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Das Maleficium

von

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Nadims Blick wechselte von Dorian, der wie paralysiert dasaß, zu den Leuten im Lager, die alle ihre Aufgaben mit einem Eifer bewältigten, der ihnen keine Gelegenheit zur Trauer, und damit zur Schwäche, bot. Er kam sich seltsam nutzlos vor. In seiner Hand hielt er immer noch den Dolch, an dem fremdes Blut klebte. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und er wäre vor Schreck fast gestorben.

„Ach… Sie sind’s“, seufzte er. Hargfried stand nun vor ihm und blickte ihn mit einer Mischung aus Fröhlichkeit und Zweifel an. Nadim versuchte gar nicht erst, diese seltsame Miene zu deuten.

„Ich wollte dir danken, Knappe“, sagte Hargfried und zog dabei die Nase kraus, als würde ein lästiges Insekt darauf sitzen.

„Keine Ursache“, erwiderte Nadim, der es gar nicht wagte, nachzusinnen, was er für Hargfried getan hatte. Die düstere Ahnung, dass es etwas mit dem blutigen Dolch in seiner Hand zu tun hatte, verdrängte er schnell wieder.

„Du wirst einmal ein tauglicher Ritter“, versicherte Hargfried ihm. Dabei nickte er eifrig und machte große Augen, was Nadim ein unbehagliches Gefühl bereitete. Danach ging er an ihm vorbei, scheinbar ziellos. Nadim blickte ihm hinterher und hörte ihn leise sagen: „Oh ja, ein tauglicher Ritter…“
 

Die Sonne warf ihre Strahlen über die grasbewachsene Ebene. Der Nebel des Vortages hatte sich gelichtet, und die Reihe Gräber streckte ihre Schatten über das Lager aus. Iria blinzelte in die aufgehende Sonne und gähnte dabei. So müde sie war, an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Sie blickte wieder Dorian an, der nach wie vor regungslos auf einer Kiste saß und den Boden zwischen seinen Füßen anstarrte. Er hatte noch kein Wort gesagt, seit er aus seiner Starre erwacht war. Doch nachdem, was Iria von Brynja gehört hatte, schien es ihr nur allzu klar, dass es für das, was Dorian empfand, keine angemessenen Worte gab.

Mehrmals hatte sie sich vor ihn hingekniet, um einen Blick auf sein zu Boden gewandtes Gesicht zu erhaschen. Doch es zeigte keinen Ausdruck, zumindest keinen, den sie deuten konnte. Sein Mund stand halboffen, als hätte er Mühe, Luft zu bekommen. Seine Augen hingegen waren fast geschlossen, wie vorher, nach seinem Zusammenbruch. Nur die leisen Bewegungen seines Kopfes und der Umstand, dass er sich aus eigener Kraft aufrecht hielt, zeigten an, dass er wach war. Auf ihre Worte hatte er nicht reagiert.

Irgendwann stand er plötzlich auf. Iria erschrak über diese unerwartete Bewegung. Sein Blick war leer und verunsichert, wie von jemandem, der aus einem tiefen Traum erwacht. Dann setzte er sich wortlos in Bewegung, und Iria folgte ihm.
 

Dorian lief quer durch das Lager und blickte sich fragend um. Auf Iria wirkte es, als sähe er sich nach einem bekannten Gesicht in einer Menge Fremder um, doch er sagte weiterhin kein Wort. Seine Schritte wurden mit einem Male schneller, und Iria ahnte, dass er entdeckt hatte, wonach er vorhin Ausschau gehalten hatte.

Largo Cotter stand mit mehreren Mitgliedern seines Stabes beisammen und besprach die Vorbereitungen für ihren Aufbruch. Dorian ging schnurstracks auf ihn zu, woraufhin die Männer um Cotter unwillkürlich zurückwichen. Noch immer hatte er kein Wort gesagt, und nur sein Auftreten hatte dies bewirkt, wie Iria erstaunt feststellte. Jetzt sprach Dorian die ersten Worte seit seiner Schockstarre.

„Sie haben doch gesagt, Sie hätten Funkverbindung in die Hauptstadt. Ich möchte etwas wissen“, sagte er leise, beinahe zurückhaltend. Ansonsten klang seine Stimme klar, fiel Iria auf, als hätte die Auftürmung seiner geballten Befürchtungen jegliches Zögern unter sich begraben.

Cotter entsprach seinem Wunsch, und gemeinsam gingen sie zu einem Zelt, aus dem eine große Antenne in den Morgenhimmel ragte.
 

„Sagt, Leute, ist irgendwas Auffälliges passiert in den letzten Tagen im Stadtbereich?“ fragte Largo Cotter, einen Kopfhörer auf dem Kopf und ein Funkgerät vor dem Mund. Dorian stand vor ihm, im Zelt mit dem Funkapparat, und Iria gleich neben ihm. „Und zwar speziell in der Gegend um den Bucket-Weg“, fügte Cotter mit vorsichtiger Stimme hinzu. Dorian ergriff Irias Hand, und sie drückte sie unwillkürlich.

Dorians Augen waren auf Cotter geheftet, der die Antwort seiner Verbindungsleute in der Hauptstadt anhörte. Dabei nickte er in kurzen Abständen, und begegnete Dorians Blick die ganze Zeit dabei.

„Ich verstehe… Das wär’s. Ende“, sprach er in das Gerät und legte die Kopfhörer auf den Tisch mit dem Funkapparat. Er tat dies langsam und bedächtig, ohne etwas zu sagen. Cotter schwieg weiterhin, und jetzt, nachdem Dorian die ganze Zeit unbeteiligt, wie betäubt, gewirkt hatte, brach er in ein ersticktes Schluchzen aus.

Iria umarmte ihn und spürte seine bebende Brust wie auch die Tränen, die ihre Schulter trafen.
 

Largo Cotter persönlich saß am Steuer des Transportfahrzeugs, und auf dem Nebensitz Sarik. Mit seinem Escutcheon versicherten sie sich der Richtung, in die sie fuhren. Auf der Ladefläche dahinter saß der Rest seiner Wegbegleiter.

Keiner seiner Weggefährten hatte ihn gefragt, ob er wirklich mitkommen wollte. Ebenso hatten sie ihn auch nicht ermutigt dazu, doch Dorian Alberink saß nun unter ihnen.
 

Seine Augen waren immer noch gerötet, doch die Morgenluft, die kalt über die offene Ladefläche strich, kühlte sie schnell, und er sah wieder klar.

Sein Blick glitt über die Menschen, mit denen er diese Reise begonnen hatte, und mit denen sie nun enden würde. Er sah aber nicht ihre Gesichter und Mienen. Sein Blick ging durch sie hindurch, und eine lange Reihe schmerzvoll vertrauter Erinnerungen zog daran vorbei.

Der muffige Geruch vermoderter Balken, der ihr Haus am Bucket-Weg mit dem Gefühl von Heimat, einem Ort namens Zuhause, erfüllt hatte. Die spottenden, lachenden und meist fröhlichen Stimmen seiner Freunde, mit denen er aufgewachsen war. Das Pflaster der Straßen und Gassen jener Stadt, in der er geboren war und sein Leben hatte verbringen wollen. Der Uhrturm, in dem sie so oft gewesen waren, und das Meer, das er von dort oben überblickt hatte. Sein Glanz, geworfen von der tiefstehenden Sonne. Die Schiffe, die von hier abfuhren oder einliefen in den Hafen, der ihr Zuhause war. Der Ort, an den er hatte zurückkehren wollen.

Nichts davon existierte mehr. Oder war auf ewig verändert, wie das Gesicht eines verstorbenen Menschen, dem man bei aller Liebe, die man für ihn empfand, kein Leben mehr wünschen kann, weil sein Wesen, sein Dasein, an das man tausend Erinnerungen geknüpft hat, unwiederbringlich verloren und durch eine Maske aus Verfall ersetzt worden ist.

Dorian hielt sich an seinem Schwert fest, das auf seinem Schoß lag, wie ein Ertrinkender, der ringsum nur Wasser bis zum Horizont sieht. Für einen Moment wollte er von der Ladefläche des fahrenden Fahrzeugs springen und weglaufen, bis ans Ende der Welt. Dann wieder sehnte er das Ziel ihrer Fahrt herbei, wo sie jene Leute finden würden, an denen sein Leben zerbrochen war. Er sehnte diese Begegnung herbei, selbst wenn sie ihn nur dorthin bringen würde, wohin seine Freunde und sein Zuhause verschwunden waren.

Im nächsten Moment fühlte Dorian sich wieder so unendlich klein, schwächer wie ein schutzloses Kind und feiger, als Nadim jemals gewesen war. Dann sehnte er nur noch ein Ende herbei, das ihm eine Dunkelheit schenken würde, in der die scharfkantigen Bruchstücke seines Lebens von tröstender Finsternis eingehüllt wären. Eine Dunkelheit, ihn der er alles würde vergessen können; seine Heimat, die nicht mehr existierte, die Menschen, die er verloren hatte, und letztendlich sich selbst, der dies alles ausgelöst hatte, wie ein kleiner Stein eine vernichtende Lawine herbeiführt.

Schwäche ergriff ihn und schlug über seinem Kopf zusammen. Nur noch sein Schwert, an das er sich verzweifelt klammerte, gab ihm Halt, und eine Kälte kroch in seine Knochen, die jeglichen Lebenswillen in ihm zu Eis gefrieren ließ. Jetzt wusste er, was die Menschen empfinden mochten, die die Bühne des Lebens verlassen hatten. Die Angehörigen der Rebellenarmee, die vielen Opfer des entbrennenden Krieges zwischen den beiden Reichen, und seine Freunde. In diesem Moment spürte er einen kalten, aber auch tröstlichen Hauch im Nacken, der die traurige Hoffnung weckte, bald wieder vereint zu sein mit all diesen Menschen.

„Wir sind gleich da!“ hörte er Largo Cotter rufen. Die lauten Worte, die den Lärm der Maschine übertönten, rissen ihn aus seiner Lähmung. Um sie herum lag immer noch die strohfarbene Ebene mit dem hohen Gras und den niedrigen Bäumen. Mit einem Mal nahm er alle Geräusche um sich herum wahr; das unablässige Dröhnen der Maschine, die das Fahrzeug antrieb, die Gespräche seiner Mitreisenden und das Rumpeln der Räder unter ihnen. Er war nun vollkommen wach, wie jemand, der einen Traum und dessen süße Verlockungen mit der bitteren und dafür umso eindringlicheren Wirklichkeit vertauscht hat.

„Er muss irgendwo in den Ruinen sein“, hörte er Cotter nach hinten rufen. „Wir haben wenig Zeit. Sie sind wahrscheinlich bald da.“

„Dieser Gildenstern und seine Leute?“ rief Brynja nach vorne. Cotter drehte sich nach hinten und antwortete dann.

„Ich meine die mosarrianische Armee. Meinen letzten Meldungen nach bricht die Front nach und nach zusammen. Die Mosarrianer sind schon weit hinter der Grenze, sie werden im Norden Zanardis bald erreichen. Und dieser Gildenstern…“ Cotter senkte seine Stimme. Man konnte sie über den Motorenlärm aber immer noch sehr gut hören. „…ich hoffe, dass er schon hier ist.“

Niemand erwiderte etwas auf diese unterschwellige Verwünschung, und jetzt sahen sie die Ruinen rasch näher kommen, als sie über das Führerhaus hinwegblickten.
 

„Das Signal ist so stark, es legt beinahe die Geräte lahm“, hörte Gildenstern durch das Funkgerät. „Genauer kann ich die Position leider nicht bestimmen“, erklärte ihm Sean Hardy.

Die Ungeduld brannte hinter seiner Stirn, und es kostete ihn immer mehr Kraft, sie zurückzudrängen. Seit langem hatte er keine Menschen mehr getötet, zumindest nicht mit eigener Hand. Aber nun, wo er wieder den Rausch erlebt hatte, der zu seiner Zeit als Soldat etwas so Selbstverständliches gewesen war, gelang es ihm nur mit größter Mühe, die Fassade, mit der er alle Entwicklungen zu seinen Gunsten am Hofe des Kaisers abgewartet hatte, erneut zu beweisen.

Das Niedermetzeln dieser naiven Aufrührer, so trivial diese Bluttat auch gewesen war, hatte einen Teil in ihm geweckt, der verschüttet gelegen war all die Zeit, eingelullt von der Monotonie des höfischen Lebens, das aus Politik und den ewiggleichen Intrigen bestanden hatte. Nun erinnerte er sich, was es bedeutete, sich seinen Weg freizuschlagen, ohne erst der passenden Gelegenheit in abwartender Haltung zu harren.

„Wie viele dieser verfluchten Ruinen müssen wir noch durchsuchen…“, sagte er leise zu sich selbst. Er, der sich jede Entblößung von Emotion und damit Schwäche abgewöhnt hatte, wurde nun wieder zu einem Spielball jener Leidenschaften, die er bei seinen Gegnern auf dem Parkett der Politik als Schwäche genutzt hatte. Doch er konnte es nicht mehr unterdrücken, als er erneut ein schief in den Angeln hängendes Tor aufdrückte und, gefolgt von seinen Männern, ein weiteres Gebäude im von Hardy festgelegten Umkreis betrat. Es schien eine Art Tempel zu sein, merkten seine nervös umherschweifenden Augen- bis sie auf einem Punkt verharrten.

Vor ihnen, vor dem Altar dieses verfallenen Tempels, lag ein aufgeklappter Gegenstand auf dem Boden. Eine Säule aus dunklem Licht, in dem schwarze Gewitterwolken tobten, entwich diesem Gegenstand und reichte bis an die Kuppel des Tempels hoch über ihnen. Gildensterns Augen wurden groß und leuchteten vor Befriedigung und Entzücken.

Dann ging er mit weiten Schritten auf das Maleficium zu.
 

Wie ein Ruhestörer auf einem Friedhof, so rollte ihr Fahrzeug durch die vor zwanzig Jahren aufgegebenen Straßen von Zanardis.

Cotter hatte das Tempo gedrosselt. Allerdings weniger aus Pietät vor diesem Ort, an dem so viele Menschen ihr Leben verloren hatten, sondern damit Sarik mit Hilfe seines Escutcheons exakt ihr Ziel bestimmen konnte. Dorian blickte in das vor ihnen liegende Fahrerhaus und sah, wie die Scheiben von Sariks Escutcheon blinkten und flackerten, nervöser denn je, als herrschte in ihnen die Wiedersehensfreude mit jener Macht, von der sie so kurz nur hatten kosten dürfen in der Schatzkammer unter dem Kaiserpalast. Dorian blickte auf seinen eigenen Escutcheon: Dieser zeigte dasselbe Lichterspiel.

Dorian schluckte, sein Hals fühlte sich staubtrocken an. So trocken und leblos wie diese Stadt, in deren Fugen ihrer zerborstenen Marmorplatten, welche die Plätze und Alleen bedeckten, nicht einmal Unkraut zu wachsen wagte. Er betrachtete im langsamen Vorbeifahren die Fenster der Ruinen links und rechts von ihnen. Sie waren leer, und trotzdem fühlte er sich durch sie beobachtet. Um sich abzulenken, sah er nach seinen Wegbegleitern.

Ihre Gesichter waren von spürbarer Nervosität gezeichnet, und Dorian fragte sich, ob er selbst ebenso blass war in diesem Moment. Doch dieser Gedanke zerfiel schnell zu jener Leere, die ihn mit dem Eindringen in diesen verlassenen Ort befallen hatte. Wo vorhin seine Gedanken gekreist und wirre Sprünge vollführt hatten, war sein Verstand nun ruhig und leer wie diese Stadt aus Ruinen. Eine beinahe schon friedliche Endgültigkeit legte sich über ihn: Er fühlte sich wie jemand, der lange Zeit in erbitterter Erwartung im Kerker gesessen hatte, und nun, nach einer schier endlosen Zeit, an der Wange endlich das Holz des Richtblockes bei seiner Hinrichtung spürt.

Das Fahrzeug hielt an. Cotter stellte den Motor ab, und Sarik öffnete die Tür an seiner Seite. Das Geräusch seiner Stiefel auf den rissigen Steinplatten schien eine heilige Ruhe zu stören, kam es Dorian vor. Nacheinander sprangen seine Begleiter von der Ladefläche, und ein allerletztes Mal rang er mit dem instinktiven Wunsch, bis ans Ende der Welt zu fliehen.

Als es geschafft war und Dorian spürte, dass von nun an zwischen das Ende und ihm selbst nie wieder ein solches Gefühl treten konnte, stieg er ebenfalls ab.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fahnm
2011-02-17T00:51:18+00:00 17.02.2011 01:51
Hammer Kapi!^^
Freue mich schon aufs nächste.^^


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