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Einzelposting: Visual Kei in Deutschland ausgestorben?!


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Von:    Feendrache 26.04.2024 09:58
Betreff: Visual Kei in Deutschland ausgestorben?! [Antworten]
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Gute Güte, wer hätte gedacht, dass ich jemals wieder etwas hier auf animexx schreibe? Aber aus gegebenem Anlass (wir alle wissen was bei Gazette passiert ist) und der Nachricht die ich eher durch Zufall nach über einem Jahrzehnt erhalten habe, hatte ich die letzten 5 Tage sehr viele Flashbacks in meine Teenagerzeit.

VK war, jetzt mal auf den deutschsprachigen Raum und auf animexx bezogen, einfach ein Kind seiner Zeit. Mich hat es damals mit süßen 15 Jahren, irgendwann 2006, in diese wilde Szene hinein gezogen und das nicht ohne Grund.

Die Happy 90er waren noch nicht lange her und die seichte Funny-Popmusik der Anfang 00er Jahre erlebte, langsam aber deutlich, ihren Downfall. Mit einem Schlag wurde die Musik ernster, brachialer, brutaler und das war nicht alleine auf die harten Klänge der Instrumente bezogen.
Rückblickend betrachtet erscheint es mir sehr logisch, dass wir Teenager der 00er Jahre uns so sehr für diese andere Seite der Unterhaltungsindustrie interessiert haben, wenn man bedenkt was wirtschaftspolitisch damals los war.

Wir waren alle um die 10-16 Jahre alt und haben schon gut verstanden, dass irgendwas komisch läuft mit der Welt. Die Nahost-Krise war auf ihrem Höhepunkt, die Wirtschaft erlebt einen extremen Crash und (bei uns im Osten) verfielen die Eltern in einen Zustand von Dauerstress, ständigem Jobwechsel, Kündigungen, Schulden, Unsicherheiten, Depressionen.

Aber wie es der Generation unserer Eltern leider zu eigen ist, sprach niemand offen darüber und Kinder sind trotzdem sensibel genug um zu spüren, dass irgendwas vor sich geht. Zu der Zeit gab es die erste große Welle an Burnout-Krankschreibungen (mehrfach auch in meiner Familie) und das Thema psychische Erkrankungen drängte sich immer aggressiver in den Vordergrund - und immer noch sprach niemand offen darüber.
Wenn man ein wenig in den Archiven kramt, fällt schnell auf, dass die Medien immer mehr Berichte veröffentlichten, in denen es darum ging, dass psychische Erkrankungen und Essstörungen, bei Kindern und Jugendlichen, rasant zunahmen. In meinem Fall kamen schulische Probleme dazu (Mobbing bis hin zu mehreren Klassen- und Schulwechsel) und damit war ich nicht die einzige.

"Die Aufgabe der Kinder ist es, die Wahrheiten der Eltern in Frage zustellen" und ich finde dieser Satz ist nicht zu unterschätzen. Teenager halten den Generationen die vor ihnen kamen, immer mit ihrer Lebensweise den Spiegel vor.
"Du willst nicht über deine Gefühle sprechen? Aber ICH will dass du darüber sprichst, also zwinge ich dich dazu, indem ICH sie zum Ausdruck bringe, auch wenn dir das nicht gefallen wird!"
Wir suchten alle nach einer Möglichkeit, in einer emotional ohnehin schon schwierigen Lebensphase, diesen Gefühlsstürmen eine Art von Ausdruck zu verleien.
Und wo die Emo-Szene sich mehr in einen romantischen Weltschmerz stürzte, kam VK um die Ecke und schlug alles mit dem Vorschlaghammer in Stücke.

Es gab mir damals das erste Mal die Chance, diesem Etwas das in mir tobte, ein Gesicht zu geben und andere Künstler die Welt so darstellen zu lassen, wie ich sie damals sah. Und als Teenager (bis Anfang/Mitte 20) versucht man seine Persönlichkeit aktiv durch seine Optik zum Ausdruck zu bringen.

Richtig tief war ich in VK nur zwischen 2006-2008 drin. Nach der regulären Schulzeit war ich so traumatisiert, dass ich jahrelang die geliebte Musik von damals nicht mehr hören konnte. Sobald Bath Room auch nur anfing, musste ich es wieder ausmachen, weil es zu viel Flashbacks hervor geholt hat. Das was mich damals davor bewahrt hat durchzudrehen, verursachte jetzt Panikattaken. Komischerweise war nur noch Dir en Grey für mich hörbar - aber das lag vielleicht auch daran, dass die sich zu dem Zeitpunkt auch schon aus dem VK verabschiedet hatten.

Tatsächlich hörte diese Phase des "meine Optik definiert wer ich bin" aber langsam mit 25 auf. Komplett ohne äußeren Einfluss, möchte ich hier unterstreichen! Ich stand gefestigter im Leben, hatte angefangen mich mit mir selbst auf eine wesentlich liebevollere Weise zu befassen und das Trauma von damals aufzuarbeiten, das in mir viele Narben hinterlassen hat.

Man verliert in dieser Zeit irgendwie auch so langsam ein Interesse daran, sich optisch für andere zur Schau zu stellen. Die konsequente Abgrenzung durch Kleidung, Haare und Makeup hört auf, man steht wesentlich fester im Leben und VK (Stellvertretend für alle anderen Musikrichtungen) verliert die Bedeutung, die es noch in der Teenagerzeit hatte. Einfach aus dem Grund, weil man kein Teenager mehr ist.

Und der langen Rede keinen Sinn: Wir VKs von damals sind noch hier, doch wir sind mittlerweile 30 Jahre alt und leben unsere Interessen nicht mehr derart offensiv aus, wie noch als Teenager. Und nein, das liegt nicht daran, dass irgendwann mal jemand sagte "Willst du nicht erwachsen werden?" (Mir hat das noch nie jemand gesagt) Es ist einfach ein ganz natürlicher Prozess.

Zudem hat sich auch die Interaktion im Netz deutlich gewandelt. Damals war alles vorwiegend über Foren organisiert und die schnelle Kommunikation über Social Media Kanäle waren noch nicht in der Form möglich, so wie wir sie heute haben.
Das hat Vorteile, das hat Nachteile, aber es ist alles gut so wie es ist.

VK war UNSERE Teenagerzeit und wir sollten es nachfolgenden Generationen immer erlauben, sich ihre Zeit selbst aufzubauen und zu gestalten.

Und hey, ich kann wieder Bath Room hören - und dieses Mal ohne komplett schwarz umrandete Augen, Sicherheitsnadeln in der Jeans und selbst gemalten Bandshirts, weil wir uns die richtigen nicht leisten konnten ;)
Zuletzt geändert: 26.04.2024 10:02:52

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