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Bruder

von
Koautor:  YoungMasterWei

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Vertrautheit

Auf den ersten Blick wirkte Jin Lings Gestalt noch immer friedlich und in Sicherheit. Als Jiang Cheng seine Barriere entfernte und sie die negativen Energien genauer inspizierten, mussten sie jedoch feststellen, dass die heilenden Talismane doch einigen Schaden angerichtet hatten. Wei Wuxians negatives Qi hatte sich fast aufgelöst und das fremde Qi hatte erneut begonnen, sich zu vermehren und tiefer in Jin Lings Körper vorzudringen. Sie konnten von Glück reden, dass Jin Ling bewusstlos war und sein Kreislauf entsprechend stark verlangsamt.

Hastig entfernte Wei Wuxian die zwei Talismane und versuchte erneut, die fremde Energie mit seinem eigenen Qi zu locken, doch diesmal ging sie ihm nicht in die Falle. Sie hatte dazugelernt. Er nahm Chenqing zu Hilfe und begann eine süße, lockende Melodie zu spielen. Wieder nahmen seine Augen diesen leuchtenden Rotton an und Jiang Cheng konnte spüren, wie die Melodie an Intensität gewann. Die Energie änderte ihren Fluss. Ein Teil schien sich der Quelle des Liedes entgegenzustrecken, doch sie ließ nicht vollständig von ihrem Opfer ab. Jin Ling zog in seiner Bewusstlosigkeit scharf die Luft ein, seine Mimik verzerrte sich, die Hände krallten sich in die Erde. Sofort wechselte Chenqings Melodie in einen ruhigen Rhythmus, ein sanftes Wiegenlied. Als sich Jin Lings Züge wieder entspannt hatten und auch die dunkle Energie in seinem Körper nur noch matt flimmerte, setzte Wei Wuxian die Geisterflöte mit einem erschöpften Seufzen ab. Doch auch Jiang Cheng konnte das bittere Gefühl nicht abschütteln, welches ihm die Luft abschnürte. Zwar breitete sich die dunkle Materie für den Moment nicht weiter aus, aber ihre Ausläufer waren weit in Jin Lings Körper vorgedrungen. Sein überstürztes Eingreifen war Schuld daran, dass sich die Gefahr für seinen Neffen darart verschlimmert hatte. Nicht nur Wei Wuxian - sogar Jin Ling hatte er durch seine hitzige Fehleinschätzung in größte Gefahr gebracht. Wenn Wuxian in dieser Höhle tatsächlich gestorben wäre oder wenn sie es nicht rechtzeitig heraus geschafft hätten, dann …

“Wie lange hält Chenqings Effekt an? Wir können Jin Lings Meridiane nicht verschließen. Sie sind zu eng mit lebenswichtigen Funktionen verbunden.”

“Eine halbe, vielleicht eine Shichen. Zumindest lange genug, um ihn nach Langya zu bringen”, teilte Wei Wuxian seine Einschätzung mit.

“Wie viele Leute habt ihr dort?”

“Noch drei. Lan Zhan, Sizhui und Jingyi.”

Jiang Cheng nickte. So sehr es ihm widerstrebte, sich an einem Ort mit dem zweiten Lan-Bruder aufzuhalten und sich noch dazu in dessen Schuld zu begeben, so wusste er auch, dass dies nicht der rechte Zeitpunkt für alte Feindseligkeiten und falschen Stolz war.

Aber wenn der Bengel wieder bei Sinnen war, dann würde er ihm die Beine brechen für so viel Irrsinn, es mit solch einer Gefahr allein aufnehmen zu wollen!

 

“Also …”

Jiang Cheng räusperte sich, humpelte ein paar Schritte schneller und hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Sie hatten bereits mehr als die Hälfte der Strecke nach Langya zurückgelegt. Bei ihrer Ankunft wäre ihre Chance auf dieses Gespräch vertan. Er musste sich endlich aufraffen.

“Also”, setzte er erneut an, “wenn du mal frei hast, dann lass dich am Lotus-Pier blicken.”

Er spürte, wie sein Kopf einige Nuancen dunkler wurde und bereute augenblicklich, die Einladung nicht doch einfach in Briefform überreicht zu haben. Oder gar nicht.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Wei Wuxians Kopf zu ihm herüberschnellte, die Augen groß, erst vor Unglauben, dann erfüllt von dieser kindlich-naiven Freude, die ihm immer ins Gesicht geschrieben stand, wenn ihn irgendwas begeisterte. Manche Dinge änderten sich wohl selbst nach einer Wiedergeburt in einem fremden Körper nicht. Jiang Cheng stierte verbissen geradeaus.

“Wenn’s unbedingt sein muss, bring deine schlechtere Hälfte mit.”

“Jiang Cheng!”

Mit einem Satz stieß Wei Wuxian gegen ihn und schlang einen Arm über Jiang Chengs Schulter, was Jin Ling beinah von seinem Rücken rutschen ließ. Sofort schnellte der aufdringliche Arm zurück, Wei Wuxian strauchelte und rettete in letzter Sekunde den bewusstlosen Jungen vor dem Absturz.

“Wenn mein Neffe deinetwegen im Dreck landet, zieh ich’s zurück!”

“Ich hüte ihn wie meinen Augapfel!”, versprach er feierlich und streckte zur Untermauerung seiner Worte die Nase in die Höhe, nur um gleich darauf ungelenk an Jin Lings Arm zu zupfen und ihn mit den Schultern in eine etwas bequemere Position zu bringen.

Jiang Cheng verdrehte die Augen.

“Shijie hat damals sogar uns beide nach Hause zurückgetragen”, erklang Wei Wuxians Stimme kurz darauf sinnierend.

Jiang Cheng würde es niemals aussprechen, aber es tat gut zu wissen, dass diese Erinnerung auch in Wuxians Herzen einen besonderen Platz hatte.

‘Bruder.’

Der Gedanke ließ ihn sich so geborgen wie unsicher fühlen, ungewohnt, ein wenig peinlich berührt, und so versuchte er, das Gespräch in unverfänglichere Gefilde zurückzulenken.

“Werd nicht übermütig! So stark wie meine Schwester wirst du nie.”

Wei Wuxian gluckste.

“Das wäre wahrhaftig vermessen.”

Für sie beide. Doch Yanli war und blieb Jiang Chengs Ideal, sein Fixstern, der ihm so oft den Weg wies, wenn er in der Finsternis die Orientierung verlor. Und wahrscheinlich ging es Wei Wuxian ähnlich.

“Und Lan Zhan ist also meine ‘schlechtere Hälfte’?”, hakte sein Bruder nach. “Dass ich aus deinem Mund mal ein Kompliment höre … Die Zeiten haben sich wahrlich geändert.”

“Träum weiter. Dass er noch unerträglicher ist als du, spricht nicht für dich.”

“Haha! Wenn der alte Lan Qiren das hören könnte!”

“Dass ihr es so lange an einem Ort aushaltet, ist sowieso ein Wunder. Ist er noch nicht an einem Herzinfarkt gestorben?”

“Jiang Cheng, du kränkst mich! Ich bin die Unschuld in Person!”

Jiang Cheng quittierte es mit einem Schnauben. Dieser Kommentar war keiner Antwort wert.

“Oder lebt ihr außerhalb der Clanmauern? Eher geht die Welt unter, als dass du dich an deren dreitausend Regeln hältst. Sind es inzwischen nicht sogar noch mehr?”

“Über fünftausend.”

“Da hast du ja ganze Arbeit geleistet.”

“Man tut, was man kann.”

Wei Wuxians schalkhaftes Grinsen entfaltete sich zu voller Pracht und er versuchte, stolz die Brust zu recken, was mit Jin Ling auf dem Rücken jedoch reichlich albern aussah.

Ein kurzes Zucken in den Mundwinkeln konnte sich selbst Jiang Cheng nicht verkneifen. Er musste zugeben, es hatte ihnen allen damals gut getan, dass Wei Wuxian es sich in seinem fünfzehnjährigen Übermut zur Lebensaufgabe gemacht hatte, jede einzelne dieser Regeln zu brechen und für etwas Abwechslung im tristen Gusu-Lan-Alltag zu sorgen.

“Aber irgendwie haben wir uns mittlerweile arrangiert”, gab der Unruhestifter schließlich zu. “Du wirst es kaum glauben, aber die drücken tatsächlich ein Auge zu. Wenn ich nachts um zehn noch über die Mauer klettere, wird dezent weggeguckt, solange die Jungspunde nicht in der Nähe sind. Es beschwert sich auch niemand, wenn ich nicht zum gemeinsamen Wasser-und-Gras-Abendessen auftauche. Außer es steht irgendeine hochwichtige Lan-Feierlichkeit an. Dann komm ich nicht drumrum. Und der Wein! Jiang Cheng, erblasse vor Neid! Du findest nirgends auf der Welt einen besseren Wein als Emperor’s Smile, und solange ich ihn bloß im Jingshi trinke, gilt: Was niemand sieht, ist nicht passiert.”

Jiang Cheng war sprachlos.

“Irgendwie tun mir die Lan-Ältesten schon leid. Dass sie für ihren ‘Preisgekrönten Jade-Prinzen’ so viel über sich ergehen lassen müssen.”

“Hey! Du tust ja grad so, als würde ich ihnen nur auf der Tasche liegen”, beschwerte sich Wei Wuxian.

Jiang Cheng hob eine Augenbraue.

“Ist es denn nicht so? Was tust du denn noch, außer dich um sämtliche Regeln zu drücken und dich heimlich an ihrem Frust zu ergötzen?”

“Mit den Jungspunden und Wen Ning allerlei gruseliges Geschöpf auf Nachtjagden aufmischen.”

Jiang Cheng quittierte es mit einem Schnauben.

“Und ihre Aufsätze kontrollieren.”

“Du bist unter die Lehrer gegangen?”

“Jepp, und jetzt halt dich fest: Ab Frühjahr startet sogar mein erster eigener Kurs. In den dunklen Künsten natürlich.”

Jiang Cheng blieb der Mund offen stehen und Wei Wuxian ergötzte sich ganz ungeniert an diesem Anblick, ehe er weiter prahlte.

“Überleg dir schon mal, wen du anmelden willst, und mach die Formalitäten fertig. Wenn wir den Kurs öffentlich ausschreiben, wird uns die Kultivatorenwelt die Tore einrennen.”

Beleidigt klappte er den Mund wieder zu und presste die Lippen aufeinander.

“Das ist ein Scherz.”

“Nein, mein voller Ernst.”

“Wie konnte denn DAS passieren?!”

“Lange Geschichte. Aber hauptsächlich, um den Schaden zu minimieren, den laienhafte Nachahmer sich und anderen zufügen, wenn sie blindlings mit dem Feuer spielen.”

Sie waren an ihrem Ziel. Ein Wachtposten am Tor von Langya begrüßte sie schon von Weitem mit einer Verbeugung und drehte sich dann um, um ihre Rückkehr zu verkünden.

“Die Langversion bist du mir noch schuldig”, beendete Jiang Cheng das Thema, denn schon hatte Sizhui sie entdeckt und rannte ihnen mit alarmiertem Blick entgegen.

“Gern”, quittierte Wei Wuxian mit einem kurzen Lächeln, ehe er Jin Ling in Sizhuis Arme gleiten ließ und ihm die Lage erklärte. Dann erspähte er im Innern des Dorfes Lan Wangji, sein Gesicht klarte auf wie der Himmel nach einem Wolkenguss, und er war verschwunden.



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