruck wurde übermächtig auf seinem Gesicht.

„Du meinst…?“

Ein Moment der Unsicherheit zog über Gildensterns Gesicht. Hardy, der sich nicht erinnern konnte, ihn schon einmal so gesehen zu haben, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn und ließ den Blindflug, der sich hier abspielte, gänzlich außer Acht.

Gildenstern ergriff ihn am Ellbogen und führte ihn vom Pilotenplatz weg. Dabei sah er sich um, als gäbe es hier, im beengten Inneren dieses Apparats, die Möglichkeit, jemand könnte sie belauschen. Unweit der Gardesoldaten, die unbeweglich und abwartend auf ihren Plätzen saßen, blieben sie stehen. Gildenstern warf diesen Männern einen Blick zu: Hardy las aus diesem Blick jene Mischung aus unerschütterlichem Vertrauen und dem Stolz auf diese Loyalität heraus, die ihn freier sprechen ließ als je zuvor.

„Sean Hardy, wir kennen uns seit über zwanzig Jahren; ich erzähle dir dies, weil ich dir vertraue. Und weil ich darauf vertraue, dass sich in unserem Land einiges ändern wird.“

Hardy bekam große Augen. Der Ernst und die Zuversicht, die aus diesen Worten sprach, unterschied sich so klar von Gildensterns üblicher gefasster Miene, und strahlte eine so forsch-jugendliche Unerschrockenheit aus, dass er ehrlich überrascht war.

„Was wird sich ändern? Und was meinst du mit der ‚eigentlichen‘ Gefahr?“

„Es ist unser Kaiser, Modestus der Dritte“, erwiderte Gildenstern. Er, dem sonst jede offene Gefühlsregung fremd war, ließ ein glückliches Erschauern beim Aussprechen dieser Worte anklingen, als empfände er größte Genugtuung, dies endlich offen sagen zu können. „Modestus ist ein Verräter, verstehst du?“

„Ein… was? Ich verstehe gar nichts.“

„Modestus, unser Kaiser, hat die Dienstaufstellung der Palastwache dahingehend manipuliert, um den Dieben des Maleficium Tür und Tor zu öffnen! Er sabotiert die Ermittlungen, anstatt sie zu fördern. Er sieht mit an, wie unsere unfähigen Generäle den Krieg verpfuschen und unser Land an Mosarria ausliefern. Dazu macht er eine ruhige Miene, als ginge es um ein zerbrochenes Spielzeug, das sein Vater jederzeit ersetzen kann, und nicht um unser teures Land!“

Gildenstern wurde rot im Gesicht. Seine Augen glänzten wie im Fieber, und seine Hände, die er in beschwörender Manier an Hardys Schultern gelegt hatte, zitterten leicht. Dieser blickte ihn fassungslos wie auch abwartend an und blinzelte dabei nervös.

„Bist du dir mit diesen Dingen auch ganz sicher?“

Gildenstern senkte langsam den Blick wie jemand, der aus einem Tagtraum erwacht, und seufzte dabei. Dann wandte er sich von Hardy ab und ging ein paar Schritte in Richtung der Kabinenwand. Ohne sich umzudrehen, als schämte er sich seiner vorigen Reaktion, sprach er weiter.

„Ich wollte es einige Zeit nicht glauben, mein lieber Hardy. Aber die Beweise sind erdrückend. Sei versichert, ich wünschte, es wäre nicht so.“

Sean Hardy, der diese Eröffnung erst verarbeiten musste, blickte sich einen Moment ratlos um, bevor er sich wieder an seinen Freund wandte.

„Ja, aber- warum sollte er das tun? Es ergibt nicht den geringsten Sinn.“

Gildenstern drehte sich wieder um; sein Gesicht wirkte erschöpft, wie von einer großen Anstrengung gezeichnet.

„Dieses Rätsel zu ergründen bleibt leider keine Zeit. Mein Entschluss ist folgender: wir holen das Maleficium zurück, und sobald wir wieder in der Hauptstadt sind, entmachten wir Modestus. Die Palastwache ist mir loyal, und die Generäle sind auch schnell aus dem Weg geräumt. Dann werden wir das Maleficium einsetzen, um diesen unseligen Krieg zu beenden.“ Gildenstern atmete nach diesen Worten tief durch, als wäre eine schwere Last von seinem Herzen gerollt. „Kann ich auf deine Unterstützung dabei zählen?“

Hardy blickte einen Augenblick lang ins Leere, dann begegnete er wieder dem Blick seines alten Freundes. Er spürte in seinen Worten- und noch mehr in ihm selbst- wieder jenen Elan, mit dem er damals seine Karriere begonnen hatte, und der erst verschwunden war, als ihn die höfischen Regeln und Etiketten hatten erstarren lassen.

Hardy verstand nicht viel von Politik; sein Metier war die Energie, die Waffen stark und Escutcheons wirkungsvoll machte. Aber jemanden, der so sprach, konnte er nur vertrauensvoll auf einem auch gefahrvollen Weg folgen. Die Verwirrung auf seinem Gesicht schwand, und das Lächeln wurde fest und klar darauf.

„Du kannst auf mich zählen, Jan. Was immer notwendig- “

Ein schriller Ton ließ beide herumfahren, Hardy noch mehr als Gildenstern. Sean Hardy eilte zum Pilotenplatz und dem Gerät, das dem Piloten die Richtung des Signals verdeutlichen sollte.

„Was bedeutet das?“ hörte er Gildenstern hinter sich fragen. Sean Hardy reagierte nicht gleich. Sein konzentrierter Blick glitt über die Vielzahl an Skalen, über die jäh tanzenden Nadeln und die kleinen Glühdrahtlampen, die in hektischen Folgen aufblinkten. In seinem Kopf fügte er diese chaotische Ansammlung von Messdaten zusammen, und ein klares Ergebnis erwuchs daraus. Jetzt erst drehte er sich zu Gildenstern um, der bereits ungeduldig auf die Antwort wartete.

„Sie sind ganz in der Nähe“, sagte er so leise, dass man ihn über das Brummen der Maschinen kaum hören konnte. Gildenstern entnahm diese Aussage aber bereits seinem zufriedenen Gesichtsausdruck, woraufhin ein unheimliches Lächeln in seinen Mundwinkeln glänzte.

Die Zelte der Revolutionären wuchsen wie eckige Felsen aus der strohfarbenen Ebene; ihre gleichartige Farbe verbargen sie hier ebenso gut wie in der steinigen Wüste, in der sie diese zuletzt gesehen hatten.

Die hohen, an vielen Stellen mit Flugrost überzogenen Fahrzeuge der Rebellenarmee, die sie hierher gebracht hatten, wirkten wie grasende Tiere, die hier, am Rande der frisch aufgeschlagenen Zeltstadt, scheinbar Schutz suchten. Dorian verband gemischte Erinnerungen mit diesem Ort: Einerseits den Überfall auf ihren Zug, der viele Leben gekostet und noch mehr Leid verursacht haben mochte. Andererseits aber auch das Obdach, das ihnen diese Fremden angeboten hatten, und das sie auch hier wieder in Anspruch nahmen.

Unter einem nach mehreren Seiten offenem Zeltdach saßen sie an einem langen Klapptisch und genossen die karge Küche der Rebellenarmee, die ihren ausgetrockneten Kehlen und ihren knurrenden Mägen wie Ambrosia erschien. Besonders Nadim und Hargfried taten sich hervor, indem sie wirksam die Vorräte dieser nicht gerade wohlhabenden Gruppierung dezimierten. Frauen in den allgegenwärtigen sandfarbenen Kleidern gaben ihnen Nachschlag um Nachschlag, um ihre bodenlos scheinenden Mägen zu füllen.

Brynja und auch Dorian saßen genussvoll, aber mit Bedacht. Beide schienen noch Ereignisse der näheren Vergangenheit zu beschäftigen, die unumschränkte Konzentration auf diese Mahlzeit verhinderte. Immer wieder ließen die beiden ihre Blicke über die Umgebung schweifen, ihre Reisebegleiter, um sie dann wieder auf die Schüsseln vor ihnen zu richten, die sie dann betrachteten wie Fata Morganas, von denen sie sich nicht sicher waren, ob sie sich nicht in eine Luftspiegelung auflösen konnten.

Brynja saß bei Largo Cotter, der abwechselnd gebannt und dann wieder lachend den Ausführungen über ihren bisherigen Weg lauschte. Iria hörte ebenso zu, den Löffel oft vor dem Mund verharrend haltend, gerade so, als würden die vergangenen Geschehnisse für sie an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie diese aus dem Mund eines anderen nacherzählt hörte.

Sarik erzählte mit bedachten Worten, und genau in den Pausen, in denen sein Zuhörer überrascht über das Gehörte nachdenken musste, nahm er kleine Bissen seiner Mahlzeit zu sich, die er dann geduldig kaute.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich euch noch Mal sehe“, sagte Largo Cotter aufmunternd lächelnd und wiederholte so den Satz, mit dem er sie vorhin schon begrüßt hatte. „Da habt ihr ja einiges durchgemacht. Jetzt bleibt nur noch eines: Was führt euch in diese Einöde? Wäre es nicht besser, ihr würdet nach Galdoria zurückkehren? Selbst wenn der Kaiser nach euch suchen lässt, es wird dort kaum weniger gefahrvoll sein als hier, wo die mosarrianischen Truppen energisch vorrücken.“

Dorian blieb bei diesen Worten ein Bissen im Hals stecken. Cotter sprach dies so wohlgelaunt aus, dass er glaubte, ihn über ein weit entferntes Land sprechen zu hören, und nicht über das, indem sie sich befanden.

Sarik sah sich Cotters gutgelaunter, zugleich aber auch fragender Miene gegenüber. Dorian beobachtete ihn und sah seine Überzeugung, dass sich Cotter nicht mit einer ausweichenden Antwort zufriedengeben würde. Sarik ließ noch einen Blick durch die Runde gehen, wie um sich der Zustimmung seiner Weggefährten zu vergewissern, bevor er ihre Pläne offen legte.

„Also gut: Es gibt noch eine letzte Gelegenheit, den Dieb des Maleficium zu stellen. Die letzte Etappe seines Weges führt ihn in die Stadt Zanardis. Wahrscheinlich ist er schon dort.“

„Sie wissen das so genau? Was macht Sie so sicher?“ fragte Cotter und hob dabei eine Augenbraue.

„Es sind unsere Escutcheons“, antwortete er und lüftete seinen Ärmel. „Durch ein Ereignis in der kaiserlichen Schatzkammer wurden sie mit dem Maleficium verbunden, und jetzt weisen sie uns die Richtung.“ Zur Demonstration dieser Behauptung schwenkte er ihn vor Cotter hin und her, und dieser beobachtete die Veränderung der Scheiben mit erstaunter Miene.

„Wie ist das möglich?“

„Das Maleficium ist eine Vorrichtung, die Truppen in seiner Umgebung stärken und leiten soll. Es zeigt über die Escutcheons die Richtung, in der es sich befindet, um versprengten Soldaten Orientierung zu geben.“

„Ich beginne zu verstehen“, sagte er langsam.

„Das Maleficium wurde in Zanardis, damals, als die Stadt in ihrer ursprünglichen Form existierte, fertiggestellt, und dort will es wieder hin.“

Largo Cotter, der seine Erklärungen mit wachem Blick und regelmäßigem Kopfnicken verfolgt hatte, lehnte sich, da Sarik fertig war, auf seinem Stuhl zurück und betrachtete ihn mit erheitertem wie auch forschenden Blick. Sarik begegnete seinem Blick gelassen. Dorian merkte ihm die Erleichterung an, alles offen gesagt zu haben.

„Diese Geschichte ist so verrückt, sie muss wohl wahr sein“, sagte Cotter nach einer Weile lachend. Dann wurde er ernst. „Sie wissen auch, dass ich Sie mit diesem Wissen nicht mehr gehen lassen kann?“

„Das ist mir klar“, erwiderte Sarik kühl. „Ich habe, ehrlich gesagt, auf Ihre Unterstützung gehofft. Ich möchte, dass Sie uns so schnell als möglich nach Zanardis bringen. Es hängt einiges davon ab.“

„Warum diese Eile? Dieser Dieb mit dem Maleficium… Er kann doch nicht fliegen, oder?“

„Vielleicht nicht fliegen. Aber das Maleficium, oder besser gesagt, die Wesenheit darin, nimmt ihn immer mehr in Besitz, das weiß ich. Es verleiht ihm unnatürliche Kräfte, um sein eigenes Ziel zu erreichen.“

Cotter schüttelte langsam den Kopf, und das innere Ringen, ob er all das wirklich glauben sollte, war seinem wettergegerbtem Gesicht anzusehen.

„Nachdem ich nicht das Gegenteil beweisen kann, will ich Ihnen soweit glauben“, sagte er schließlich. „Aber meine Leute haben eine anstrengende Reise hinter sich. Wir haben dieses Lager heute erst aufgeschlagen, und vor morgen brechen wir sicher nicht auf.“

Sarik schob seine erst halbleere Schüssel von sich, lehnte sich nach vorn und fixierte Cotter mit seinem gesunden Auge, das sich zu einem Schlitz verengte.

„Sie unterschätzen den Ernst der Lage. Eine große Macht wohnt im Maleficium, und sie ist dabei, auszubrechen. Wenn sich das vollzieht, wird es vielleicht nie mehr Frieden in unserer Welt geben.“

„Sie mögen Recht haben; aber Sie unterschätzen auch den Ernst meiner Lage! Ich habe die Verantwortung für mehrere hundert Männer und Frauen, und die steht für mich an erster Stelle.“ Sein Blick war ernst und fest, und verriet kein Anzeichen des Nachgebens. „Also gut: Sobald meine Leute den näheren Umkreis erkundet und die Verteidigung formiert haben, können wir mit einem der Fahrzeuge losfahren. Das wird frühestens morgen sein. Und es gibt noch eine Bedingung.“

Sariks Gesicht zeigte keine Reaktion. Dorian sah dies, und es erinnerte ihn an die Kartenspieler in den Spelunken des Bucket-Wegs, die sich alle Mühe gaben, weder ihr Blatt noch ihre Absichten zu verraten.

„Und die wären?“

„Wenn wir diesen Kerl tatsächlich dort finden, dann bekommen Sie meine Unterstützung, ihn zu ergreifen. Was mit dem Maleficium danach geschieht, entscheide ich.“
 

In diesem Moment hörten alle zu essen auf, selbst Nadim, der bisher geschlungen hatte wie ein halb Verhungerter. Entsetzte Blicke wurden gewechselt, und selbst Hargfried begriff, was dies bedeutete.

„Aber, aber- “, stammelte Iria fassungslos.

„Kein Aber“, sagte Cotter kalt und zeigte ihnen sein entschlossenstes Gesicht. „Glaubt ihr im Ernst, ich lasse mir das entgehen? Wenn dieses Maleficium nur annähernd so viel Macht besitzt, wie die Legenden erzählen, dann kann es auch unserem Volk die Freiheit geben. Euer kleiner Feldzug des persönlichen Ruhmes in Ehren“, sagte er geringschätzig lächelnd, „aber das Schicksal unseres Volkes ist weit wichtiger. Mir zumindest. Es gibt nun zwei Möglichkeiten“, sprach er weiter und lehnte sich mit den Ellbögen auf den Tisch, während er zu der in stiller Empörung verharrenden Gruppe sprach. „Wenn euch das nicht passt, so kann ich euch gern in Ketten legen lassen, bis alles vorbei ist. Oder aber ihr kooperiert, und seid frei. Ich weiß noch nicht genau, welche Ordnung über unser Land herrschen wird, wenn alles läuft, wie geplant. Aber ihr werdet euer Ansinnen, wie immer genau es aussieht, dort dann erfüllen können. Dafür werde ich mich einsetzen, vorausgesetzt, ihr tut, was ich sage.“

Die stille Beklemmung zwischen ihnen wurde nur unterbrochen von Brynjas leisem Schnauben und den geflüsterten, aufgebrachten Selbstgesprächen Hargfrieds. Nadim saß da wie ein verschrecktes Tier, das den Jäger erwartet, und Iria blickte verloren ins Leere, als sähe sie alle ihre Hoffnung zerrinnen in diesem Moment. Dorian starrte mit großen Augen auf Cotter, solange, bis dieser auf ihn aufmerksam wurde, was ihn sofort den Blick senken ließ.

„Es ist eure Entscheidung“, sagte Largo Cotter schließlich. Sarik, dessen gefasste Fassade feine Risse bekam, blickte zu Boden, als hoffte er, dort etwas Verlorengegangenes wiederzufinden. Dann richtete er sich wieder auf und antwortete geradeheraus.

„Einverstanden.“

Alle zuckten zusammen. Brynja sog zischend die Luft ein, Largo Cotter lächelte hingegen zufrieden.
 

„Ich kann es nicht glauben“, sagte Brynja Peinhild, deren Ärger hörbar an den Gitterstäben dieser gefassten Worte rüttelte. „Sie liefern ihm einfach das Maleficium aus?“

Sie ging neben Sarik her, während sie zu einer Unterkunft geführt wurden, in der sie die allgemeine Geschäftigkeit um sie herum am wenigsten stören würden.

„Sehen Sie eine andere Möglichkeit?“ entgegnete er. „Womöglich ist es schon zu spät. Aber mit der Unterstützung seiner Leute haben wir auf jeden Fall bessere Chancen.“

„Wir? WIR?“ sagte sie mit forscher Stimme und blieb stehen. Die Rebellenkämpfer, die sie führten, blieben aufgrund der scharf durchklingenden Autorität ihrer Stimme ebenfalls stehen. „Was heißt hier ‚Wir‘!?“ fuhr sie heftig gestikulierend fort. „Sie wollen also das Maleficium für Ihr Land zurückholen? Wie können sie dann zusehen, wie es anderen Leuten in die Hände fällt?“

„In erster Linie will ich verhindern, dass es der Regierung dieses Kaisers in die Hände fällt“, antwortete Sarik. „Wenn wir schon heute unseren ‚ehrlichen‘ Tag haben: Warum wollen Sie das Maleficium?“

Von dieser Gegenfrage sichtlich überrascht, bemühte Brynja sich, ihre Fassung wiederzugewinnen.

„Ich will Rache an denen, die es aus Urakand gestohlen haben. Mein Gefährte war unter ihnen. Sie haben ihn sterben lassen, und das werde ich ihnen nicht verzeihen.“

„Rache also? Nun, dazu werden Sie bald ausreichend Gelegenheit bekommen“, sagte Sarik lächelnd und ging weiter. Brynja schaute ihm mit offenem Mund und ratlosem Gesicht nach, bevor sie ihm folgte. Sie sagte aber weiter nichts, und die Schlüssigkeit seiner Worte drängte offenbar ihren entfachten Zorn zurück.

Schließlich erreichten sie das ihnen zugewiesene Zelt, das sosehr jenem ähnelte, in dem sie damals bereits eine Nacht verbracht hatten.
 

Dorian lag ausgestreckt auf einer Liege und starrte an das Zeltdach.

Womöglich an dasselbe wie vor zwei Tagen, ging es durch seinen von der üppigen Mahlzeit schweren Kopf. Zwei Tage? Es schien ihm wie aus einem vorigen Leben. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen, doch alles, was er dann sah, war ein verstörendes Kaleidoskop aus gähnenden Abgründen, mythischen Ungeheuern, die sehr realen Schrecken ausübten, und Armeen, die über ihn und seine Träume hinweg trampelten und nichts als verdorrte Erde zurückließen. Es war zwecklos, und so stand er auf.

Mittlerweile war es dunkel. Im Licht der über das Lager verteilten Lampen erkannte er Nadim, der fest schlief. Alle anderen hatten das Zelt wieder verlassen, Gott-weiß-wohin. Dies erfüllte ihn mit großer Gleichgültigkeit- außer für eine Person. Er musste an sie denken, jetzt, wo die Erschöpfung und die vorübergehende Sicherheit alle Sorgen der Zukunft in den Hintergrund gedrängt hatten. Er beschloss, diese Person zu suchen und verließ das Zelt.

In dem Lager waren rund um die Uhr Leute auf den Beinen, so auch jetzt. Wachen streiften beharrlich durch und um das Lager, und ihre wachen Blicke registrierten auch Dorian, der ziellos umhertappte. Doch sie schenkten ihm keine nähere Beachtung. Dorian wunderte sich, ob Largo Cotter seinen Leuten irgendetwas vom Maleficium erzählt hatte.

Die Stellen, an denen die Zelte mit Seilen im Erdboden verankert waren, erkannte er an dem stehengebliebenen Gras. Es leuchtete fast in der Dunkelheit, aber trotzdem wäre er mehrmals fast gestolpert. Seine Augen tasteten suchend umher, doch ringsum sah er nur die Angehörigen dieser Rebellen in ihren gleichaussehenden Gewändern.

Endlich erblickte er zwei Personen, die sich in ihrer Erscheinung von ihnen unterschieden.
 

Halb hinter einer Zeltwand verborgen blieb er stehen und beobachtete sie aus einiger Entfernung.

Es waren Sarik und Brynja, die am Rande des Lagers beisammenstanden, dort, wo das Licht kaum hinreichte. Trotzdem waren sie noch im Sichtbereich der aufmerksam patrouillierenden Wachen, wie Dorian sah. Ungeachtet dessen schienen sie aber diesen Ort vorzuziehen, als würde er ihnen erst ein ungestörtes Gespräch ermöglichen.

Aus der Entfernung konnte Dorian ihr leises Gespräch nicht hören, aber an den Gesten erkannte er, dass es kein Streit war, so wie am Tage. Er wunderte sich über die Ruhe, die von Brynja ausging, und stand regungslos da- bis ihn ein Geräusch herumfahren ließ.

In einiger Entfernung erkannte er jemanden, der ebenfalls nicht aus dem Lager stammte. Auch die Schritte hörten sich anders für ihn an, vertrauter als die eines Fremden. Die Person machte Anstalten, sich umzudrehen, aber Dorian lief auf sie zu. Sie schien zu bemerken, dass ein unerkanntes Entfernen nicht mehr möglich war, und blieb stehen.

„Iria, da bist du ja.“

Iria blickte ihn einen Moment ablehnend an, bevor sich der argwöhnische Ausdruck auf ihrem Gesicht in Müdigkeit wandelte.

„Ja. Ich konnte nicht schlafen.“

„Es ist wegen morgen, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete sie knapp und ging los. Unwillkürlich lenkte Dorian seine Schritte neben die ihren, und mit einem Mal schien ihm die Nacht um sie herum nicht mehr so dunkel.

„Du machst dir Sorgen wegen diesen Leuten hier. Dass sie das Maleficium für sich behalten.“

„Ich habe nur Angst, dass der ganze Weg umsonst war“, erzählte sie mit leiser, beinahe scheuer Stimme. „Dass ich nichts tun kann für meine Leute in Pielebott.“

Dorian sah sich um und glaubte zuerst an eine Täuschung. Doch je länger er es beobachtete, desto mehr schwand das Bedürfnis, das Phänomen logisch zu erklären. Mit Irias Worten schien das Dunkel der Nacht eine eigene Farbe zu bekommen: Jedes ihrer Worte verlieh der Finsternis um sie herum eine Nuance, die schon dagewesen zu sein schien, durch ihren Klang aber erst erweckt worden war, wie er zu glauben begann.

„Mach dir keinen Kopf“, begann er mit einer Zuversicht, die er sich selbst nicht erklären konnte. „Diese Leute wollen den Krieg ebenso wenig wie wir. Deine Heimatstadt wird in Ordnung sein, wenn das Kämpfen aufhört.“

„Glaubst du das wirklich?“ fragte sie zurück. Mit den von leiser Hoffnung erfüllten Wörtern mischte sich eine neue Farbe in das Dunkel der Nacht. Es fühlte sich an wie die Luft eines Wintertages früh im Jahr, an dem sich die ersten Blätter, angeregt von der erstarkenden Sonne, entrollen.

„Ja, bestimmt. Dieser Cotter wirkt ziemlich rau, aber er will den Frieden ebenso wie wir.“

„Ich weiß nicht… Er und seine Leute, sie haben alle Waffen. Und sie kämpfen. Wie sollen sie Frieden bringen, wenn sie auf dem Weg dorthin töten?“

Ein quälendes Schuldgefühl stieg in ihm hoch, als ihm bewusst wurde, dass er ebenso zu den Leuten zählte, die ‚kämpfen und töten‘. Doch dieses Gefühl schwand schnell wieder, als er ihren Blick auf sich spürte, der nicht anklagte und auch keinen Vorwurf machte.

Er dachte, dass sie nicht ihn gemeint hatte, das hoffte er es zumindest. In ihren dunklen, traurigen Augen sah er nur die Verbitterung, dass das Leben nicht so lief, wie es ihr Wunsch gewesen war, und darüber, dass letztendlich der Schrecken des Krieges stärker gewesen war als alle ihre Bemühungen.

„Es tut mir übrigens leid.“

„Was tut dir leid“, fragte Dorian, der sie nun verdutzt ansah.

„Das wir weggelaufen sind, vorhin… In den Minenschächten. Als dieses Ungeheuer auftauchte“, zählte sie stockend auf. Ihre Stimme hatte einen beschämten Klang, als wäre ihr die Erinnerung unangenehm.

„Ach, das“, erwiderte Dorian und winkte ab. Er erinnerte sich an seine Bestürzung, die nur noch von der Angst vor dem Ungeheuer übertroffen worden war. Aber auch jetzt konnte er ihr nicht böse sein, und nur milde Gedanken wurden von dieser Erinnerung ausgelöst.

„Es war falsch, das weiß ich jetzt. Menschen, die einem etwas bedeuten, sind wichtiger als alles andere. In dem Moment, als wir wegliefen, dem Maleficium hinterher, da dachte ich nur an meine Freunde in Pielebott… Aber nicht an euch. Ich habe euch im Stich gelassen.“

Sie senkte den Blick und bedeckte ihr Gesicht mit der Hand. Dorian hörte das unterdrückte Schluchzen in ihrer Stimme und fühlte sich verantwortlich dafür.

„Nein, nein. Das war besser so, ihr wärt nur in Gefahr gewesen“, sagte er eilig und ergriff ihre Hand.

Er ergriff auch ihre andere Hand und hielt beide fest, als müsste er sie davon abhalten, sich selbst etwas anzutun.

Zuerst leistete sie Widerstand gegen den Griff seiner Hände, dann aber gab sie ihn auf und hob den Blick. Im Halbdunkel der verstreuten Beleuchtungen sah er ihre geröteten Augen, doch mehr noch erhellte die Farbe, die von ihren Worten in der Luft hing, ihr Gesicht und überzog es mit einem matten, traurigen Glanz. Eine einzelne Träne leuchtete darin auf, und er fing sie mit dem Finger auf.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte er dabei und merkte, wie seine eigene Stimme zittrig wurde. Er räusperte sich lautstark, wollte er ihr doch Zuversicht vermitteln und keinen der Zweifel, die in ihm selbst wohnten.

Immer noch hielt er ihre Hände. Sie wehrte sich nicht dagegen, und in ihren Augen war auch kein Trotz mehr zu sehen. Stattdessen nur eine Klarheit wie die eines tiefen Sees, der seinen Grund erkennen ließ. Oder jene, die in Augen herrscht, die alle Tränen dieser Welt vergossen haben, und deren Schmerz sich letzten Endes selbst verzehrt hat.

Schließlich spürte er, wie sich ihre Hände in die seinen schmiegten.
 

Er wollte noch etwas sagen, wollte ihr auf irgendeine Art Mut machen, doch er brachte nichts hervor.

Ebenso schwieg sie und stand nur da, ohne dass einer den anderen hinterfragte oder seine Worte anzweifelte. In dem Moment schienen ihrer beider Vergangenheiten, die sich so sehr ähnelten, und ihre Persönlichkeiten, die sich so sehr voneinander unterschieden, in einem Gleichklang zu schwingen, der keine Fragen offen ließ.

Beiden war es, als wäre niemand sonst in der Nähe, als wären sie mit sich selbst allein. Beiden war es, als wäre der andere nicht mehr die Person, die stören, ärgern oder nerven konnte, sondern, als sähen sie einen Spiegel im anderen, der nur zurückwarf, was bereits vorhanden war. Beide fühlten den Frieden, der nur in raren Momenten entsteht, wenn man weit weg von jeder Sorge mit sich und der Welt im Einklang steht, und doch auch keine Einsamkeit spürt.
 

Dorian spürte die Veränderung, die auf dem Balkon des Gasthauses in der kleinen Stadt Kurrel begonnen hatte, und sah nun in Irias Augen, dass diese Veränderung auch sie ergriff. Die Gewissheit, dass diese Veränderung einen Namen hatte, wurde lebendig. Seine Lippen formten lautlos den Namen dieser Veränderung, dieses Gefühls, und ebenso, auf wundersame Weise, auch die ihren.
 

Iria war verwirrt und entschlossen zugleich.

Verwirrt über ihr eigenes Ich, das in der Welt, die nach den vergangenen wie auch kommenden Ereignissen nie mehr dieselbe sein würde, ebenso nicht dasselbe bleiben konnte. Und entschlossen, nicht mehr davonzulaufen, sondern sich diesen Ereignissen zu stellen, die sie mit Angst erfüllten, die aber nun unaufhaltsam auf sie zukamen. Dazu kam die Gewissheit, diesen Weg, der so viele Unsicherheiten in sich barg, nicht alleine gehen zu müssen, sondern ihn teilen zu können mit Nadim, der von klein auf wie ein leiblicher Bruder für sie gewesen war, und-

Und mit jemanden, dem sie bisher mit Ablehnung begegnet war, der abwechselnd Geringschätzung und dann wieder Misstrauen in ihr hervorgerufen hatte. Der ihr, ohne dass sie es verhindern oder auch nur bewusst beobachten hatte können, nahe gekommen war. Jemanden, dem sie mehr von sich erzählt hatte, als sie je beabsichtigt hatte, jemanden, den sie mit Hingabe gespottet und die kalte Schulter gezeigt hatte.

Jemand, der ein Teil ihres Lebens geworden war; so chaotisch und ohne festen Grund es auch geworden war, er war immer da gewesen. Und er würde auch jetzt für sie da sein. Das sagte ihr nicht die Vernunft, sondern der Druck seiner Hände, nicht eine logische Überlegung, sondern seine Augen, die dunkel und grundlos wie die Nacht waren, und in denen doch so viel Zuversicht und Wärme zu liegen schien.

Ihre Lippen bewegten sich immer noch, und nun, ganz leise, verließen sie hörbare Worte, leiser noch als der Wind, der über die Zelte strich, und sie sagten-
 

„Wir werden angegriiiffeeen!!“

Die schrillen Worte hallten über die Ebene und durch das Rebellenlager. Die beiden Wachen, die in weitem Kreis um das Lager patrouillierten, sahen sich einer Gruppe Bewaffneter gegenüber, die aus dem Schoß der Nacht selbst gekommen zu sein schienen.

Kaum, dass dieser Schrei der einen Kehle entstiegen war, öffnete sich bereits ein Kampfdom. Die zweite Person darin hob ihr langes, bronzefarbenes Schwert, an dessen Mitte zwei weitere Klingen in spitzem Winkel von der eigentlichen Klinge abstanden, und das auf beiden Seiten. Wie ein Kreuz mit drei Balken schimmerte das jedes vernünftige Format übersteigende Schwert in der Kuppel aus blauen Linien.

Mit vor Entschlossenheit verzerrter Miene stürmte der Rebellenkämpfer der Gestalt entgegen, die ihn und sich in den Kampfdom eingeschlossen hatte. Sie trug einen Harnisch, der wie mit mattem Gold überzogen wirkte. Unter kurzem, strohblondem Haar blitzten gefährliche Augen.

Der Angreifer hob sein fünfzackiges Schwert.
 

Mit entsetzlichen Wunden versehen, lagen die beiden Rebellen wie erlegte Tiere im hohen Gras.

Eine Gruppe von Männern in identischen Rüstungen stand im Halbkreis. Mit ausdruckslosen Blicken schätzten sie die Lage ein. Der Mann, dessen Harnisch noch eine Spur prächtiger war, und der im Gegensatz zu den uniformierten Männern um ihn herum keinen Helm trug, lehnte sich auf sein Schwert, das wie ein zweifaches Balkenkreuz aussah. Dabei tastete seine freie Hand nach dem Funkgerät, das an seinem Brustpanzer in Ohrnähe montiert war, woraufhin ein krächzendes Geräusch erklang.

„Wie sieht es aus, Sean? Haben sie es bei sich?“

„Kann ich noch nicht sagen“, krächzte es aus dem kleinen Kasten. „Ihr müsst näher ran. Ich habe zwar schon ein ziemlich starkes Signal, kann es aber noch nicht fixieren.“

„Gut“, antwortete Jan Gildenstern. Dann hob er sein bronzefarbenes Schwert, an dessen doppelt gekreuzter Klinge noch etwas Blut klebte, rückte sich seinen Escutcheon, auf dem vier volle Scheiben in einem düsteren Grün glühten, zurecht, und schritt mit seinen Männern, der Elite der Palastwache, auf das Rebellenlager zu.
 

Das Gras, bleich wie Stroh und doch von Leben erfüllt, wich zurück vor diesem Ort, an dem es kein Leben mehr gab.

Es wuchs nur bis an seine Ränder, gegen die es stetig krummer und niedriger im Bewuchs wurde, bis es sich endgültig ergab gegen den rissigen Stein und den trockenen Sand, der am Rand der Stadt Zanardis den Boden bedeckte wie ein vergilbtes Leichentuch.

Scavos Schritte wirbelten keine vertrockneten Grashalme mehr auf; sie wurden langsam und bedächtig, als zerrten sie von den letzten Resten einer Macht, die ihm wie Sand zwischen den Fingern zerrann. Seine Augen waren weiß und wächsern; keine Pupille war mehr in ihnen zu erkennen, und ebenso kein Lebenswille mehr. Sie sahen nicht die Türme und Arkaden, die Paläste und Tempel von Zanardis, der Stadt der Toten.

Die Sonne ging auf. Ihr hellgelbes Licht floss durch die Gassen aus zerborstenen Pflastersteinen wie Wachs, das auf diesen schließlich erkaltete und sie mit einem leblosen Leuchten erfüllte. Der Stein der mehrstöckigen Häuser, die Säulen der Herrschaftsgebäude, die weiten Höfe der palastartigen Anlagen: Sie alle wurden von dem erwachenden Licht des neuen Morgens berührt. Und doch blieben sie kalt und ohne Leben, als glitte die Kraft der Sonne hilflos ab an einer Schicht, die alles Lebendige längst erstickt hatte.

Scavo ließ den Kopf hängen. Seine von faltiger, bläulicher Haut bedeckten Füße, die längst jedes Schuhwerk verbraucht hatten, schleiften über die prächtigen Steinfliesen. Sein Körper war gebückt und verbraucht; er zitterte und taumelte wie eine Kerzenflamme, die im Begriff war zu verlöschen.

Auf seinem Rücken, in einem löchrigen, fadenscheinigen Beutel, war das Maleficium. Der Geist darin verlieh seinen letzten Schritten genug Energie, um es an sein Ziel zu bringen. Nicht weniger, aber auf keinen Fall mehr. Längst schon hatte Scavos Verstand nicht mehr die Kraft, den Betrug zu durchschauen oder auch nur zu beklagen; es hätte auch keinen Unterschied mehr gemacht.

In den Alleen wuchsen seit damals keine Bäume mehr. Die Stümpfe jener, die früher hier gestanden, ragten wie verkohlte Enden von durch Feuer amputierten Gliedern zwischen den Marmoreinfassungen heraus. Die Fenster der Häuser links und rechts waren leer und dunkel wie die Augenhöhlen von Totenschädeln. Kein Vogel sang, kein Gras wiegte sich im Wind, nicht einmal der Wind selbst schien es zu wagen, über diesen Friedhof hinweg zu streichen. So kam Scavo an das Ziel und Ende seiner Reise.

Ein Tor, das schief in verrosteten Angeln hing, empfing ihn wie ein krummgewachsener Pförtner, und die leise knirschende Bewegung, die doch nicht vom Wind ausgelöst wurde, wirkte wie sein stummes Nicken. Scavo achtete jedoch nicht darauf, als er den Tempel, der vor Jahrhunderten dem heiligen York geweiht worden war, betrat.
 

Zerbrochene Bänke lagen wie die Gefallenen eines Krieges im weitläufigen Atrium verstreut.

Bunte Fenster, nur mehr in Bruchstücken vorhanden, warfen fleckiges Licht in den Tempel. Keine Farbe wohnte darin; es hatte denselben bleichen, kalten Ton wie alles hier. Ganz vorn, wohin Scavos Schritte ihn führten, war das größte und höchste Fenster vor allem, direkt über dem Altar.

Es zeigte eine Gestalt in langen Gewändern, die ihre Hände segnend ausbreitete, und deren Gesicht die Geduld eines mit Mühe ertragenen Lebens zeigte. Ein Stück war herausgebrochen, und so schien es, als fehlten der Gestalt ein Bein und ein Teil ihres Unterleibes, wo das bunte Glas in Scherben lag.

Scavo sank wenige Schritte vor dem Altar auf die Knie, als sei er den weiten Weg gekommen, um zu beten. Er betete aber nicht, er starb. Seine Hand, schlaf wie die einer zerfallenden Mumie, löste den Beutel von seinem Rücken. Er purzelte über die Steinplatten, deren mit Staub überzogene Oberfläche heilige Symbole zeigten. Das Maleficium fiel heraus, und wie von selbst schlug es sich auf.

Wiewohl kein Wind in der Stadt der Toten wehte, so bewegten sich trotzdem die Blätter, knatterten hin und her, bis sie endlich zur Ruhe kamen, an der Stelle, an der eine einzelne, große Illustration prangte. Sie zeigte eine Gestalt, die fast nur aus Tinte bestand und vollkommen schwarz war, gerade so, als hätte der Illustrator ihre wahre Erscheinung gefürchtet. Die Gestalt auf dem Bild schlug ihre Augen auf: Ares erwachte.

Ein Strudel trockener Luft entfaltete sich und versetzte den allgegenwärtigen Staub in einen Wirbel, der langsam höher stieg und sich immer mehr der Kuppel des Tempels näherte. Der Wirbel wurde zu einem Orkan, und dieser Orkan verdichtete sich. Er schien alles Licht an sich zu reißen, während er selbst sich verdunkelte. Die letzten Fetzen, die Scavos Körper in Lumpen hüllten, wurden von diesem Wirbel in Bewegung versetzt. Der Körper blieb jedoch regungslos; schließlich zerfiel er zu demselben Staub, der an diesem Ort alles bedeckte.

Der Orkan, der aus dem Maleficium erwuchs, wurde immer dichter, und Ares, der Gott des Krieges, ballte seine Fäuste, als er die letzten Stäbe seines Kerkers zerbrechen hörte.
 

Dorian und Iria zuckten zusammen. Augenblicklich lösten sie sich voneinander und hörten den Schrei, der die Nacht zerrissen hatte.

Beide hielten den Atem an. Weitere Rufe ertönten, und schließlich hörten sie ein wolfsartiges Heulen, das Jemand mit einem Apparat erzeugte und die Menschen in dem Lager alarmieren sollte. Die Rufe wurden mehr, und bald kamen die Geräusche gezogener Waffen dazu. Dorians verwirrter Blick ging zu Boden, während er angestrengt in die Nacht lauschte; ganz sanft wiegte sich das Gras an der Stelle, auf der sein Augenmerk ruhte, und nun begriff er, dass das Rebellenlager angegriffen wurde.

„Iria!“ Sie, nicht weniger verwirrt als er, blickte ihn ratlos an. „Lauf, versteck dich! Ich glaube, sie haben uns gefunden!“

„Aber wo soll ich hin?“

Dorian zog sein Schwert. Dessen Metall fühlte sich kalt und tot an nach Irias Händen, die er zuvor gehalten hatte.

„Ich weiß nicht, in irgendein Zelt- Such Nadim, und versteckt euch dann! Kommt nicht hervor, bevor es vorbei ist!“

„Ich will aber- “ rief sie, stoppte aber mitten im Satz. Ihr verzweifelter Blick tastete durch die Nacht, in der die Kämpfer der Rebellenarmee erwachten, um dem unbekannten Angreifer entgegenzutreten. „Ich will aber bei dir bleiben“, sagte sie ganz leise, als würde sie sich dessen schämen.

„Bitte, Iria“, sagte er zu ihr, trat nahe an sie heran und legte ihr eine Hand an die Schulter. „Bitte. Versteck dich, bis es vorbei ist.“

Irias Blick wurde für einen Moment fester. Dann nickte sie ihm mit aller Entschlossenheit, die sie aufzubringen imstande war, zu und lief los. Dorian sah, wie sie im Halbdunkel der Beleuchtungen zwischen den Zelten verschwand, dann erinnerte er sich an das Schwert in seiner Hand. Das Sirenengeheul pochte in seinen Schläfen, und er rang den Impuls nieder, gleich Iria wegzulaufen.

Dann blickte er sich nach Brynja und Sarik um, die er vorher in der Nähe gesehen hatte.

Die ersten der Rebellenkämpfer, die am schnellsten in ihre Kleidung und an ihre Waffen gekommen waren, stellten sich den Eindringlingen entgegen.

Gildenstern und seine Elite breiteten ihre Front auf und traten den Rebellen in einzelnen Duellen gegenüber. Ihnen allen war gemein, dass sie sehr schnell vorbei waren. Kampfdome wuchsen aus dem Boden, und die blauen Linien vollführten nur wenige Drehungen, bevor sie sich wieder in Dunkelheit verloren. Zurück blieben Schatten im hohen Gras; die Soldaten unter Gildenstern marschierten unbeirrt weiter.

Nadim stolperte durch das Lager, um alle Augenblicke von vorbeilaufenden Rebellenkämpfern beinahe umgerannt zu werden. Nun war alles auf den Beinen, was ein Schwert halten konnte, so auch Nadim. Im selben Moment bereute er dies; auch der Dolch unter seiner Weste, den er nach wie vor mit sich trug, konnte ihn nicht ermutigen.

Zugleich hatten ihn aber die Neugier sowie die bestürzende Ahnung, dass etwas Schreckliches im Gange war, aus dem Zelt gelockt. Hier draußen, wo alle durcheinanderliefen und schrien, war es erträglicher als im Zelt, wo er blind den Ereignissen entgegensehen hätte müssen.

„Iria? Dorian? Wo seid ihr?“ rief er gegen den allgemeinen Tumult an. Doch das Durcheinander aus aufgeregten Stimmen, Waffengeklirr und dieser furchtbaren Sirene, deren Heulen ihm durch Mark und Bein ging, erstickten seine Rufe vollkommen.

Der Impuls, wegzulaufen und sich zu verstecken, rang mit seiner Neugier und der kuriosen Ahnung, dass er in der Nähe der Gefahr am sichersten war. Und so fand er sich schließlich am Rand des Lagers. Mehrere Kreise der Konfrontation rotierten hier im Dunkel der Nacht und erfüllten es mit ihrem unheimlichen Glühen.

Sie wurden immer mehr, und schließlich vereinten sie sich zu einem Einzigen.
 

Sarik horchte auf wie ein Raubvogel, der auf Beute aufmerksam wird, sogar noch den Bruchteil eines Augenblicks vor Brynja. Die Last ihres Gespräches hing noch schwer an ihren Gliedern.

„Tun Sie mir den Gefallen: Erklären Sie es den anderen nachher genau so, wie ich es gerade getan habe.“

Brynja blickte in sein gesundes Auge, das geheimnisvoll hinter der Brille glänzte. Sie atmete tief durch, bevor sie ihm auf diese Bitte hin zunickte, dann zog sie zugleich mit ihm die Waffe.
 

„Wie sieht es aus, Sean?“ rief Gildenstern lauter als nötig in sein Funkgerät, während vor ihm ein weiterer Rebell tot zu Boden sank. Sein Schwert mit den gekreuzten Klingen war voller Blut, geradeso, als wäre an diesem Gegenstand aus bronzefarbenem Metall wirklich jemand gekreuzigt worden.

„Die Messungen sind noch zu ungenau. Ihr müsst näher ran“, antwortete Sean Hardy aus dem Funkgerät. Gildenstern tastete an seine Hüfte, an der ein weiterer Kasten aus Hardys Fundus montiert war.

„Gut“, antwortete er knapp und folgte seinen Männern, die im Begriff waren, das Lager zu überrollen.
 

Hargfried, von dem beständigen Heulen der Sirene noch tiefer in seinen Wahnsinn getrieben, taumelte durch das Rebellenlager und hielt sich den Kopf. Er achtete nicht auf die Rebellen, die eilig zu ihren Alarmpositionen liefen und ihn dabei anrempelten.

„Das muss aufhören… das muss aufhören…“, stammelte er und tappte orientierungslos durch das Lager. Endlich kam er an einen freien Platz, wo das Geheul der Sirene nicht mehr so durchdringend war. Er hob den Blick und sah die blauen Linien über sich am Nachthimmel glühen.

Einen Moment starrte er beglückt empor, wie ein Kind, das eine Sternschnuppe oder etwas ähnlich Schönes sieht. Dann senkte er den Blick und sah den Kampf vor sich toben. Männer in den sandfarbenen Gewändern der Rebellenbewegung standen in hellen Scharen an mehreren Plätzen zusammen. Im Takt wuchtiger Schwerthiebe fielen sie rücklings zu Boden, von tödlichen Wunden gezeichnet. Es waren nur einige wenige Angreifer, wie Hargfried erkannte.

Mit einem verzerrten Lächeln nahm er sein Schwert vom Rücken, entzückt über diese Abwechslung in seinem von Irrsinn erfüllten Alltag.
 

Fast hundert der Rebellenkämpfer waren mittlerweile auf den Beinen und stellten sich den Angreifern entgegen; doch nach und nach begannen sie, zurückzuweichen.

Es waren ihrer nur etwa ein Dutzend. Doch die Schnelligkeit und die Unerbittlichkeit, mit der sie die Verteidiger erschlugen und zu Boden warfen, ließ den Mut der Rebellenkämpfer gefrieren. Die Escutcheons der Angreifer leuchteten voll und bedrohlich; niemand der Rebellen hatte annähernd so viel Kampferfahrung oder solches Können. In einer halb zurückweichenden, halb fliehenden Phalanx wichen sie vor den Angreifern, denen sie selbst mit ihrem geballten Auftreten kaum etwas entgegensetzen konnten.

Bis eine einzelne Gestalt die Reihen der verzagt zurückweichenden Kämpfer durchschritt.
 

„Was ist denn hier los?“ fragte Hargfried belustigt. Doch keiner der Rebellen, die eben ihre Kameraden mit erschreckender Geschwindigkeit hatten sterben sehen, antwortete ihm. Stattdessen warfen sie ihm nur fragende und auch ängstliche Blicke zu. Hargfried schaute sich verwundert um, bevor er sich den Angreifern zuwandte, die in auseinandergezogener Front auf sie zukamen.

Es waren nach seiner Schätzung vielleicht ein Dutzend Männer, die im Abstand von je einigen Schritten langsam, aber unaufhaltsam näher kamen. Hargfried warf sein riesenhaftes Schwert in die Luft, fing es lachend auf, um dann mit einem langgezogenen Schrei einem der Angreifer entgegenzulaufen.

Hargfried schwang seine Waffe mit Leichtigkeit und Elan, geradeso, als hätte es ihn nach dieser Gelegenheit schon lange gedürstet. Sein Widersacher, ein Mann in einer kaiserlichen Rüstung, parierte die Hiebe jedoch ohne das Gesicht zu verziehen. Hargfried hielt daraufhin Inne und blickte sein Schwert fragend an, als bestände die Möglichkeit, es könnte defekt sein. Gerade, als er aufblickte, setzte sein Gegner zum Konterangriff an.

Der unbekannte Angreifer attackierte schnell und zugleich kraftvoll. Obwohl sein Schwert sich nicht mit der Masse und dem Gewicht von Hargfrieds Waffe messen konnte, so hatte dieser doch alle Mühe, die präzisen und zugleich machtvollen Hiebe abzuwehren. Langsam breitete sich die Gewissheit in ihm aus, dass er auf diese Weise zu keinem Zug mehr kommen und schließlich unterliegen würde.

So ballte er all seine Kräfte und legte sie in einen Gegenstoß.
 

Die Rebellenkämpfer sahen dies mit an, woraufhin neue Zuversicht in ihnen erwachte.

Wenn ein Einzelner es wagte, sich diesen übermächtigen Angreifern entgegenzustellen, so versetzte es ihrer immer noch lebendigen Ehre einen Stich, selber zurückzuweichen. Und so stürzten sie sich mit dem Mut der Verzweiflung erneut in den Kampf, ohne zu ahnen, dass der lachende Frohgemut eines Schwachsinnigen der Schlacht diese Wendung verliehen hatte.
 

Brynja und Sarik liefen Seite an Seite in Richtung des Kampfgetümmels.

Sie sahen die breit zerstreute Front, die sich an wenigen Stellen konzentrierte. An diesen Stellen war es, als würde eine im Kreis schwingende Sense die darum herum versammelten Rebellenkrieger einen nach dem anderen fällen. Schließlich erblickten sie eine Stelle, an der sich besonders viele Gefallene häuften, und von der die verbliebenen Rebellenkämpfer, entsetzt über die Stärke ihres Widersachers, zurückwichen.

Ein Mann in goldschimmerndem Harnisch, mit strohblonden Haaren und drohenden Augen, in den Händen ein gegen jede Vernunft großes Schwert, das sich an der Mitte der Klinge aufkreuzte, stand dort.

Sarik und Brynja wechselten einen entschlossenen Blick, bevor sie ihn herausforderten.
 

Brynja und Sarik näherten sich ihm von zwei Seiten. Sarik hielt seine schlanke, geschwungene Klinge mit beiden Händen zu Boden. Brynja hob ihren Armstachel und tastete schon nach einem Wurfmesser- als Sarik kurz seine Waffe senkte und erstaunt sprach.

„Jan Gildenstern, Berater des Kaisers?“

Der Mann musterte ihn einen Augenblick lang skeptisch, um dann von Herzen aufzulachen.

„Sie kennen mich also? Nun, das wird nichts ändern. Geben Sie das Maleficium heraus, oder sie alle werden sterben!“ rief er im Befehlston und streckte Sarik sein wie ein blutiges Kreuz geformtes Schwert entgegen. Sarik hob sein Schwert abwehrbereit, doch Gildenstern sprach lächelnd weiter.

„Nein, noch besser: Zuerst sterben Sie, und dann holen wir uns das Maleficium zurück!“
 

Nun zögerte Sarik nicht mehr.

Seine Füße trugen ihn mit behänder Eleganz Gildenstern entgegen; es schien, als würden sie dafür nicht einmal mehr den Boden berühren. Sein Schwert schnitt pfeifend durch die Luft, und im selben Augenzwinkern warf Brynja, im Rücken ihres Gegners, eines ihrer Wurfmesser.

Gildenstern wandte sich dem in Zeitlupe auf ihn zu rotierenden Wurfmesser um. Sein Gesicht war starr und kalt, als er es mit einer Bewegung seiner Waffe beiseite schlug. Dann wirbelte er im selben Atemzug herum und parierte Sariks Hieb. Funken sprühten durch die Nacht, und Sarik taumelte rückwärts. Einen kurzen Moment lang verzog er das Gesicht über den Schmerz in seinem Handgelenk, dann schüttelte er es und hielt sein Schwert so fest wie zuvor.

Jetzt stürmte Brynja vor. Ihr gellender Angriffsschrei hallte durch die Nacht, und ihr Armstachel blitzte auf. Doch ihr Angriffsmoment wurde schnell erstickt in den behänden Hieben Gildensterns, der sein Schwert mit unnatürlich scheinender Geschwindigkeit und Vehemenz führte. Wie ein Kreuz, das die Erlösung durch den Tod versprach, führte er seine Waffe gegen sie.

Immer wieder sah sie, während sie mit von Panik angefachter Eile zurückwich, wie sein entschlossenes Lächeln zwischen den Klingen seiner Waffe aufleuchtete.
 

Sarik setzte nach. Er sah, wie Gildenstern Brynja in die Enge trieb und zweifelte keinen Moment daran, dass er sie mit wenigen Hieben töten konnte. Die vier Scheiben an Gildensterns Escutcheon glühten drohend und erzeugten grüne Wischer auf seiner Netzhaut, während sie durch das Halbdunkel des Schlachtfeldes schwirrten.

Als hätte er Augen im Hinterkopf, so versetzte Gildenstern Hiebe nach hinten, die Sariks Klinge, die wie eine Giftschlange zustieß, mit weiten, schnellen Halbkreisen abwehrte. Und trotzdem gelang es Brynja nicht, diese Ablenkungen auszunützen, um einen entscheidenden Stoß gegen eine ungeschützte Region von Gildensterns Leib anzubringen. So sahen sie sich einem scheinbar vielarmigen Ungetüm gegenüber, das sein kreuzförmiges Schwert mit der Raserei eines wildgewordenen Predigers schwang, der die Erlösung seiner Schäfchen in ihrer Vernichtung sah.
 

Hargfried focht so tapfer und entschlossen wie vielleicht noch nie in seinem Leben.

Zeitweise glaubte er, im Helm seines Gegners das Antlitz des Mörders seines Vaters zu sehen, was seinen Angriffen noch mehr Macht verlieh. Und doch war die Deckung zu dicht, als dass einer seiner Hiebe sein Ziel hätte finden können. Wieder hatte er alle Mühe, seine Haut zu verteidigen, und die Aussicht, diesen Kampf für sich zu entscheiden, schwand immer mehr.

Mehrmals lösten sich einzelne Rebellenkrieger aus den Rotten, die sie bildeten, um Hargfried in seinem verzweifelten Kampf zu unterstützen, der sinnbildlich geworden war für das allgemeine Ringen. Doch diese mutigen Seelen fielen schnell unter den unmenschlich schnellen und präzisen Hieben.

Jedes ihrer Leben erkaufte Hargfried nur einen kurzen Moment zum Atmen.
 

Nadim duckte sich zu Boden und hielt die Hände über den Kopf.

Um ihn herum gerann alles zu einem Kaleidoskop des Terrors, einem Chaos aus Schreien, aus Waffengeklirr und den Geräuschen Sterbender, die in der Schlacht unterlagen. Nadim wollte nur fliehen, wollte nur noch weg von diesem schrecklichen Ort, doch dafür hätte er einen Blick wagen müssen in diese Welt aus Blut und Sterben, die er sosehr fürchtete.

Schließlich wagte er es doch. Er sah hin und her wogende Massen, die immer wieder gegen etwas anzurennen schienen, sah Kämpfer fallen und andere ihre freigewordenen Plätze einnehmen. Und er sah Hargfried.

Wenige Schritte entfernt rang dieser mit einem der Angreifer. Bei jedem Schritt, den er vor diesem zurückwich, drohte er über die Körper der bereits Besiegten zu stolpern. Jene Körper, zwischen denen er ebenso bald liegen würde: das verstand selbst Nadim, der vom Kämpfen keinen Schimmer hatte.

Die Angst wurde so übermächtig in ihm, dass sie sich schließlich selbst auslöschte, wie ein Feuer, das alle greifbare Nahrung verzehrt hat. Nadim erhob sich, und für diese Tat verlor er den Verstand. Das war auch nötig, denn sonst hätte er in tausend Jahren nicht den Mut aufgebracht, um das zu tun, was folgte.

Nadim holte den Dolch aus seiner Weste hervor, näherte sich mit zitternden Händen dem Angreifer, der Hargfried vor sich her trieb wie ein Schlachtvieh, dessen Opferung schon festgesetzt war. Er hob den Dolch, der so winzig und bedeutungslos schien im Vergleich zu dem Schrecken um ihn herum, und er stolperte.

Er stolperte über einen der vielen Gefallenen. Im Fallen streckte er ächzend den Arm aus. Das Wunder geschah: Der Dolch bohrte sich exakt in die Kniekehle des Soldaten, in die vielleicht einzige ungeschützte Stelle seines über und über gepanzerten Leib.

Ein unmenschlicher Schrei entrang sich der Kehle des Soldaten. Mit der Hand tastete er nach der Stelle an seiner Kniekehle, aus der nun Blut sprudelte. Hargfried, nur noch gelenkt von der Kraft, die ihm sein Irrsinn verlieh, kam taumelnd auf die Beine. Er nahm sein Schwert in beide Hände und schlug es seinem irritierten Gegner so tief in den Spalt zwischen Helm und Brustharnisch, dass es erst an seinem Beckenknochen zu Halt kam.

Der Harnisch des Mannes knirschte gequält dabei auf; er verstarb im selben Augenblick.

Sean Hardy bediente seine Apparate mit Feuereifer; hier war er in seinem Element.

Das Gemetzel, in das sein Freund Jan Gildenstern mit den stärksten Soldaten der Palastwache gezogen war, spielte sich in geringer Entfernung ihres Flugschiffes ab, welches der Pilot in Bereitschaft hielt. Doch in seinem Geist war das weit entfernt.

Viele Jahre war es her, dass er eine Waffe angefasst hatte mit einer anderen Absicht, als sie fertig zu stellen oder in Stand zu setzen. Das Kämpfen und Zerstören waren nicht seine Sache. Viel mehr bedeutete ihm das Herstellen und Zusammenfügen von edlen Werkstücken. Dass sie anschließend Werkzeuge des Krieges wurden war eine bedauerliche Nebensache, die zu akzeptieren er schon vor Langem gelernt hatte.

Hardy überprüfte die Messdaten des Apparats, den Gildenstern mit sich führte. Er machte sich keine Sorgen um ihn oder seine Männer, denn er wusste, dass die Revolutionären über keine starken Krieger verfügten.

Aus den Berichten, die es gab, hatte er ersehen, dass ihre Taktik schnelle, plötzliche Angriffe waren, gefolgt von einem ebenso schnellen Rückzug. Gegen eine formierte Streitmacht, und mochte sie auch nur so klein sein wie Gildenstern mit seinen Elitewachen, hatten sie kaum eine Chance, und beinahe taten sie ihm leid.

„Wie sieht es aus, Sean?“ hörte er den Apparat krächzen. Die Messdaten waren so unklar wie schon zuvor, und so schüttelte Sean Hardy den Kopf, bevor er antwortete.

„Die Messungen sind noch zu ungenau. Ihr müsst näher ran“, sprach er in das Funkgerät hinein. Zugleich wunderte er sich wieder über die Daten, die er an den verschiedenartigen Skalen ablas und in seinem Kopf zusammenfügte. Die Spur, die die Escutcheons und auch das Maleficium hinterlassen hatten, wurde immer stärker, je näher sie sich der Quelle näherten. Und genau das war das Problem.

Hier überlagerten sie sich gegenseitig, was alle Messungen stark beeinträchtige. Die Luft glühte förmlich von der Energie aus dem Maleficium, wie seine Apparate bewiesen, und doch kam er sich vor wie ein Fischer, der im Trüben angelt. Versuchsweise erhöhte er die Empfangsleistung, indem er an Rädern und Knöpfen drehte, und richtete die Antenne auf bestimmte Gebiete aus. Er tat dies mehr um sich die Zeit des Wartens zu verkürzen, wenngleich ihm bewusst war, dass es purer Zufall sein musste-

„He!“ rief Hardy überrascht aus. Der Pilot blickte ihn fragend an, doch Hardy konzentrierte sich nun völlig auf die Skalen des Apparats. Behutsam justierte er die Antenne auf jene Richtung, in der der Ausschlag von eben gekommen war, und er befürchtete, die Richtung vielleicht nicht mehr zu finden-

Doch es geschah wieder.
 

„Jan? Hörst du mich?“ rief er ins Funkgerät. Dann wandte er sich an den Piloten. „Wir sammeln sie auf, jetzt gleich!“
 

Sarik stützte sich schwer atmend auf sein Schwert. Dies musste der zweitschwerste Kampf in seinem Leben sein, dachte er.

Brynja hatte ihre letzten Wurfklingen verbraucht, aber auch das hatte Gildenstern nicht beeindrucken können. Von ihrem Kampf geschwächt, der mehr eine ständige Flucht vor seiner Waffe als ein echter Schlagabtausch war, ging sie in einiger Entfernung in die Knie, um nach Luft zu ringen.
 

Dicke Schweißtropfen standen auf Gildensterns Stirn.

Seine Augen leuchteten wie im Fieber, und das grimmige Lächeln der Kampfeswut war zu einer Grimasse auf seinem Gesicht erstarrt. Auch er stützte sich nun auf seine Waffe, doch noch stand er aufrecht. Er begann, diesen Kampf zu genießen, der doch schwieriger war als erwartet. Doch schon konnte er spüren, wie die Kräfte seiner Widersacher erlahmten, und das Ziel, diesen Leuten das Maleficium zu entreißen, schien zum Greifen nah-

„Jan? Hörst du mich?“ erklang es plötzlich aus seinem Funkgerät. In seiner Raserei hätte er es fast nicht registriert, und es dauerte einen Moment, bis er seinen Verstand wieder soweit im Griff hatte, antworten zu können.

„Was gibt es, Sean“, antwortete er zwischen zwei schweren Atemzügen.

„Das Maleficium, es ist nicht hier!“

„WAS!?“ bellte er ins Funkgerät. Der Rausch, in den ihn dieser Kampf versetzt hatte, wurde schlagartig mit einem Aroma des Zorns versehen.

„Ich habe eine Peilung, etliche Meilen von hier. Sie kommt aus der Stadt Zanardis. Ich konnte sie vorher nicht extrahieren, weil- “

„Schon gut“, antwortete er mit ruhigerer, aber immer noch nach Luft ringender Stimme. „Wir ziehen uns zurück. Hole uns- “

„Wir sind gleich da!“

Schon hörte Gildenstern das Brausen des Flugapparats nähern.
 

Dorian hatte Seite an Seite mit den Rebellenkriegern gekämpft, und die Leichtigkeit, mit welcher die Angreifer sie niederstreckten, erschütterte ihn.

In dem Gedränge hatte er nicht oft Gelegenheit gehabt, direkt gegen einen der Soldaten aus des Kaisers Armee anzutreten, doch die wenigen Male hatten ihn die Hiebe schnell in die Defensive getrieben, ohne dass er eine Chance zum Gegenangriff bekommen hätte.

Doch mit einem Mal breitete sich eine Ruhe über das Schlachtfeld aus, die geradezu gespenstisch war.
 

Helle Erleichterung kam über die Rebellenkämpfer, als sie feststellten, dass die Angreifer sich langsam zurückzogen. Man vermied es, nachzusetzen, und sogar einige Rufe von „Sieg!“ wurden hörbar.

Dorian lief die Linie ab, um Brynja oder Sarik zu finden, die er bis jetzt in dem Getümmel noch nicht erblickt hatte. Endlich fand er sie.

„Wer sind diese Leute?“ rief er ihnen entgegen, dann fiel sein Blick auf Gildenstern. Dieser schien in den Kragen seines Harnischs zu sprechen. Seine Erscheinung fiel Dorian sofort auf. Sarik und Brynja standen Schulter an Schulter, wenngleich Dorian an ihren gelösten Haltungen erkannte, dass der Kampf fürs Erste vorbei war.

„Wer sind Sie, verflucht!“ schrie er dem Mann entgegen. Dieser bedachte ihn mit einem fast schon mitleidigen Blick.

„Ich bin Jan Gildenstern“, antwortete er mit einer Stimme, kalt wie ein Fluss im Januar. Das Brausen hinter ihm wurde stärker, und die Rebellen, eben noch euphorisch über den vermeintlichen Sieg, wichen verängstigt zurück. „Und ihr seid das Gesindel, das es gewagt hat, in den Kaiserpalast einzudringen.“
 

Dorian erstarrte.

Eine Kälte legte sich um seine Knochen, die nicht nur daher kam, dass er sich ertappt und schuldig fühlte angesichts dieses Mannes: Er dachte nun auch an seine Freunde, an Ludowig, Nikodemus und Gaubert.

„Sie- Sie wissen- “, stammelte er hilflos und schüttelte den Kopf.

„Allerdings. Wir haben eure Spur verfolgt“, rief Gildenstern über den Lärm des Flugschiffs, das sich aus der Dunkelheit hinter ihnen schälte. Seine Männer standen nun dicht beieinander und bereiteten sich darauf vor, an Bord zu gehen. „Eure Bande am Bucket-Weg habe ich schon auslöschen lassen. Und wenn wir das Maleficium zurück in Sicherheit gebracht haben, dann seid ihr dran!“ brüllte er gegen den Lärm der Rotoren an. Noch im gleichen Herzschlag sprang er gleich den anderen in die Luke des Apparats, der sich im selben Moment unter Getöse wieder erhob und im Nachthimmel verschwand.

Dorian fühlte, wie eine eiskalte Klinge sein Herz durchbohrte, und brach zusammen.
 

Die Sonne stand noch unterhalb des Horizonts; doch ihr dunkelroter Schein färbte bereits die erwachende Morgendämmerung ein. Und so erwachte auch die Farbe des Bluts auf den vielen Körpern, das bisher farblos wie die Nacht gewesen war.

Eine rege Geschäftigkeit herrschte jetzt. Ganze Kolonnen trugen die Gefallenen vom Schlachtfeld und reihten sie auf. Man hörte Kinder schreien, und einige Frauen brachen weinend zusammen. Ernste und angewiderte Gesichter verbargen ihre Tränen und taten das Notwendige. Largo Cotter hatte bereits eine Abteilung abkommandiert, um eine lange Reihe Gräber zu schaufeln.

Irias Blick ging unscharf in die Ferne. Nur verschwommen sah sie die vielen Menschen, die Tragen beförderten oder lautstark Anweisungen erteilten. Eilige Schritte entfernten sich vom Lager oder näherten sich. Überall war die Hektik zu spüren, wie die eines unregelmäßig schlagenden Herzens, und dazu eine Furcht, als könnte dieses Herz jeden Moment stehen bleiben.

Neben ihr saß Dorian und merkte nichts von alledem. In dem Durcheinander aus Verletzten und noch wesentlich mehr Toten hatte ihm niemand Aufmerksamkeit geschenkt, außer Iria und Nadim, die ihn aus seiner Schockstarre befreit und an einen Ort gebracht hatten, wo sie Niemandem im Weg standen.

Iria blinzelte und merkte nun erst, dass es sie fröstelte. Die Luft des bevorstehenden Morgens war kalt, und der Geruch des Todes, der in der Luft hing, machte diese Kälte noch eindringlicher. Ihr Blick traf Dorian, der auf einer kleinen Kiste saß und wie ein Fremdkörper in dieser von Rastlosigkeit bestimmten Welt wirkte.

Er saß vornüber gebeugt da, als würde er Übelkeit verspüren. Seine Unterarme lehnten auf den Knien, und seine Schultern hoben sich in dem stockenden Rhythmus seiner Atemzüge. Nadim stand etwas abseits, mit halbgeschlossenen Augen. Seine Lippen bewegten sich kaum merklich, als würde er ein lautloses Selbstgespräch führen.

Nur hin und wieder öffnete er die Augen, um sich zu vergewissern, dass er sich immer noch am selben Ort befand.
 

„Wo bleiben die Rottenführer? Ich will Lageberichte, und zwar unverzüglich! Macht die Transporter klar, vor allem den Kanonenwagen! Die Mannschaft darauf bleibt rund um die Uhr im Dienst, verstanden?“

Inmitten seines engsten Kreises aus Hilfsoffizieren und Stellvertretern, die beständig an ihn herantraten, um dann Momente später mit empfangener Order wieder weiterzueilen, stand Largo Cotter und versuchte, dem Chaos Herr zu werden.

Seine aufgebrachte Miene und der herrische Befehlston bildeten den Damm, gegen den die Flut seiner Empfindungen brandete, die aufkamen, wenn er den Befehl geben musste, die sterblichen Reste seiner Männer und Untergebenen- seiner Freunde- eilig zu verscharren. Eine Spannung lag auf seinem Gesicht, die deutlich zeigte, wie viel Kraft ihm dies kostete, und wie viel davon abhing, dass es ihm gelang.

Sarik, Brynja und auch Hargfried hatten die Rebellen bei der Sicherung des Lagers und dann bei der Obsorge für die wenigen Verletzten und ungleich mehr Toten unterstützt. Nun, wo das Dringlichste erledigt war und eine kleine Gruppe den schweren Dienst antrat, ihre Kameraden und Freunde auf ihrem letzten Weg zu begleiten, standen sie bei Cotter und warteten wortlos.

Als endlich die nähere Umgebung von seinen Leuten abgesucht und erwartungsgemäß keine Spur von Gildenstern und seinen Männern gefunden wurde, wandte sich Cotter an die drei. Bevor Sarik noch etwas sagen konnte, deutete Cotter ihnen mit einer harschen Geste, ihm zu folgen.
 

Sarik und Brynja folgten ihm, während Hargfried zurückblieb. Forschen Schrittes betrat Cotter sein Zelt, und die beiden taten es ihm gleich. Sie standen mitten im Zelt, während Largo Cotter sich eilig eine Zigarette anzündete. Er vollführte einen tiefen Lungenzug, der ihn hörbar entspannte. Die Hand, mit der er die Zigarette hielt, zitterte leicht, wie sie sahen.

„In Anbetracht der Geschehnisse möchte ich Ihnen unser Bedauern ausdrücken. Das macht keinen ihrer Männer wieder lebendig, und zweifellos ist unsere Anwesenheit der Grund für diesen Angriff gewesen“, begann Sarik mit seiner sanften, ruhigen Stimme, die für Brynja wie ein friedlich tönender Glockenschlag bei einem Begräbnis klang. Cotter reagierte aber nicht, sondern stand immer noch mit dem Rücken zu ihnen. Abermals tat er einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Sarik warf Brynja einen vielsagenden Blick zu, und sie schüttelte den Kopf. „Wir haben auf jeden Fall Verständnis, dass unter diesen Umständen unser Anliegen keine Priorität mehr- “

„Heute haben wir 58 Männer verloren“, sagte Cotter leise, woraufhin Sarik verstummte. Cotters Stimme war weder zornig noch hasserfüllt, sondern klang einfach nur müde. „Seit es unsere Organisation gibt, versuchen die kaiserlichen Truppen, uns auszulöschen. Heute wäre es ihnen fast gelungen.“

Brynja und Sarik schwiegen, nicht nur aus Pietät, sondern auch, weil es nichts zu erwidern gab außer dem Eingeständnis ihres Verschuldens. Largo Cotter drehte sich zu ihnen um: Sein Gesicht war eine Maske der Hilflosigkeit, die er draußen, unter seinen Leuten, nicht aufzusetzen gewagt hatte. Doch diese Hilflosigkeit wurde schnell von heißem Zorn überschattet, so wie das strohfarbene Gras dieser Ebene von dem Blut seiner Männer verdunkelt worden war.

„Es mag sein, dass sie uns gefunden haben, weil sie das Maleficium stehlen wollten. Dass wir gerade noch davongekommen sind, liegt aber wohl daran, dass keiner von ihnen es bei sich hatte.“

Nun ging er auf sie zu und blieb knapp vor ihnen stehen. Sein Gesicht, auf dem rote Flecken sichtbar wurden, zitterte wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

„Soll ich ihnen sagen, was für mich Priorität hat?“ sagte er mit leiser, zischender Stimme. Die Worte kämpften sich praktisch zwischen seinen Zähnen hindurch. „Ich habe den Kaiser und seinen Lakaien Gildenstern bisher nur als Egomanen gesehen, die das Land zu Grunde richten, aber jetzt- “ Er holte tief Luft, bevor er weitersprach.

„Aber jetzt hat dieses Maleficium die höchste Priorität für mich, verstehen sie? Dieser Gildenstern sucht es, und sie wissen, wie man es findet. Ich gehe mit ihnen mit, und dann- “

Abermals versagte ihm die Stimme, und er rang nach Luft. Brynja und auch Sarik überkam tiefes Bedauern für diesen Mann, der an seiner Ohnmacht fast zu Grunde ging.

„Sie werden mich zu ihm führen, verstanden? Vorher…“ Die Zornesröte wich aus seinem Gesicht, und die Müdigkeit kehrte mit bleierner Schwere in seine Züge zurück. „…vorher war es ein Krieg. Nun ist es etwas Persönliches, verstehen sie das? Wir brechen sobald wie möglich auf.“

Nun senkte er den Blick, als zerrte ihn ein Gewicht herab, dem er nicht länger hatte widerstehen können. Sarik und Brynja verstanden seinen unausgesprochenen Wunsch, allein zu sein, und verließen das Zelt.

Nadims Blick wechselte von Dorian, der wie paralysiert dasaß, zu den Leuten im Lager, die alle ihre Aufgaben mit einem Eifer bewältigten, der ihnen keine Gelegenheit zur Trauer, und damit zur Schwäche, bot. Er kam sich seltsam nutzlos vor. In seiner Hand hielt er immer noch den Dolch, an dem fremdes Blut klebte. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und er wäre vor Schreck fast gestorben.

„Ach… Sie sind’s“, seufzte er. Hargfried stand nun vor ihm und blickte ihn mit einer Mischung aus Fröhlichkeit und Zweifel an. Nadim versuchte gar nicht erst, diese seltsame Miene zu deuten.

„Ich wollte dir danken, Knappe“, sagte Hargfried und zog dabei die Nase kraus, als würde ein lästiges Insekt darauf sitzen.

„Keine Ursache“, erwiderte Nadim, der es gar nicht wagte, nachzusinnen, was er für Hargfried getan hatte. Die düstere Ahnung, dass es etwas mit dem blutigen Dolch in seiner Hand zu tun hatte, verdrängte er schnell wieder.

„Du wirst einmal ein tauglicher Ritter“, versicherte Hargfried ihm. Dabei nickte er eifrig und machte große Augen, was Nadim ein unbehagliches Gefühl bereitete. Danach ging er an ihm vorbei, scheinbar ziellos. Nadim blickte ihm hinterher und hörte ihn leise sagen: „Oh ja, ein tauglicher Ritter…“
 

Die Sonne warf ihre Strahlen über die grasbewachsene Ebene. Der Nebel des Vortages hatte sich gelichtet, und die Reihe Gräber streckte ihre Schatten über das Lager aus. Iria blinzelte in die aufgehende Sonne und gähnte dabei. So müde sie war, an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Sie blickte wieder Dorian an, der nach wie vor regungslos auf einer Kiste saß und den Boden zwischen seinen Füßen anstarrte. Er hatte noch kein Wort gesagt, seit er aus seiner Starre erwacht war. Doch nachdem, was Iria von Brynja gehört hatte, schien es ihr nur allzu klar, dass es für das, was Dorian empfand, keine angemessenen Worte gab.

Mehrmals hatte sie sich vor ihn hingekniet, um einen Blick auf sein zu Boden gewandtes Gesicht zu erhaschen. Doch es zeigte keinen Ausdruck, zumindest keinen, den sie deuten konnte. Sein Mund stand halboffen, als hätte er Mühe, Luft zu bekommen. Seine Augen hingegen waren fast geschlossen, wie vorher, nach seinem Zusammenbruch. Nur die leisen Bewegungen seines Kopfes und der Umstand, dass er sich aus eigener Kraft aufrecht hielt, zeigten an, dass er wach war. Auf ihre Worte hatte er nicht reagiert.

Irgendwann stand er plötzlich auf. Iria erschrak über diese unerwartete Bewegung. Sein Blick war leer und verunsichert, wie von jemandem, der aus einem tiefen Traum erwacht. Dann setzte er sich wortlos in Bewegung, und Iria folgte ihm.
 

Dorian lief quer durch das Lager und blickte sich fragend um. Auf Iria wirkte es, als sähe er sich nach einem bekannten Gesicht in einer Menge Fremder um, doch er sagte weiterhin kein Wort. Seine Schritte wurden mit einem Male schneller, und Iria ahnte, dass er entdeckt hatte, wonach er vorhin Ausschau gehalten hatte.

Largo Cotter stand mit mehreren Mitgliedern seines Stabes beisammen und besprach die Vorbereitungen für ihren Aufbruch. Dorian ging schnurstracks auf ihn zu, woraufhin die Männer um Cotter unwillkürlich zurückwichen. Noch immer hatte er kein Wort gesagt, und nur sein Auftreten hatte dies bewirkt, wie Iria erstaunt feststellte. Jetzt sprach Dorian die ersten Worte seit seiner Schockstarre.

„Sie haben doch gesagt, Sie hätten Funkverbindung in die Hauptstadt. Ich möchte etwas wissen“, sagte er leise, beinahe zurückhaltend. Ansonsten klang seine Stimme klar, fiel Iria auf, als hätte die Auftürmung seiner geballten Befürchtungen jegliches Zögern unter sich begraben.

Cotter entsprach seinem Wunsch, und gemeinsam gingen sie zu einem Zelt, aus dem eine große Antenne in den Morgenhimmel ragte.
 

„Sagt, Leute, ist irgendwas Auffälliges passiert in den letzten Tagen im Stadtbereich?“ fragte Largo Cotter, einen Kopfhörer auf dem Kopf und ein Funkgerät vor dem Mund. Dorian stand vor ihm, im Zelt mit dem Funkapparat, und Iria gleich neben ihm. „Und zwar speziell in der Gegend um den Bucket-Weg“, fügte Cotter mit vorsichtiger Stimme hinzu. Dorian ergriff Irias Hand, und sie drückte sie unwillkürlich.

Dorians Augen waren auf Cotter geheftet, der die Antwort seiner Verbindungsleute in der Hauptstadt anhörte. Dabei nickte er in kurzen Abständen, und begegnete Dorians Blick die ganze Zeit dabei.

„Ich verstehe… Das wär’s. Ende“, sprach er in das Gerät und legte die Kopfhörer auf den Tisch mit dem Funkapparat. Er tat dies langsam und bedächtig, ohne etwas zu sagen. Cotter schwieg weiterhin, und jetzt, nachdem Dorian die ganze Zeit unbeteiligt, wie betäubt, gewirkt hatte, brach er in ein ersticktes Schluchzen aus.

Iria umarmte ihn und spürte seine bebende Brust wie auch die Tränen, die ihre Schulter trafen.
 

Largo Cotter persönlich saß am Steuer des Transportfahrzeugs, und auf dem Nebensitz Sarik. Mit seinem Escutcheon versicherten sie sich der Richtung, in die sie fuhren. Auf der Ladefläche dahinter saß der Rest seiner Wegbegleiter.

Keiner seiner Weggefährten hatte ihn gefragt, ob er wirklich mitkommen wollte. Ebenso hatten sie ihn auch nicht ermutigt dazu, doch Dorian Alberink saß nun unter ihnen.
 

Seine Augen waren immer noch gerötet, doch die Morgenluft, die kalt über die offene Ladefläche strich, kühlte sie schnell, und er sah wieder klar.

Sein Blick glitt über die Menschen, mit denen er diese Reise begonnen hatte, und mit denen sie nun enden würde. Er sah aber nicht ihre Gesichter und Mienen. Sein Blick ging durch sie hindurch, und eine lange Reihe schmerzvoll vertrauter Erinnerungen zog daran vorbei.

Der muffige Geruch vermoderter Balken, der ihr Haus am Bucket-Weg mit dem Gefühl von Heimat, einem Ort namens Zuhause, erfüllt hatte. Die spottenden, lachenden und meist fröhlichen Stimmen seiner Freunde, mit denen er aufgewachsen war. Das Pflaster der Straßen und Gassen jener Stadt, in der er geboren war und sein Leben hatte verbringen wollen. Der Uhrturm, in dem sie so oft gewesen waren, und das Meer, das er von dort oben überblickt hatte. Sein Glanz, geworfen von der tiefstehenden Sonne. Die Schiffe, die von hier abfuhren oder einliefen in den Hafen, der ihr Zuhause war. Der Ort, an den er hatte zurückkehren wollen.

Nichts davon existierte mehr. Oder war auf ewig verändert, wie das Gesicht eines verstorbenen Menschen, dem man bei aller Liebe, die man für ihn empfand, kein Leben mehr wünschen kann, weil sein Wesen, sein Dasein, an das man tausend Erinnerungen geknüpft hat, unwiederbringlich verloren und durch eine Maske aus Verfall ersetzt worden ist.

Dorian hielt sich an seinem Schwert fest, das auf seinem Schoß lag, wie ein Ertrinkender, der ringsum nur Wasser bis zum Horizont sieht. Für einen Moment wollte er von der Ladefläche des fahrenden Fahrzeugs springen und weglaufen, bis ans Ende der Welt. Dann wieder sehnte er das Ziel ihrer Fahrt herbei, wo sie jene Leute finden würden, an denen sein Leben zerbrochen war. Er sehnte diese Begegnung herbei, selbst wenn sie ihn nur dorthin bringen würde, wohin seine Freunde und sein Zuhause verschwunden waren.

Im nächsten Moment fühlte Dorian sich wieder so unendlich klein, schwächer wie ein schutzloses Kind und feiger, als Nadim jemals gewesen war. Dann sehnte er nur noch ein Ende herbei, das ihm eine Dunkelheit schenken würde, in der die scharfkantigen Bruchstücke seines Lebens von tröstender Finsternis eingehüllt wären. Eine Dunkelheit, ihn der er alles würde vergessen können; seine Heimat, die nicht mehr existierte, die Menschen, die er verloren hatte, und letztendlich sich selbst, der dies alles ausgelöst hatte, wie ein kleiner Stein eine vernichtende Lawine herbeiführt.

Schwäche ergriff ihn und schlug über seinem Kopf zusammen. Nur noch sein Schwert, an das er sich verzweifelt klammerte, gab ihm Halt, und eine Kälte kroch in seine Knochen, die jeglichen Lebenswillen in ihm zu Eis gefrieren ließ. Jetzt wusste er, was die Menschen empfinden mochten, die die Bühne des Lebens verlassen hatten. Die Angehörigen der Rebellenarmee, die vielen Opfer des entbrennenden Krieges zwischen den beiden Reichen, und seine Freunde. In diesem Moment spürte er einen kalten, aber auch tröstlichen Hauch im Nacken, der die traurige Hoffnung weckte, bald wieder vereint zu sein mit all diesen Menschen.

„Wir sind gleich da!“ hörte er Largo Cotter rufen. Die lauten Worte, die den Lärm der Maschine übertönten, rissen ihn aus seiner Lähmung. Um sie herum lag immer noch die strohfarbene Ebene mit dem hohen Gras und den niedrigen Bäumen. Mit einem Mal nahm er alle Geräusche um sich herum wahr; das unablässige Dröhnen der Maschine, die das Fahrzeug antrieb, die Gespräche seiner Mitreisenden und das Rumpeln der Räder unter ihnen. Er war nun vollkommen wach, wie jemand, der einen Traum und dessen süße Verlockungen mit der bitteren und dafür umso eindringlicheren Wirklichkeit vertauscht hat.

„Er muss irgendwo in den Ruinen sein“, hörte er Cotter nach hinten rufen. „Wir haben wenig Zeit. Sie sind wahrscheinlich bald da.“

„Dieser Gildenstern und seine Leute?“ rief Brynja nach vorne. Cotter drehte sich nach hinten und antwortete dann.

„Ich meine die mosarrianische Armee. Meinen letzten Meldungen nach bricht die Front nach und nach zusammen. Die Mosarrianer sind schon weit hinter der Grenze, sie werden im Norden Zanardis bald erreichen. Und dieser Gildenstern…“ Cotter senkte seine Stimme. Man konnte sie über den Motorenlärm aber immer noch sehr gut hören. „…ich hoffe, dass er schon hier ist.“

Niemand erwiderte etwas auf diese unterschwellige Verwünschung, und jetzt sahen sie die Ruinen rasch näher kommen, als sie über das Führerhaus hinwegblickten.
 

„Das Signal ist so stark, es legt beinahe die Geräte lahm“, hörte Gildenstern durch das Funkgerät. „Genauer kann ich die Position leider nicht bestimmen“, erklärte ihm Sean Hardy.

Die Ungeduld brannte hinter seiner Stirn, und es kostete ihn immer mehr Kraft, sie zurückzudrängen. Seit langem hatte er keine Menschen mehr getötet, zumindest nicht mit eigener Hand. Aber nun, wo er wieder den Rausch erlebt hatte, der zu seiner Zeit als Soldat etwas so Selbstverständliches gewesen war, gelang es ihm nur mit größter Mühe, die Fassade, mit der er alle Entwicklungen zu seinen Gunsten am Hofe des Kaisers abgewartet hatte, erneut zu beweisen.

Das Niedermetzeln dieser naiven Aufrührer, so trivial diese Bluttat auch gewesen war, hatte einen Teil in ihm geweckt, der verschüttet gelegen war all die Zeit, eingelullt von der Monotonie des höfischen Lebens, das aus Politik und den ewiggleichen Intrigen bestanden hatte. Nun erinnerte er sich, was es bedeutete, sich seinen Weg freizuschlagen, ohne erst der passenden Gelegenheit in abwartender Haltung zu harren.

„Wie viele dieser verfluchten Ruinen müssen wir noch durchsuchen…“, sagte er leise zu sich selbst. Er, der sich jede Entblößung von Emotion und damit Schwäche abgewöhnt hatte, wurde nun wieder zu einem Spielball jener Leidenschaften, die er bei seinen Gegnern auf dem Parkett der Politik als Schwäche genutzt hatte. Doch er konnte es nicht mehr unterdrücken, als er erneut ein schief in den Angeln hängendes Tor aufdrückte und, gefolgt von seinen Männern, ein weiteres Gebäude im von Hardy festgelegten Umkreis betrat. Es schien eine Art Tempel zu sein, merkten seine nervös umherschweifenden Augen- bis sie auf einem Punkt verharrten.

Vor ihnen, vor dem Altar dieses verfallenen Tempels, lag ein aufgeklappter Gegenstand auf dem Boden. Eine Säule aus dunklem Licht, in dem schwarze Gewitterwolken tobten, entwich diesem Gegenstand und reichte bis an die Kuppel des Tempels hoch über ihnen. Gildensterns Augen wurden groß und leuchteten vor Befriedigung und Entzücken.

Dann ging er mit weiten Schritten auf das Maleficium zu.
 

Wie ein Ruhestörer auf einem Friedhof, so rollte ihr Fahrzeug durch die vor zwanzig Jahren aufgegebenen Straßen von Zanardis.

Cotter hatte das Tempo gedrosselt. Allerdings weniger aus Pietät vor diesem Ort, an dem so viele Menschen ihr Leben verloren hatten, sondern damit Sarik mit Hilfe seines Escutcheons exakt ihr Ziel bestimmen konnte. Dorian blickte in das vor ihnen liegende Fahrerhaus und sah, wie die Scheiben von Sariks Escutcheon blinkten und flackerten, nervöser denn je, als herrschte in ihnen die Wiedersehensfreude mit jener Macht, von der sie so kurz nur hatten kosten dürfen in der Schatzkammer unter dem Kaiserpalast. Dorian blickte auf seinen eigenen Escutcheon: Dieser zeigte dasselbe Lichterspiel.

Dorian schluckte, sein Hals fühlte sich staubtrocken an. So trocken und leblos wie diese Stadt, in deren Fugen ihrer zerborstenen Marmorplatten, welche die Plätze und Alleen bedeckten, nicht einmal Unkraut zu wachsen wagte. Er betrachtete im langsamen Vorbeifahren die Fenster der Ruinen links und rechts von ihnen. Sie waren leer, und trotzdem fühlte er sich durch sie beobachtet. Um sich abzulenken, sah er nach seinen Wegbegleitern.

Ihre Gesichter waren von spürbarer Nervosität gezeichnet, und Dorian fragte sich, ob er selbst ebenso blass war in diesem Moment. Doch dieser Gedanke zerfiel schnell zu jener Leere, die ihn mit dem Eindringen in diesen verlassenen Ort befallen hatte. Wo vorhin seine Gedanken gekreist und wirre Sprünge vollführt hatten, war sein Verstand nun ruhig und leer wie diese Stadt aus Ruinen. Eine beinahe schon friedliche Endgültigkeit legte sich über ihn: Er fühlte sich wie jemand, der lange Zeit in erbitterter Erwartung im Kerker gesessen hatte, und nun, nach einer schier endlosen Zeit, an der Wange endlich das Holz des Richtblockes bei seiner Hinrichtung spürt.

Das Fahrzeug hielt an. Cotter stellte den Motor ab, und Sarik öffnete die Tür an seiner Seite. Das Geräusch seiner Stiefel auf den rissigen Steinplatten schien eine heilige Ruhe zu stören, kam es Dorian vor. Nacheinander sprangen seine Begleiter von der Ladefläche, und ein allerletztes Mal rang er mit dem instinktiven Wunsch, bis ans Ende der Welt zu fliehen.

Als es geschafft war und Dorian spürte, dass von nun an zwischen das Ende und ihm selbst nie wieder ein solches Gefühl treten konnte, stieg er ebenfalls ab.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr hier beim Fahrzeug bleiben“, sagte Sarik zu Nadim und Iria. Die beiden schüttelten zugleich die Köpfe, und ihre Mienen zeigten eine ähnliche Entschlossenheit.

„Wir gehen mit, was immer auch passiert“, antwortete Iria. Nadim warf ihr einen Blick zu, als könnte er am Klang ihrer Worte seine eigene Zuversicht stärken.

„Genau. Wir bleiben nicht zurück“, sagte er mit geschwellter Brust. Aus seiner Stimme klang das ruhige Gewissen, sich mit dieser Tat ein für alle Mal seinen Vorfahren würdig zu erweisen, sowie die Gewissheit, dass das Erreichen dieses Zieles mehr wert war als alles andere, das er noch besaß.

Das Lächeln, das sich dabei auf Sariks Gesicht abzeichnete, glich der Zufriedenheit eines Vaters, der feststellt, dass seine Kinder den schwierigen Weg des Erwachsenwerdens gegangen sind. Largo Cotter wartete schon ungeduldig, dann gingen sie mit Cotter und Sarik an der Spitze auf das hohe Tor zu, in dessen Angel ein schiefer Torflügel hing.

Nun, wo sich ihr endgültiges Ziel mit beruhigender Unausweichlichkeit näherte, empfand Dorian auch keine Verunsicherung darüber, dass keiner von Cotters Leuten sie begleitete. Der Gedanke, dass diese Menschen ihrer Sache bereits mehr als genug geopfert hatten, ermöglichte es ihm, ihnen die scheinbare Sicherheit, in der sie zurückgeblieben waren, zu vergönnen.
 

Gildensterns Augen wurden groß wie Seen voll mit siedendem Pech; ebenso schwarz leuchtete ein Abgrund von zur Erfüllung gelangtem Verlangen aus ihnen. Er ging auf das Maleficium zu. Seine Männer jedoch zögerten, wie er merkte.

„Was ist los mit euch?“ fragte er in einem ungehaltenen, beinahe enttäuschten Ton angesichts dieser Soldaten, die den Moment des Triumphs nur mit zaghaften, fast schon bangen Gesichtern würdigten. Die Säule aus zitternden Schatten und greifbarer Dunkelheit bewirkte tatsächlich das, was bei diesen abgebrühten Kämpfern undenkbar schien: Sie bekamen Angst. Angewidert von dieser zu Tage tretenden Schwäche, schüttelte Gildenstern nur den Kopf und ging weiter.

Wenige Schritte davor berührte der Rand des Wirbels aus flackernden Schatten und dunklem Licht fast sein Gesicht. Und einen kurzen Moment streifte ihn der Wunsch, vor dieser dämonischen Manifestation zurückzuweichen. Doch die Berührung mit dem Wirbel war nicht unangenehm. Im Gegenteil, ein Prickeln lief über seine Haut und ermutigte ihn, und so trat Gildenstern direkt vor das Maleficium.

Er ging davor in die Hocke und streckte die Hand aus. Die Lettern auf der aufgeschlagenen Seite flimmerten wie eine Luftspiegelung in heißer Luft; ihre Anzahl sowie Bedeutung schien sich ständig zu ändern. Hier, ganz nahe am Wirbel, war es wie im Auge eines Orkans: die Atmosphäre war ruhig, fast andächtig, und nichts war von dem Schrecken spürbar, der seine Soldaten hatte stoppen lassen.

Fast berührten seine Finger die aufgeschlagene Seite- als noch jemand den Tempel betrat.
 

Dorian zog sofort die Waffe, als er jene Soldaten erblickte, die in der vergangenen Nacht das Rebellenlager angegriffen hatten.

Ebenso taten es seine Begleiter. Schon standen sie kampfbereit der kleinen Gruppe aus kaiserlichen Soldaten gegenüber, die nun eine Verteidigungsformation vor ihrem Anführer einnahmen.

„Ich werde dich töten, du Hund!“ schrie Dorian, der über die Köpfe der Soldaten die Gestalt Gildensterns erkannte. Dieser wandte sich zu ihnen um und machte ein ebenso überraschtes wie auch geringschätziges Gesicht. Dorian, von seiner forschen Behauptung selbst etwas erstaunt, wiederholte den Satz leiser, wie um ihn gegen aufkommende Zweifel zu bekräftigen.

„Ich werde dich töten…“
 

„Die auch noch“, murmelte Gildenstern. Dann fiel sein Blick auf das Maleficium, als er die Veränderung bemerkte. Ein leises Zittern pflanzte sich durch den Boden fort, wo seine Füße standen, und das Maleficium schien die Quelle zu sein.

Sein Blick tauchte ein in das Zentrum des Wirbels, der sich vor ihm öffnete wie ein bodenloser Schlund. Und aus der Tiefe dieses Schlundes, aus einem Reich, das sich jeder Vorstellung und Ausmalung entzog, tauchte ein Gesicht auf. Ein Gesicht wie ein bleicher Schädel: Mit weit geöffneten Kiefern, drohenden, leeren Augenhöhlen und einer Stimme, die zwischen den bleichen Zahnreihen wie ein Geysir heraufstieg.

„Ich… werde… frei!“ tönte die Stimme. Und eine plötzliche Panik bemächtigte sich Gildenstern. Von einem jähen Schrecken ergriffen, streckte er seine Hände nach dem Maleficium aus und hob es vom Boden auf.

Dabei schien es ein enormes Gewicht zu haben; nur mit Mühe, so fühlte er es in seinen Armen, konnte er es halten. Das Gesicht, das aus dem Wirbel hervor wuchs, schien seinen Blick zu erwidern. Obwohl keine Augen in den leeren Höhlen waren, so spürte er doch einen uralten, wissenden Blick auf sich.

„Niemals!“ schrie Gildenstern und widerstand dem Blick. Alles um ihn herum schwand, nur noch diese beiden Abgründe, schwärzer als die Nacht, füllten sein Blickfeld aus. Und tatsächlich hielt die Bewegung an: Es war Gildenstern, als würde er die Empörung einer gottgleichen Macht spüren, die sich von einem Hindernis in der Dimension einer Fliege gehindert sah.

„Jan, die Messdaten, sie- sie übersteigen alle Skalen! Was geschieht bei euch da drin?“

Gildenstern hörte nicht mehr die Stimme seines Freundes, zu tief war er versunken in den Abgründen, die drohten, verfluchten und zugleich lockten, mit endloser Macht und dem Herrschwillen eines Gottes.

„Jan! Jan… Sie sind da!“ Immer noch reagierte Gildenstern auf keinen Reiz seiner Umgebung, viel weniger noch auf das Funkgerät an seinem Harnisch. „Jan! Kaiser Modestus… Er ist da.“
 

Nun schreckte er hoch.

Sein Blick, verschwommen und entzunden von den Visionen, tastete hektisch durch den Raum. Er sah die Rücken seiner Soldaten, die ihn schützten, die kleine Gruppe dahergelaufener Diebe, die ebenfalls hierher gefunden hatten… und den Kaiser von Galdoria, Modestus der Dritte, der mit einer kleinen Gruppe Palastwachen diesen Ort betrat.
 

Inmitten der ihn schützenden Schar betrat Modestus der Dritte den Tempel.

Dorian und seine Begleiter wandten sich um, und Bestürzung zeichnete ihre Mienen. Modestus, der im Gegensatz zu ihnen kein Erstaunen zeigte, schritt an ihnen vorbei, praktisch ohne ihnen nähere Beachtung zu schenken. Er warf den wie erstarrt dastehenden Anwesenden einen Blick zu, der etwas Dankbares in sich zu haben schien.

„Gut gemacht, Gildenstern. Jetzt schließe das Maleficium, und händige es meinen Leuten aus“, sprach Modestus mit fester, befehlsgewohnter Stimme. Gildenstern blinzelte ungläubig, und vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben zeigte er aufrichtige Verwirrung.

„Das- Was hat das zu bedeuten…“

„Verliere keine Zeit, Gildenstern. Schließe das Maleficium, sonst war alles umsonst.“ Modestus‘ Stimme gewann an Dringlichkeit.

„Was soll das heißen, zum Teufel nochmal!?“ brüllte Gildenstern, nun völlig außer sich. Angesichts dieses für ihn völlig unüblichen Gefühlsausbruchs blickten sich sogar seine eigenen Männer erstaunt um. „Ihr habt den Diebstahl des Maleficium ermöglicht! Ihr habt seine Diebe davonkommen lassen! Erklärt mir das alles, Eure Hoheit!“ schrie er voller Zorn. Vor allem die letzten beiden Wörter trieften vor Verachtung und gerechtem Zorn.

„Mein lieber Gildenstern“, sagte Modestus und seufzte dabei voller Bedauern. „Seit langem bist du mein engster Berater, und ich habe beinahe alles mit dir geteilt. Aber manche Dinge kannst du nicht verstehen, und es ist besser, sie geschehen zu lassen, ohne dass du es weißt.“
 

Dorians Blick sprang zwischen Gildenstern mit dem Maleficium, seinen Soldaten und dem Kaiser hin und her. Dabei lauschte er wie gebannt, unfähig, etwas zu unternehmen. Um sich herum spürte er keine Bewegung. Daraus schloss er, dass es seinen Mitstreitern nicht anders ging.
 

„Vielleicht noch nicht heute, aber eines Tages werdet ihr es verstehen. Ich konnte nicht zulassen, dass die Zukunft unseres Landes von engstirnigen Leuten bedroht wird, zu denen… Nun, zu denen auch du gehörst.“

Gildenstern, der immer noch das Maleficium in Händen hielt, hörte seinen Kaiser sprechen, und ihm, der immer so stolz auf die Klugheit und Präzision seiner Worte gewesen war, ihm fehlten diese Worte nun.

„Ohne dein oder das Wissen eines anderen Beraters am Hof habe ich mit dem ‚Dieb‘ des Maleficium Kontakt aufgenommen. Ein junger, aber sehr ehrgeiziger Gelehrter aus Mosarria, bei dem ich mir sicher sein konnte, er würde nur aus Liebe zu seiner Wissenschaft handeln, und nicht aus kleinlichen Beweggründen. Dass in jener Nacht noch andere Diebe in den Palast fanden, nun, das war eine wenig glückliche Fügung. Aber letztendlich lief doch alles nach Plan.“

„Aber… Wieso?“ rief Gildenstern, der nun hilflos klang.

„Das Maleficium mag mächtig sein, es war aber in seiner ursprünglichen Form nicht mächtig genug, um für dauerhaften Frieden zwischen den Ländern zu sorgen. Um seine ganze Macht zu entfesseln ist ein besonderes Ritual nötig, das nur Gelehrte mit dem besonderen Wissen, weit entfernt von unserem Wissensstand über das Maleficium, ausführen können.“

Modestus schien die entgeisterte Miene seines engsten Beraters richtig zu deuten, als er weitersprach.

„Der Plan war nicht ohne Risiko, das gebe ich zu; aber schwierige Zeiten erfordern beherztes Handeln. Etwas, das du mir in letzter Zeit nicht mehr zugetraut hättest, nicht wahr?“

Modestus machte ein erheitertes Gesicht. Gildensterns Miene wandelte sich von bestürzt zu empört, und verfiel dabei immer mehr.

„Du hättest diesem Plan niemals zugestimmt. Du hättest jemanden aus Mosarria nie über das Maleficium verfügen lassen, und nicht anders hätten meine Berater und Generäle es gesehen. Letztendlich wäre alles an der Bürokratie gescheitert, und bevor wir eine Entscheidung getroffen hätten, wären die Truppen Mosarrias vor dem Stadttor gestanden.

Ihr hättet in eurer kleinlichen Denkweise das Maleficium ganz einfach auf dem Schlachtfeld eingesetzt; mir geht es aber nicht nur um eine Schlacht, mir geht es um den ganzen Krieg. Wie auch um das Wohl des Volkes, hier sowie auch in Mosarria.

Nein, mein lieber Gildenstern: Nur in seiner vollen Entfaltung kann das Maleficium dauerhaften Frieden für alle Länder bringen, und über diese verfügt es nun. Und jetzt übergib es meinen Leuten, damit sie es kundigeren Gelehrten überreichen können.“
 

Eine unheimliche Stille legte sich über den Tempel.

Alle Anwesenden, von Gildensterns Elite, über Dorian und seine Begleiter, bis hin zu den Palastwachen des Kaisers, alle harrten gespannt den Geschehnissen zwischen diesen beiden Personen, die sich mit so großer Zwiespältigkeit gegenüberstanden. Nur das unterschwellige Brausen des Maleficium war zu hören, und für diesen bedeutsamen Moment traten für alle Anwesenden die eigenen Beweggründe in den Hintergrund.

Gildensterns Gesicht, eben noch eine Maske größten Erstaunens und auch maßloser Wut, setzte sich nun in Bewegung. Er begann, hinter der Phalanx seiner Elitesoldaten auf und ab zu gehen, und dabei hielt er das Maleficium vor sich, als wäre er in der Lektüre eines alltäglichen Buchs unterbrochen worden.

„Immerhin: Ihr seid endlich ehrlich gewesen, Euer Hoheit. Dann will ich es ebenso sein!“

Seine Stimme gewann die frühere Sicherheit zurück, und irgendetwas ließ alle Anwesenden erschaudern. Selbst Modestus‘ Miene verriet leises Unbehagen.

„Zu allererst: In tausend Jahren werde ich weder Euch noch einem Eurer Leute das Maleficium geben!“

Ein empörtes Raunen ging durch die Mitglieder der Palastwache angesichts dieses offenen Ungehorsams. Modestus machte ein geduldiges Gesicht, als wäre er der Meinung, er müsste nur diesen Anfall von Trotzigkeit abwarten, bis alles wieder den gewünschten Gang ginge.

„Ihr seid bei weitem ein zu schwacher Herrscher, um über eine solche Macht zu verfügen. Ihr, Ihr… Ihr seid nicht besser als euer Vater. Ein unentschlossener, sentimentaler Schwächling, nichts weiter seid Ihr!“

Nun schauderte es sogar seine Elitesoldaten sichtlich, als er diese Beleidigungen seinem Kaiser an den Kopf warf. Dieser nahm sie hingegen unbewegt hin, und es schien, als gelänge es ihm beinahe, Verständnis dafür aufzubringen.

„Ihr seid wie Euer Vater, nein, noch schlimmer! Ihn habe ich durch Gift aus dem Weg geräumt, aber wenn ich gewusst hätte, dass ihr ein ähnlicher Narr werdet, ich hätte euch noch in der Wiege erwürgt!“

Ein entsetztes Aufstöhnen lief durch die Reihen der kaiserlichen Soldaten, auf welcher Seite sie auch standen. Modestus zuckte zusammen. Sein Mund öffnete sich, seine Augen glänzten ungläubig, und er schüttelte ganz langsam den Kopf, als sähe er diese Mordtat in dem Augenblick vor eigenen Augen.

„Du hast…! Gildenstern“, ächzte er mit zittriger Stimme.

„Wer sonst hätte noch nach seinem Vorkoster Zugang zu seinen Mahlzeiten gehabt? Aber glaubt mir, Galdoria ist dadurch einiges erspart geblieben. Ich habe dafür gesorgt, dass der Friede mit Mosarria bestehen blieb, ich habe dafür gesorgt, dass unser Land wieder Wohlstand erfahren durfte, ich habe euch alle Schwierigkeiten vom Hals gehalten! Und als Dank habt ihr diese Schmierenkomödie, diese Farce inszeniert!“

Modestus, nun völlig seiner Fassung beraubt, blickte sich wie ein gehetztes Tier um, um sich dann hinter seine Palastwachen zu stellen. Dabei deutete er mit dem Zeigefinger drohend auf Gildenstern und schrie mit nervöser Stimme:

„Ergreift ihn! Gildenstern, du… du Monster! Heute noch, ich verspreche es dir, wirst du auf dem höchsten Masten der Hauptstadt aufgeknüpft!“

Ein schallendes Klirren hallte durch den Tempel.

Alle kaiserlichen Soldaten, sowohl die auf Gildensterns als auch jene auf des Kaisers Seite, zogen ihre Waffen. Beide Parteien taten einen Schritt nach vorn. Weder Cotter noch die anderen unternahmen etwas, in der Ahnung, das Problem könnte sich nun von selbst lösen.

Gildenstern sah mit Genugtuung, wie sich die beiden Seiten einander näherten. Offensichtlich frohlockte er schon ob der Überlegenheit seiner eigenen Männer. Doch plötzlich stoppten diese und tauschten nervöse Blicke aus, von denen so mancher auch Gildenstern traf. Scheinbar erwachten in ihnen Skrupel, den eigenen Kaiser anzugreifen.

„Seht ihr denn nicht, was hier vorgeht?“ rief Modestus, der das merkte. „Er hat meinen Vater hinterrücks ermordet, nun verrät er mich! Ihr werdet die Nächsten sein, versteht doch! Wenn schon nicht für mich, dann beendet diesen Irrsinn für Galdoria!“ rief Modestus ihnen über die Schultern seiner eigenen Wachen zu. Tatsächlich wurde das Zögern noch deutlicher.

„Tötet ihn, und zwar für Galdoria!“ brüllte Gildenstern zurück. „Glaubt mir, ihr erweist unserem Land einen Dienst damit!“

Die Unentschlossenheit angesichts dieses Zwiespalts konnte er damit aber nicht lösen.
 

Gildenstern wurde wieder des geöffneten Maleficium in seinen Händen gewahr und blickte in die aufgeschlagene Seite. Er erstarrte, und seine Augen weiteten sich.

Eine Hand griff nach seiner Seele, von eiskaltem Griff und finsterer Entschlossenheit. Ein Wille rang mit dem Gefängnis, aus dem er sich schon befreit gesehen hatte. Der Entschluss, die Freiheit zu erlangen, sprengte alle Fesseln. Das Wesen, seit Jahrhunderten in dem Maleficium gefangen, war bereit, jede nur erdenkliche Gelegenheit zu ergreifen.

Und diese hier war verlockend.
 

Gildensterns Kopf begann zu vibrieren, als würde er jeden Moment zerbersten.

Sein Mund öffnete sich unnatürlich weit, und der daraus ertönende Schrei ließ alle Anwesenden unwillkürlich in Deckung gehen. Gleißendes Licht strahlte aus seinen Augen; etwas aus dem Maleficium schien sich daraus zu lösen, um wie ein schattenhaft umwölktes Gespenst in sie einzudringen. Ebenso in seinen Mund, in den eine Schlange aus Rauch und dunklem Licht kroch.

„Auf den Boden!“ schrie Sarik aus vollem Halse. Seine Begleiter leisteten dem folge, ohne es zu hinterfragen. Nicht so jedoch die kaiserlichen Soldaten. Nur Modestus achtete auf Sarik und blickte ihn fragend an.
 

Das Licht wurde unerträglich hell, um daraufhin zu einem Flackern aus Schwarz und Weiß, aus Hell und Dunkel, zu werden. Die Lichtstrahlen schienen direkt aus Gildensterns Körper auszutreten, und das Maleficium in seinen Händen zerfiel zu Staub.

Seine zitternde, bebende, von tausend Krämpfen gebeutelte Gestalt hob sich vom Boden und schwebte empor. Dabei streckte er die Arme von sich, während sein unkontrolliert vibrierender Kopf herabgezogen wurde, so dass er wie ein Gekreuzigter vor ihnen schwebte.

Keiner der kaiserlichen Soldaten dachte noch an irgendeine Order. Sie alle umstellten diese groteske Kreatur, die sich vor ihren Augen verwandelte. Gildensterns Harnisch schmolz auf seiner Brust, ebenso ging seine Kleidung in Flammen auf.

Die Überreste wurden aufgesogen von dem, was jetzt aus seinem Leib entstand.
 

Endlich wagte es Dorian, den Blick zu heben.

Was er sah, war einfach nur grauenhaft. Eine geflügelte Gestalt schwebte im Tempel, direkt über dem Altar, als wäre eines der Heiligenbilder zum Leben erwacht. Allerdings eines, das keinen Heiligen, sondern den Leibhaftigen zeigte.

Ein bräunlich verfärbter Leib, als wäre Gildensterns Körper verbrannt worden, bildete den Korpus dieser grotesken Kreatur. Glänzende Streifen überzogen ihn, wie Erzadern in dunklem Gestein. Gewaltige Schwingen entfalteten sich mit einem knirschenden Geräusch. Die Augen jenes Wesens, das früher den Namen Gildenstern getragen hatte, loderten wie der Scheiterhaufen eines Ketzers, dessen Sünden nun mit Blut und Feuer vergolten wurden.

Bevor sich noch irgendeiner der kaiserlichen Soldaten aus seiner Schreckstarre befreien konnte, öffnete diese Kreatur ihren Schlund. Eine Flutwelle von den Flüchen längst einen qualvollen Tod Gestorbener brach daraus hervor. Dorian erkannte im Sturmwind aus giftigen Winden und unheilvollen Schreien reitende Skelette auf Pferden, die ebenso aus verblichenen Überresten bestanden, abgebrochene Waffen in knochigen Händen haltend und mit aufgerissenen Kiefern auf sie zu galoppierend.

Bis sich Sariks Hand auf seinen Kopf legte und ihn unsanft zu Boden drückte.
 

Die Armee des Todes galoppierte über die kaiserlichen Soldaten hinweg und durch sie hindurch.

Ein Orkan aus dem Hass längst zu Staub zerfallener Krieger ließ ihre Rüstungen, ihr Fleisch und schließlich auch ihre Gebeine zu Asche zerfallen. Modestus, der Sariks Warnung mitbekommen hatte, warf sich zu Boden, fast zu spät allerdings. Der Fluch des Kriegsgottes streifte ihn, und ein Teil seiner Schulter wurde zu Asche verbrannt. Sein Gekreische ging unter in dem Tosen der Geisterarmee, die über sie hinweg galoppierte.

Endlich versiegte das Inferno. Sarik war bereits auf den Beinen, und auch seine Wegbegleiter waren unversehrt. Von den Soldaten des Kaisers war jedoch nichts als Staub und graue Asche geblieben. Modestus lag inmitten dieser Spuren, die wie der Rest eines niedergebrannten Scheiterhaufens wirkte, und wand sich in seinen Qualen. Dorian stellte entsetzt fest, dass ein Teil seines Arms und seiner Schulter verkohlt waren und unter zuckenden Bewegungen langsam zerfielen.

Er erstarrte vor Mitleid und auch Abscheu, dann zog ihn Sarik mit sich.
 

Sean Hardy starrte fassungslos auf seine Geräte, die allesamt ausfielen. Aus dem Funkgerät drang nur mehr atmosphärisches Rauschen. Schließlich vergaß er Gildenstern beschwörende Worte, auf jeden Fall im Flugschiff zu bleiben, und trat durch die Luke ins Freie.

Er beschirmte seine Augen gegen das erstarkte Tageslicht und blinzelte in Richtung jenes Gebäudes, das sie seinen Funkrufen nach zuletzt betreten haben mussten. Sein Augenmerk glitt über Dächer, Säulengänge und Kuppeln- um an einer Kuppel zu stoppen, deren Wölbung barst.

Hardy hörte das Einstürzen des Gewölbes aus der Entfernung. Mauerstücke fielen in die Tiefe, und ihr Aufschlagen ließ Staubschwaden bei den Eingängen austreten. Dann stockte sein Atem, als er sah, was sich durch diese so entstandene Öffnung ins Freie kämpfte.

Verbrannt aussehende Klauen suchten Halt am geborstenen Mauerwerk, um einen bizarren Leib mit langen Flügeln ins Freie zu ziehen. Gleich einem Schmetterling, der gerade aus dem Kokon schlüpft, so befreite sich die groteske Kreatur aus ihrem steinernen Gefängnis.

Einige wenige unbeholfene Bewegungen später schwang sie sich Kraft ihrer Schwingen empor, um wie ein Engel des Todes über der Stadt zu schweben.
 

„Bei den Göttern…“, ächzte Sean Hardy.

Er glaubte an keine Götter, aber der Anblick dieser Kreatur, dieses geflügelten Dämons, ließ ihn zweifeln, ob es nicht zumindest Götter der Finsternis geben musste. Was ihn aber noch mehr verstörte als der Anblick eines so furchtbaren Geschöpfes, das war die Ähnlichkeit. Eine Ähnlichkeit, die ihm den Hals zuschnürte und seinen eigenen Augen misstrauen ließ.

Die Streifen aus geschmolzenem Gold, gleich des Harnisches, den sein Freund getragen hatte. Das Gesicht, mit den scharf geschnittenen Zügen, das kurze, strohblonde Haar, das eben dieses Gesicht umrahmte. All diese Merkmale, die zu einem Menschen gehörten und die sich nun an einem Ungeheuer zeigten. Einem Menschen, der sein Freund gewesen war.

„Jan…“, flüsterte er mit zitternder Stimme in das Funkgerät, das er immer noch in Händen hielt. Doch die Antwort blieb aus.

Und so bahnte sich eine furchtbare Gewissheit den Weg in seinen Verstand.
 

„He, Sie da!“ hörte er eine aufgebrachte Stimme. Sean Hardy senkte den Blick und sah eine kleine Gruppe auf sich zu laufen. Es waren weder die Männer von Gildenstern noch die Wachen des Kaisers unter ihnen.

„Wer sind sie?“ fragte Hardy. Im nächsten Moment sah er sich bereits von einer siebenköpfigen Gruppe umringt. Einer von ihnen, ein vierschrötiger Mann von dunkler Hautfarbe, dessen Gesicht vor Zorn förmlich glühte, trat auf ihn zu.

„Haben Sie diesen Gildenstern hierher gebracht?“ Hardy, unfähig zu einer Antwort, nickte nur verstört. „Gut! Denn jetzt sammeln wir ihn wieder ein, und Sie werden uns helfen dabei!“
 

Dorian stand vorn, beim Pilotensitz, wo sich auch Sarik und der Mann, der sich ihnen als Sean Hardy vorgestellt hatte, aufhielten und aus dem Sichtfenster sahen. Unter ihnen zog die Ebene mit ihrem strohfarbenen Bewuchs vorbei, während in der Entfernung ihr Ziel in weiten Bögen den Himmel durchmaß.

„Ich kann es nicht glauben… Wie konnte er so töricht sein?“ fragte Hardy. Sarik hatte ihm die Geschehnisse im Tempel in aller Kürze erläutert, und nun unternahm der Pilot den verzweifelten Versuch, das Ungeheuer, das einst Gildenstern gewesen war, einzuholen.

„Das Wesen, das in das Maleficium gebannt wurde, hat immer schon versucht, die Menschen um sich herum zu korrumpieren“, erklärte Sarik. Dorian entging der leise Selbstvorwurf in seinem Tonfall nicht.

„Was tut er jetzt? Ich meine, er ist ja nicht mehr er selbst, oder?“ fragte Hardy mit banger Stimme und deutete dem grauen Horizont entgegen, dem die neu entstandene Kreatur jetzt mit kräftigen Flügelschlägen entgegensteuerte.

„Dieses Wesen… Es hat offenbar nur einen einzigen Weg gesehen, und zwar sich mit dem, der nach seiner Macht gegriffen hat, zu vereinen. Für beide keine erstrebenswerte Lösung, und ihre Seelen ringen nun miteinander in diesem Körper.“

Alle horchten aufmerksam zu. Dorian drehte sich um und sah das nervöse Gesicht von Brynja, deren Blick in der Ferne nach dem Ungeheuer forschte, dessen Geburt sie erlebt hatten. Er sah auch Hargfried, der sich immer noch in ihrer Mitte befand, obwohl das Maleficium endgültig verloren war. Nur noch die Neugier, wohin ihn diese Reise führen würde, die mit der Suche nach den Mördern seines Vaters begonnen hatte, schien jetzt seine Handlungen zu bestimmen.

Iria und Nadim standen beieinander und stützten sich gegenseitig mit dem Vertrauen, das über die Jahre hinweg gewachsen war, so tief wie die Bande zwischen Geschwistern ging und sie auch jetzt nicht verlassen würde. All dies spürte Dorian genau, wenn er sie ansah.

Er wunderte sich über Nadim, der immer noch irgendwo in den Winkeln seiner Persönlichkeit genug Mut fand, um sie auch auf dieser allerletzten Etappe zu begleiten. Seine Augen blickten klar und stolz in die Ferne, wo ihre letzte Herausforderung lag, und sie schämten sich nicht mehr der Angst, mit der er Zeit seines Lebens gerungen hatte. Vielmehr schienen sie den zufriedenen Blick seiner Vorfahren, der Wenzelsteins, auf sich zu spüren, die endgültig überzeugt sein mussten, dass er einer der Ihren war.

Dann fiel Dorians Blick auf Iria. Ihre Miene war gelöst, beinahe fröhlich. Im Angesicht ihres endgültigen Scheiterns, das Maleficium zu finden, schien sie Erleichterung zu verspüren, dass nun die Verantwortung von ihr abfiel, das Unmögliche schaffen zu müssen. Sie hatte es zwar nicht geschafft, aber auch mit eigenen Augen gesehen, wohin einen anderen Menschen das Streben nach dem Maleficium führte.

Dorian selbst verspürte verwunderlicherweise keine Angst mehr: Nicht um sich selbst oder sein Zuhause, das er sowieso nicht mehr retten konnte, und auch nicht um seine Begleiter, die, wollte er es wahrhaben oder nicht, zu seinen Freunden geworden waren. Am ehesten noch verspürte er Angst für Iria.

Allerdings nicht um sie: Die Entschlossenheit, die immer unterschwellig aus ihren Augen leuchtete, hatte ihm längst klar gemacht, dass sie ihren Weg unbeirrt bis ans Ende gehen würde. Es war eher die Angst um die Zeit, die er mit ihr verbringen hatte dürfen, und die nun, so spürte er es in jeder Faser seines Körpers, vielleicht endgültig endete.

„Was wird er nun tun?“ fragte Hardy, dessen fragender, trauriger Blick Sarik traf.

„Wie gesagt, ihre Persönlichkeiten sind nun miteinander verschmolzen; ich glaube aber, dass Ares die Oberhand gewinnen wird. Seine Macht geht über Menschenverstehen hinaus, und er wird dorthin wollen, wo ihm gehuldigt wird.“

„Was für ein Tempel könnte das sein, in dem so einem… Monster gehuldigt wird?“

„Kein Tempel“, erwiderte Sarik düster. „Diesem Gott wird nur an einem Ort gehuldigt. Auf dem Schlachtfeld, wo er jeden Gefallenen als Gebet auffasst.“
 

Endlich gelang es dem Piloten, das Schiff neben die Kreatur zu steuern.

Hardy wandte sich voller Abscheu ab, als das Ungeheuer, das seinen Freund in sich aufgenommen hatte, ihnen eine undeutbare Grimasse zuwarf. Dann wich er ihnen mit einem jähen Haken aus. Dieses Wesen war um vieles wendiger als das träge Flugschiff, und so entkam es ihnen mühelos.

„Wir müssen etwas unternehmen“, murmelte Sarik, während der Pilot abermals die Kreatur, die wie die gigantische Karikatur eines Raubvogels über den Himmel von Galdoria dahin raste, ansteuerte. „Wenn er erst den Frontverlauf erreicht, wird seine Macht noch größer. Er wird die Energie der sterbenden Soldaten in sich aufnehmen, und ihr Schmerz wird ihn noch weiter stärken. Unserer Welt droht ein ewiger Krieg, den er anheizen wird, um sich davon zu nähren.“

Sarik schüttelte den Kopf, und die beunruhigten Blicke aller trafen ihn. Plötzlich lichtete sich sein Gesicht. „Ich habe eine Idee!“

Damit wandte er sich an den Piloten.

VOR-letztes Kapitel :-)

Dorian konnte den Frontverlauf deutlich erkennen.

Ein Gewimmel aus metallisch schimmernden Gestalten herrschte auf einer langen Linie. Er sah die Wege, die sie genommen hatten, sowie die Fuhrwerke, die Mensch und Material in diesen Krieg gebracht hatten. Der Kampf schien gerade zu ruhen, nur schwarze Flecken im hellen Gras zeigten die Stellen an, an denen Soldaten gefallen waren.

Sie schwebten jetzt still in der Luft, einige hundert Schritte über dem Erdboden. Die ersten Soldaten blickten zu dem fliegenden Apparat am Himmel über ihnen empor. Die Luke stand offen, kalter Wind drang in das Innere des Flugschiffes ein.

„Was machen wir jetzt?“ schrie Dorian gegen den Wind an.

„Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu stoppen“, antwortete Sarik, dessen Stimme über den Wind nur schwer zu verstehen war. „Er ist der Gott des Krieges, er wird einer Herausforderung nicht ausweichen.“

„Doch nicht etwa, was ich glaube?“ rief Brynja. Sie stand hinter ihm und blickte über seine Schulter in den blaugrauen Himmel, in dem die Kreatur jeden Moment sichtbar werden musste.

„Ich kann von euch nicht verlangen, mir dabei zu helfen.“

Alle blickten sich an. Brynja antwortete zuerst.

„Sie können uns aber auch nicht davon abhalten“, sagte sie mit einem verwegen, liebenswerten Lächeln.

„Dieses Ding mit den Flügeln…“, begann Hargfried und zog die Nase kraus. „Ich werde das Gefühl nicht los, es hat etwas mit den Mördern meines Vaters zu tun. Ich werde an Eurer Seite kämpfen“, fügte er mit der Gelassenheit des Irrsinns hinzu.

„Ich wollte schon immer etwas erleben“, rief nun Dorian in den lebhaften Wind, der in dieser Höhe ging. „Zwar nicht unbedingt das hier… Aber braucht es denn immer einen Grund, jemanden zu helfen?“

Über Sariks Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das seine ernsten Züge mit milder Wärme überzog.

„Gut gesprochen, Junge. Ich danke euch allen…“ Dann wandte er sich dem blaugrauen Horizont in der Luke zu, den sie alle voller Erwartung betrachteten. „…endlich kann ich es zu Ende bringen.“

Dorian horchte bei diesen Worten auf: Sie erstaunten und beunruhigten ihn zugleich, doch bevor er diesen Gedanken ergründen konnte, erblickten sie das Wesen aus dem Maleficium.
 

Zuerst nur als kleiner, dunkler Punkt mit Flügeln sichtbar, gewann es schnell an Größe und näherte sich schließlich rasend schnell.

„Es ist soweit. Ihr bleibt besser da“, sagte Sarik zu Iria und Nadim. Dann kletterte er ins Freie, und alle, die eine Waffe und einen Escutcheon trugen, folgten ihm.

Der Wind an der Oberseite des Flugschiffes war noch stärker als von der Luke aus zu spüren war. Dorian rang mit dem Gleichgewicht. Nicht leichter hatten es die anderen. Wie sollen wir kämpfen, dachte er hier, mehrere hundert Schritte vom Boden entfernt, wenn wir schon kaum stehen können?
 

Das Metall des Flugschiffes unter seinen Füßen vibrierte, und über sich sah er die Unendlichkeit des Himmels.

Vor ihm lag das Land wie eine Karte ausgebreitet, und er wusste nun, wie sich ein Vogel fühlen musste. Dies alles hätte er wunderschön gefunden, wäre nicht eine Höllenkreatur, der Gott des Krieges selbst, auf Kollisionskurs mit ihnen.

„Ich werde den Kampfdom aktivieren“ schrie Sarik in den Wind. „Er wird dem nicht ausweichen.“

„Haben wir denn überhaupt eine Chance?“ fragte Dorian. Im nächsten Moment war er wiederum froh, dass der starke Wind diese Frage geschluckt hatte, die wohl kaum zu ihrer aller Zuversicht beigetragen hätte. Sein Blick glitt über seine Mitstreiter, die alle mit Waffen in Händen dastanden und etwas erwarteten, das sich von ihnen niemand vorstellen konnte.

Die Kreatur wurde immer größer, und nun erst erkannte Dorian ihre enorme Geschwindigkeit. Wie ein Pfeil schoss sie auf sie zu. Der Gedanke Er schafft das nie! schrillte wie eine Warnglocke in seinem Kopf.
 

Sarik, sein Schwert in beiden Händen, blickte der Kreatur, die sich mit beängstigender Geschwindigkeit näherte, entgegen.

Dorian hingegen fühlte den immer stärker werdenden Impuls, sich flach hinzuwerfen und die Augen fest zu schließen. Er sah schon das Ungeheuer in das Flugschiff hineinkrachen, das wie durch ein Wunder tatsächlich das Unglück gehabt hatte, dessen Flugbahn genau zu erraten und zu versperren. Der gleiche Reflex, der Dorian angesichts ihn treffender Faustschläge zusammenzucken hatte lassen, setzte nun ein.

Im selben Bruchteil des Augenblicks öffnete Sarik mit seinem Escutcheon den Kampfdom.
 

Dorian hatte die Augen fest zusammengekniffen: So sah er nicht, wie sich der Kampfdom auf Sariks Willen hin öffnete und schnell an Größe gewann.

Ein Windstoß riss ihn im nächsten Moment von den Beinen. Kein Windstoß der Luftströme, die in dieser Höhe flossen; etwas anderes löste ihn aus, und Dorian ahnte die Ursache. Das Flugschiff neigte sich gefährlich, Dorian begann zu rutschen. Gerade noch fand er Halt an einer Unregelmäßigkeit in der metallenen Oberfläche, dann kam der Apparat wieder ins Gleichgewicht. Er blickte nach oben. Und zwar mehr aus dem Reflex, der einen Ertrinkenden sich nach der Wasseroberfläche über ihm recken lässt, denn aus Absicht.

Da sah er es.
 

Langsam, ganz langsam senkte sich die Kreatur auf sie herab.

Der Kampfdom hatte gewaltige Ausmaße erreicht, die Flügelspitzen des Wesens erreichten fast den Rand. Dorian sah die ausgebreiteten Flügel, den verkohlten, mit glänzenden Streifen, wie von zerronnenem Metall überzogenen Leib, und das Gesicht, das es auf die Menschen unter ihm richtete.

Außer ihm standen nur Sarik und Hargfried aufrecht. Brynja kam gerade auf die Beine, und der nackte Reflex, um sein Leben zu kämpfen, zwang Dorian ebenfalls in die Senkrechte.
 

Dorians Blick wurde gefesselt von der grotesken Kreatur, und der Gedanke, sie zu bekämpfen, schien ihm lächerlich und sinnlos zugleich. Erst Sariks Angriff gegen die Kreatur riss ihn aus seiner Starre.

Sarik schwang seine Waffe gegen das Wesen, das knapp über dem Apparat schwebte. Seine Klinge schnitt mit einem Geräusch gleich brechenden Holzes durch dessen Körper, doch das Wesen zeigte keine sichtbare Reaktion. Hargfried beteiligte sich ebenfalls an der Auseinandersetzung, doch auch seine Waffe schien nur tote Materie zu treffen, die weder Schmerzen zu empfinden noch die Bedeutung des Begriffes ‚Tod‘ zu kennen schien.

Dorian beobachtete fassungslos, wie seine Mitstreiter das bizarre Wesen angriffen. Es kostete Dorian schon genug Mühe, sich auf den Beinen zu halten und nicht von seiner Furcht übermannen zu lassen. Viel weniger noch verspürte er die Kraft in sich, dieser diabolischen Kreatur etwas entgegenzusetzen. Er sah nur das Gesicht, das auf so abscheuliche Weise menschlich und doch wieder das eines Ungeheuers war, und das zu sprechen schien: Tut nur! Euer Verderben ist besiegelt!

Und tatsächlich schwebte es in ihrer Mitte, nahm die Angriffe hin und ließ seinen Blick mit einer erheiterten Gleichgültigkeit über sie schweifen gleich einem Baumriesen, der auf die Ameisen, die an seiner Rinde entlangkrabbeln, herabschaut.
 

Hargfrieds Schwert glühte auf, als läge es wieder unter den Hammerschlägen jenes Schmiedes, der es einst geschaffen haben musste, und entlud sich in einer Attacke. Der Lichtblitz pflanzte sich durch den Kampfdom fort, Dorian sah für einen Moment nichts mehr. Als er die Augen wieder öffnete, war die Kreatur nach wie vor unverwundet, und nun erhob sie ihre Stimme:

„Kämpft nur, ihr Menschen! Huldigt mir, dem Gott des Krieges, der eure Gebete nur zu gern entgegennimmt! Euer Opfer soll nicht abgewiesen werden, und eure streitbaren Seelen sollen für immer im Feuer meines Paradieses glühen!“

Mit der Kraft des Donnerhalls, der den Himmel erschüttert, wogten diese Worte durch den Kampfdom. Dorian und seine Mitstreiter gingen unter diesen Worten, die wie Hammerschläge ihre Gehörgänge trafen, in die Knie.

Das Wesen erhob sich wieder, der Kampfdom breitete sich noch weiter aus. Auch veränderte er nun seine Farbe. Die blauglühenden Linien wechselten zu Grün und Rot, immer schneller, bis der Flugapparat in einem Globus aus nervös flackernden Linien gefangen war, die dasselbe Farbenspiel wie ihre Escutcheons zeigten.

Die Kreatur, die in ihrem bizarren Körper, halb Mensch, halb Ungeheuer, die Seele des Kriegsgottes trug, bewegte sich unter anmutigen Flügelschlägen vor dem Flugapparat in die Tiefe, bis es in geringer Entfernung darunter schwebte. Dorian, in dessen Ohren immer noch die Worte der Kreatur schmerzhaft widerhallten, trat mit wackligen Knien an den Rand des Apparats, unter dem das Wesen schwebte.

„Ihr kämpft tapfer, und das gefällt mir! Der Tod ist euer Begleiter, seit ihr meine Verfolgung begonnen habt, und jedes der Opfer, die ihr mir dargebracht habt, ehrt mich! Deshalb will ich euch den Blick in die Zukunft gönnen, die ich dieser Welt bringen werde! Ein Paradies soll hier entstehen, ein ewiges Reich des Krieges, in dem meine Jünger für mich beten und sterben sollen!“

Dunkelheit erfüllte den Kampfdom, und das einzige verbliebene Licht war der Gott des Krieges. Ein rotes Licht trat aus seinem Schlund aus, das sich ausdehnte und zu einem Mahlstrom wurde. Ein Mahlstrom gleich einem Strudel, der alle vorüberziehenden Schiffe in die Tiefen des Ozeans reißt. Tatsächlich begann ihr Flugschiff dem Strudel entgegenzusinken, der ein Paradies des Krieges in sich trug, in dem die Seelen nur leben, um sich gegenseitig zu bekämpfen und auf diese Weise Ares Tribut zollen.

Das Schiff neigte sich immer mehr. Dorian stürzte und rutschte auf den Rand zu. Sein Schwert verlor er dabei, und es fiel in den Schlund des Ares, der wie ein Orkanwirbel alles einsaugte. Das Schiff neigte sich noch stärker, und er sah, wie Brynja und Hargfried neben ihm an Vertiefungen in der Hülle des Metalls hingen. Unter ihren baumelnden Füßen gähnte der Mahlstrom aus rotem Licht.

Jetzt sah er Sarik, der mit einer Hand an einer Leitung hing. Er hielt sich mit einer Hand, seine zweite war aber frei und hielt das Schwert. Der Blick seines gesunden Auges traf ein letztes Mal Dorian.

„Jetzt werde ich beenden, was ich vor zweihundert Jahren begonnen habe.“

Seine Stimme war leise, doch Dorian verstand die Worte über das Tosen des Mahlstroms geradeso, als wären sie direkt in seinem Kopf entstanden.

Dann ließ sich Sarik fallen und stürzte mit seiner Waffe voran in den Schlund des Ares.
 

Das Sinken des Schiffes wurde zu einem Absturz.

Alles um Dorian vermischte sich zu einem Wirbelsturm aus knirschendem Metall, den Schreien seiner Mitstreiter und dem Strudel aus rotem Licht, der sie wie ein Meer aus Feuer verschlang.

Dorian klammerte sich an seinen Halt und presste die Augenlider aufeinander. Einen kurzen Moment glaubte er, die Hilferufe von Iria und Nadim zu hören, die im Inneren des Schiffes waren. Die Aussicht, sie in jener Welt, in der sie nun versinken würden, wiederzusehen, erfüllte ihn mit einer Zuversicht, die die Dunkelheit um ihn herum mit einem Funken der Hoffnung schwach erhellte.

Er spürte die Hitze des Mahlstroms auf der Haut, und sein unheilvolles rotes Licht brannte ihm durch seine geschlossenen Lider hindurch. Auch spürte er, wie die Schwerkraft, die an seinen Füßen zerrte, nachließ. Er ahnte, dass sie in eine Welt hinabglitten, in der sich alle Naturgesetze den Geboten von Krieg und Kampf unterwerfen mussten. Eine Welt, in der dieses Wesen herrschte, das ihrem verzweifelten Ringen von seinem Thron aus zusehen würde, um sich bis in die fernste Ewigkeit an ihrem Leid zu ergötzen-
 

Doch es geschah nicht. Das Brennen des Lichts um ihn herum wurde für einen Moment unerträglich stark, bevor es sich auflöste und in alle Richtungen wegstrebte, so wie ein Kessel unter Hitze birst.

Die Schwerkraft hatte sie wieder, ebenso wie das Blau des Himmels. Dorian schrie aus Angst, wegen jener, die sich verflüchtigte, und wegen jener, die die andere nun ablöste. Dorian schrie, und zwar vor allem deshalb, weil er immer noch am Leben war und in keinem Höllenreich der ewigen Verdammnis gelandet war. Er schrie, ohne aufzuhören, und sog dabei gierig die Luft jener Welt ein, in der er noch einige Momente verbringen durfte. Dann öffnete er die Augen.

Was er sah, war der Erdboden, dem sich ihr abstürzendes Schiff mit rasender Geschwindigkeit näherte.
 

Alle Soldaten im weiten Umkreis, galdorianische ebenso wie mosarrianische, legten ihre Köpfe in den Nacken und beobachteten mit offenen Mündern das Ereignis am Himmel. Keiner von ihnen konnte glauben, was er sah, und manche legten, trotz der Nähe des Feindes, die Waffen weg und staunten wie Kinder.

Ein fliegender Apparat, der sich gegen alle Naturgesetze in der Luft hielt, schwebte über ihnen. Eine geflügelte Kreatur, von der schrecklichen Erscheinung eines Dämons, kam auf den Apparat zu, um dann in einem Kampfdom hängen zu bleiben. Das war das Schauspiel, das sich ihnen bot. Ebenso wie das unheilvolle rote Glühen am Himmel, welches das Schlachtfeld mit einem blutigen Dunst überzog, das sich aber in einer grellen Detonation wieder auflöste. Übrig blieb der Apparat, der unter den Blicken tausender Soldaten dem Erdboden entgegenstürzte, um sich erst im letzten Moment wieder zu fangen.

Dies alles geschah an jenem Frühlingstag, eine Woche nachdem das Maleficium auf mysteriöse Weise aus dem Palast der Stadt Galdoria verschwunden war. Am selben Frühlingstag, an dem auch der Krieg zwischen Galdoria und Mosarria in einen Waffenstillstand mündete.

Die Gaststube war zum Brechen voll. Ebenso wie alle anderen Gasthäuser und Kneipen der Stadt Galdoria, in denen das Ende des Krieges gefeiert wurde.

Leute stießen mit ihren Humpen an, und ihre Gesänge verstärkten den Lärm in der Gaststube noch. Lebhafte Gespräche wurden von übermütigen Rufen übertönt, die aus Freude über den Waffenstillstand oder auch einfach aus Trunkenheit erklangen. Die Tische waren alle besetzt; Jung und Alt saßen beieinander und feierten diesen Tag, der wohl auf immer einen Platz im galdorianischen Kalender haben würde. So wurde an allen Tischen ausgelassen gezecht und gelacht… bis auf einen.

„An dem Abend im Rebellenlager- “, begann Brynja, deren Stimme dann aber ins Stocken geriet. Sie wandte sich nach allen Seiten, als ob sie jemand belauschen würde, was in dieser lebhaften und lautstarken Stimmung kaum wahrscheinlich war. Dann schüttelte sie den Kopf und begann von Neuem. „Ich sollte euch ausrichten, er dankt euch allen, dass ihr ihn auf seiner Reise begleitet habt.“

Iria und Dorian bemühten sich, sie über den Lärm der feiernden Menge hinweg zu verstehen. Beide dachten sie, dass es passendere Orte für diese Aussprache geben mochte, doch die erste warme Mahlzeit seit Tagen hatte sie an diesen Ort gelockt, und nun saßen sie satt und müde beieinander.

Nadim löffelte immer noch an seinem Nachschlag. Hargfried, der neben ihm saß und offenbar gar keine Furcht bei ihm mehr auslöste, ließ seinen nervösen Blick mit einer Mischung aus Erheiterung und Unruhe über die lachenden und auf den Waffenstillstand anstoßenden Menschen gleiten.

„Das war alles? Hat er sonst nichts gesagt?“ fragte Dorian. „Was ist überhaupt mit ihm passiert“, murmelte er und erinnerte sich der letzten Momente mit ihm. Brynja verdrehte die Augen, als würde sie sich für die Worte genieren, die sie wiedergab, erfüllte dann aber doch das Versprechen, das sie gegeben hatte.

„Es klingt wie ein Ammenmärchen… Aber bitte. Ich will es auch so erzählen, wie er es mir gesagt hat. Lacht aber nicht, ich gebe es nur wieder, wie er es mir aufgetragen hat…“
 

Einige Zeit später saßen sie alle wortlos da, wie betäubt von Brynjas Worten.

Um sie herum herrschte immer noch die Fröhlichkeit darüber, dass sich die Armee des Nachbarlandes zurückgezogen und dass die neue Führung bereits Verhandlungen begonnen hatte.

„Das ist schwer zu glauben“, sagte Nadim nach einer Weile und hielt sich dabei seinen überfüllten Magen.

„Ja. Dass Sarik und dieser heilige York…“, begann Iria leise und blickte nachdenklich in ihre leere Schüssel.

„Wieso hat er denn nie etwas gesagt?“ fragte Dorian mit leiser Empörung in der Stimme. Sein unzufriedener Blick traf dabei Brynja, die schnaubend auflachte.

„Hättest du es ihm denn geglaubt?“ fragte sie zurück, und Dorian wusste darauf nichts zu erwidern. Er lehnte sich zurück und streckte seine Glieder, die immer noch schmerzten.

„Er ist zurückgekehrt, um einen weiteren Krieg zu beenden“, flüsterte Dorian so leise, dass es außer ihm niemand hörte. Vor seinem inneren Auge sah er noch einmal jene Welt, in der der heilige York gelebt hatte, und in die er einen Blick hatte werfen dürfen, damals, in dem Zugabteil.
 

Schließlich verließen sie das Gasthaus.

Die warme Frühlingssonne fiel auf das Pflaster von Galdoria, und Dorian blinzelte ihren kräftigen Strahlen entgegen. Ihre Wärme kitzelte ihn in der Nase. Es schien ihm, als wäre er nie weg gewesen.

„Nun… Ich werde wieder meines Weges gehen“, sagte Brynja nach einigen Momenten des Schweigens, in denen nur das ferne Lärmen der Versammlung und das Zwitschern der Vögel auf den Dächern die Frühlingsluft um sie herum erfüllt hatte.

Einen wortlosen Blick des Verstehens tauschten sie noch mit ihr, bevor sie sahen, wie Brynja Peinhild ihre Schritte die Straße entlang lenkte, dem westlichen Stadttor entgegen. Ihre Umhang flatterte leicht dabei, und selbst jetzt wirkte sie wie ein Schatten, der seiner wahren Heimat, der Nacht, entgegenschritt.

„Es war mir eine Ehre, mit einem solchen Knappen zu reisen!“ rief Hargfried, woraufhin Nadim erschrak. Dann schüttelte er die dargereichte Hand und empfing einen Schulterklopfer, der ihn fast zu Boden streckte.

„Was wollen Sie jetzt tun?“ rief Nadim nach kurzem Zögern dem jungen Ritter nach, der mit weiten, zuversichtlichen Schritten losmarschierte. Hargfried blieb stehen, wandte sich mit einer nachdenklichen Geste um und zog dabei die Nase kraus.

„In mein Herzogtum kann ich erst zurückkehren, wenn ich den Mörder meines Vaters gestellt habe. Bis dahin liegt wohl eine weite Reise vor mir.“

„Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei“, sagte Nadim und winkte ihm.

Ein letztes Mal sahen sie noch Hargfrieds Lächeln, eine unbehagliche Mischung aus naiver Zuversicht und schleichendem Irrsinn, dann entschwand er ihrem Blick.
 

Dorian, Iria und Nadim gingen Seite an Seite die Straße entlang.

Sie steuerten die Sanderstraße an, in der sich bereits von weitem hörbar die Menge in Richtung des Palastes wälzte. Die Versammlung musste gleich beginnen, dachte er, und er erinnerte sich an die letzten Tage.

Nach ihrem Beinahe-Absturz mit dem Flugschiff hatte sich die Kunde von der Zerstörung des Maleficium und von Modestus‘ schwerer Verwundung schnell verbreitet. Largo Cotter hatte sich auf dem schnellsten Weg in die Hauptstadt gemacht, wo bereits der öffentliche Aufruhr aufgrund des Kriegsverlaufs und der Abwesenheit des Kaisers gedroht hatte.

Doch bevor noch das Chaos die Hauptstadt in Brand hatte setzen können, hatte Largo Cotter mit seinen Verbündeten, die im Untergrund schon von langer Hand einen Machtwechsel vorbereitet hatten, diesen endlich durchgeführt. Der Tod von Jan Gildenstern, das Verschwinden des Kaisers sowie die Flucht des Generalstabs angesichts der sich abzeichnenden Niederlage in diesem Krieg hatte das ermöglicht.

Und so gelang es ohne größeres Blutvergießen, eine provisorische Verwaltung einzusetzen, die unverzüglich mit den Friedensverhandlungen begonnen hatte. Mosarria, selbst des Krieges müde, der angesichts der Zerstörung des Maleficium seine Ursache verloren hatte, stimmte ein, und die Kampfhandlungen wurden unmittelbar und nur wenige Meilen von der galdorianischen Hauptstadt entfernt gestoppt.

Der Lärm der Menschenmenge wurde stärker, und Dorian wachte aus seinen Gedanken auf. Vor ihnen schob sich ein breiter Strom aufgeregter, rufender und feiernder Menschen in Richtung des Palastes. Dorian musste lächeln bei der Erinnerung an den Einzug des Maleficium, der damals ebenso gefeiert worden war. Nun waren die Menschen ähnlich zuversichtlich, wenn auch aus einem ganz anderen Grund.

So standen sie nun vor der sich dahin wälzenden Menge, und die Aussicht, inmitten dieses Gedränges rechtzeitig zum Platz vor dem Palast zu kommen, schwand.

Alle drei sahen sich an, wobei ein verschmitztes Lächeln von einem zum Nächsten überging, als Dorian in Richtung der Dächer deutete.
 

Ein Meer aus Köpfen, Hüten, Perücken und Glatzen wogte bunt und lärmend unter ihnen.

Das Lachen und die angeregten Diskussionen, wie es mit dem Land wohl weitergehen werde, hallten zu ihnen herauf. Dorian, Nadim und Iria ließen ihre Beine von der Dachkante baumeln und überblickten den Platz vor dem Palast.

Von weitem sahen sie Largo Cotter und einige seiner Leute, die sich auf die Ansprache vorbereiteten. Sie wurde nicht von dem Balkon des Kaiserpalastes abgehalten, stattdessen war eine Tribüne, die das Meer der Bürger von Galdoria nur knapp überragte, errichtet worden. Letztendlich schritt Largo Cotter in Begleitung seiner Getreuen die Tribüne hinauf. Er trat an das vorbereitete Mikrofon, und das schrille Pfeifen einer Rückkopplung erklang. Wie auf Befehl verstummten die Menschen, nur noch ihr unterschwelliges Gemurmel erfüllte die milde Frühlingsluft.

„Bürger dieser Stadt, und dieses Landes“, begann Largo Cotter. Durch die Verstärkung der Lautsprecher wirkte seine Stimme noch eindringlicher als Dorian sie in Erinnerung hatte. Zugleich aber schien sie an Rauheit eingebüßt zu haben, als hätten die Geschehnisse der letzten Zeit einige ihrer Kanten abgeschliffen. Dann schweifte sein Blick über die Menge, und es wirkte, als könnte er selbst nicht ganz glauben, hier zu sein.

„Ich spreche heute in Vertretung der Übergangsregierung. Es ist wahr, dass die Verhandlungen mit Mosarria begonnen haben, an deren Ende hoffentlich ein dauerhafter Frieden wird stehen.“ Applaus brandete auf, und Cotter wartete geduldig, bis dieser wieder abschwoll. „Es wird einige Veränderungen geben. Viele von euch werden es schon gehört haben, und ich kann es euch heute bestätigen: Modestus, unser früherer Kaiser, dankt aus gesundheitlichen Gründen ab, und verzichtet zugleich auf die Einsetzung eines Thronfolgers. Stattdessen werden in der nächsten Zeit Wahlen stattfinden, um eine Regierung aus Volksvertretern zu einzusetzen.“

Wieder brandete Applaus auf, wenngleich verhaltener als zuvor. Dorian überblickte die Menge: Ihn überkam die Vermutung, dass die Leute nicht recht wussten, warum sie jubelten, sich aber von ihrem Gefühl, dass heute etwas Bedeutendes passierte, leiten ließen.

„Ich freue mich ebenso wie ihr über diesen Tag; eine schwierige Zeit liegt hinter uns“, sprach er in den verstummenden Applaus hinein. „Ich kann euch aber nicht versprechen, dass die kommenden Zeiten viel leichter werden. Der Krieg hat seine Verluste gefordert, und die Wunden unseres Landes werden eine Weile brauchen, um zu heilen.“

Andächtige Stille kehrte auf dem Platz ein. Nicht einmal mehr Gemurmel war zu hören, und es schien Dorian, als würden sich die Leute von Cotters schwermütiger Stimmung anstecken lassen.

„Es kommt eine Menge Arbeit auf uns zu. Vieles, das über Jahrhunderte hinweg gegolten hat, ändert sich nun. Ich zähle darauf, dass ihr alle mithelft bei diesem neuen Galdoria, das entstehen wird.“ Cotters Blick richtete sich nun auf einen Punkt des Pultes vor ihm. Dann streifte er die abwesende Miene ab und sprach weiter.

„Ich möchte nun, dass wir zusammen gedenken. Und zwar all jenen, die in diesem Krieg ihr Leben verloren haben, sei es an der Front oder hier, im Herzen des Landes.“

Er neigte den Kopf, schloss die Augen und schwieg. Ebenso taten es viele andere in der Menschenmenge, wie Dorian sah. Sein Blick glitt über die Ansammlung der Bürger und verlor sich bald in einer unscharfen Entfernung. Er sah die Opfer dieses Krieges vor sich, die Toten bei dem Angriff auf den Zug, die Gefallenen unter den Rebellenkämpfern… und seine Freunde, die die Veränderungen in diesem Land, zwar unbewusst, aber ebenso mit dem Einsatz ihrer Leben in Gang gebracht hatten.

Damals ahnten sie nichts davon, doch dies schmälerte ihr Opfer nicht. Dorian dachte an sie, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
 

Nach der Rede zerstreute sich die Menge in alle Richtungen der Stadt.

Dabei bildeten sich immer wieder Anhäufungen von Bürgern, die lebhaft über die Zukunft des Landes diskutierten. Viele äußerten sich zufrieden über die Abschaffung der Monarchie, wenngleich sie diese Zufriedenheit einzig mit dem Ende des Krieges begründen konnten, der ohnehin schon so gut wie verloren war. Andere murrten mit bedeutsamen Gesten über ihr Ende, und beklagten zugleich die glorreiche Vergangenheit Galdorias, die nun endgültig hinter ihnen lag. Die meisten aber richteten sich mit dieser Veränderung ein, so wie sie auch im Winter wärmere Mäntel anziehen, anstatt über die Kälte zu schimpfen.

Dorian, Iria und Nadim kletterten von den Dächern herab und gingen wieder auf der Straße. Dorians Blick traf die Läden, die ihre gewohnten Geschäfte machten, die Leute, die feilschten, tratschten und lachten, und die Stadtwachen, die etwas orientierungslos angesichts des Machtwechsels, ansonsten aber mit der gleichen Selbstsicherheit wie sonst ihre polierten Harnische in der Öffentlichkeit spazieren trugen.

Ihre Schritte mochten auf einen Beobachter ziellos wirken, doch sie hatten eine bestimmte Richtung, ein Ziel, das Dorian bis jetzt zurückgestellt hatte. Er wusste aber, dass es sich nicht vermeiden ließ, und schließlich betraten sie eine Seitengasse, die in Richtung des Bucket-Weges führte.
 

Iria und Nadim blickten ihn scheu von der Seite an.

Beide hatten das Bedürfnis, ihre Anteilnahme auszudrücken, wenngleich sie wussten, dass sie ihm diese Last nicht abnehmen konnten. Dorian blickte an der Fassade empor. Um die Fenster herum prangten Schatten aus Ruß, die das Feuer hinterlassen hatte. Der Dachstuhl war vollkommen verbrannt, und so fiel das Licht der Sonne durch die Fenster ins Freie.

Dorian betrachtete das Haus, so wie man einen Verstorbenen ansieht, dessen friedliches Gesicht all die schönen Erinnerungen weckt, die man einst mit ihm geteilt hat. Er begann leise zu lachen. Iria und Nadim wunderten sich darüber und tauschten einen fragenden Blick miteinander. Sie wussten nicht, dass in dem Moment ein Strom aus den vielen Erinnerungen, die er an dieses Haus und seine Bewohner hatte, an seinem inneren Auge vorbeifloss und in ihm noch einmal das Gefühl eines Zuhauses, eines Orts, an dem man immer zurückkehren konnte, weckte.

Dieser Strom warmer, herzlicher Erinnerungen versiegte letztendlich, und übrig blieb die ausgebrannte Ruine ohne Leben darin. Dorians Lachen ging in ein Schluchzen über, und er sank in Irias Arme, die schon bereitstand, ihn aufzufangen.
 

Die Sonne war bereits im Sinken begriffen: Lange Schatten lösten sich von den Dächern Galdorias und zeichneten breite Streifen auf die Häuser, Fassaden und Giebel. In der Ferne glänzte das Meer unter ihren schwächer werdenden Strahlen und färbte es in eine Vielzahl warmer Rot- und Orangetöne.

Dorian saß auf dem brüchigen Sims des Uhrturms. Iria und Nadim saßen im Raum darunter und warteten geduldig. Es waren keine Schiffe auf dem Meer; wahrscheinlich wegen des eben erst zu Ende gegangenen Krieges, dachte Dorian. Er blinzelte. Seine Augen waren immer noch gerötet, sein Gesicht aber mittlerweile wieder trocken. Er blickte auf das Meer hinaus und erinnerte sich, dass er das vor ziemlich genau einer Woche auch getan hatte. Es war das gleiche Meer, derselbe Glanz auf seiner Oberfläche… Aber nicht mehr dieselbe Person, die hinausblickte.

Er schüttelte den Kopf und spürte neue Tränen in seine Augen steigen. Nein, dachte er, jemand anderer hat vor einer Woche hier gesessen und hinausgeblickt. Ich bin nicht mehr der, der damals hier saß.
 

Das Rauschen des Meeres klang wie der Gruß eines alten Bekannten, der ihn nach langer Reise wiedersah. In der Mitte zwischen Iria und Nadim ging Dorian. In einer Hand trug er einen kleinen Stoffsack. Seine andere hielt Irias Hand.

Manchmal warfen sie sich Blicke zu, die Nadim auffielen. Aus ihnen sprach mehr als nur der Wille, Trost zu spenden. Alle beide hatten sie sich verändert, wie ihm nicht entgangen war. Aber auch Nadim wusste, dass er nicht mehr der Angsthase war, der diese Stadt hier vor einer Woche für ein überaus kurioses Abenteuer verlassen hatte. Nun, nach all den überstandenen Gefahren und bewältigten Herausforderungen, war er wahrhaft Nadim Wenzelstein: Ein Angsthase, der doch manchmal mutig sein konnte. Und der sich nie mehr vor seinen Ahnen würde schämen müssen, auch wenn er nie ein so großartiger Dieb wie Johann Wenzelstein werden würde.

Am Pier, wo das dunkle Meerwasser an den Stein brandete, blieben sie stehen. Dorian kniete sich hin, und unter den Blicken seiner Begleiter öffnete er den Stoffsack. Darin war Asche von seinem Zuhause. Er entleerte sie in das Meer und sah, wie sie kurz auf den Wellen tanzte, bevor sie versank. Und er verstand, dass sein eigentliches Zuhause nicht von Feuer zerstört und nicht vom Tod geraubt werden konnte.

Sein eigentliches Zuhause war in seinem Herzen und in seinen Träumen, die entstanden waren im Glanz des Meeres unter der verblassenden Sonne, in dem Klang der Geschichten waghalsiger Vagabunden, zu denen er sich, wenn er wollte, nun ebenso zählen konnte, und in der Welt, von der er etwas kennengelernt hatte, was aufregender und wirklicher war als alle Geschichten und Träume. Weil es SEINE Geschichte war, die er erlebt hatte, und die nun untrennbarer Teil seiner Vergangenheit war.

Er sah mit an, wie die letzte Asche verschwand, und es war ihm, als würde mit ihr sein früheres Leben verschwinden und von einem neuen, anderen ersetzt werden. Dorian spürte, wie der Traum von einer großen Karriere als Abenteurer und Dieb sich wandelte, geradeso, als würde er feststellen, dass dieser Traum Wirklichkeit war. Nicht so, wie in seiner Fantasie, aber greifbar und unmittelbar, in all seiner Schönheit und seinem Schrecken.

Dorian stand wieder auf und spürte den frischen, salzigen Wind, der vom Meer herkam, und atmete ihn tief ein. Dann wandte er sich zu Nadim, dem er einen Blick der Freundschaft und des Vertrauens, das zwischen ihnen gewachsen war, zuwarf, sowie zu Iria, der er einen ähnlichen Blick zuwarf, der aber noch mehr in sich barg, und den sie mit der scheuen Gewissheit, ein neues Leben an seiner Seite zu beginnen, erwiderte.

Dann ging sein Blick über sie hinweg, woraufhin Dorian erstarrte.
 

Der Wind zerrte an den Bäumen um den Friedhof herum. Brynja schnallte ihren Mantel enger; es fror sie. Ihr Blick traf die Reihe verwitterter Steine, bis er an einem hängen blieb. Dort blieb sie stehen.

Eine Weile stand sie nur da, und der aufkommende Wind zerrte an ihrem Mantel. Ihr Blick war leer, nur eine einzelne Träne lief über ihr wettergegerbtes Gesicht. Schließlich atmete sie tief durch und straffte ihre Haltung.

„Ich habe diese Rache sosehr gewollt, dass ich dich fast vergessen hätte“, sagte sie leise und begann so die stille Unterredung mit dem einfachen, von Wiesenkräutern überwachsenen Grab. „Es hat dich aber nicht zurückgebracht… und ich war wohl ziemlich töricht“, sprach sie weiter und lachte leise dabei.

Eine weitere Träne löste sich aus ihren Augen, und sie zog sie durch die Nase auf. Dann löste sie mit geübten Bewegungen ihre Armschiene vom Unterarm. Eine Weile betrachtete sie seine abgenutzte Oberfläche und die Scheiben des Escutcheons, deren Grün wie der erwachende Frühling strahlte. Dann legte sie ihn auf das Grab.

Mit schnellen Schritten verließ sie den Friedhof. Die schmale Landstraße führte Richtung Horizont und verschwand dort zwischen dichten Wäldern und sanften Hügeln. Nun ging sie einem Ziel entgegen, das ebenso fern war wie ihre Gedanken, die bei ihrem verstorbenen Gefährten weilten.
 

Hargfried beschirmte sein Gesicht mit der Hand und blinzelte in Richtung der Ortschaft, die entlang der Straße lag.

Seine Füße schmerzten, und in seinen Knochen machte sich die Müdigkeit der letzten Tage breit. Er vermisste die Stadt, die er hinter sich gelassen hatte, er vermisste seinen Vater, dessen Mörder immer noch frei herumlief, und er vermisste sein Fahrzeug, von dem er nicht mehr wusste, wo er es damals abgestellt hatte.

Seufzend ging er die Böschung des kleinen Flusses hinab, der neben der Straße fröhlich dahin plätscherte. Es war noch weit bis zur Ortschaft, und sein Durst war übermächtig. Am Ufer kniete er sich hin und trank aus seinen hohlen Handflächen.

Er spürte, wie die Erfrischung ihn erfüllte, dann blinzelte er die sich kräuselnde Wasseroberfläche an. Ein Bild formte sich, das Bild eines verwirrt dreinschauenden jungen Mannes mit langen, blonden Haaren und einer auffälligen Narbe in der einen Gesichtshälfte.

Hargfried betrachtete das Bild eine Weile; es kam ihm bekannt vor. Schließlich erkannte er es wieder, und der Schrecken fuhr ihm durch alle Glieder.

„Bist du etwa…“ flüsterte er atemlos. „…der …der Mörder… meines Vaters!?“

Den Schrei konnte man bis zur nächsten Ortschaft hören.
 

Der Lärm der versammelten Menschenmenge sowie die Worte des Redners drangen nur schwach durch den Vorhang; aber Modestus der Dritte verstand jede Einzelheit.

Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch den Spalt zwischen den schweren Vorhängen aus rotem Samt und traf eine Gestalt, die zusammengesunken in einem Rollstuhl saß. Im Licht des feinen Strahls wirkte es fast wie ein Bündel Kleidung, das jemand unachtsam auf den Stuhl geworfen hatte. Aber in dem Bündel steckte ein Mensch, wenngleich er kaum noch jener Erscheinung glich, die selbst eine Rede von dem Balkon hier aus gehalten hatte.

Die eine Seite des Körpers war seltsam eingesunken. Es schien, als würde der Gestalt ein Arm fehlen. Der restliche Körper war ausgemergelt, und auch die prächtige Kleidung mit den darüber ausgebreiteten Decken konnte das kaum verbergen. In dem Gesicht lagen zwischen Falten blasser Haut Augen in tiefen Höhlen. Das Gesicht wirkte wie das eines Greises, obwohl die Person in Wahrheit noch nicht einmal die Vierzig erreicht hatte.

Die Augen tasteten im Raum umher, und in ihnen schimmerte ein Glanz, der wie eingebrannt in die ansonsten leeren Augen waren. Als hätten diese Augen unsagbares Grauen gesehen, in das sie zulange aus Neugier und Torheit gestarrt hatten, so wirkten sie einerseits gebrochen und leer, andererseits aber auch von einem kränklichen Glanz erfüllt.

Irgendwann trat jemand an diesen Rollstuhl heran, schob ihn aus dem Raum und weiter in das Innere des Palastes, wo noch weniger Licht war, das in diesen verdüsterten Augen schmerzen konnte. Dabei bewegten sich die Lippen der Gestalt in dem Rollstuhl ganz leicht. Ein Flüstern entrang sich ihnen, in dem heruntergebrannter Zorn und zu Asche zerfallener Hass herausklangen.

„Gildenstern… Gildenstern…“, flüsterten sie, und der Rollstuhl mitsamt seinem Insassen verschwand im Dunkel des weitläufigen Palastes.
 

Dorian erstarrte. Er schaute an Iria vorbei, die einen Moment lang seinem fassungslosen Blick begegnete, bevor sie in dieselbe Richtung blickte. Dann verstand sie sein maßloses Erstaunen.

„Gaubert! Ludowig! Nikodemus!“ schrie Dorian aus vollem Halse und lief los. Iria und Nadim blickten ihm hinterher, folgten ihm aber nicht. Sie wussten, dass dieser Moment nur ihm und seinen Freunden gehörte.
 

Ein Jauchzen und ein Weinen, Rufe der Freude und des Erstaunens gingen von der kleinen Schar aus, die sich gegenseitig um den Hals fiel, abwechselnd lachte und in Tränen ausbrach. Nadim und Iria kamen langsam näher und betrachteten diese Szene mit feuchten Augen, die keinen Hehl aus ihrer Rührung machten.

„Es tut… mir so… leid“, stammelte Dorian schluchzend vor seinen Freunden. Diese rangen selbst mit den Tränen, wischten sie sich aber schnell wieder ab und schnaubten ihre Rührung durch die Nasen hinaus.
 

Inmitten von Gaubert, Nikodemus und Ludowig spazierten Dorian nun am Hafen entlang. Ohne Ziel, ohne Plan, einfach nur aus Freude über dieses Wunder, das keiner von ihnen für möglich gehalten hatte.

Iria ging mit Nadim ein Stück hinter ihnen. Sie sah diese drei Burschen, die sie kurze Zeit erst kannte. Sie sah den schlaksigen, immer etwas tollpatschig wirkenden Ludowig, der während des Erzählens mit seinen zu lang geratenen Armen gestikulierte. Sie sah den rundlichen, stämmigen Nikodemus, der seinen Freund immer wieder ins Wort fiel und ausbesserte, wo dieser seiner Ansicht nach übertrieben oder auch nicht genug ausgeschmückt hatte. Und sie sah den schon etwas älteren Gaubert, der die beiden immer wieder mit ernster Stimme berichtigte, um dann doch wieder in ihr allgemeines Gelächter einzustimmen.

Sie hörte die Geschichte von dem Überfall auf ihr Haus am Bucket-Weg, bei dem ihnen der selbstlose Einsatz ihres Meisters Yannick die Flucht vor den Soldaten des Kaisers ermöglicht hatte. Und auch, dass sie nach dem Verlust von allem, das sie noch an diese Stadt band, ein Schiff hatten nehmen wollen, welches sie weit weggebracht hätte, und sie deshalb sich beim Hafen aufgehalten hatten.

Bei dieser Erzählung wurden sie alle ganz still, nur das Rauschen des Meeres untermalte ihre gemeinsame Trauer. Sie alle gedachten ihres Meisters, der nicht ohne seine neugewonnene Familie hatte leben wollen, und der so lieber eine Erinnerung zwischen ihnen hatte bleiben wollen denn der einsame Mann, der er in seiner Vergangenheit gewesen war.

Aber bald übertönte die Wiedersehensfreude zwischen ihnen die Vergangenheit, die erst in einer anderen Zeit, in der Zukunft, würde verheilen können. Und so lachten sie und freuten sich über das Leben, das sie nun miteinander teilen konnten. Sie lachten und sie scherzten, und die Wunden, die ihnen das Leben beigebracht hatte, bekamen Luft zu verheilen. Zugleich aber formten sie auch die Persönlichkeiten dieser jungen Burschen, die in ihrem Leben weiterschritten, ohne das Vergangene zu vergessen, aber auch ohne die Zukunft zu fürchten.

Denn für sie gab es einen Ort, an dem sie immer würden zurückkehren können, ein wahres Zuhause: Die Freundschaft zwischen ihnen.
 


 

ENDE

~ 12.11.2008 ~ 14.02.2009 ~



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Von:  fahnm
2011-03-02T23:35:10+00:00 03.03.2011 00:35
Die Story war genial.
Schön das es am Ende noch was gutes gab.
Und was wird dein nächstes Projekt sein?
Von:  fahnm
2011-02-27T02:40:52+00:00 27.02.2011 03:40
*pfeif*
Das ist der Hammer.
Und jetzt ein Waffenstilstand.
Bin schon aufs letzte Kapi gespannt.^^
Von:  fahnm
2011-02-19T01:59:17+00:00 19.02.2011 02:59
Hammer kapi!^^
Jetzt geht es rund.^^
Bin mal gespannt wie es weiter gehen wird.^^
Von:  fahnm
2011-02-17T23:11:50+00:00 18.02.2011 00:11
Wow.
Gildenstern ist ja sehr heftig.
Hätte nicht gedacht das er so drauf ist.
Bin mal gespannt was noch rauskommen wird.^^
Von:  fahnm
2011-02-17T00:51:18+00:00 17.02.2011 01:51
Hammer Kapi!^^
Freue mich schon aufs nächste.^^
Von:  fahnm
2011-01-22T00:48:47+00:00 22.01.2011 01:48
Super Kapi^^
Freue mich schon aufs nächste.^^
Von:  fahnm
2011-01-16T02:34:40+00:00 16.01.2011 03:34
Hammer Kapi!^^
Das sieht Übelaus für die Rebellen.
Hoffe das es gut gehen wird.^^
Von:  fahnm
2011-01-13T23:00:08+00:00 14.01.2011 00:00
Hammer Kapi!^^
wer sie Wohl angreift?
Bin mal gesapnnt wie es weiter geht.^^
Von:  fahnm
2011-01-09T01:28:48+00:00 09.01.2011 02:28
Super Kapi!^^
Freue mich aufs nächste kapi^^
Von:  fahnm
2011-01-07T01:53:49+00:00 07.01.2011 02:53
Hammer Kapi!^^
Bin schon gespannt wie es weiter gehen wird.^^


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