Kapitel 1
Kapitel 1
Langsam tauchte Harry wieder aus der Schwärze der Bewusstlosigkeit
auf. Die Augen geschlossen haltend versuchte er zu erfassen, was
geschehen war. In seinem Kopf stiegen Bilder auf.
Onkel Vernon, der seine Sachen verbrannte.
Onkel Vernon, der ihn in eine dunkle, kalte und feuchte Kammer, ohne
Licht und Wärmequelle schmiss.
Onkel Vernon, der wie besessen auf ihn einschlug, mit Händen, Gürteln
oder Holzstecken.
Dann eine dunkle Gasse.
Eine schwarze, schemenhafte Gestalt, die sich auf ihn zu bewegte und
dann...
Nichts. Nur unendliche Dunkelheit.
War er tot? Wurde er endlich von dieser Hölle auf Erden, die sich
sein Leben nannte, erlöst? Aber warum schmerzte dann sein
gesamter Körper?
Er spürte jeden einzelnen Knochen, den ihn sein Onkel gebrochen hatte.
Jeden Stiemen, den er blutig in seine Haut gerissen hatte. Und in
seinen Ohren klang jedes Wort, jede Beschimpfung und Beleidigung
nach, die ihm sein Onkel an den Kopf geworfen hatte.
Sein Kopf dröhnte. Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung traten
ihm aus den geschlossenen Augen. Brannten auf seinen geschundenen
Wangen.
Er hatte es nicht geschafft. Er war seiner Hölle nicht entkommen.
Das weiche Bett, auf welchem er lag, war nur da um ihn weiter zu
quälen. Mit der Gewissheit das, sollte er die Augen öffnen, ihm das
hämische Grinsen seines Onkels erwarten würde. Ein Grinsen das ihm
sagte, dass sein Leiden noch nicht vorbei war.
Das sein Leben nur weiterhin erhalten wurde, um ihm noch mehr
Schmerz und Demütigung zukommen zu lassen.
Dann hörte er sie. Stimmen. Ganz leise. Nur ein flüstern. Und in
seinen Ohren dennoch so präsent, als würde man direkt neben ihm
stehen und ihn anbrüllen. Er versuchte sich, trotz hämmernder
Kopfschmerzen, auf die Stimmen zu konzentrieren. Versuchte zu
hören, welch Grausamkeiten sich sein Onkel diesmal für ihn ausdachte.
“...das er überhaupt noch lebt.“, hörte er eine bekannte Stimme heraus.
Das war nicht sein Onkel. Die Stimme kam ihm vertraut vor, aber er
konnte sie nicht zuordnen. So, als hätte er sie vor Jahren das letzte
Mal gehört. Eine andere Stimme, ebenso bekannt unbekannt, antwortete.
“Kannst du ihn heilen?“
“Seinen Körper, ja. Aber seine Seele...?“, die Stimme brach ab.
“Was haben sie ihm nur angetan. Er ist doch noch fast ein Kind.“,
entgegnete die andere Stimme. Traurig.
Harry runzelte innerlich die Stirn, trotz schmerzender Glieder kam
kein Laut über seine Lippen. Wer sprach mit dieser traurigen Stimme?
Und das ausgerechnet über ihn? ‚Freak, Bastard, Wechselbalg, Teufels-
brut’ das waren die Namen, die er von sich kannte. Und sie waren nie
in diesem traurigen Tonfall gesprochen worden. Nur Hass, Ekel und
unbändige Wut. Das waren die Tonlagen, die erkannte. Es schien
Jahre her, das jemand besorgt, oder gar traurig wegen ihm war.
Oder war es überhaupt je einer gewesen?
Er wusste es nicht.
Vielleicht war diese Zeit nur ein Traum gewesen. Ein Traum, der nun
langsam verblasste und der kalten, harten und grausamen Realität
Platz machte.
Ein unterdrücktes Wimmern kam über seine geschlossenen Lippen.
Verriet ihn. Unbändige Angst kroch seine Glieder hoch. Gleich würde
er einen weiteren Schlag verspüren. Er wartete, trotz brennender
Schmerzen zitternd, auf den Schlag. Doch...er kam nicht.
Stattdessen hörte er ein Rascheln. Spürte eine Präsenz neben sich.
Und hörte eine leise Stimme, die sanft einen Namen flüsterte.
“Harry...?“
War das sein Name? Er wusste es nicht mehr.
Ein Ton, zischen Wimmern und Schluchzen, entrann seiner Kehle. Jetzt
war es so wieso schon zu spät. Man wusste, das er wach war.
“Shh, keine Angst. Wir tun dir nichts. Du bist in Sicherheit.“, flüs-
terte die Stimme neben ihm. Sanft, warm, beruhigend.
Dann spürte er eine hauzarte Berührung an seiner Stirn.
Bilder von groben, fleischigen Händen auf seinem Körper entstanden
in seinem Kopf. Sein Zittern und Wimmern verstärkte sich.
“Tom...lass es...“, hörte er eine weitere Stimme flüstern.
Dann hörten die Berührungen auf. Doch die Bilder blieben.
“Schlaf.“, hauchte ihm die sanfte Stimme ins Ohr. Augenblicklich
versank er wieder in erholsamer, schmerzloser Schwärze.