Extra: Rachegeister
"Tai?" Interessiert beobachtete Kari, wie der Angesprochene seinen Rucksack mit Knoblauch vollstopfte. "Was zum Teufel hast du mit dem ganzen Knoblauch vor?!"
Eigentlich hatte sie ihm nur den Einkaufszettel für das Wochenende geben wollen, aber das Verhalten ihres Bruders hatte sie nun doch länger als geplant aufgehalten.
Tai nahm ihr den Zettel aus der Hand, stopfte ihn in den Rucksack und sagte:" Den brauch ich für die Vampire!"
Für einen kurzen Moment verschlug es dem Mädchen die Sprache.
"Macht Sinn", erklang da eine Stimme hinter ihr.
"Oh, hey T.K!" Tai war nicht weiter überrascht, ihn hier zu sehen. Er und Kari waren praktisch schon verheiratet.
"Hey."
Kari runzelte die Stirn. "Darf man fragen, wo du gedenkst, Vampiren zu begegnen?"
"Na in der Schule natürlich."
Die junge Yagami schüttelte den Kopf. Sie hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, den Gedankengängen ihres Bruders folgen zu wollen. Dieser drängelte sich gerade an ihr vorbei in den Flur, während er kurz aufklärte, was er vorhatte.
Tai schlüpfte schnell in seine Schuhe, drehte sich zu ihnen um und sagte: "Ich bin dann…" Er hielt inne, beobachtete wie Kari und T.K ebenfalls nach ihren Schuhen griffen. "Was soll das werden?", fragte er mit hochgezogener Augenbraue.
"Na wir kommen mit."
Er lachte. "Sicherlich nicht, das ist viel zu gefährlich!"
"Was? Warum ich…"
Tai packte sie an den Schultern "..bist viel zu jung, um mitten in der Nacht in der Schule rumzurennen genau!"
Empört schnappte das Mädchen nach Luft. Gerade setzte sie an, um ihm gehörig die Meinung zu sagen, als…
"Er hat Recht." T.K kam Tai überraschend zur Hilfe, was ihm einen zornigen Blick seiner Freundin einbrachte.
"Wenigstens einer ist vernünftig!", atmete der Ältere erleichtert auf. "Ihr findet schon eine andere Beschäftigung für heute Abend." Er dachte einen Moment nach. "Kommt im Fernsehen jetzt nicht gleich das Sandmännchen?"
"T.K!" Kaum hatte sich die Tür hinter ihrem Bruder geschlossen, stürzte die Yagami sich auf ihren Freund. "Was sollte das bitte?!"
"Hey hey, ganz ruhig!" Beschwichtigend hob der Blonde seine Hände. "Es wäre sinnlos gewesen, Tai hätte uns niemals mitgenommen."
Wütend sah Kari zur Seite. Sie wusste, dass er Recht hatte, aber trotzdem!
"Außerdem", grinste T.K sie vielsagend an. "Habe ich schon einen Plan…"
"Psst!"
T.K griff nach Karis Arm und zog sie hinter die nächste Ecke. Sie drückten sich eng gegen die Wand, während ein Lichtstrahl den Gang neben ihnen ableuchtete.
"Ach kommt!", hallte Tais Stimme durch die Schule.
Befriedigt stellte Kari fest, dass er verunsichert klang.
"Das waren sicher nur Cody und Yolei, die uns erschrecken wollen!"
T.K schüttelte lächelnd den Kopf. Es war seine Idee gewesen, dem Älteren unbemerkt in die Schule zu folgen. Und bis jetzt hatte es erstaunlicherweise auch gut geklappt. Bis Kari der Gruppe etwas zu nah gekommen war, aber auch das machte nichts. Tatsächlich passte es ganz gut, das Geräusch schien Tai definitiv zu beunruhigen, was ihrem Plan nur gelegen kam. Sie gaben den Anderen einen kurzen Vorsprung und setzten ihren Weg dann fort.
Denn sie hatten ein Ziel.
"Hier ist es!" Entschlossen drückte Kari die Türe auf. "Das ist Tais Klassenzimmer. Und hier ist sein Platz." Sie zeigte auf einen Tisch, auf dem eine einzelne Bentobox lag.
T.K trat einen Schritt näher, leuchtete mit seinem Handy. "Süß. Wusste gar nicht, dass Tai auf Hello Kitty steht", bemerkte er mit Blick auf das weiße Kätzchen, welches die Box zierte.
Kari verdrehte die Augen. "Die hat er natürlich von mir. Er hat seine mal wieder verloren…" Sie stellte ihre Tasche auf dem Stuhl ab und zog ihren Füller heraus. "So…was genau soll ich schreiben?"
T.K zuckte die Schultern. "Irgendwas, was Tai Angst macht."
"Mh. Vielleicht…ah verdammt!", fluchte das Mädchen.
"Was ist los?"
"Mein Füller läuft aus!"
Ungläubig starrte T.K auf den Tisch. "Du benutzt rote Tinte?"
"Ja?"
"Warum?"
Kari funkelte ihn an. "Weil es mir gefällt. Außerdem sieht es niedlich aus!"
"Schon gut, schon gut." Er nahm die Bentobox vom Tisch und stellte sie vorsichtig auf den Boden, damit sie nicht schmutzig wurde.
"Danke! Aber guck mal, jetzt ist der ganze Tisch rot!"
"Sieht aus wie Blut", bemerkte der Takaishi. "Eigentlich gar nicht so schlecht."
"Aber ich wollte doch eine Nachricht auf dem Tisch hinterlassen… keine Blutlache!"
T.K seufzte und reichte ihr ein Taschentuch, damit sie nicht den ganzen Boden mit Tinte bekleckerte. "Okay, okay. Komm, wir machen erst mal deine Hände sauber, danach kümmern wir uns um den Rest."
Kari nickte. T.K hatte, wie immer, Recht.
Es dauerte eine ganze Weile bis sie die Mädchentoilette in dem Stockwerk gefunden hatten. Dort angekommen, wusch Kari sich erstmal sorgfältig die Hände. Sie entsorgte die schmutzigen, mit Tinte verschmierten Taschentücher im Mülleimer, dann hielt sie plötzlich inne.
"Was ist?", fragte T.K.
Sie lächelte. "Dir ist schon klar, dass du gerade auf der Mädchentoilette bist mein lieber Takeru."
Er verdrehte die Augen. "Na und? Es ist ja nicht so, als würdest du…"
"Sprich jetzt besser nicht weiter!"
Ihr Freund lachte nur. "Also, wie ist jetzt der Plan?"
Kari dachte kurz nach. "Wir gehen zurück und schreiben eine Nachricht auf den Tisch, oder?"
"Ich weiß nicht." T.K zögerte. "Vielleicht gehen wir lieber wieder nach Hause."
Die Yagami konnte nicht glauben, was sie da hörte. "Bitte? Sicherlich nicht! Tai hat eine Lektion verdient! Und außerdem war das ganze doch deine Idee!"
Ihr Freund seufzte. "Schon aber.."
"Aber was?"
Er lächelte, ging auf sie zu und legte ihr seine Hand unter ihr Kinn. "Ich könnte mir an einem Freitagabend auch etwas Schöneres vorstellen…" Sanft drückte T.K ihren Kopf nach oben, seine Lippen kamen langsam näher und…
"Was war das?" Er hielt inne.
"Was war was?" Kari zog eine Augenbraue nach oben.
"Verdammt! Da kommt jemand!"
Und bevor Kari wusste, wie ihr geschah, hatte T.K sie an ihrem Handgelenk in eine der Toilettenkabinen gezerrt. Er stellte die Taschenlampe seines Handys aus und mit einem mal war es stockdunkel. Keine Sekunde zu früh, denn da hörten sie schon wie die Türe sich öffnete und laute Stimmen den Raum erfüllten.
Regungslos lauschten Kari und T.K dem Gespräch.
Verdammt! Wenn sie jetzt entdeckt wurden, war alles aus. Die Yagami wagte es kaum zu atmen.
"Was meinst du eigentlich zu dieser Sache mit der Tinte?" fragte Mimi gerade.
Moment! Hieß das etwa, sie waren in Tais Klassenzimmer gewesen und hatten die Tinte auf dem Tisch entdeckt?
So hatte sie das aber nicht geplant! Eigentlich hätte ihr Bruder erst am Montagmorgen eine schaurige Botschaft auf seinem Pult vorfinden sollen.
Etwas wie: "Wir wissen, was du Freitag Abend getan hast."
Aber jetzt, jetzt war ihr ganzer schöner Plan im Eimer! Warum waren ihre Freunde überhaupt in dem Klassenzimmer gewesen?!
"Es macht mir Angst."
Was? Karis Laune hob sich schlagartig. Wenn das, was Mimi da gerade gesagt hatte, wirklich stimmte, hatten sie noch eine Chance! Sie mussten sich das mit der Tinte nur irgendwie zu Nutze machen und…. Plötzlich nahm sie eine Bewegung hinter sich wahr. Was hatte T.K vor? Wenn er so weitermachte, würden Mimi und Sora sie entdecken!
"Bist du fertig?"
"Ja, ich komme…" Soras Stimme brach ab.
Karis Herz setzte einen Moment aus. Hatte Sora etwa…? Das Mädchen kam nicht dazu, ihren Gedanken zu beenden, denn da wurde sie auf einmal in die Luft gehoben. Fast hätte sie vor Überraschung laut aufgeschrien. T.K zog sie lautlos zu sich auf den geschlossenen Deckel der Toilette, wo sie eng aneinander gepresst verharrten.
Das Licht eines Handys drang durch den Schlitz der Kabine. Genau dorthin, wo noch vor ein paar Sekunden ihre Füße gewesen waren.
"Sora? Kommst du?" Mimi klang ungeduldig.
"Ich…" Die Takenouchi schien zu zögern. Dann…"Ja…ich komme."
Sie hörten wir die Toilettentüre leise zufiel. Dunkelheit.
"Puuh!", stieß T.K leise hervor.
"Puh!", wiederholte Kari erleichtert. "Meinst du Sora hat uns gesehen?"
Der Takaishi schaltete die Lampe seines Handys wieder an. "Möglich. Aber wahrscheinlich denkt sie, dass sie es sich eingebildet hat."
"Hoffentlich…"
Sie verließen die Kabine. "Und jetzt? Deine Tisch Nachricht kannst du auf jeden Fall vergessen."
"Ich weiß ", sagte Kari. "Aber hast du gehört? Es hat ihnen Angst gemacht!"
"Dass du das so glücklich sagst macht mir Angst", bemerkte T.K.
"Haha", sie schlug ihm spielerisch gegen den Oberarm.
"Aua", jammerte der Blonde. "Aber ernsthaft, damit hast du dein Ziel doch erreicht, oder? Dann können wir…"
Kari schüttelte vehement den Kopf. "Oh nein! Das reicht mir nicht!"
Ein Seufzen. "Ernsthaft?"
"Es ist mir todernst. Und ich habe auch schon eine neue Idee…"
"So!" Zufrieden betrachtete Kari ihr Werk. Okay, eigentlich war es nur ein einfaches weißes Blatt Papier, das sie an die Eingangstür der Schule geklebt hatten.
Aber!
Wichtig war, was drauf stand. Und das würde ihrem Bruder sicherlich Angst machen. Sie hatte ihre Drohung mit "Sandmann" unterschrieben. Eine Anspielung auf Tais ungeheuerliche Idee, was sie und T.K seiner Meinung nach heute Abend tun sollten. Eine Anspielung, die Tai - und daran gab es keine Zweifel - nicht verstehen würde.
"Super", sagte T.K. "Dann können wir…"
"...uns jetzt verstecken genau!"
"Häh?" Der Blonde sah sie verwirrt an. "Verstecken? Warum?"
Kari lächelte. "Na, ganz einfach. Sobald Tai die Nachricht sieht, wird er in die Schule rennen!"
"Was? Niemals! Warum sollte er?!"
"Ach Takeru!" Die Yagami hakte sich bei ihm unter und zog ihn mit sich. "Weil ich meinen Bruder kenne! Ganz einfach."
"Taiii", flüsterte Kari und bemühte sich, ihre Stimme möglichst gruselig klingen zu lassen. Danach verschwand sie schnell wieder in eines der Klassenzimmer. Sie hörte, wie T.K. von der anderen Seite des Flures nach ihrem Bruder rief. Kurz darauf, laute Schritte, die sich entfernten. Perfekt. Es lief alles nach Plan! Tai verhielt sich genauso wie sie es vorhergesehen hatte… einfach wie Tai eben. Klar, jeder andere hätte nach der Nachricht an der Türe das Weite gesucht.
Jeder, der nur einen Funken gesunden Menschenverstand besaß. Also jeder… außer ihr Bruder.
Der musste - natürlich! - mal wieder versuchen, den Helden zu spielen. Und das wurde ihm jetzt zum Verhängnis.
"Hey." T.K betrat das Klassenzimmer und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. "Unglaublich, dass dein Plan funktioniert hat."
"Wie bitte?" Empört stemmte Kari die Hände in die Hüfte.
Aber ihr Freund lachte nur. "Na gut, dann mal auf zum großen Finale, oder?"
Sie hatten sich in einem Klassenzimmer kurz vor dem Schuleingang versteckt. Denn, wenn Tai irgendwann den Weg zurück finden würde, kam er hier vorbei! Und tatsächlich mussten sie gar nicht lange warten, bis sie Schritte und laute Stimmen hörten. Moment! Stimmen? Die Yagami drückte ihr Ohr an die Tür.
"Was ist da draußen los?'', flüsterte T.K und tat es ihr gleich.
"Da ist jemand bei Tai…ein Lehrer?"
"Tja." Der Takaishi trat von der Tür zurück und setzte sich auf einen der Tische, die im Raum standen. "Dann war's das wohl. Aber ich denke, Tai hat seine Lektion gelernt auch ohne.. "
"Nein!", zischte Kari. Sie waren so weit gekommen, sie wollte es jetzt auch zu Ende bringen.
T.k blinzelte sie überrascht an. So kannte er seine Freundin gar nicht. Eigentlich war sie sanft, gutmütig, liebevoll. Aber jetzt… wie sie dastand, das Gesicht voll dunkler Schatten, die Lippen fest aufeinander gepresst, in ihren Augen funkelte die Wut…
"Rachegeist", murmelte er leise.
Das traf es ganz gut. Es wirkte wirklich so, als wäre Kari von einem bösen Geist besessen. Erschrocken zuckte er bei diesem Gedanken zusammen. Er stand auf, wollte sie gerade etwas beruhigen, da öffnete sie auf einmal die Tür. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Sie wollte doch nicht etwa…
"Tai…" Sie streckte ihre Hand langsam Richtung Flur.
"Waaaahh!" Ein lauter Schrei.
Und als Kari sich da wieder zufrieden zu ihm umdrehte, war die Wut aus ihren Augen plötzlich verschwunden.
Erleichtert ging T.K auf sie zu, schloss sie fest in die Arme. "Wir haben es geschafft", nuschelte das Mädchen in seine Haare.
"Nein", er strich ihr liebevoll über den Kopf. "Du hast es geschafft. Aber", er ließ sie los und grinste schief. "Ich hoffe, dass du dich nie an mir rächen willst."
Kari streckte ihm die Zunge raus. "Das hoffe ich auch…für dich!" Ihr Gesicht kam näher, sie schloss erwartungsvoll die Augen und…
"Deine Hosentasche leuchtet!"
Die Yagami, enttäuscht, dass T.K. diesen Moment zerstört hatte, zog genervt ihr Handy hervor. "Das ist Mimi!", rief sie überrascht.
"Geh besser ran."
Kari nickte. "Hallo Mimi, was.."
"Sagt jetzt nichts und hört mir einfach zu."
Es war nicht Mimis Stimme.
T.K, der ihren entsetzten Blick bemerkt hatte, drückte sein Ohr an das Handy, um mithören zu können.
Und noch bevor die Person am anderen Ende der Leitung mit der Aufklärung begonnen hatte, wusste Kari, dass es vorbei war.
Sie hatten verloren.
Gegen einen Detektiv.
"Nein", verbesserte sie sich selbst in Gedanken. "Gegen einen Meisterdetektiv."
"Komisch.."
"Was ist denn mein Schatz?" Susumu Yagami sah seine Frau, die stirnrunzelnd in der Küche stand, fragend an.
Sie drehte sich nachdenklich um. "Ich wollte heute ein neues Rezept für Knoblauch Nudeln ausprobieren. Aber es ist kein Knoblauch mehr da. Dabei bin ich mir sicher, dass wir eigentlich noch eine ganze Menge da hatten!"
Ihr Mann lachte. "Da hast du dich sicher geirrt. Wo sollte der Knoblauch schon hin sein?"
Yuuko nickte langsam. "Ja…wahrscheinlich hast du Recht. Trotzdem.." Sie dachte einen Moment lang nach. "Was sollen wir denn dann heute essen? Ich…"
"Schatz." Er legte ihr liebevoll eine Hand auf die Schulter. "Mach dir keine Umstände. Wir bestellen einfach was, okay?"
Yuuko seufzte. "Ja. Uns bleibt wohl nichts anderes übrig."
Und während sie die Speisekarte des Pizza Services suchte, dankte Susumu dem Himmel, dass dieser verdammte Knoblauch verschwunden war ( - denn das war er, Yuuko hatte Recht, sie hatten eigentlich noch haufenweise davon vorrätig gehabt).
Aber etwas besseres hätte nicht passieren können. Nichts gegen die Kochkunst seiner Frau nur…
Dann legte sich seine Stirn in Falten. Etwas komisch war es dann schon. Wo der ganze Knoblauch wohl geblieben war?
