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Das Maleficium

von

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Er ergriff auch ihre andere Hand und hielt beide fest, als müsste er sie davon abhalten, sich selbst etwas anzutun.

Zuerst leistete sie Widerstand gegen den Griff seiner Hände, dann aber gab sie ihn auf und hob den Blick. Im Halbdunkel der verstreuten Beleuchtungen sah er ihre geröteten Augen, doch mehr noch erhellte die Farbe, die von ihren Worten in der Luft hing, ihr Gesicht und überzog es mit einem matten, traurigen Glanz. Eine einzelne Träne leuchtete darin auf, und er fing sie mit dem Finger auf.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte er dabei und merkte, wie seine eigene Stimme zittrig wurde. Er räusperte sich lautstark, wollte er ihr doch Zuversicht vermitteln und keinen der Zweifel, die in ihm selbst wohnten.

Immer noch hielt er ihre Hände. Sie wehrte sich nicht dagegen, und in ihren Augen war auch kein Trotz mehr zu sehen. Stattdessen nur eine Klarheit wie die eines tiefen Sees, der seinen Grund erkennen ließ. Oder jene, die in Augen herrscht, die alle Tränen dieser Welt vergossen haben, und deren Schmerz sich letzten Endes selbst verzehrt hat.

Schließlich spürte er, wie sich ihre Hände in die seinen schmiegten.
 

Er wollte noch etwas sagen, wollte ihr auf irgendeine Art Mut machen, doch er brachte nichts hervor.

Ebenso schwieg sie und stand nur da, ohne dass einer den anderen hinterfragte oder seine Worte anzweifelte. In dem Moment schienen ihrer beider Vergangenheiten, die sich so sehr ähnelten, und ihre Persönlichkeiten, die sich so sehr voneinander unterschieden, in einem Gleichklang zu schwingen, der keine Fragen offen ließ.

Beiden war es, als wäre niemand sonst in der Nähe, als wären sie mit sich selbst allein. Beiden war es, als wäre der andere nicht mehr die Person, die stören, ärgern oder nerven konnte, sondern, als sähen sie einen Spiegel im anderen, der nur zurückwarf, was bereits vorhanden war. Beide fühlten den Frieden, der nur in raren Momenten entsteht, wenn man weit weg von jeder Sorge mit sich und der Welt im Einklang steht, und doch auch keine Einsamkeit spürt.
 

Dorian spürte die Veränderung, die auf dem Balkon des Gasthauses in der kleinen Stadt Kurrel begonnen hatte, und sah nun in Irias Augen, dass diese Veränderung auch sie ergriff. Die Gewissheit, dass diese Veränderung einen Namen hatte, wurde lebendig. Seine Lippen formten lautlos den Namen dieser Veränderung, dieses Gefühls, und ebenso, auf wundersame Weise, auch die ihren.
 

Iria war verwirrt und entschlossen zugleich.

Verwirrt über ihr eigenes Ich, das in der Welt, die nach den vergangenen wie auch kommenden Ereignissen nie mehr dieselbe sein würde, ebenso nicht dasselbe bleiben konnte. Und entschlossen, nicht mehr davonzulaufen, sondern sich diesen Ereignissen zu stellen, die sie mit Angst erfüllten, die aber nun unaufhaltsam auf sie zukamen. Dazu kam die Gewissheit, diesen Weg, der so viele Unsicherheiten in sich barg, nicht alleine gehen zu müssen, sondern ihn teilen zu können mit Nadim, der von klein auf wie ein leiblicher Bruder für sie gewesen war, und-

Und mit jemanden, dem sie bisher mit Ablehnung begegnet war, der abwechselnd Geringschätzung und dann wieder Misstrauen in ihr hervorgerufen hatte. Der ihr, ohne dass sie es verhindern oder auch nur bewusst beobachten hatte können, nahe gekommen war. Jemanden, dem sie mehr von sich erzählt hatte, als sie je beabsichtigt hatte, jemanden, den sie mit Hingabe gespottet und die kalte Schulter gezeigt hatte.

Jemand, der ein Teil ihres Lebens geworden war; so chaotisch und ohne festen Grund es auch geworden war, er war immer da gewesen. Und er würde auch jetzt für sie da sein. Das sagte ihr nicht die Vernunft, sondern der Druck seiner Hände, nicht eine logische Überlegung, sondern seine Augen, die dunkel und grundlos wie die Nacht waren, und in denen doch so viel Zuversicht und Wärme zu liegen schien.

Ihre Lippen bewegten sich immer noch, und nun, ganz leise, verließen sie hörbare Worte, leiser noch als der Wind, der über die Zelte strich, und sie sagten-
 

„Wir werden angegriiiffeeen!!“

Die schrillen Worte hallten über die Ebene und durch das Rebellenlager. Die beiden Wachen, die in weitem Kreis um das Lager patrouillierten, sahen sich einer Gruppe Bewaffneter gegenüber, die aus dem Schoß der Nacht selbst gekommen zu sein schienen.

Kaum, dass dieser Schrei der einen Kehle entstiegen war, öffnete sich bereits ein Kampfdom. Die zweite Person darin hob ihr langes, bronzefarbenes Schwert, an dessen Mitte zwei weitere Klingen in spitzem Winkel von der eigentlichen Klinge abstanden, und das auf beiden Seiten. Wie ein Kreuz mit drei Balken schimmerte das jedes vernünftige Format übersteigende Schwert in der Kuppel aus blauen Linien.

Mit vor Entschlossenheit verzerrter Miene stürmte der Rebellenkämpfer der Gestalt entgegen, die ihn und sich in den Kampfdom eingeschlossen hatte. Sie trug einen Harnisch, der wie mit mattem Gold überzogen wirkte. Unter kurzem, strohblondem Haar blitzten gefährliche Augen.

Der Angreifer hob sein fünfzackiges Schwert.
 

Mit entsetzlichen Wunden versehen, lagen die beiden Rebellen wie erlegte Tiere im hohen Gras.

Eine Gruppe von Männern in identischen Rüstungen stand im Halbkreis. Mit ausdruckslosen Blicken schätzten sie die Lage ein. Der Mann, dessen Harnisch noch eine Spur prächtiger war, und der im Gegensatz zu den uniformierten Männern um ihn herum keinen Helm trug, lehnte sich auf sein Schwert, das wie ein zweifaches Balkenkreuz aussah. Dabei tastete seine freie Hand nach dem Funkgerät, das an seinem Brustpanzer in Ohrnähe montiert war, woraufhin ein krächzendes Geräusch erklang.

„Wie sieht es aus, Sean? Haben sie es bei sich?“

„Kann ich noch nicht sagen“, krächzte es aus dem kleinen Kasten. „Ihr müsst näher ran. Ich habe zwar schon ein ziemlich starkes Signal, kann es aber noch nicht fixieren.“

„Gut“, antwortete Jan Gildenstern. Dann hob er sein bronzefarbenes Schwert, an dessen doppelt gekreuzter Klinge noch etwas Blut klebte, rückte sich seinen Escutcheon, auf dem vier volle Scheiben in einem düsteren Grün glühten, zurecht, und schritt mit seinen Männern, der Elite der Palastwache, auf das Rebellenlager zu.
 

Das Gras, bleich wie Stroh und doch von Leben erfüllt, wich zurück vor diesem Ort, an dem es kein Leben mehr gab.

Es wuchs nur bis an seine Ränder, gegen die es stetig krummer und niedriger im Bewuchs wurde, bis es sich endgültig ergab gegen den rissigen Stein und den trockenen Sand, der am Rand der Stadt Zanardis den Boden bedeckte wie ein vergilbtes Leichentuch.

Scavos Schritte wirbelten keine vertrockneten Grashalme mehr auf; sie wurden langsam und bedächtig, als zerrten sie von den letzten Resten einer Macht, die ihm wie Sand zwischen den Fingern zerrann. Seine Augen waren weiß und wächsern; keine Pupille war mehr in ihnen zu erkennen, und ebenso kein Lebenswille mehr. Sie sahen nicht die Türme und Arkaden, die Paläste und Tempel von Zanardis, der Stadt der Toten.

Die Sonne ging auf. Ihr hellgelbes Licht floss durch die Gassen aus zerborstenen Pflastersteinen wie Wachs, das auf diesen schließlich erkaltete und sie mit einem leblosen Leuchten erfüllte. Der Stein der mehrstöckigen Häuser, die Säulen der Herrschaftsgebäude, die weiten Höfe der palastartigen Anlagen: Sie alle wurden von dem erwachenden Licht des neuen Morgens berührt. Und doch blieben sie kalt und ohne Leben, als glitte die Kraft der Sonne hilflos ab an einer Schicht, die alles Lebendige längst erstickt hatte.

Scavo ließ den Kopf hängen. Seine von faltiger, bläulicher Haut bedeckten Füße, die längst jedes Schuhwerk verbraucht hatten, schleiften über die prächtigen Steinfliesen. Sein Körper war gebückt und verbraucht; er zitterte und taumelte wie eine Kerzenflamme, die im Begriff war zu verlöschen.

Auf seinem Rücken, in einem löchrigen, fadenscheinigen Beutel, war das Maleficium. Der Geist darin verlieh seinen letzten Schritten genug Energie, um es an sein Ziel zu bringen. Nicht weniger, aber auf keinen Fall mehr. Längst schon hatte Scavos Verstand nicht mehr die Kraft, den Betrug zu durchschauen oder auch nur zu beklagen; es hätte auch keinen Unterschied mehr gemacht.

In den Alleen wuchsen seit damals keine Bäume mehr. Die Stümpfe jener, die früher hier gestanden, ragten wie verkohlte Enden von durch Feuer amputierten Gliedern zwischen den Marmoreinfassungen heraus. Die Fenster der Häuser links und rechts waren leer und dunkel wie die Augenhöhlen von Totenschädeln. Kein Vogel sang, kein Gras wiegte sich im Wind, nicht einmal der Wind selbst schien es zu wagen, über diesen Friedhof hinweg zu streichen. So kam Scavo an das Ziel und Ende seiner Reise.

Ein Tor, das schief in verrosteten Angeln hing, empfing ihn wie ein krummgewachsener Pförtner, und die leise knirschende Bewegung, die doch nicht vom Wind ausgelöst wurde, wirkte wie sein stummes Nicken. Scavo achtete jedoch nicht darauf, als er den Tempel, der vor Jahrhunderten dem heiligen York geweiht worden war, betrat.
 

Zerbrochene Bänke lagen wie die Gefallenen eines Krieges im weitläufigen Atrium verstreut.

Bunte Fenster, nur mehr in Bruchstücken vorhanden, warfen fleckiges Licht in den Tempel. Keine Farbe wohnte darin; es hatte denselben bleichen, kalten Ton wie alles hier. Ganz vorn, wohin Scavos Schritte ihn führten, war das größte und höchste Fenster vor allem, direkt über dem Altar.

Es zeigte eine Gestalt in langen Gewändern, die ihre Hände segnend ausbreitete, und deren Gesicht die Geduld eines mit Mühe ertragenen Lebens zeigte. Ein Stück war herausgebrochen, und so schien es, als fehlten der Gestalt ein Bein und ein Teil ihres Unterleibes, wo das bunte Glas in Scherben lag.

Scavo sank wenige Schritte vor dem Altar auf die Knie, als sei er den weiten Weg gekommen, um zu beten. Er betete aber nicht, er starb. Seine Hand, schlaf wie die einer zerfallenden Mumie, löste den Beutel von seinem Rücken. Er purzelte über die Steinplatten, deren mit Staub überzogene Oberfläche heilige Symbole zeigten. Das Maleficium fiel heraus, und wie von selbst schlug es sich auf.

Wiewohl kein Wind in der Stadt der Toten wehte, so bewegten sich trotzdem die Blätter, knatterten hin und her, bis sie endlich zur Ruhe kamen, an der Stelle, an der eine einzelne, große Illustration prangte. Sie zeigte eine Gestalt, die fast nur aus Tinte bestand und vollkommen schwarz war, gerade so, als hätte der Illustrator ihre wahre Erscheinung gefürchtet. Die Gestalt auf dem Bild schlug ihre Augen auf: Ares erwachte.

Ein Strudel trockener Luft entfaltete sich und versetzte den allgegenwärtigen Staub in einen Wirbel, der langsam höher stieg und sich immer mehr der Kuppel des Tempels näherte. Der Wirbel wurde zu einem Orkan, und dieser Orkan verdichtete sich. Er schien alles Licht an sich zu reißen, während er selbst sich verdunkelte. Die letzten Fetzen, die Scavos Körper in Lumpen hüllten, wurden von diesem Wirbel in Bewegung versetzt. Der Körper blieb jedoch regungslos; schließlich zerfiel er zu demselben Staub, der an diesem Ort alles bedeckte.

Der Orkan, der aus dem Maleficium erwuchs, wurde immer dichter, und Ares, der Gott des Krieges, ballte seine Fäuste, als er die letzten Stäbe seines Kerkers zerbrechen hörte.
 

Dorian und Iria zuckten zusammen. Augenblicklich lösten sie sich voneinander und hörten den Schrei, der die Nacht zerrissen hatte.

Beide hielten den Atem an. Weitere Rufe ertönten, und schließlich hörten sie ein wolfsartiges Heulen, das Jemand mit einem Apparat erzeugte und die Menschen in dem Lager alarmieren sollte. Die Rufe wurden mehr, und bald kamen die Geräusche gezogener Waffen dazu. Dorians verwirrter Blick ging zu Boden, während er angestrengt in die Nacht lauschte; ganz sanft wiegte sich das Gras an der Stelle, auf der sein Augenmerk ruhte, und nun begriff er, dass das Rebellenlager angegriffen wurde.

„Iria!“ Sie, nicht weniger verwirrt als er, blickte ihn ratlos an. „Lauf, versteck dich! Ich glaube, sie haben uns gefunden!“

„Aber wo soll ich hin?“

Dorian zog sein Schwert. Dessen Metall fühlte sich kalt und tot an nach Irias Händen, die er zuvor gehalten hatte.

„Ich weiß nicht, in irgendein Zelt- Such Nadim, und versteckt euch dann! Kommt nicht hervor, bevor es vorbei ist!“

„Ich will aber- “ rief sie, stoppte aber mitten im Satz. Ihr verzweifelter Blick tastete durch die Nacht, in der die Kämpfer der Rebellenarmee erwachten, um dem unbekannten Angreifer entgegenzutreten. „Ich will aber bei dir bleiben“, sagte sie ganz leise, als würde sie sich dessen schämen.

„Bitte, Iria“, sagte er zu ihr, trat nahe an sie heran und legte ihr eine Hand an die Schulter. „Bitte. Versteck dich, bis es vorbei ist.“

Irias Blick wurde für einen Moment fester. Dann nickte sie ihm mit aller Entschlossenheit, die sie aufzubringen imstande war, zu und lief los. Dorian sah, wie sie im Halbdunkel der Beleuchtungen zwischen den Zelten verschwand, dann erinnerte er sich an das Schwert in seiner Hand. Das Sirenengeheul pochte in seinen Schläfen, und er rang den Impuls nieder, gleich Iria wegzulaufen.

Dann blickte er sich nach Brynja und Sarik um, die er vorher in der Nähe gesehen hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fahnm
2011-01-13T23:00:08+00:00 14.01.2011 00:00
Hammer Kapi!^^
wer sie Wohl angreift?
Bin mal gesapnnt wie es weiter geht.^^


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