Gedankenverloren stapfe ich durch den Schnee, vorbei an der alten Tanne. Früher haben Tala und ich hier gelegen, lachend und scherzend, und haben mit unseren Armen Schneeengel in den weißen Untergrund gemacht. Früher… Bevor die Abtei unser Leben vergiftet hat.
Jetzt würde Tala das garantiert nicht mehr tun; die Jahre in Boris’ Gehorsam haben ihn bitter gemacht, bitter und kalt. Seit unendlich langer Zeit ist schon kein Kichern mehr über seine Lippen gedrungen, keiner dieser ansteckenden kleinen Gluckser, die ich so liebe.
Ja, ich liebe sie, liebe ihn. Jedes winzige Detail an ihm, und sei es auch noch so flüchtig. Seine funkelnden eisblauen Augen, seine blasse Haut, die im krassen Kontrast zu seinem feuerroten Haar steht… Das alles löst eine Wärme in mir aus, die meine einzige Rettung vorm Erfrieren zu sein scheint; ohne sie hätte die Biovolt es schon längst geschafft, mein Herz in einen gefühllosen Eisblock zu verwandeln.
Natürlich weiß Tala nichts von meinen Gefühlen für ihn. Ich wage nicht, mir vorzustellen, wie er auf eine derartige Offenbarung reagieren würde. Er, der immer emotionslose Teamleader, wäre garantiert nicht begeistert zu erfahren, dass sein Protegé sich in ihn verliebt hat. Nein, es ist besser darüber zu schweigen.
Wenigstens versuche ich mir das einzureden, wenn ich wie jetzt stundenlang ziellos durch die Gegend laufe, dabei mit einem wohligen Schaudern feststelle, wie die Kälte langsam die Gedanken in meinem Kopf erstarren lässt.
Inmitten dieser schneebedeckten Landschaft entfällt die Frage nach der Richtigkeit meiner Gefühle, hier muss ich mich nicht vor mir selbst verstecken. Leider kann es nicht immer so sein…
Kleine Nebelschwaden steigen auf, als ich unwillkürlich seufzen muss. Noch einen letzten Blick um mich werfend, versuche ich wenigstens ein paar Impressionen für die Zeit bis zu meinem nächsten Freigang in mich aufzunehmen. Dann begebe ich mich zurück auf den Weg, der am eingefrorenen Fluss vorbei und zum Hort meiner Alpträume führt; Tala würde mich umbringen, wenn ich schon wieder zu spät zum Training erscheine.
Kaum haben sich die Tore der Abtei hinter mir geschlossen, kommen mir schon Ian und Spencer entgegengelaufen. Atemlos bleiben sie vor mir stehen: „Wo ist Tala?“
Fragend schaue ich sie an; irgendwie gelingt es mir nicht so ganz, den Sinn dieser Frage zu erfassen.
Ian steht kurz vorm Losheulen, als er mich aus großen, traurigen Chibiaugen anschaut: „Boris will mit Tala sprechen und wir können ihn nicht finden und weil er dir doch vorhin in den Wald gefolgt ist und…“ Wie zur Beruhigung streichelt Spencer dem Kleinen über den Kopf, ehe er mir kurz bestätigend zunickt. Boris will also wirklich mit Tala sprechen… Das ist übel.
Erst einige Sekunden später geht mir auf, was Ian noch gesagt hat: Tala ist mir also hinterhergelaufen. Aber warum sollte er das tun?
„Schon gut… Ihr sucht ihn weiter in der Abtei und ich schaue nach, ob ich ihn draußen finde.“, höre ich mich selbst wie aus weiter Ferne sagen. Ich könnte nicht erklären, warum ich anschließend tatsächlich wie ein kopfloses Huhn davonrenne, aber irgendetwas treibt mich dazu an. Es sieht Tala nicht ähnlich, sich so zu benehmen…
Nach einer halben Ewigkeit, in der ich im Schnee herumgelaufen bin und mir den Hals wund geschrien habe, komme ich schließlich wieder an der alten Tanne an. Auch hier ist nichts zu sehen.
Ich will mich gerade umdrehen und zur Abtei zurückgehen, da bemerke ich etwas rotes, das zwischen dem Grün der Tannennadeln hervorlugt. Vorsichtig mache ich ein paar Schritte darauf zu, weiß ich doch immer noch nicht genau, um was es sich tatsächlich handelt.
Der Anblick, der sich mir bietet, ist atemberaubend: Mit geschlossenen Augen sitzt Tala an den Stamm gelehnt, scheint seine Umgebung vollkommen vergessen zu haben. Schneeflocken haben sich in seinen Haaren verfangen und das Gel in ihnen aufgeweicht, so dass sie jetzt in wirren, schulterlangen Strähnen herunterhängen, ihm etwas Verletzliches geben. Momentan erinnert nichts mehr an den sonst so harten und unbarmherzigen Blader.
„Was willst du, Bryan?“, langsam schlägt er die Augen auf, scheint mich mit seinen unergründlichen Blicken verschlingen zu wollen. Gefangen von seiner Erscheinung, stammele ich das erstbeste, was mir in den Sinn kommt: „Boris will dich sprechen!“
„Ich weiß; sein Wutanfall war nicht zu überhören…“, ein bitteres Lachen ausstoßend, schüttelt Tala den Kopf, „Na los, setz dich!“ Auffordernd klopft er neben sich in den Schnee.
Zögernd gehorche ich, weiß ich doch, dass seine Nähe gleichsam Bestrafung wie auch Lohn für mich ist. Schweigend sitzen wir eine Weile da, starren in den Schnee hinaus. Ich habe Angst, dass er inmitten dieser Stille das Pochen meines Herzens hören könnte; so heftig, wie es momentan schlägt…
„Hast du es eigentlich auch so satt, Bryan?“, fragend schaut Tala mich an, „Das Leben in der Abtei meine ich…“
Stirnrunzelnd denke ich einen Augenblick nach: „Na ja, besonders gemocht habe ich es noch nie. Weshalb fragst du?“
„Das alles kommt mir in letzter Zeit so sinnlos vor…“
„Tja, das liegt wahrscheinlich daran, dass es vollkommen sinnlos ist; wer glaubt schon ernsthaft daran, dass so zwei alte Versager wie Boris und Voltaire das Zeug haben, die Weltherrschaft an sich zu bringen?“
Minutenlang starren wir uns ohne eine Miene zu verziehen an. Dann brechen wir gleichzeitig in lautes Gelächter aus. Befreiend schallt es durch die Landschaft, lässt uns kurzzeitig all unsere Probleme vergessen. Übermütig zieht mich Tala auf die Beine, nur um Sekunden später zuerst mich und dann sich selbst in den Schnee zu versenken.
„He, was soll da…“, noch ehe ich meine Frage zu Ende formulieren kann, legt sich ein feingliedriger Finger auf meinen Mund.
„Erinnerst du dich eigentlich noch dran, wie wir früher immer hier gelegen und Schneeengel gemacht haben?“, in Talas Augen liegt eine für ihn ungewöhnliche Wärme, als er das wissen will. Unwillkürlich muss ich grinsen: „Wie könnte ich das vergessen? Dir hat es doch immer einen diebischen Spaß gemacht, wenn Bruder Andrej¹ bei ihrem Anblick abgedreht ist und irgendwas von „Kornkreisen“ und „Sie sind unter uns“ genuschelt hat… Irgendwie vermisse ich das.“
Ein spitzbübisches Lächeln huscht über das Gesicht meines Teamleaders: „Tja, dann… Ich verrate dich nicht, wenn du mich nicht verrätst!“ Wie ein Irrer fängt er an, mit den Armen im Schnee rumzurudern, schmeißt mir so eine gehörige Portion der weißen Masse ins Gesicht. Eine Aktion, die nicht ungestraft bleiben kann. Nicht ohne mir ein kurzes Losprusten verkneifen zu können, schnappe ich mir nun meinerseits eine Hand voll Schnee und beginne, ihn einzuseifen. Infolgedessen entsteht eine spaßhafte Balgerei, bei der mal der Eine, mal der Andere durch den Schnee gerollt wird.
Unser Lachen erstirbt schlagartig, als es mir gelingt, meinen Kontrahenten unter mir festzunageln. Stattdessen starrt Tala mich nur wortlos aus großen Augen an. Das und der in seinen Haaren glitzernde Raureif lassen ihn unschuldig, ja beinahe engelsgleich aussehen.
Ehe mir meine Beherrschung ganz entgleiten kann, stehe ich schnell wieder von ihm auf. Nun, zumindest will ich das, denn im selben Moment werde ich am Handgelenk gepackt und wieder nach unten gezogen. Sanft wie eine fallende Schneeflocke pressen sich weiche Lippen auf die meinigen, lösten ein leichtes Kribbeln in ihnen aus.
Lächelnd löste Tala sich von mir: „Na, hast du das gefunden, was du hier draußen gesucht hast?“ Dieser… Er hat die ganze Zeit über gewusst, was mit mir los ist!
Dann muss auch ich grinsen: „Kann schon sein; aber sollten wir nicht langsam in die Abtei zurückkehren?“
„Och, das kann warten… Boris ist doch sowieso schon sauer auf uns, da kommt es auf die Viertelstunde mehr auch nicht drauf an.“, vorsichtig kuschelt Tala sich an mich, ignoriert dabei geflissentlich, dass wir noch immer auf diesem feucht-kalten Untergrund liegen. Endlich ist er mein, mein kleiner Schneeengel…
¹ Jaaaa! Der Pater Andrej! Ein Herz für fast taube, rollstuhlfahrende Mönche! ^.~ (Keine Sorge, das ist nicht ansteckend… Oder doch? *muhahaha*)
