Zum Inhalt der Seite

Mein Weg zu Dir

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben,
lange nichts gehört (oder eher gelesen). Vor einer halben Ewigkeit habe ich angefangen, mehr oder weniger aus einer Laune heraus, diese FF zu schreiben. Die ersten Zeilen kamen mir einfach in den Kopf und ehe ich mich versah, waren 10.000 Wörter abgetippt. Ich dachte, ich schreibe so ungefähr 10-20 Kapitel, weil ich eine kleine Idee hatte und die gerne umsetzen wollte und weil ich Lust hatte, endlich mal wieder eine Michi zu schreiben *_*
Aber nach ein paar Kapiteln fing ich an, diesen kleinen Gedanken mit Hallostern2014 weiterzuspinnen und eins kam zum Anderen. Uns kamen so viele Ideen, dass ich diese Geschichte nie im Leben in nur 20 Kapiteln erzählen konnte... unmöglich!
Sie hatte einfach zu viel Potenzial.
Tja, daher gibt es jetzt einiges zu lesen, eine Menge Drama, viele Geheimnisse und spannende Charaktere.
Danke liebe Hallostern2014 für deine zahlreichen Einfälle und dass ich die Geschichte immer und immer mit dir weiterspinnen konnte.

Ich hoffe sehr, dass ihr die Geschichte genauso mögt, wie ich.
Viel Spaß beim Lesen!
Eure Khaleesi Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Aww *_* Danke, dass ihr schon so fleißig mitlest :)
Viel Spaß mit den nächsten beiden Kapiteln!
<3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Alle Michi-Fans müssen nun sehr stark sein :'D
Denn in den nächsten zwei Kapiteln dreht sich alles um Tai und Sora und um ihre Beziehung zueinander...
Viel Spaß damit :* Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich entschuldige mich vorab bei allen Michi-Fans für dieses Kapitel. Bitte schlagt mich nicht, es ist mir selbst sehr schwer gefallen, das zu schreiben... :'D Aber es gehört eben zur Geschichte, also ... ohje, lest selbst. xD Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben da draußen,
vielen Dank für eure Kommentare!!! Ich hoffe, ihr verzeiht es mir, dass ich es nicht schaffe, auf jedes zu antworten. Aber ich verspreche, ich lese sie alle! :) :*
Viel Spaß mit dem nächsten Kapitel *grins* Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Leute, ... xD
Ich komme auf eure Kommentare nicht klar!!! XD Ich muss jedes Mal lachen, wenn ich lese, was ihr so für Fantasien einer gewissen Person gegenüber habt. Es ist wirklich, wirklich unterhaltsam ... und sehr inspirierend xD Vielen Dank dafür! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Zu diesem Kapitel gibt es endlich mal wieder einen Song, passend zu Matt's Auftritt <3

Boyce Avenue feat. David Choi - Firework (Katy Perry Cover) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich denke, es ist mal wieder Zeit für ein bisschen Michiiiii *_* <3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Das Lied habe ich zufällig gehört und musste es schnell noch in das Kapitel einfügen ^^
The Turtles - Happy Together Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Oh oh oh Leue, es wird hitzig in diesem Kapitel. Und das nicht nur in einer Hinsicht... (wo ist der Affe, der sich die Augen zuhält?) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Argh! Wie ich es gehasst habe, dieses (und auch das nächste) Kapitel zu schreiben!!! Es ist ein Wunder, dass mein Laptop das überlebt hat, weil ich voller Hass auf die Tasten eingehämmert habe :'D
Ich entschuldige mich also im Vorfeld für das, was gleich kommen wird. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Okay. Ich bringe es jetzt einfach hinter mich. Wie beim Abziehen eines Pflasters. Kurz und Schmerzlos.
Nein, das stimmt nicht. Schmerzlos ist das Kapitel nicht :'D
oh man, ich hasse mich dafür, dass ich das den Beiden antue. Bitte vergebt mir :'(
Darf ich an dieser Stelle schon verraten, dass die Geschichte auf jeden Fall ein Happy End haben wird?! ;) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe hier noch zwei Songs aus meiner Playlist für euch... einer noch zum letzten Kapitel:
Sigrid & Bring Me The Horizon - Bad Life

Und eins für dieses Kapitel :)
The Veronicas - Cruel

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Also ich mag Tai in dem Kapitel ganz gerne :D
Mal sehen, ob es euch auch so geht... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und weiter geht's :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Oh man, hallo ihr Lieben! Ich habe euch nicht vergessen, ehrlich nicht. Aber in letzter Zeit war einfach zu viel los, als dass ich hätte auch nur daran denken können, etwas hochzuladen. Ich gebe mir aber Mühe, das zu ändern :) Kommt drauf an, wie viel Zeit mir dafür bleibt :D
Ich wünsche euch viel Spaß mit dem nächsten Kapitel. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hach, definitiv eines meiner Lieblingskapitel :) denn es kommt mal wieder ein kleiner Ausflug in Tais und Mimis Vergangenheit - um genau zu sein, in ihre Kindheit.
Ein passendes Lied habe ich auch dazu, denn um ehrlich zu sein, hat mich genau dieser Text zu dem Kapitel inspiriert *_*
The Veronicas - In Another Life
Und ihr erfahrt noch ein bisschen mehr über Kari und T.K. ;)
Ganz viel Spaß damit! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo erst mal :) long time no see!
Ich freue mich zu sehen, dass einige immer noch mit lesen und die Geschichte verfolgen! Danke dafür <3
Ich kann ja mal kurz und bündig erklären, warum sie so lange geruht hat und kein neues Kapitel mehr kam: ich bin das zweite Mal Mama geworden :D <3 Und wie man sich jetzt wahrscheinlich denken kann, war zwischen einem neuen Familienmitglied, was noch mal alles auf den Kopf gestellt hat und einem anderen immer noch kleinem Kind kein Platz für Freizeit. Aber umso mehr freue ich mich, dass ich mir gelegentlich die ein oder andere Stunde am Abend zurückerobert habe und nun wieder schreiben und hochladen kann :)

Zum heutigen Kapitel gibt es zwei Songs zum anhören (wer's mag):
OneRepublic - Someday (Acoustic)
Wake Me Up feat. Fleurie - Tommee Profitt
Viel Spaß beim Lesen!
Liebe geht raus! <3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Vorab ein bisschen Werbung in eigener Sache:
Die Liebe Linchen-86 und ich haben unsere genialen Köpfe zusammengesteckt und eine ganz wundervolle, neue, romantische Michi geschrieben <3 Wenn ihr Lust habt, sie zu lesen, findet ihr sie unter dem Account Ukiyo1.
Link --> Love against all Reason
Wir würden uns freuen, euch dort zu sehen :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Mimi

Heute ist eindeutig der schlimmste Tag meines Lebens!

Und hätte ich heute Morgen gewusst, dass er sich so entwickeln würde, wäre ich gar nicht erst aufgestanden. Dass heute mein Geburtstag ist, ändert leider gar nichts daran, dass der ganze Tag sich gerade als ein absoluter Albtraum entpuppt.

Seit zwanzig Minuten sitze ich mit meiner Mutter in einem Café und nachdem sie mir überschwänglich zum Geburtstag gratuliert hat, konnte sie keine fünf Minuten abwarten, um mir die grandiosen Neuigkeiten zu verkünden:

„Ich bin schwanger“, war es aus ihr rausgeplatzt, während ich noch die Karte studiert und überlegt habe, ob ich einen Cappuccino oder einen Milchshake nehme.

Schockiert war mein Kopf in die Höhe geschnellt.

„Was?“

Sie strahlte bis über beide Ohren und ich wusste, ich musste sofort umschalten und so tun, als würde ich mich freuen. Was gar nicht so leicht war. Denn eigentlich war mir eher nach kotzen zumute.

Schwanger?

Kein ganzes Jahr, nachdem sie sich von meinem Vater getrennt hat?

Von einem Kerl, den ich seitdem kein einziges Mal gesehen habe?

Das ging mir alles zu schnell. Und außerdem, sie ist bereits 38. Darf man in dem Alter überhaupt noch einfach so schwanger werden? Ist das gesund?

Letztendlich habe ich ihr jedoch gratuliert und meine Enttäuschung mit kaltem Eistee hinunter gespült. Seitdem sitzen wir uns gegenüber und ich höre ihr zu, wie aufgeregt sie ist und dass ich die Erste sein sollte, die es erfährt. Gleich nach ihrem neuen Freund natürlich. Wie hieß der noch mal? Hiroshi? Nein, Hiroki? Wie auch immer …

Das bedeutet aber auch, dass es Dad noch nicht weiß. Wie er wohl reagieren wird, wenn er davon erfährt?

„Oh, tut mir Leid, Schatz“, sagt meine Mutter, nachdem sie gefühlt stundenlang von Babys und Schwangerschaften erzählt hat und sieht mich über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg an. „Heute ist dein Geburtstag und ich rede die ganze Zeit nur von mir.“

Ich schüttle den Kopf, weil ich ihr kein schlechtes Gewissen machen will. Ist schließlich eine große Sache, so ein Baby.

„Nein, ist schon gut.“

„Hast du denn heute noch was Besonderes vor?“

Ich zucke mit den Schultern und rühre mit dem Strohhalm in meinem Eistee herum. „Nur Sora, Tai und die anderen treffen. Wir schmeißen eine kleine Party bei Sora zu Hause.“

„So? Warum nicht bei dir?“, fragt Mom verdutzt. Ich runzle die Stirn.

„Weil meine Wohnung viel zu klein für uns alle ist?“ Dass sie das nicht weiß, zeigt wie selten wir uns in den letzten Monaten gesehen haben. Kurz, nachdem meine Eltern sich getrennt hatten, bin ich von zu Hause ausgezogen. Dass hatte ich eh schon lange vorgehabt, aber erst nachdem ich festgestellt habe, wie anstrengend es sein kann, mit seinem frisch gebackenem Single Vater unter einem Dach zu leben, habe ich es auch durchgezogen. Mom war Diejenige, die als Erste ausgezogen ist. Ich weiß bis heute nicht so recht, warum. Sie sagte immer nur, dass sie sich ihr Leben so nicht vorgestellt hat. Was auch immer das bedeuten mag.

„Du musst mich mal besuchen kommen“, schlage ich vor und lege einen Ticken zu viel Hoffnung in meine Stimme, denn nun legt meine Mutter den Kopf schief und greift über den Tisch nach meiner Hand.

„Das mache ich bald, Liebes. Ich weiß, wir haben uns in letzter Zeit viel zu selten gesehen.“

Ich seufze innerlich. Das ist echt das Letzte, das ich gebrauchen kann. Falsche Versprechen und halbherzige Entschuldigungen. Sie wollte mir schon duzende Male ihren neuen Freund vorstellen und immer kam, natürlich rein zufällig, etwas dazwischen. Auf derlei Versprechen gebe ich also nicht mehr viel.

Die Wahrheit ist, dass sie sich, seit sie ihren neuen Freund hat, kaum für mich interessiert hat. Es ist, als würde sie plötzlich ein völlig anderes Leben führen. Eben ihr eigenes Leben, in dem ich keine allzu große Rolle mehr spiele. Das sage ich jedoch nicht, sondern lächle nur.

„Halb so wild. Ich hatte eh eine Menge zu tun.“

„Hast du dich am College eingeschrieben?“

„Nein, ich arbeite wieder im Hard Rock Café.“

„Aber die Frist ist bald abgelaufen. Und Kaffee eingießen ist kein richtiger Job.«

„Ich weiß.“

„Ach, Mimi …“

Oh bitte. Alles, aber nicht dieser leidige Blick, den sie immer auflegt, wenn sie über etwas enttäuscht ist. In dem Falle, über mich.

„Was willst du denn nur aus deinem Leben machen, wenn du nichts studierst?“

„Das weiß ich noch nicht so genau“, gestehe ich schulterzuckend und frage mich, warum sie immer so eine riesengroße Sache daraus macht. Ja, ich habe seit über einem Jahr die Schule beendet und treibe seitdem ziellos umher. Na und?

Es ist total schön, dass alle anderen immer genau zu wissen scheinen, was sie wollen. Bei mir ist das eben nicht der Fall. Wie soll ich mich für eine Studienrichtung, geschweige denn für einen Beruf entscheiden, wenn ich nicht mal weiß, was ich morgen zum Mittag essen möchte?

„Ich brauche eben noch etwas Zeit“, sage ich und hoffe, dass das Thema damit abgeschlossen ist.

Meine Mutter seufzt resigniert. „Na schön. Aber hoffentlich wirst du nicht zu einem von den Menschen, die ihr Leben lang versuchen, sich selbst zu finden und dabei eigentlich gar nichts erreichen. Die reisen dann ständig in einem alten Camper durch die Weltgeschichte und nennen das Leben.“

Ich kann es mir nicht verkneifen und verdrehe die Augen. Hört sich eigentlich ganz gut an. Vielleicht sollte ich mal darüber nachdenken.

„Ja, Mom. Genau das habe ich vor.“

Ich liebe meine Mutter, sehr sogar. Aber wenn mich was an ihr stört, dann ihre Art Dinge, die sie nicht für gut befindet, schlecht zu reden.

„Ich meine ja nur“, fügt sie schnell hinzu und hebt abwehrend die Hände. Dabei fällt ihr Blick auf ihre Armbanduhr.

„Oh nein, schon so spät? Ich bin gleich noch verabredet.“

Leicht geknickt sehe ich sie an, versuche jedoch, mir meine Enttäuschung nicht all zu sehr anmerken zu lassen. Sie verabredet sich an meinem Geburtstag mit einer anderen Person und lässt mich sitzen?

„Aber du bist gerade mal seit einer halben Stunde hier.“

„Ich weiß, Liebling. Aber ich habe wirklich einen wichtigen Termin.“

„Was denn für einen Termin?“, frage ich neugierig, während sie in ihrer Handtasche rum kramt.

„Wir lassen uns in Sachen Kinderwagen und Erstausstattung von einem Fachmann beraten. Es war gar nicht so leicht, so kurzfristig einen Beratungstermin bei Baby & Co. Zu bekommen. Der Laden ist mega angesagt, dort gibt es einfach alles“, antwortet sie und scheint das auch noch ernst zu meinen. Hat sie einen Knall? Das Baby kommt doch nicht schon morgen.

„Wow. Und dafür braucht man einen Termin?“ Hat sie vergessen, dass sie schon mal ein Kind großgezogen hat? Mich? Aber das ist typisch Mom - übertreiben konnte sie schon immer gut.

Sie lächelt mich nervös an. „Wenn du wüsstest …“

Will ich gar nicht. Echt nicht. Mir reicht die Tatsache, dass ich hier so was wie ein Lückenfüller war. Eine kurze Sendepause, um die Wartezeit bis zu diesem bescheuerten Termin zu überbrücken.

„Hiro schreibt gerade, dass er draußen im Auto wartet“, sagt Mom, als sie auf ihr Handy schaut. Dann greift sie erneut in ihre Tasche und will ein paar Scheine auf den Tisch legen.

„Oh, nicht doch“, entgegne ich eilig. „Ich lade dich ein.“

„Sei nicht albern, Mimi“, zwitschert sie und dieser leicht gönnerhafte Unterton in ihrer Stimme gefällt mir gar nicht.

„Es ist dein Geburtstag und ich denke, du brauchst dein schmales Gehalt eher für deine Miete.“

Und zum Abschied noch ein Schlag unter die Gürtellinie. Danke auch, aber ich weiß selbst, dass man als Aushilfskraft in einem Café nicht all zu viel verdient.

Trotzdem nicke und räuspere ich mich, ehe sie um den Tisch kommt und mich umarmt.

„Es war schön, dich zu sehen, Kleines.“

„Gleichfalls“, sage ich dennoch aufrichtig und wünschte wirklich, sie könnte noch länger bleiben. Ich hätte gerne noch ein bisschen mit ihr erzählt, so wie früher. Aber diese Zeiten sind anscheinend vorbei. Jetzt gibt es nur noch ihre kleine, neue Familie und ein kleines, neues Baby.

Das Baby.

Während ich daran denke und versuche, es mir vorzustellen, läuft mir ein kurzer Schauer über den Rücken. Ich sehe Mom nach, wie sie aus dem Café eilt und in das Auto steigt, was davor auf sie wartet. Ich recke meinen Hals, aber den Typen kann ich durch den Schatten, den die Sonne auf die Scheiben wirft, einfach nicht erkennen. Er hätte sich wenigstens kurz die Zeit nehmen und sich vorstellen können.

Ich lache schrill auf. Meine Mom und ein Baby…

Nein. Hiro-irgendwas, sie und ein Baby.

Ohne es zu wollen, finde ich diese Vorstellung einfach nur beschissen. Und wenn sie denkt, dass ich jetzt diejenige sein werde, die es Dad verklickert, dass seine Noch-Ehefrau ein Kind von einem anderen Mann erwartet, dann hat sie sich geschnitten.

Schlimm genug, dass sie ihn verlassen hat und er immer noch nicht mit der Trennung klar kommt. Aber ich werde nicht der Bote schlechter Neuigkeiten sein, garantiert nicht. Wie schön wäre es, wenn Dad sie endlich vergessen und sich auch auf eine andere Person konzentrieren könnte, so wie sie es tut. Aber so einfach wie das klingt, ist es vermutlich nicht.

Ich stoße einen frustrierten Seufzer aus, während ich über den Tisch greife und Moms Geld an mich nehme.

Es reicht nur für ihre Rechnung, nicht für meine.

Vielen Dank auch, Mom.

Und Happy Birthday, Mimi.
 

Weil ich nach dem Treffen mit Mom noch so viel Zeit habe, da ich mindestens zwei Stunden dafür eingeplant hatte, beschließe ich kurzerhand Dad einen Besuch abzustatten.

Obwohl ich schon seit drei Monaten ausgezogen bin, habe ich immer noch einen Schlüssel für unser Haus, was ich ehrlich gesagt ganz praktisch finde. Irgendwie habe ich immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich länger nichts von Dad gehört habe. Nicht, dass ich Angst um ihn hätte, weil er leicht depressiv ist und nicht mehr zur Arbeit geht. Das beunruhigt mich zwar, aber ich weiß, er würde sich niemals etwas antun. Auch wenn meine Mom ihm sprichwörtlich das Herz rausgerissen hat. Viel mehr gefällt es mir nicht, dass er sich so zu Hause einigelt und Menschen seither meidet, mich eingeschlossen. Wenn ich nicht ab und zu vorbei kommen und nach dem Rechten sehen würde, wäre er sicher schon an dem schlechten Sauerstoffgehalt im Haus erstickt.

Ich stecke also den Schlüssel ins Türschloss und drücke gleichzeitig Drei Mal auf die Klingel, damit er weiß, dass ich komme. Falls er sich schnell noch eine Jogginghose anziehen möchte, dann hat er jetzt Gelegenheit dazu. Allerdings würde es mich auch nicht schockieren, wenn er es nicht tun würde und ich ihn inmitten von leeren Bierdosen und Pizzakartons auf dem Sofa vorfinden würde. Allein das sagt alles darüber aus, was ich in der letzten Zeit mit ihm durchstehen musste.

„Hallo? Dad? Ich bin’s.“

Ich rufe ins Haus hinein, aber alles, was ich höre, ist das Geräusch des Fernsehers, das aus dem Wohnzimmer dringt.

Ich schließe die Tür hinter mir und mache mir gar nicht erst die Mühe, meine Schuhe auszuziehen. Der Boden ist eh saudreckig.

Zielstrebig steuere ich das Wohnzimmer an und finde meinen Dad so vor, wie ich es vermutet habe – schnarchend vor der Glotze. Ich drücke meine Hand auf Nase und Mund, um diesen Muff nicht einatmen zu müssen, denn die Luft stinkt nach abgestandenem Bier und Käsefüßen. Eilig schalte ich den Fernseher aus und reiße Vorhänge und Fenster auf. Das Licht prallt auf das Gesicht meines Vaters, was ihn hochschrecken lässt. Aufgewühlt hält er sich eine Hand ins Sichtfeld, weil ihn die Sonne blendet.

„Heiliger Teufel“, ruft er mit belegter Stimme, wobei ich mich stirnrunzelnd zu ihm umdrehe.

„Heiliger Teufel? Diese Wortwahl solltest du wirklich noch mal überdenken.“

Ein tiefes Stöhnen dringt aus seiner Kehle, als er sich vom Sofa aufrichtet und dabei die Papiertüte mit den Resten eines Cheeseburgers von seiner Brust fällt.

„Klugscheißer kann niemand leiden“, wirft er mir an den Kopf und ich grinse. „Was machst du überhaupt hier? Sind wir nicht erst für morgen verabredet?“

Ich hebe den angefressenen Cheeseburger auf und lege ihn auf den Tisch.

„Ja, aber ich hatte ein wenig Zeit und dachte, ich schaue mal vorbei. Hättest du mich morgen wirklich zum Frühstück einladen wollen?“

Zweifelnd sehe ich mich im Wohnzimmer um. Wenn es hier schon so schlimm aussieht, will ich gar nicht wissen, wie der Rest des Hauses aussieht. „Wie lang warst du nicht draußen?“

Dad murrt und reibt sich den Nacken.

„Ich hätte das bis morgen alles noch aufgeräumt“, sagt er und ignoriert gekonnt meine Frage.

Au Backe. Seit Mom weg ist, ist er wirklich ein Meister der Verdrängung.

„Ach, Dad“, sage ich verständnisvoll und mache mich ganz nebenbei daran, sämtlichen Müll vom Fußboden aufzusammeln. „Sag doch einfach, wenn du mit dem Haushalt alleine überfordert bist.“

Dass es nicht nur das ist, wissen wir beide. Aber ich werde einen Teufel tun und dies laut aussprechen.

„Wir könnten dir eine Putzfrau organisieren.“

Dad sieht beschämt zur Seite. „Ich weiß nicht. Nein, ich denke eher nicht.“

„Das ist keine Schande, Dad“, lache ich. „Viele Leute haben eine Putzfrau.“

„Darum geht es nicht.“

„Okay. Warum dann nicht? Ich weiß, dass meine Freundin Sora eine hat. Beziehungsweise ihre Mom hat eine. Ich rufe sie gleich mal an und frage nach ihrer Nummer.“

„Nein, bitte tu das nicht, Mimi“, erwidert Dad kleinlaut, während ich schon durch meine Kontakte scrolle.

„Halb so wild, das dauert nur eine Minute“, winke ich ab.

Nun wird Dad lauter. „Ich habe doch gesagt, ich will das nicht.“

„Aber warum denn nicht?“ Verständnislos schüttle ich den Kopf und frage mich, wo sein Problem ist.

„Ich rufe sie jetzt an. Du wirst sehen, was für eine Riesen Erleichterung das …“

„Ich kann keine Putzfrau bezahlen, weil ich meinen Job verloren habe.“ Dad schreit mich an. Ich zucke zusammen, ehe ich den Kopf hebe und ihn ansehe.

„Was? Du hast deinen Job verloren?“

Frustriert reibt sich Dad über das Gesicht.

„Ja, schon vor zwei Wochen. Ich wollte es dir nicht sagen, weil du mich sonst für den Versager hältst, der ich in Wirklichkeit bin. Aber die haben mir gekündigt. Ich bin ja nicht mehr ins Büro gekommen und selbst im Home Office konnte ich viele Termine und Abgabefristen nicht mehr einhalten. Daher haben sie die Stelle neu besetzt. So was wie eine Putzfrau kann ich mir jetzt nicht mehr leisten.“

Mir bleibt die Spucke weg und sofort steigt Mitleid in mir auf, als ich sehe, wie sehr es ihn trifft. Ein weiterer Schlag in die Magengegend für ihn. Als wäre alles nicht schon schlimm genug.

Ich gehe zu ihm und setzte mich ihm gegenüber auf den Couchtisch. Er sieht mich nicht einmal an, weil er sich so sehr schämt. Dad war immer ein Vorbild für mich, mein Fels in der Brandung. Dass sein Leben gerade so aus den Fugen gerät und er nicht mehr das für mich sein kann, was er gerne wäre, macht ihn total fertig.

„Dad“, sage ich daher sanft und versuche so viel Verständnis aufzubringen, wie es nur geht. „Das ist blöd, aber … es gibt doch wirklich Schlimmeres, oder?“

„Allerdings“, lacht er gequält auf. „Zum Beispiel, wenn deine Frau dich sitzen lässt.“

Und einen neuen Freund hat und mit ihm ein Baby bekommt. Aber das denke ich in dem Falle nur. Für so eine Neuigkeit ist er definitiv noch nicht bereit.

„Wir finden einen neuen Job für dich.“

Mutlos zuckt Dad mit den Schultern.

„Kann sein.“

Ich habe ihn noch nie so fertig erlebt. In den letzten Monaten war er nicht mehr er selbst. Manchmal frage ich mich, ob es nicht vielleicht doch besser gewesen wäre, bei ihm zu bleiben und nicht auszuziehen. Er braucht mich doch und irgendwie fühle ich mich für ihn verantwortlich, auch wenn das totaler Quatsch ist. Schließlich war es mein Leben lang anders herum.

„Glaub mir, wir finden eine Lösung“, versuche ich ihn weiter aufzubauen und stehe auf. „Ich beseitige jetzt erst mal das Chaos hier und du gehst unter die Dusche, damit du wieder einen kühlen Kopf bekommst.“

Dad nickt und steht auf, um ins Badezimmer zu gehen. Auf den Weg dorthin, dreht er sich noch ein Mal zu mir um und sieht mich dankend an.

„Happy Birthday, Kleines. Und entschuldige“, sagt er und schenkt mir das beste Lächeln, das er momentan auf Lager hat.

Ich nicke. »Schon gut.«

Seufzend atme ich aus und frage mich, wie ein Geburtstag nur so dermaßen von schlechten Neuigkeiten geprägt sein kann.

Nachdem ich mit aufräumen fertig bin und das Nötigste getan ist, kehrt Dad frisch geduscht und rasiert ins Wohnzimmer zurück.

Da es schon spät ist, lege ich ihm ein paar Geldscheine auf den Tisch und will mich auf den Weg machen.

»Was ist das?«, fragt Dad irritiert, als er das Geld sieht.

»Damit kommst du erst mal über die nächste Woche.«

»Mimi, nein. Auf keinen Fall.«

Er nimmt das Geld und hält es mir vor die Nase. Aber ich schüttle energisch den Kopf.

»Nimm es einfach, okay? Du brauchst es dringender als ich und meine Miete ist nicht so teuer.«

Außerdem kann man sich auch sehr gut eine Woche lang von Salat ernähren. Ich wollte ohnehin eine Diät machen.

»Schatz, das ist …« Er hadert mit sich, steckt das Geld dann jedoch in seine Hosentasche. »Ich zahle es dir zurück, versprochen.«

Ich winke ab und gehe zur Haustür. Das ist wirklich das Mindeste, was ich für ihn tun kann. Manchmal ärgert es mich, zu wissen, dass Mom mit ihrem neuen Freund in einem noch größeren Haus, mit noch mehr Luxus als vorher sitzt. Woher ich das weiß? Weil sie es mir bei jeder Gelegenheit unter die Nase reibt, gepaart mit der Aussage, ich könnte doch auch bei ihr einziehen, dann müsste ich keine Miete mehr zahlen.

Während Dad Tag für Tag darum kämpft, unser altes Haus irgendwie halten zu können. Das ist echt unfair. Manchmal frage ich mich, ob es sie überhaupt noch interessiert, wie es ihm geht. Oder mir.

Mimi

Als ich zu Hause ankomme und die Tür hinter mir schließe, kommt es mir immer noch so vor, als hätte mir jemand eine runter gehauen. Eine verbale Klatsche mitten ins Gesicht.

»Ich bin schwanger.«

Gooott!

Auf dem Rückweg hallten die Worte immer und immer wieder in meinen Kopf wider. Ich bin seit je her Einzelkind und der Gedanke daran, bald einen Halbbruder oder eine Halbschwester zu haben, schreckt mich ab. Aber nicht nur das. Es enttäuscht mich auch, wie leichtfertig sie offensichtlich eine neue Familie gründen kann, obwohl sie die Alte gerade erst hinter sich gelassen hat. Was das für ein Gefühl in mir auslöst, gefällt mir nicht, denn es fühlt sich nach Zurückweisung an. Ein Gefühl, mit dem ich nur schlecht umgehen kann.

Gedankenverloren und völlig aufgewühlt schmeiße ich mich auf das Schlafsofa meiner Einzimmerwohnung.

Was für ein scheiß Geburtstag.

Na ja, wenigstens schmeißen meine Freunde heute Abend für mich eine Party. Juhu. Für so etwas bin ich heute so richtig in Stimmung.

Als hätte jemand meine Gedanken gelesen, klingelt mein Handy und kündigt eine Nachricht an.

Sie ist von Tai.
 

»Happy Birthday, Prinzessin. Hattest du einen tollen Tag? Ich freue mich, dich heute Abend zu sehen.«
 

Der Anflug eines Lächelns schleicht sich auf meine Lippen. Typisch Tai. Irgendwie hat er ein Talent dafür, genau den Moment abzupassen, wenn ich ihn brauche. Meistens kommt dann aus dem Nichts eine Nachricht oder er ruft an, um zu fragen, wie es mir geht. Dann kann ich ihm mein Herz ausschütten und er hört zu. Es kam sogar schon vor, dass wir die ganze Nacht telefoniert haben. Tai ist ein Mensch, mit dem es nie langweilig wird. Wir haben uns immer etwas zu erzählen und ich liebe ihn dafür, dass er mein bester Freund ist. Leider haben wir uns in letzter Zeit nur sehr selten gesehen, was mich wirklich traurig macht. Deshalb freut es mich umso mehr, dass er geschrieben hat, er freut sich auf mich. Er hätte genauso gut schreiben können, er freut sich auf die Party oder er freut sich, dass wir uns alle mal wieder sehen. Aber er hat geschrieben, er freut sich darauf, mich zu sehen. Und allein dieser Satz lässt mein Herz unwillkürlich höher schlagen. Auch wenn ich das eigentlich gar nicht möchte und schon länger versuche, dieses Gefühl zu unterdrücken.

Ich tippe ihm eine Antwort …
 

»Der Tag war weit entfernt davon, toll zu sein. Wäre es okay, wenn ich absagen würde?«
 

Ich schicke die Nachricht ab und es dauert gerade mal ein paar Sekunden, bis ich eine Antwort erhalte.
 

»Nein, wäre es nicht und das weißt du, Mimi. Wir haben uns schon so lange nicht gesehen … Bitte tu mir das nicht an :'( Wenn du nicht kommst, werde ich weinen. Die ganze Nacht lang. Willst du das?«
 

Ich muss leise lachen.
 

»So was nennt man emotionale Erpressung.«
 

»Ach ja? Verklag mich doch.«
 

»Und blöder …«
 

Ich überlege, ob ich mich jetzt wirklich auf eine Diskussion mit ihm einlassen möchte. Wenn Tai und ich einmal angefangen haben, hören wir meistens erst auf, wenn einer von uns beiden aufgibt - und das kann Stunden dauern.

Also schreibe ich einfach nur: »Schon gut. Bis später, Idiot.«
 

Er antwortet mit einem Smiley, der mir die Zunge rausstreckt und ich grinse. Ich freue mich wirklich darauf, Tai und die anderen zu sehen.

Und mal ehrlich, wie beschissen kann der Tag überhaupt noch werden? Das Schlimmste habe ich ja bereits hinter mir, oder?
 

Oder auch nicht.

Aber das weiß ich erst, nachdem ich das Haus meiner Freundin, die ich schon seit Kindheitstagen kenne, weil sie immer mit Tai in einer Klasse war, betreten habe. Sora grinst mich bis über beide Ohren an, als sie mir die Tür aufhält und mich herein lässt. Sofort beschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl, obwohl eigentlich alles so ist wie immer.

»Du bist spät dran. Wir haben uns lange nicht gesehen. Happy Birthday, Mimi.«

Entschuldigend ziehe ich die Schultern hoch. »Tut mir leid, aber danke für die Glückwünsche. Es war ein langer Tag. Und ich musste das Kleid noch aus der Reinigung holen.«

Richtig, das hatte ich vorhin auch noch erledigt. Und sie hatten den Rotweinfleck unten am Saum nicht rausbekommen. Leider war es vorhin schon zu spät gewesen, sich ein anderes Outfit rauszusuchen. Deshalb trage ich jetzt ein rosafarbenes, schulterfreies Cocktailkleid, mit einem roten Fleck am Hinterteil. Man, ich muss dafür sorgen, dass mich heute Abend keiner von hinten sieht.

»Schon okay«, sagt Sora und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Ihre Haare sind definitiv gewachsen. Das war mir bei unserem letzten Treffen gar nicht so aufgefallen. Allerdings ist das auch schon eine ganze Weile her. Seit wir die Schule beendet haben, sehen wir uns nicht mehr so häufig wie früher und Sora ist sogar schon ein Jahr eher abgegangen, weil sie und Tai eine Klasse über mir waren. Inzwischen fallen ihr die Haare bis über die Schultern. Das sieht schön aus. Ich betrachte sie genauer und stelle fest, dass sie ebenfalls ein Kleid trägt und sogar Make-Up aufgelegt hat, was so gar nicht ihre Art ist.

»Du siehst hübsch aus«, lächle ich sie an und reiche ihr meinen Mantel, damit sie ihn aufhängen kann. »Hast du dich für mich so in Schale geworfen?«

Röte steigt ihr ins Gesicht. Sie versucht es vor mir zu verbergen, indem sie sich leicht abwendet.

»Nicht nur«, sagt sie verlegen. »Heute ist ein besonderer Tag.«

Ich runzle die Stirn. Wenn sie nicht meinen Geburtstag meint, dann habe ich keine Ahnung, wovon sie redet.

»So, warum denn?«

Sie klimpert mit den Augen und wird noch komischer. »Das wirst du dann noch sehen«, grinst sie nun verwegen und schiebt mich zu den anderen ins Wohnzimmer. »Jetzt kümmern wir uns erst mal um dich, schließlich bist du heute das Geburtstagskind.«

Als ich den Raum betrete und all meine Freunde auf einen Fleck versammelt sehe, tönt mir ein lautes »Happy Birthday« entgegen. Mein Herz weitet sich und ich grinse bis über beide Ohren, weil ich mich nun doch aufrichtig freue, dass alle meinetwegen gekommen sind. Vielleicht kann der Tag sich ja doch noch zum Positiven wenden.

Izzy und Kari kommen als Erste auf mich zu und umarmen mich innig. Ich erwidere ihre Umarmung und drücke sie ganz fest an mich. In letzter Zeit kommt es nicht mehr all zu oft vor, dass wir alle so zusammen sind. Jeder hat eben sein eigenes Leben, seine eigenen Aufgaben. Treffen sind zu einer Seltenheit geworden, aber dafür ist es umso schöner, dass das Band der Freundschaft trotz allem immer noch besteht.

Es folgen Joey und T.K., die mich ebenfalls umarmen und mir alles Gute wünschen. Am liebsten möchten sie sofort mit mir anstoßen, aber ich vertröste sie auf später, denn zwei braune Augen haften bereits an mir. Ich drängle mich an den beiden vorbei und gehe geradewegs auf Tai zu, der zusammen mit Matt in einer Ecke des Raumes steht und mich angrinst.

»Ich dachte schon, du kommst nicht«, begrüßt er mich und legt beide Arme um mich. Sofort steigt mir sein Duft in die Nase und benebelt meine Sinne. Gott, ich hatte bereits ganz vergessen, wie gut er riecht. Daher fällt es mir auch verdammt schwer, mich von ihm zu lösen.

»Na ja, da du vorhin angedroht hast, wie ein Baby zu weinen, wenn ich heute nicht auftauche, habe ich gedacht, dass ich das den anderen unmöglich zumuten kann.«

Ich grinse breit und richte meinen Blick auf Matt, der mit einem Bier in der Hand an der Wand gelehnt steht. Er verzichtet auf eine Umarmung, aber das nehme ich ihm nicht übel. Dafür kenne ich ihn zu lange. Stattdessen grinst er mich nur an und nickt mir zu.

»Danke«, sagt er. »Tais Geheule hätte ich wirklich nicht den ganzen Abend lang ertragen. Schlimm genug, dass er mich gezwungen hat, ein Geschenk für dich mit auszusuchen.«

Überrascht sehe ich zu Tai auf. »Du hast ein Geschenk für mich?«

Dieser funkelt Matt böse an. »Jetzt hast du die Überraschung verdorben. Vielen Dank auch.«

Matt zuckt belanglos mit den Schultern und nimmt einen Schluck von seinem Bier. »Gern geschehen.«

Tai will noch etwas darauf erwidern und würde sich am liebsten richtig mit Matt anlegen, aber er kommt nicht dazu, denn ich schlage ihn gegen den Oberarm.

»Hey, hier spielt die Musik.« Ich zeige mit dem Finger auf mich. »Wo ist mein Geschenk? Ich will es haben!«, fordere ich wie ein kleines Mädchen ein. Tai verdreht die Augen und stöhnt. »Na schön. Jetzt ist die Katze ja eh aus dem Sack.«

Er greift in seine Hosentasche und ich falte vor Aufregung die Hände.

»Ich wollte es dir eigentlich erst später geben, aber …«, sagt er und holt ein silbernes Kettchen hervor. »Happy Birthday, Prinzessin. Noch mal.«

Er grinst breit, während er die Kette in die Höhe hält und meine Augen immer größer werden. Eine kleine, rosa Kirschblüte, mit einem silbernen Edelstein in der Mitte, baumelt daran. Mein Herz macht einen Hüpfer und innerlich schmelze ich dahin. Hat mir jemals jemand schon so etwas Schönes geschenkt?

»Ich weiß echt nicht, was ich sagen soll«, gestehe ich gerührt und meine Augen leuchten.

Tai grinst. »Wie wär's mit danke?«

Schnell nicke ich. »Danke, Tai. Sie ist wunderschön.«

Tai kommt einen Schritt näher und öffnet den Verschluss der Kette. Dann legt er beide Arme um meinen Hals, um sie mir anzulegen.

»Ich dachte, sie würde dir sicher gut stehen.«

Matt räuspert sich und ich hebe den Kopf. »Falsch. Ich dachte, sie würde ihr gut stehen. Du hast nur auf meinen Rat gehört.«

Tai knurrt seinen besten Freund an und ich muss lachen.

»Na und? Aber ich habe sie gekauft. Erinnere mich daran, dass ich dich nie wieder um Rat frage.«

Matt lacht laut auf und legt Tai beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Schon gut, Kumpel. Ich zieh dich doch nur auf.«

»Egal«, mische ich mich nun ein. »Ich finde sie trotzdem wahnsinnig toll.«

Tai richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf mich und schenkt mir ein umwerfendes Lächeln, was mein Herz augenblicklich höher schlagen lässt. Wahrscheinlich sehen wir uns einen Moment zu lange an, denn ich bemerke, wie Matt bei unserem Anblick die Stirn in Falten legt.

»Hey ihr«, taucht plötzlich Sora neben mir auf und ich zucke leicht zusammen. Ich war so in Tais braune Augen vertieft, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie sie sich zu uns gestellt hat. »Was treibt ihr so?«

Ich öffne den Mund, um zu antworten, doch Tai ist schneller. »Nichts Besonderes. Kann ich dir irgendwie in der Küche helfen? Ich habe gesehen, dass die Chips und die Getränke fast alle sind.«

Sora nickt schnell und deutet mit dem Finger hinter sich. »Da hast du recht. Wir könnten wirklich etwas Nachschub gebrauchen.«

Die beiden verschwinden in Richtung Küche und lassen mich und Matt stehen. Was nicht weiter schlimm ist. Wirklich nicht. Nur seine Worte hallen noch in meinem Kopf nach … nichts Besonderes. Was sollte das?

Für mich war es was Besonderes. Aber wahrscheinlich nur für mich …
 

Die Party ist der Hammer! Sora hat sich echt voll ins Zeug gelegt, um den Abend unvergesslich zu machen. Nachdem wir alle schon etwas gegessen und getrunken hatten und die Stimmung ziemlich ausgelassen war, schlug sie sogar Topf-Schlagen vor. Was soll ich sagen? Ich hätte nie gedacht, dass ein Kinderspiel so viel Spaß machen kann. Natürlich habe ich komplett abgeloost und stattdessen auf Izzys Fuß geschlagen. Als er aufgejault hat, war mir klar, dass ich nicht den Topf getroffen hatte.

Nun stehe ich auf Soras Balkon und nehme mir eine kleine Auszeit. Ich atme die kühle Nachtluft ein und betrachte die Sterne. Ein tiefes Seufzen dringt aus meiner Kehle und macht eine kleine, weiße Rauchwolke in die Luft. In meinen Fingern drehe ich den Anhänger der Kette hin und her und versuche zu ignorieren, was ich dabei fühle. Was dieses kleine Geschenk in mir ausgelöst hat. Tai hat mir noch nie etwas geschenkt. Das ist das erste Mal und ich bilde mir ein, dass es was zu bedeuten hat.

Tai ist ein netter Typ. Er ist liebevoll und witzig und alle Mädchen stehen auf ihn. Weil er toll ist und weil er niemals jemanden absichtlich wehtun würde. Er ist eben anders als all die anderen Männer, die ich bisher kennengelernt habe. Ich weiß, dass das total blöd ist … aber immer, wenn ich ein Date habe oder sich ein Mann für mich interessiert, vergleiche ich ihn automatisch mit Tai. Und dann? Ja, dann kann ihm eben keiner das Wasser reichen - zumindest bis jetzt. Vielleicht ist Tai insgeheim der Grund, warum ich nie einen festen Freund habe. Der Gedanke erschreckt mich.

Ach, wie dumm von dir Mimi. Sich in einen deiner besten Freunde zu verlieben? Keine gute Idee.

Ich seufze wieder.

»Was machst du hier?«

Tai steht plötzlich hinter mir und ich zucke kurz zusammen, weil ich die Tür nicht gehört habe. Er grinst. »Schaust du dir den Orion an?«

Ich lächle gequält. »Ich musste nur mal durchatmen«, sage ich. »Es war ein langer Tag. Wie geht es Izzys Fuß?«

Tai stellt sich neben mich und lehnt sich mit beiden Unterarmen auf die Brüstung. »Ich denke, er wird`s überleben. Wie gut, dass Joey Medizin studiert und ihn gleich verarztet hat.«

»Da bin ich aber erleichtert«, grinse ich schief und Tai stößt ein Lachen aus.

»Ich denke, Izzy ist einfach nur froh, dass du seinen Fuß und nicht seine Hand getroffen hast«, sagt er.

»Stimmt«, lache ich. »Wie sollte er denn mit einer verletzten Hand auch auf seinem Laptop herum tippen?«

»Unvorstellbar.«

»Er würde eingehen wie eine vertrocknete Blume.«

»Wir sollten ihm wirklich langsam mal eine Freundin beschaffen.«

Bei der Vorstellung muss ich kichern. Izzy und eine Freundin. Wie niedlich.

»Und dir einen Freund.« Tai lehnt sich ein Stück in meine Richtung, um mich mit der Schulter anzustupsen. Ich verziehe das Gesicht.

»Sehe ich so aus, als hätte ich Zeit für einen Freund?«

Tai grinst schief und ich weiß, was das bedeutet.

»Na ja«, flötet er. »Der könnte dich zumindest ein bisschen auf andere Gedanken bringen.«

Ich schürze die Lippen und stütze mein Kinn auf meine Handflächen ab.

»Ich habe keinen Kopf für so etwas.«

»Keinen Kopf für was? Für Sex?« Sein Grinsen wird noch breiter und sofort meldet sich mein Kopfkino zu Wort.

Scheiße. Werde ich gerade rot?

»Warum muss sich immer alles nur um Sex drehen?«, erwidere ich leicht angesäuert, weil er mich auf dem falschen Fuß erwischt hat. Ich hatte schon ewig keinen Sex mehr und Tai weiß das.

»Tut es doch gar nicht«, sagt Tai und klingt dabei völlig belanglos. Warum haben Männer nur nie ein Problem damit, bei so einem Thema mit der Tür ins Haus zu fallen? »Ich meine ja nur, dass es dich ein bisschen von deinen Sorgen ablenken könnte. Sieh es einfach als kleine Auszeit an.«

»Ich soll mir also den Kopf frei vögeln. Meinst du das damit?«, schlussfolgere ich. Tai überlegt kurz und zuckt dann mit den Schultern.

»So in der Art, ja.«

Ich seufze. Er ist ein Mann. Er versteht das nicht. Ich war noch nie der Typ für irgendwelche One Night Stands, ohne Gefühle. Und ich glaube auch nicht, dass es mir dabei helfen wird, mich besser zu fühlen.

Tai lehnt sich zurück und sein bohrender Blick ruht auf mir. Ich weiß, was jetzt kommt.

»Was ist los, Mimi?« Natürlich merkt er, wenn mit mir etwas nicht stimmt. Das tut er immer.

»Nichts.«

»Lügen kannst du nicht besonders gut.«

Ich verdrehe die Augen. »Das war nicht gelogen. Es ist wirklich nichts. Das übliche Drama eben, nichts Neues. Nur, dass …«

Ich denke an den Nachmittag zurück. Und sofort bin ich frustriert.

Meine kreative Pause entgeht Tai natürlich nicht. Und er wäre nicht Tai, wenn er jetzt locker lassen würde.

»Nur … was?«

Ich seufze. Schon wieder. Ich weiß ehrlich nicht, wann ich das letzte Mal so viel geseufzt habe.

»Ich habe dir ja geschrieben, dass ich mich heute mit meiner Mutter treffen wollte.«

Tai nickt. »Ja.«

»Wir haben uns getroffen.«

»Was ist vorgefallen?«, fragt Tai sofort spitzfindig. Jetzt muss ich mit der Wahrheit raus.

Ich drehe den Kopf in seine Richtung und sehe ihn an.

»Sie ist schwanger.«

»Autsch«, rutscht es ihm raus. »Äh, ich meine natürlich: herzlichen Glückwunsch. Du wirst eine große Schwester.«

»Yeah«, sage ich genervt und werfe wie zum Schein die Faust in die Luft. »Als hätte es nicht schlimmer kommen können.«

»Das ist bitter«, erwidert Tai verständnisvoll und ich danke ihm dafür, dass er mich nicht sofort verurteilt. »Weiß dein Vater schon davon?«

»Bist du verrückt?«, lache ich hysterisch auf. »Der hat zur Zeit genug um die Ohren. Vorhin hat er mir erzählt, dass er seinen Job verloren hat. Wenn er jetzt auch noch erfährt, dass meine Mutter eine neue Familie gründet, bringt ihn das um.«

»Oh, verdammt«, entgegnet Tai und legt ein bedauerndes Gesicht auf. »Das tut mir leid.«

Ich zucke mit den Schultern und sehe wieder nach oben in die Sterne. Wenn doch nur alles so weit weg sein könnte.

»Ist schon okay. Inzwischen habe ich gelernt, dass im Leben wirklich nichts nach Plan verläuft.«

Plötzlich spüre ich, wie Tai sich neben mir versteift. Als ich einen Blick zu ihm werfe, guckt er ganz ernst drein.

»Sag mal, ist mit dir alles in Ordnung? Wir hatten noch gar keine Gelegenheit, heute ungestört zu reden«, hake ich nach, weil ich das Gefühl habe, dass etwas nicht stimmt. Er sieht mich noch nicht mal an, sondern weicht meinem Blick sogar aus. Was ist denn auf einmal los mit ihm? So kenne ich ihn ja gar nicht.

»Ähm Mimi, ich …«, fängt er an zu stammeln.

Ich werde nervös. Was hat er denn? Wir wenden uns einander zu und ich habe ein ganz ungutes Gefühl. Als würde gleich etwas schrecklich aus dem Ruder laufen.

»Ich denke, ich muss dir was sagen.«

»Okay«, sage ich und lächle ihn unsicher an. »Und was?«

Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an und ich spüre, wie mein Herz bereit ist jeden Moment zu versagen, wenn er jetzt das Falsche sagt. Mit einem Mal gehen mir tausend Fragen durch den Kopf. Hat er gemerkt, dass ich in ihn verliebt bin? Fühlt er dasselbe wie ich und will es mir jetzt sagen? Oder will er mir sagen, dass wir nur gute Freunde sind? Oder ist es etwas ganz anderes? Oh, verdammt. Ich platze gleich vor Spannung.

Tai sieht mich mit seinen warmen, braunen Augen an, während mein Herz immer schneller schlägt.

»Ich, ähm … Also, du solltest da was wissen. Ich hoffe, du bist nicht sauer, weil ich bis jetzt nichts gesagt habe. Aber ich bin jetzt schon eine ganze Weile …«

Die Balkontür schwingt auf und wir zucken beide heftig zusammen.

»Ach, hier seid ihr. Ich habe euch schon überall gesucht.«

Als wir uns umdrehen, atme ich erleichtert aus und lege eine Hand auf meine Brust.

»Gott, Sora. Du bist es nur. Du hast uns zu Tode erschreckt.«

Sie fängt an zu kichern, obwohl das gerade kein Scherz war. Sie ist eindeutig beschwipst. Natürlich habe ich die leise Hoffnung, dass sie gleich wieder rein geht und Tai und mich alleine lässt, damit er weiter reden kann. Aber im nächsten Moment stolpert sie zu uns auf den Balkon.

»Habe ich euch bei etwas gestört?«, fragt sie und stellt sich neben Tai. Dieser schüttelt nur mit dem Kopf.

»Nein, nicht wirklich.«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Nicht wirklich? Na, dann kann es ja nicht so wichtig gewesen sein. Idiot.

»Gut, dann …«, beginnt Sora und blickt erwartungsvoll zu Tai auf. Warum sieht sie ihn so an? Abwechselnd schaue ich zwischen den beiden hin und her. Was stimmt hier nicht?

»Dann können wir ja alle wieder rein gehen«, schlägt sie vor und ehe ich auch nur die Chance bekomme zu antworten, greift sie nach Tais Hand und zieht ihn mit sich.

Tai wirft mir einen entschuldigenden Blick über die Schulter hinweg zu. Dann zuckt er mit den Schultern, als wäre es völlig in Ordnung, dass sie ihn einfach so mit sich schleift.

Ich stöhne. Irgendwie bin ich sauer. Sie hat uns um unseren gemeinsamen Moment gebracht. Werde ich denn jetzt je erfahren, was Tai mir sagen wollte? Oder fällt dieses Gespräch unter die Kategorie: unangenehme Dinge, die am liebsten niemand niemals mehr anspricht?

Oh man, das wäre echt schade. Ich habe nämlich das Gefühl, dass es ziemlich wichtig war, was Tai mir sagen wollte. Ich beschließe, ihn zu fragen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt - am besten noch heute Abend, sonst kann ich nicht schlafen. Dann folge ich Tai und Sora und gehe ebenfalls wieder rein. Drinnen ist die Stimmung immer noch ausgelassen. Alle feiern, lachen und haben Spaß.

Bis die Musik verstummt.

Fragend blicken alle in eine Richtung. Nämlich in die Mitte des Raumes, wo Sora steht - ihre Hand immer noch in der von Tai. Mein Blick bleibt an ihnen haften.

Plötzlich dämmert es mir.

Mit einem Mal fällt es mir wie Schuppen von den Augen, was Tai eben versucht hat, mir zu sagen.

Wie gebannt starre ich auf ihre Hände, die einander immer noch festhalten und mein Herz zerspringt in tausend Teile.

Ich. Bin. So. Blöd!

»Ihr Lieben, da es bereits nach Mitternacht ist …«, beginnt Sora und mein Blick huscht kurz zur Wanduhr. » … und somit Mimi offiziell nun nicht mehr Geburtstag hat …« Alle Augenpaare richten sich auf mich. Dann wieder auf die beiden. Gott, ich will hier weg!

» … haben wir gedacht, es ist jetzt die richtige Zeit für das nächste, große Ereignis.«

Wir?

Wir???

Der Raum füllt sich mit erwartungsvollem Schweigen und auch ich halte die Luft an. Wenn jetzt noch mal der Satz »Ich bin schwanger« fällt, war's das für mich. Dann stürze ich mich auf der Stelle von diesem verdammten Balkon!

Aber es ist definitiv schlimmer als das …

»Seid uns nicht böse, dass wir es eine Weile vor euch geheim gehalten haben, aber es ist so, dass Tai und ich nun offiziell ein Paar sind.«

Freudestrahlend sieht sie zu ihm auf und er lächelt sie an, wie er eben noch mich angelächelt hat.
 

Ich möchte mich einfach nur noch erschießen. Als sie den Satz beendet hat, erscheint mir der Aufprall unten auf der Straße wie ein Sonntagsspaziergang.

War ich wirklich so, so blind? Und Naiv? Tai hat nie etwas erwähnt, dass zwischen ihm und Sora irgendwas läuft. Ich dachte, sie wären nur gute Freunde, weiter nichts. Freunde, wie wir es sind. Aber offensichtlich habe ich mich da geirrt. Und das ist gerade ziemlich hart.

Dass die anderen los jubeln und klatschen, als hätten sie gerade ihre Verlobung verkündet, bekomme ich nur noch am Rand mit. Mein Kopf fährt Achterbahn, während mein Herz versucht, sich neu zu sortieren. In Gedanken gehe ich bereits sämtliche Gespräche durch, die ich in letzter Zeit mit Tai geführt habe.

Er und Sora?

Sora und er?

Da war niemals auch nur die Andeutung, dass die zwei sich ineinander verliebt haben. Da war nie irgendein Zeichen.

Oder wollte ich es nur nicht sehen? Gab es diese Zeichen wirklich und ich habe es nur nicht bemerkt, weil ich selbst in ihn verliebt bin? Scheiße, wie saublöd bin ich eigentlich?

»Oh man«, sagt Kari sichtlich überrascht und tritt an meine Seite. Sie grinst wie ein Honigkuchenpferd und freut sich ganz offensichtlich für ihren Bruder. »Das haut mich jetzt aber um. Was für eine Überraschung.«

»Ja, das kannst du laut sagen«, meine ich nur trocken und nehme ihr den Tequila aus der Hand, den ich gleich danach mit einem Mal hinunter kippe. Kari lächelt mich unsicher an, weil sie mein Verhalten wohl merkwürdig findet. Aber das ist mir egal.

Ich suche Tais Blick. Die ganze Zeit über hat er nicht ein mal zu mir rüber gesehen. Nicht mal, als Sora meinen Namen gesagt hat.

Doch jetzt tut er es. Er kann nicht anders und dreht den Kopf in meine Richtung. Unsere Blicke treffen sich und plötzlich ist da etwas zwischen uns, was vorher noch nie da gewesen war.

Distanz.

Er sieht mich einfach nur an und ich kann seinen Blick nicht deuten und auch nicht länger ertragen. Ich will es nicht länger ertragen. Das ist eindeutig zu viel für einen Tag. Und ich dachte, beschissener kann es nicht werden - pah! Ich drücke Kari ihr leeres Glas in die Hand und mache auf dem Absatz kehrt. Zum Glück beachtet mich niemand, weil Tai und Sora immer noch sämtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Also gehe ich geradewegs in den Flur und raus zur Haustür.

Ich glaube, ich spinne. Das ist doch nicht eben wirklich passiert, oder?

Ich stürme raus in die Nacht und gehe noch ein paar Schritte weiter. Die Party im Rücken komme ich mir nun komplett schäbig vor. Habe ich vorhin ernsthaft gedacht, er würde mir seine Gefühle gestehen? Wie lächerlich. Ja, er wollte mir seine Gefühle gestehen - seine Gefühle für Sora. Nicht für mich.

Es ist Sora, die er liebt. Nicht ich.

Fuck, das tut weh. Richtig weh.

Ich lege eine Hand auf die Brust und versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, denn ich bin kurz davor los zu heulen.

»Alles okay bei dir?«, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir und fahre erschrocken hoch.

»Du siehst etwas zerstreut aus.«

Ich drehe mich um. Matt lehnt an der Hauswand hinter mir und raucht eine Zigarette. Er ist gerade fertig und wirft den Rest davon auf die Erde, um sie auszutreten. Ich wende mich wieder von ihm ab.

Scheiße. Hat er eben mitbekommen, wie ich komplett hyperventiliert habe?

»Alles gut«, lüge ich. »Ich habe nur ein bisschen zu viel getrunken. Ich denke, ich nehme mir ein Taxi und fahre nach Hause.«

Ich werfe Matt einen kurzen Blick zu, um zu sehen, ob er es mir abkauft, aber er runzelt skeptisch die Stirn.

»Ohne Jacke?«

Verdammt. Die hängt ja noch drinnen. Ich war eben so durcheinander gewesen, dass ich sie glatt vergessen habe. Ach, egal. Soll Sora sie behalten. Und Tai kann sie auch gleich mit behalten.

Die Tür des Hauses öffnet sich und Tai tritt heraus. Matt und ich sehen gleichzeitig zu ihm rüber. Als er mich entdeckt, kommt er auf mich zu, meinen Mantel in seiner Hand.

»Was machst du denn hier draußen? Du warst plötzlich weg.«

»Ich … äh …«, stammle ich und sehe zu Matt. »Ich habe mit Matt eine geraucht. Drinnen war mir einfach ein bisschen zu viel los.«

Tai sieht verwirrt aus. »Du rauchst doch gar nicht.«

Ich schnalze mit der Zunge und stemme die Hände in die Hüfte, um meine Behauptung zu untermauern.

»Doch, jetzt schon.«

Matt runzelt erneut die Stirn, sagt jedoch keinen Ton. Oh man, ich kann echt nicht gut lügen, da hat Tai schon ganz recht. »Du weißt eben nicht alles von mir. So wie ich nicht alles von dir weiß«, schiebe ich noch hinterher und bereue es noch im selben Atemzug.

»Hmm«, macht Tai und legt den Kopf schief.

Kann er bitte aufhören, mich so anzusehen? Das ist gerade echt unerträglich für mich.

»Bist du sauer?«, will er wissen und mein Kopf schnellt zu ihm herum.

»Was? Sauer? Ich?«, zische ich und winke ab. »Ach, Quatsch. Warum denn?«

»Na, weil ich dir nichts gesagt habe. Von Sora und mir.«

Und wie sauer ich darüber bin! Wie kannst du mich nur die ganze Zeit in dem Glauben lassen, dass ich dir wichtig bin und dir was bedeute, während du dich heimlich mit Sora triffst und keinen Ton darüber verlierst?

»Schon okay«, versuche ich ihn abzuwimmeln, weil ich gerade echt keine Lust habe, über Sora und ihn zu sprechen.

»Ist es das wirklich?«

»Ja. Ihr seid ein tolles Paar.« Bei diesen Worten kommt mir die Galle hoch. Ehrlichgesagt habe ich Tai und Sora nie als Paar gesehen. Ich habe sie mir nie als Liebespärchen vorgestellt, weil ich immer der Meinung war, dass sie viel zu kumpelhaft miteinander umgehen, um sich ineinander zu verlieben. Man, das ist alles so frustrierend. Die Neuigkeit und dieser ganze beschissene Tag ziehen mich so sehr runter, dass ich einfach nur noch weg will. Ich brauche dringend ein bisschen Abstand zwischen mir und dem, was da zwischen den beiden läuft. Ich will damit gar nichts zu tun haben.

»Okay«, sagt Tai, worüber ich echt froh bin, denn er merkt offensichtlich, dass ich das Thema nicht weiter vertiefen möchte. »Dann … soll ich dich nach Hause bringen?«, schlägt er vor und mir stellen sich die Nackenhaare auf. Nein, auf keinen Fall will ich das.

»Ich denke, deine Freundin vermisst dich sicher schon«, sage ich und deute auf die immer noch offen stehende Tür hinter ihm. Habe ich Sora gerade ernsthaft seine Freundin genannt? Allein dieses Wort versetzt mir einen derartigen Stich ins Herz, dass ich sofort zu weinen anfangen könnte. Aber das versuche ich Tai natürlich nicht spüren zu lassen.

»Bist du sicher? Das wäre wirklich kein Problem. Es ist schließlich schon dunkel. Ich möchte nicht, dass du allein nach Hause gehst.« Leider lässt Tai nicht locker. Ich stöhne innerlich. Bitte … kann er mich nicht einfach für heute in Ruhe lassen?

»Wirklich, das musst du nicht tun«, wimmle ich ihn ab und zeige auf Matt. »Er bringt mich nach Hause.«

Matt, der sich inzwischen noch eine Zigarette angezündet und den Anschein erweckt hat, dass er unsere Unterhaltung wenig spannend findet, sieht plötzlich auf.

»Wer? Ich?«, fragt er mit dem Glimmstengel im Mund und deutet auf sich selbst.

»Jaah?«, sage ich und tue so, als wäre er ein bisschen blöd. »Das hast du doch eben vorgeschlagen? Weißt du das denn nicht mehr?«

Jetzt sieht Matt mich an, als wäre ich blöd.

»Denkst du, wir spielen hier Miss Daisy und ihr Chauffeur?«

Oha. Er ist eindeutig angepisst.

Irritiert sieht Tai zwischen Matt und mir hin und her. »Was denn nun?«

Ich werfe Matt einen flehenden Blick zu und forme mit den Lippen ein lautloses »Bitte«. Wenn er mir jetzt aus der Patsche hilft, hat er definitiv einen gut bei mir.

Genervt verdreht er schließlich die Augen und gibt sich geschlagen. »Okay. Ich fahre dich nach Hause. Habe ja schließlich nur ein Bier getrunken. Aber ich will kein Gemeckere über meinen Fahrstil hören, damit das klar ist.«

Er tritt die noch nicht zu Ende gerauchte Zigarette am Boden aus und verschwindet hinter dem Haus. Tai sieht mich an, als wüsste er nicht so recht, was er noch sagen sollte. Und ich sehe weg. Irgendwo anders hin, nur nicht ihn an. Betretenes Schweigen - das hat es zwischen uns noch nie gegeben. Das macht mich ehrlich traurig. Wird es von nun an immer so zwischen uns sein? So verklemmt?

»Ich hoffe, dir hat die Party gefallen«, sagt er irgendwann.

»Hmm.«

»Die Kette steht dir wirklich toll.«

Noch ein Stich in mein Herz.

»Ja, sie ist sehr schön.« Ich sollte das Teil im nächsten Fluss versenken. Aber da sie von Tai ist, würde ich das niemals übers Herz bringen.

Als wir Motorgeräusche hören, verabschiedet sich Tai von mir.

»Ich werd dann mal wieder rein gehen. Schreib mir, wenn du gut zu Hause angekommen bist. Und du kannst dich jederzeit bei mir melden, wenn du reden möchtest. Okay?«

Ich nicke stumm und sehe ihn an. Es tut unendlich weh, ihm nicht sagen zu können, was ich fühle. Zum ersten Mal steht wirklich etwas Unausgesprochenes zwischen uns. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, nicht aufrichtig ihm gegenüber gewesen zu sein.

Er macht einen Schritt auf mich zu, legt mir meinen Mantel um, zieht mich an sich und drückt mir einen Kuss aufs Haar.

»Happy Birthday, Prinzessin«, flüstert er, obwohl mein Geburtstag endgültig vorbei ist. Dann verschwindet er im Haus. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt und ich immer noch wie angewurzelt dastehe, habe ich das Gefühl, ihn verloren zu haben. Als wäre ein Teil von ihm mit dem heutigen Tag für immer aus meinem Leben verschwunden. Bei dem Gedanken krampft sich mein Herz schmerzhaft zusammen und mir schießen die Tränen in die Augen.

Was für ein scheiß Geburtstag.

Doch ich habe keine Zeit, um hier auf der Straße zu weinen, denn Matt biegt um die Ecke des Hauses und ich wische mir die Tränen schnell weg. Nur, um eine Sekunde später wie eine Rakete in die Luft zu gehen.

»Sag mal, spinnst du?«, fauche ich ihn an. »Erwartest du etwa von mir, dass ich auf diese Todesmaschine steige?«

Entsetzt starre ich Matt und das schwarze Monstrum an, auf dem er sitzt.

»Es ist nur ein Motorrad«, motzt Matt zurück, nachdem er das Visier seines Helmes hochgeschoben hat und vor mir Halt macht. »Du wolltest doch unbedingt, dass ich dich nach Hause fahre.«

»Ja, aber ich dachte, du wärst mit dem Auto hergekommen.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und funkle ihn an. Nie im Leben steige ich auf dieses Teil.

Matt verdreht gekonnt die Augen. »Hast du mich jemals schon mit einem Auto gesehen? Ich habe kein Auto, nur, falls dir das entfallen ist.«

Stimmt. Jetzt, wo er es sagt.

»Trotzdem. Da gehe ich lieber zu Fuß«, erwidere ich trotzig und setze mich in Bewegung. Ich höre, wie Matt leicht Gas gibt. Wenige Sekunden später fährt er neben mir her.

»Du willst fast 30 Kilometer zu Fuß gehen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Die Nacht ist mild.«

»Komm schon, Mimi«, lacht Matt auf. »Benimm dich nicht wie eine Zicke.«

Erzörnt bleibe ich stehen und fahre zu ihm herum, doch Matt scheint ernsthaft belustigt zu sein.

»Findest du das witzig?«

»Ein bisschen schon.«

»Toll. Dann hat wenigstens einer seinen Spaß.«

Matt lässt den Motorradlenker los, verschränkt die Arme vor der Brust und richtet sich auf. »Von mir aus kannst du gerne laufen. Aber Tai gegenüber hätte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich dich jetzt allein lassen würde. Also müsste ich wohl die ganze Zeit über neben dir herfahren. Wir wären Stunden unterwegs. Stunden, in denen ich dich so zur Weißglut bringen könnte, dass du …«

»Ja, ja, ja«, brülle ich los und werfe die Arme in die Luft. Ich gebe mich geschlagen. »Ist ja schon gut. Ich hab`s kapiert. Man, du kannst echt nerven. Du bist fast genauso schlimm wie Tai.«

»Nicht fast genauso schlimm, ich bin sogar noch schlimmer.«

Hmm. Könnte sein, dass er da recht hat.

»Aber ich habe keinen Helm. Und ich will wirklich nicht auf diesem Teil draufgehen«, protestiere ich und verschränke die Arme.

Matt grinst und steigt ab. »Glaub mir, ich will auch nicht, dass du auf diesem Teil draufgehst. Die Maschine war gerade erst in der Waschanlage.«

Für diese freche Antwort strecke ich ihm die Zunge raus, was seinem Grinsen jedoch keinen Abbruch tut. Er öffnet den Sitz des Motorrads und holt einen zweiten Helm hervor.

»Hier«, sagt er und setzt sich wieder hin, während ich den Helm aufsetze. »Steig auf«, weist er mich an und ich gucke etwas verwirrt. Wie soll ich denn da drauf kommen? Ich bin noch nie mit so einem Ding gefahren. Matt sieht mein fragendes Gesicht und hält mir die Hand entgegen.

»Es ist wirklich nicht schlimm, Mimi. Du hältst dich einfach die ganze Zeit über bei mir fest.«

Ich nicke, ergreife seine Hand und lasse mir von ihm aufhelfen. Als ich dicht hinter ihm sitze, weiß ich nicht so recht, wohin mit meinen Händen und lege sie auf seine Schultern. Er lacht und nimmt sie wieder runter. Dann platziert er sie an seiner Taille. Ich schlinge die Arme um seinen Bauch und presse mich an ihn, als er den Motor startet.

»Halt dich einfach gut fest«, sagt Matt und ich drücke mich noch fester an ihn, weil ich tatsächlich ein bisschen Schiss habe. Kein Wunder, dass Matt und ich nie wirklich viel miteinander zu tun hatten, während unserer Schulzeit. Wir sind einfach zu verschieden. Während er das Abenteuer sucht, bevorzuge ich die Beständigkeit. Ich gehe selten ein Risiko ein und überdenke wichtige Entscheidungen lieber drei Mal. Wohingegen Matt schon immer das getan hat, wonach ihm der Sinn stand. Egal, was es für Konsequenzen hat. Ich weiß noch ganz genau, wie er einmal die Schule geschwänzt hat, um auf ein Konzert seiner Lieblingsband zu gehen. Er hat sich heimlich mit Freunden vom Schulhof geschlichen und ist mit dem Zug mehrere Stunden durch ganz Japan gefahren, nur um am Abend auf diesem Konzert zu sein. Wie er zurück kommt, darüber hatte er sich vorher keine Gedanken gemacht. Es gab riesen Ärger, als sein Dad ihn am nächsten Morgen an einem Bahnhof in der Provinz abholen musste, weil sein Geld nicht mehr für die Rückreise gereicht hatte. Aber Matt war das egal. Er nahm den Ärger, mehrere Wochen Hausarrest und sogar das Nachsitzen in Kauf. »Dafür hat es Spaß gemacht«, hatte er uns damals mit einem Grinsen im Gesicht erzählt, wovon er noch Wochen danach zerrte. Tja, typisch Matt eben.

Und ich mache mir schon ins Hemd, wenn ich auf seinem Motorrad mitfahre. Kein Wunder, dass er mich ausgelacht hat.

Allerdings ist es gar nicht so schlimm, wie ich vermutet hatte. Matt könnte deutlich schneller fahren, aber er tut es nicht. Ich denke, er spürt, dass ich Angst habe und nimmt darauf Rücksicht. Mit ihm zu fahren, fühlt sich an, wie auf einer Wolke durch die Nacht zu schweben. Ich lasse es für einen kurzen Moment zu, dieses Gefühl zu genießen und schließe die Augen. Der Abend hätte schlechter nicht laufen können. Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet, so von meinen Gefühlen überrollt zu werden. Ich wollte einfach nur einen netten Abend mit meinen Freunden und mit Tai verbringen. Ich hatte mich so auf ihn gefreut. Und jetzt … jetzt ist plötzlich alles komisch zwischen uns. Ich weiß noch nicht mal, wann ich ihn wiedersehen werde. Sicher wird er jetzt nicht mehr so viel Zeit für mich haben, weil er ja nun Sora hat.

Sora. Sora. Sora.

Wieder muss ich an die beiden denken, wie sie dastanden und sich an den Händen gehalten haben. Mir wird schlecht und ich könnte heulen. Warum auch ausgerechnet Tai? Hätte ich mich nicht einfach in irgendeinen anderen Typen verlieben können? Musste es ausgerechnet mein Freund Tai sein? Das ist so zum Kotzen!

Ich hasse ihn.

Und ich hasse Sora.

Und ich hasse mich selbst, weil ich in ihn verliebt bin und ihnen ihr Glück nicht gönne. Ich bin so ein schlechter Mensch. Am liebsten würde ich zurück fahren und mir irgendeinen kranken Mist ausdenken, damit er sie verlässt. So weit ist es schon gekommen. Es geht eindeutig bergab mit mir.

Ich bemerke gar nicht, wie weit wir schon gefahren sind, als Matt plötzlich in meiner Straße anhält und seinen Helm abnimmt.

»Wir sind da«, verkündet er und ich hebe überrascht den Kopf. Dann lege ich beide Hände auf seine Schultern und steige ab. Ich nehme den Helm ab und gebe ihn Matt zurück. Dieser sieht mich stirnrunzelnd an.

»Was hast du?«

Ich schüttle den Kopf. »Nichts. Wieso?«

Er legt den Kopf leicht schief und mustert mich. »Und warum weinst du dann?«

Oh Mist! Ich weine tatsächlich. Und ich habe es nicht einmal bemerkt. Verdammt, wie peinlich. Schnell reibe ich mir über die Augen.

»Das … das war nur der Fahrtwind.«

Matt sieht mich unverwandt an. »Du hattest das Visier unten, Mimi.«

Ich schaue auf den Helm in seiner Hand.

Ja, das hatte ich.

Nun gut … dann sieht er eben, wie ich weine. Was soll's. Jetzt ist eh alles egal. Ich seufze schwer und mache einen Schritt rückwärts. »Mach's gut, Matt. Danke, für's nach Hause fahren.«

Gerade als ich mich umdrehen will, fällt mir etwas ein, was ich unbedingt wissen muss.

»Sag mal …«, sage ich und Matt wirft mir einen überraschten Blick zu. »Hast du davon gewusst?«

Fragend sieht er mich an. »Was meinst du?«

»Von Tai und Sora, meine ich. Dass sie zusammen sind?«

»Sind sie das?«

Mir fällt ein, dass er vorhin ja gar nicht dabei war, als Sora ihre Ansprache hatte. Aber er ist immerhin Tais bester Freund … Tai muss doch wenigstens ihm was erzählt haben. Ich nicke nur und frage dann noch mal.

»Also, hast du es gewusst?«

Matt zuckt gleichgültig mit den Schultern. »Vielleicht.«

Also ja. Ich wusste es.

»Spielt das denn irgendeine Rolle?«, fragt Matt, während ich wie angewurzelt da stehe und meine kleine Welt immer mehr und mehr in sich zusammenfällt.

»Nein«, antworte ich. »Jetzt nicht mehr.«

Ich wende mich ab und gehe zum Eingang meines Wohnblocks, ohne mich noch mal von Matt zu verabschieden. Die Tränen brechen aus mir heraus, sobald ich meine Wohnung betreten habe.

Wie konnte ich nur so dumm sein?

Tai

Ich schlage die Tür hinter mir zu.

Warum bin ich plötzlich so wütend?

Wie sich mich hat abtreten lassen … und behauptet hat, es wäre alles in Ordnung … und dass sie sich jetzt von Matt, anstatt von mir nach Hause bringen lässt. Was soll das? Sie mag ihn nicht mal. Jedenfalls nicht sonderlich. Aber das scheint sie in Kauf zu nehmen, denn alles ist besser als in meiner Gegenwart zu sein, oder? Jedenfalls kommt es mir so vor.

Als Sora vorhin mit der Neuigkeit rausgeplatzt ist, hat sie fluchtartig die Party verlassen. Mimi ist kein Mensch, der Emotionen besonders gut für sich behalten kann. Deshalb wundert es mich umso mehr, dass sie eben da draußen nicht ehrlich zu mir war. Sie kann es mir doch sagen, wenn sie es komisch findet, dass ich mit Sora zusammen bin. Sie ist doch meine beste Freundin …

Oder …

Hat sie vielleicht genau deshalb nichts gesagt? Weil sie nicht fies und missgünstig sein wollte?

Aber warum sollte sie es überhaupt stören? Das verstehe ich einfach nicht. Wir sind schon so lange eng miteinander befreundet. Ich weiß mehr über sie als ich über mich selbst weiß - nun ja - zumindest dachte ich das. Wie Mimi eben reagiert hat, sieht ihr einfach nicht ähnlich.

Ich habe schon erwartet, dass sie etwas überrascht ist, denn, wie Sora vorhin schon sagte, wollten wir es erst ein mal für uns behalten, bis wir sicher sein konnten, dass aus uns wirklich was werden könnte. Aber ich hätte nie gedacht, dass Mimi so sehr der Schlag trifft, dass sie direkt abhaut - von ihrer eigenen Party!

Ich gehe an allen Anwesenden vorbei, raus auf den Balkon, wo ich zuletzt mit Mimi gestanden habe. Als ich mich über die Brüstung lehne, entfährt mir ein langes Seufzen.

Ich habe doch versucht, es ihr zu sagen, verdammt. Aber … warum auch immer, aber irgendwie wollten die Worte einfach nicht meinen Mund verlassen. Vielleicht war es auch einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Vielleicht hätte ich noch warten sollen. Aber ich wollte eigentlich, dass sie es von mir und nicht von Sora oder jemand anderen erfährt. Nun ja, dieses Vorhaben ist gewaltig nach hinten los gegangen.

»Warum bist du allein hier draußen?«, fragt plötzlich eine Stimme hinter mir. Sora stellt sich neben mich und ich spüre ihren sorgenvollen Blick auf mir ruhen.

»Ich brauchte nur mal frische Luft.«

Suchend sieht sie sich in alle Richtungen um. »Ist Mimi wirklich gegangen? Ohne, sich zu verabschieden?«

Ich nicke stumm.

»Hmm«, macht Sora und lehnt sich nun ebenfalls seufzend mit dem Rücken gegen die Brüstung. »Vielleicht hätte ich nicht so voreilig sein sollen.«

»Ja, vielleicht nicht«, stimme ich ihr leise zu.

»Aber ich dachte, du hättest es ihr gesagt, als ihr hier draußen alleine wart. Und ich konnte es nicht mehr länger für mich behalten«, sagt sie nun. »Den ganzen Abend lang musste ich dir aus dem Weg gehen und durfte dich nicht berühren oder umarmen, weil keiner unserer Freunde es wusste. Ist es nicht besser, dass es jetzt raus ist?«

Mit einem vorsichtigen Lächeln in meine Richtung wartet sie auf eine Antwort, doch ich bringe nur ein »Mmh« raus.

»Ach, Tai«, meint Sora schließlich und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Sie wird sich schon wieder einkriegen. Ich denke, sie ist nur ein bisschen sauer, weil sie nicht die Erste war, die es erfahren hat.«

»Kannst du ihr das verdenken?«, entgegne ich. »Sie ist schließlich meine beste Freundin. Matt wusste es auch lange vor allen anderen. Vielleicht sollte ich mich bei ihr entschuldigen.«

Sora entfährt ein Lachen. »Wofür? Dafür, dass du mit mir zusammen bist? Du kannst zusammen sein, mit wem du willst, dafür musst du dich nicht entschuldigen.«

»Nein, natürlich nicht dafür«, stöhne ich leicht genervt auf. »Dafür, dass ich nichts gesagt habe.«

»Nun«, meint Sora plötzlich mit einem leicht unterkühlten Ton in der Stimme. »Das musst du wissen. Ich finde, sie sollte nicht so übertreiben. Aber das könnt ihr beide ja gut.«

Sie geht wieder rein und knallt die Tür hinter sich zu.

Auch das noch. Frustriert fahre ich mir durchs Haar. Wie habe ich es geschafft, dass zwei Frauen an einem Abend sauer auf mich sind?

Mein Blick wandert nach oben zu den Sternen und als erstes fällt mir der große Wagen auf. Unwillkürlich muss ich schon wieder an Mimi denken, an dem Moment, vor ein paar Monaten, oben bei mir auf dem Dach.

Wie von selbst suchen meine Augen den Stern, der damals ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, weil er wunderschön ist. Er leuchtet genauso hell wie immer und plötzlich fühlt es sich an, als würden wir immer noch dort oben auf dem Dach stehen. Als würde ich ihr immer noch die Sterne erklären.

Wenn ich könnte, würde ich die Zeit genau zu diesem Punkt zurückdrehen …

Rückblick Mimi

Ich hoffe, du siehst mich an,

wie du den Himmel ansiehst.

dass du dastehst

und atemlos

meine Farben bewunderst.

- Lili Reinhart


 


 

Rückblick

Ein halbes Jahr zuvor

Mimi
 

Völlig abgehetzt eilte ich durch die Gassen. Keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, seit ich aus dem Haus gestürmt bin. Meine Eltern sind unausstehlich geworden! Besonders meine Mutter. Sie ist nicht mehr sie selbst, seit sie und Dad sich getrennt haben. Eines Abends meinte sie plötzlich, sie könne so nicht mehr weitermachen. Mein Dad und ich hatten uns nur fragend angesehen. Dann eröffnete sie uns, dass sie sich bereits nach Wohnungen umgesehen hatte und ausziehen würde.

Ich weiß noch ganz genau, wie ich dachte: wie bitte? Das sagst du uns mal eben zwischen Kartoffeln und Bratensoße?

Ich kann mich auch noch ganz genau daran erinnern, wie mein Vater geguckt hat - nämlich als hätte ihn ein Auto überfahren. Er fiel aus allen Wolken, ließ seine Gabel sinken und fragte sie, was das zu bedeuten hätte. Dann sagte sie, sie wolle die Scheidung und dass sie nicht mehr glücklich sei und allerhand anderer Dinge, die nicht mehr bis zu mir vorgedrungen waren. Seit dem Wort »Scheidung« hatte ich abgeschaltet und fragte mich nur noch, wann ich aufwachen würde. Das war doch alles nur ein böser Traum, oder? Es folgte ein heftiger Streit, der bis heute anhielt. Denn es gestaltete sich schwieriger als erwartet für meine Mutter eine neue Wohnung zu finden und so lebten wir weiterhin Tag für Tag unter einem Dach - monatelang. Und das war die absolute Hölle!

Meine Theorie? Sie hat einen neuen Mann. Oder einen Liebhaber und sie scheut sich davor, es uns zu sagen. Schließlich war sie kaum noch zu Hause und blieb nach der Arbeit oft noch stundenlang weg, ohne eine Erklärung. Anders konnte ich mir das alles nicht erklären. Sie hat nie den Anschein gemacht, dass irgendetwas nicht stimmt oder dass sie nicht zufrieden mit ihrem Leben oder mit ihrem Mann sei. Aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingeredet, weil ich mich so sehr geärgert habe, wie sie seitdem mit Dad umgesprungen ist. Sie beachtete ihn kaum noch, was Dad einfach rasend machte. Dann schrie er sie an und sie schrie zurück. Das war der einzige Weg, wie er überhaupt noch Aufmerksamkeit von ihr bekam. Gott, wahrscheinlich war es wirklich Zeit, dass sie endlich auszog.

Während ich an den Geschäften und Menschen vorbei ging, zog ich mein Handy aus der Hosentasche, um zu sehen, wie spät es eigentlich ist. Dabei fielen mir die vielen Nachrichten auf, die meine Mutter mir geschickt hatte.
 

»Wo bist du denn Mimi?«

»Ich mache mir Sorgen um dich …«

»Komm nach Hause, wir können reden.«
 

Ja, na klar. Zum Reden war es schon lange zu spät. Und ich hatte auch keine Lust mehr, mir immer und immer wieder ihre leeren Versprechungen anzuhören. Von wegen wir würden uns weiterhin nahe stehen und uns sehen. Als ob. Sie hatte schon längst mit unserer Familie abgeschlossen und sie zeigte es uns jeden Tag.

Ich lief weiter geradeaus, ohne Ziel und scrollte nebenbei durch meine Kontakte. Ich könnte Sora anrufen. Sie war in letzter Zeit häufig für mich da gewesen, wenn ich einen Tapetenwechsel gebraucht und es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte. Aber ich entschied mich für eine andere Person. Nur dort wollte ich gerade sein.

Ich wählte seine Nummer und es dauerte nicht lange, bis Tai abhob.

»Hallo Mimi. Was gibt’s?«

Allein beim Klang seiner Stimme beruhigte sich mein wildes Herz.

»Äh, hallo ... woher weißt du, dass ich es bin?«

»Ähm, also erst mal hast du bei mir deinen eigenen Klingelton.«

»Ich habe meinen eigenen Klingelton?«, fragte ich stutzend. Davon wusste ich gar nichts.

»Ja, hast du.«

»Welcher ist es?«

»Verrate ich nicht.«

Schmollend schob ich die Unterlippe nach vorne, als könnte Tai mich gerade sehen.

»Na ja, und wenn das nicht reicht, ist da immer noch dein Name, der dick und fett auf dem Display steht, wenn du anrufst. Und ein Bild von dir im Hintergrund. Also ja, ich weiß durchaus, dass du dran bist, wenn du mich anrufst.« Tai lachte kurz auf, während ich mir für diese dumme Frage gegen die Stirn schlug. Voll peinlich.

»Du erscheinst mir etwas verwirrt. Was ist los mit dir? Warum rufst du an?«, wolltel er nun spitzfindig wissen.

Verwirrt war gar kein Ausdruck mehr. Ich war wütend und enttäuscht und aufgebracht und … kurzum: völlig durch den Wind.

»Kann ich vorbei kommen?«, fragte ich ihn deshalb ohne Umschweife.

»Kommt ganz drauf an. Willst du mir beim Putzen helfen?«

Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. »Äh, nein?«

»Dann kannst du nicht vorbei kommen«, sagte Tai todernst und ich stöhnte theatralisch auf.

»Oh, komm schon! Ist das dein Ernst?«

»Na ja«, meinte Tai und ich hörte im Hintergrund irgendwas klappern. »Entweder das oder ich ersticke irgendwann in meinem eigenen Dreck. Willst du, dass ich ersticke, Mimi? Willst du das?« Er sagte es mit so viel Nachdruck und so viel Dramatik, dass ich zu kichern anfing. Typisch Tai. Nur eine Minute mit ihm am Telefon und schon fühlte ich mich besser.

»Na gut, du Kröte. Ich helfe dir bei deinem Putzwahn«, sagte ich und Tai lachte.

»Freut mich zu hören. Dann bis gleich. Du kannst mir beim Fenster putzen erzählen, was los ist.«

Damit legte er auf. Oh Gott, worauf hatte ich mich da nur eingelassen? Matt und er teilten sich seit einigen Monaten eine Wohnung und so, wie ich das bis jetzt einschätzen konnte, hielten sie es nicht so penibel mit der Sauberkeit. Ich glaube sogar, dass sie bis jetzt nur ein Mal den Putzlappen geschwungen hatten und das war kurz nach ihrem Einzug. Also, womöglich war das noch nicht mal untertrieben, als Tai sagte, sie würden bald im Dreck ersticken.

Nun gut, dann mal ran ans Werk. Immerhin würde es mich von meinen Problemen ablenken.
 

»Wie schön, dass du da bist. Du kannst gleich anfangen«, begrüßte mich Tai wenig herzlich und hielt mir mit ausgestrecktem Arm einen Besen entgegen, als ich in seiner offenen Tür stand.

»Darf ich mich bitte erst mal ausziehen?«, entgegnete ich genervt und betrat die Wohnung. Sofort stieg mir eine Duftmischung aus Kiefernnadeln und Essigsäure in die Nase. Gott, was veranstaltete er hier? »Und was zur Hölle soll ich damit anfangen?«, fragte ich und nahm den Besen an mich, den er mir so penetrant vor die Nase hielt. »Habt ihr keinen Staubsauger?«

»Ist kaputt gegangen«, zuckte Tai mit den Schultern. »Und ich weigere mich einen Neuen zu kaufen. Matt hat neulich die Kaffeemaschine geschrottet und solange er keine Neue kauft, kaufe ich auch keinen neuen Staubsauger. Win - Win Situation also.«

»Wohl eher eine Lose - Lose Situation, Sherlock«, antwortete ich kopfschüttelnd, weil ich es nicht fassen konnte, was bei den Jungs zu Hause schon wieder abging. Sie waren zwar beste Freunde, aber sie konnten unterschiedlicher nicht sein. Manchmal fragte ich mich, ob das wirklich eine gute Idee von ihnen war, zusammen zu ziehen.

»Damit kann ich auf jeden Fall nichts anfangen«, sagte ich und begutachtete den Besen in meiner Hand wie das achte Weltwunder.

Tai zuckte erneut mit den Schultern. »Dann eben nicht. Kannst ihn ja zum nach Hause fliegen benutzen, wenn du mir nicht helfen willst, du kleine Hexe.« Er streckte mir die Zunge raus. Er streckte mir allen Ernstes die Zunge raus, wie so ein kleines, bockiges Kind.

Bei diesem Anblick prustete ich los und hielt mir den Bauch vor Lachen.

»Ha ha, sehr witzig, Mimi. Hast du überhaupt eine Ahnung, was ich hier die letzten Stunden durchgemacht habe?«

»Nein, tut mir leid«, sagte ich unter Tränen und konnte einfach nicht aufhören. »Aber was ist eigentlich in dich gefahren?«

Tai stöhnte genervt auf und stemmte die Hände in die Hüfte. »Ich habe eine Wette verloren, nichts weiter. Der Einsatz war, dass der Verlierer die gesamte Wohnung putzt. Inklusive Toilette.« Angewidert verzog Tai das Gesicht, wobei ich nur noch mehr lachen musste.

»Und um was ging es?«, hakte ich neugierig nach.

»Wobei?«

»Na, bei der Wette natürlich.«

»Oh, ähm …«, machte Tai und verdrehte ganz merkwürdig die Augen, als könne er sich nicht mehr erinnern. »Nicht so wichtig.«

Er drehte sich um, während ich mich langsam wieder beruhigte. Ich hätte ja zu gerne gewusst, um was die beiden gewettet hatten. Konnte auf jeden Fall nur wieder irgendwas Blödes sein.

»Kommst du jetzt rein, oder was?«, fragte Tai sichtlich gehetzt und ging geradewegs ins Wohnzimmer. Ich folgte ihm und mich traf beinahe der Schlag, als ich das ganze Chaos sah, was er veranstaltet hatte.

»Oh mein Gott«, entfuhr es mir, denn sämtliche Schränke waren leer geräumt und deren Inhalt zwischen Putzmitteln und Wischeimer auf dem Boden verteilt.

»Ist Matt gar nicht zu Hause?«, fragte ich und deutete mit dem Finger auf seine Plattensammlung, die lieblos auf einem Haufen Bücher gestapelt war. Ehe ich mich versah, griff Tai nach einem Staubwedel und bestieg den Bücher-Plattenberg - mit den Füßen!

Ich hielt die Luft an. »Woah! Dafür bringt er dich um.«

»Na, und wenn schon. Vorher sterbe ich an Rückenschmerzen. Ich komme einfach nicht an diesen verdammten Ventilator ran. Hast du mal gesehen, wie eklig der ist? Da liegt der Staub der letzten zehn Jahre drauf, mit Sicherheit.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, während ich Tai dabei zusah, wie er eine waghalsige Ballettaufführung hinlegte und sich wie eine Gazelle in die Luft streckte, um an dieses Teil ranzukommen. Tja, das hatte man eben davon, wenn man als Esstisch nur den Couchtisch und keine Stühle dazu besaß.

»Es gibt da etwas, das nennt man Leiter.«

Tai gab auf und sah mich herausfordernd an. Dann presste er die Lippen aufeinander. »Wenn ich eine gehabt hätte, hätte ich eine genommen. Komm mal her.«

Er stieg von dem wackligen Turm aus Büchern und Schallplatten und schob alles beiseite. Dann griff er nach meiner Hand und zog mich zu sich, ehe er vor mir in die Hocke ging.

»Los, klettere auf meine Schultern.«

Perplex sah ich ihn an. »Ich soll was …?«

»Auf meine Schultern klettern. Zusammen sind wir sicher groß genug, um da ran zu kommen.«

Ich blieb zwar skeptisch, aber bitte. Wenn er es so wollte. Ich setzte mich auf seine Schultern und krallte die Finger in sein Haar, während er aufstand, als wäre mein Gewicht ein Witz. Dass Tai durchtrainiert war, wusste ich, aber nicht, dass er so stark war. Fast beeindruckt kicherte ich.

»Das ist irgendwie schräg. Hoffentlich kommt Matt jetzt nicht nach Hause und sieht uns so.«

»Dann sagen wir einfach, es ist eine neue Sexstellung, die wir schon immer mal ausprobieren wollten.« Ich musste laut loslachen, während Tai mir den Staubwedel anreichte.

»So, Prinzessin. Probier mal, ob du ran kommst.«

Und wie ich ran kam. Sogar so gut, dass der ganze alte Staub aufwirbelte und Tai auf den Kopf fiel.

»Hey!«, beschwerte er sich prompt.

»Sorry«, lachte ich und machte weiter. »Danach kannst du ja dich putzen.«

»Klar«, erwiderte Tai und ich konnte sein Grinsen förmlich spüren. »Wenn du mir dabei dann auch behilflich bist.«

»Hmm«, grinste ich schief. »Das hättest du wohl gern.« Ich war fast schon fertig, als Tai sich beschwerte.

»Langsam wirst du echt schwer. Was machst du denn so lange da oben?«

»Na, was wohl? Ich genieße die schöne Aussicht. Idiot.«

Tai lachte und setzte mich behutsam wieder ab, nachdem ich ihm mit einem Klopfen auf dem Kopf ein Zeichen gegeben hatte, dass ich fertig war.

»So, was steht jetzt an?«, fragte ich und rieb meine Hände aneinander, die jetzt schon super dreckig waren. Ganz ehrlich, ohne meine Hilfe, würde er noch den ganzen Tag dafür brauchen.

»Toilette oder Fenster putzen. Du wählst«, sagte Tai und ich riss angewidert die Augen auf. Ja, klar. Als ob ich ein Männerklo putzen würde. Würg.

»Fenster. Definitiv Fenster.«

»Dachte ich mir«, grinste Tai und warf mir einen Putzlappen zu. »Danke, Prinzessin. Wenn du mich brauchst, ich bin im Bad.« Damit ließ er mich allein. Ich seufzte frustriert auf. Hätte ich doch lieber Sora angerufen …
 

Nach einer halben Stunde kam Tai aus dem Badezimmer zurück und schnappte sich ebenfalls einen Lappen, um mir beim Fensterputzen zu helfen. Bis jetzt war ich noch nicht sonderlich weit gekommen.

»Ich habe definitiv was gut bei dir, Yagami«, sagte ich deutlich genervt. Ich war nicht gerade dafür bekannt, dass ich mir gerne die Hände dreckig machte. Dass ich das hier eben für ihn tat, war ein echter Liebesbeweis.

»Du kannst hier übernachten, wenn du willst«, schlug Tai vor und ich hielt abrupt in meiner Bewegung inne. Ich schielte zu ihm rüber, doch er wischte nur weiter in kreisenden Bewegungen über die Glasscheibe.

»Jetzt guck nicht so«, sagte er grinsend, weil er meinen Blick wohl bemerkt haben musste. »Warum bist du sonst hier? Ich gehe mal stark davon aus, dass du keine Lust hast, heute nach Hause zurück zu kehren. Ich meine, du hilfst mir lieber beim Putzen als dort zu sein. Das sagt schon alles.«

Wie spitzfindig von ihm. Aber er hatte recht. Ehrlich gesagt hatte ich darauf gehofft, heute nicht mehr dort hin zurück zu müssen. Diese Stimmung zu Hause und dieser ganze Hass, der dort eingekehrt war, war einfach erdrückend. Das alles zog mich total runter und meistens saß ich dann stundenlang allein in meinem Zimmer, während sich meine Eltern vor der Tür anschrien.

»Ich habe es nicht mehr zu Hause ausgehalten. Die beiden schreien sich nur noch an. Das ist alles so deprimierend«, sagte ich und putzte weiter.

Tai nickte. »Das kann ich sehr gut verstehen. Dadurch, dass du noch zu Hause wohnst, ziehen sie dich zwangsläufig mit rein in ihren Rosenkrieg. Das ist echt scheiße.«

Ich seufzte frustriert auf. »Ja, da sagst du was. Aber hey, ich habe nächste Woche einige Termine zur Wohnungsbesichtigung. Ich denke, es ist langsam an der Zeit die Flügel auszubreiten und ganz schnell das Weite zu suchen. Möchtest du mitkommen?«

Tai hielt inne, drehte sich zu mir und legte grinsend den Kopf schief. »Ich soll bei dir einziehen?«

Ich verdrehte lachend die Augen. »Nein, du Doofi. Du sollst dir nur mit mir die Wohnungen anschauen. Du denkst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich je in meinem Leben mit dir zusammen ziehen würde, jetzt, wo ich das gesehen habe?« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf das Chaos im Raum.

Tai überlegte und nickte dann zustimmend. »Okay, du hast recht. Und ich komme gerne mit und schaue mir mit dir die Wohnungen an.«

Mein Herz machte einen Hüpfer und ein breites Lächeln schlich sich auf meine Lippen, das ich nicht unterdrücken konnte. »Danke.«

Ich verbrachte so gerne Zeit mit Tai. Ich mochte ihn schon immer und ich habe ihn gerne in meiner Nähe. Wenn er da ist, fühlt sich alles irgendwie besser an. Leichter. Und schöner. Tai ist ein toller Freund und immer für mich da. Wir kennen uns seit dem Kindergarten und schon damals habe ich für ihn geschwärmt. Leider blieb es bis jetzt auch dabei - bei einer Schwärmerei. Doch in mir regte sich nun schon länger der Wunsch, ihm näher sein zu dürfen. Ich wäre so gerne die Person, die er berührt und die ihn berührt - nicht nur körperlich, sondern auch im Herzen.

Ich bemerkte nicht, wie Tai zu mir rüber sah, bis er sagte: »Warum bist du so rot?«

Ich hätte mich beinahe an meiner eigenen Spucke verschluckt, während ich mich hustend von ihm weg drehte. »Mir ist einfach nur heiß. Fenster putzen ist verdammt anstrengend.«

»Dann zieh dich doch aus.«

Und dann dieses blöde Grinsen!

Oh, man. Tai tat das oft. Mit mir flirten, meine ich. Nur, war ihm nicht klar, was er damit auslöste. Wir würden nie mehr sein als Freunde und dieses Geflirte machte es umso schwerer für mich. Auch, wenn ich mich wirklich bemühte, meine aufkommenden Gefühle im Zaum zu halten. Sein Grinsen und seine anzüglichen Anspielungen machten es mir nicht leicht.

»Hmm, keine schnippige Antwort von dir? Das ist merkwürdig«, merkte Tai an, als ich nichts auf sein Necken erwiderte. Stattdessen beschloss ich den Spieß umzudrehen. Tai wusste, wie er mich ärgern konnte und worauf ich ansprang. Diesmal nicht. Wenn ich das jetzt tun würde, was mir durch den Kopf schoss, würde er es sich beim nächsten Mal ganz genau überlegen, ob er noch mal so einen Spruch los lassen würde.

Ohne Vorwarnung ließ ich den Putzlappen fallen und trat einen Schritt zurück. Dann griff ich unter den Saum meines Shirts und zog es mir über den Kopf. Das Shirt fiel zu Boden und mit ihm Tais Kinnlade. Ich grinste ihn frech an, während er einfach nur dastand, mich anstarrte und nicht so recht wusste, wo genau seine Augen hinsehen sollten.

»Du hast recht. Viel besser«, sagte ich zufrieden, hob den Putzlappen auf und machte mich wieder an die Arbeit - halb nackt.

Tai blieb noch eine ganze Weile wie erstarrt stehen und beobachtete mich. Seine penetranten Blicke störten mich nicht im Geringsten. Im Gegenteil - endlich hielt er mal seine freche Klappe. Sieg auf ganzer Linie. Außerdem hatte ich heute meinen roten Spitzen BH angezogen, der meine Brüste mehr als gut zur Geltung brachte. Also, sollte er sich ruhig ein wenig satt sehen.

Irgendwann machte auch er mit der Arbeit weiter, sagte jedoch keinen Ton mehr, was mich nur noch mehr grinsen ließ.

»Wenn Matt jetzt nach Hause kommt, habe ich wirklich keine Erklärung mehr dafür«, sagte er schließlich ganz trocken und versuchte dabei, nicht zu mir rüber zu schielen. Aber ich bekam ganz genau mit, wie oft seine Blicke verstohlen zu mir rüber flogen. Ich zuckte mit den Schultern.

»Wahrscheinlich denkt er, du hast mich dafür bezahlt. Warum sollte ich sonst halb nackt in deiner Wohnung stehen und putzen?«

Tai lachte auf und auch ich musste mich beherrschen, nicht gleich loszulachen. Dieses Szenario war so schlecht und kitschig, dass es schon wieder lustig war.

Wir machten noch eine ganze Weile so weiter und redeten dabei über alles Mögliche, während ich die Küche säuberte und Tai im Wohnzimmer Ordnung schaffte. Am Ende war alles wieder blitzeblank.

»Wow. Das kann sich echt sehen lassen«, sagte ich anerkennend und fuhr mir mit der Hand über die schwitzige Stirn. Morgen würde ich sicher Muskelkater haben. Selbst mein Zimmer zu Hause putzte ich nicht so akribisch, wie ich es heute in Tais Wohnung getan hatte.

»Das stimmt. Tausend Dank, Mimi. Du hast echt was gut bei mir«, entgegnete Tai und wirkte sehr zufrieden mit unserer Arbeit.

»Kein Thema. Es reicht mir schon, wenn ich heute bei euch übernachten kann«, sagte ich. »Kann ich mal eben unter die Dusche springen?«

»Klar, tu dir keinen Zwang an«, antwortete Tai und ging in die Küche. »Ich mache uns so lange einen Tee und was zu Essen.«

Ich nickte lächelnd und verkrümelte mich ins Badezimmer, das immer noch herrlich nach Zitrone duftete. Auch, wenn ich mich heute mit Tai total verausgabt und mir die Hände schmutzig gemacht hatte, so hatte es mir doch mehr Spaß gemacht, als zu Hause zu sein. Dort hielt ich es zur Zeit kaum noch aus. Und Tai hatte es geschafft, mich erfolgreich abzulenken. Jetzt konnte der Abend gemütlich ausklingen und ich mich entspannen. Es reichte ja auch, wenn ich mich Morgen wieder in die Höhle der Löwen begab. Ich schickte meine Mutter schnell noch eine SMS, dass ich bei Tai übernachtete, weil sie mich die ganze Zeit über mit Nachrichten und Anrufen penetriert hatte. Dann schaltete ich das Handy aus und stieg unter die Dusche. Das heiße Wasser war ein Segen für meine angespannten Muskeln. Als ich wieder raus kam, waren meine Klamotten verschwunden und die Waschmaschine lief. Stattdessen lagen ein frisches T-Shirt und Jeansshorts auf der Waschmaschine. Beides von Tai. Er muss hier drin gewesen sein, während ich unter der Dusche stand. So was …

Mein Puls begann zu rasen. Oh Gott. Er war im selben Raum wie ich, während ich nur wenige Meter weiter splitterfaßer nackt unter der Dusche stand und mich einseifte? Es war zwar ein Duschvorhang davor und er hat definitiv nichts gesehen, aber trotzdem … oh mein Gott!

Das Einzige, was mich beruhigte, war, dass es total süß von ihm war, meine dreckigen Klamotten zu waschen und mir was frisches zum Anziehen hinzulegen. Ich zog seine viel zu großen Sachen über, föhnte mir die Haare und begutachtete mich im Spiegel. Der Duft seines Duschgels stieg mir in die Nase und ich schnüffelte an meinem Arm. Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich das Bad verließ und zurück in die Küche ging, wo es bereits herrlich duftete.

»Hey, Prinzessin«, sagte Tai und schwenkte dabei lässig die Pfanne. »Wie fühlst du dich?«

»Besser«, sagte ich und lehnte mich an die Arbeitsplatte. »Ich trage deine Klamotten, ich rieche wie du … wenn ich mir jetzt noch die Haare abschneide, wäre ich du.«

Tai lachte auf und holte zwei Teller aus dem Schrank. »Bitte nicht. Ich liebe deine langen Haare.«

Mein Lächeln erstarb fast zeitgleich mit seinem. Uns wurde beiden bewusst, was er eben gesagt hatte. Langsam drehte er sich zu mir und sah mich an. »Äh, ich meine damit …«, stammelte er plötzlich. »Dass sie dir gut stehen.«

Ich nickte vorsichtig. »Ja, ich weiß.« Ich schluckte schwer, als er sich wieder dem Essen widmete. Gott. Das musste aufhören.

»Was gibt es denn zu Essen?«, fragte ich räuspernd, um das Thema schnell zu wechseln.

Tai grinste unsicher und hielt mir die Pfanne hin, damit ich hineinsehen konnte. »Es waren nur noch Eier da. Also gibt es Ei mit Ei als Beilage.«

»Klingt köstlich«, lachte ich auf, während Tai mir einen mit Rührei vollbeladenen Teller hinhielt.

»Das ist nur die Vorspeise«, sagte er dann jedoch grinsend. »Ich habe uns für nachher noch eine Pizza bestellt.«

»Hmm, du weißt, womit du eine Frau glücklich machen kannst«, meinte ich genüsslich und schob mir trotzdem schon mal ein bisschen Rührei in den Mund, weil mir mein Magen inzwischen in den Kniekehlen hing.

Tai holte uns noch zwei kalte Eistee aus dem Kühlschrank und wir setzten uns ins Wohnzimmer.

»Wie geht es jetzt mit deinen Eltern weiter?«, erkundigte er sich, bevor er den letzten Bissen seines Essens hinunter schlang.

Ich seufzte laut auf. »Ich denke, sie lassen sich wirklich scheiden. Wenn sie sich nicht vorher gegenseitig umbringen.«

Gequält verzog Tai das Gesicht. »Das hört sich richtig übel an, Mimi. Ich kann verstehen, dass du ausziehen möchtest.«

»Ja, ich habe zwar ein schlechtes Gewissen, weil ich Dad dann alleine lasse. Aber ich denke, so ist es das Beste.«

Tai nickte zustimmend, während ich am Etikett meines Eistees rum spielte und das schlechte Gewissen zu unterdrücken versuchte. Mein Vater wusste noch nichts davon, dass ich vorhatte, auszuziehen. Natürlich würde ich noch damit warten, bis meine Mutter gegangen war, damit er nicht allein mit ihr sein musste. Aber dann würde auch ich gehen und ich hoffte, dass ihm das nicht völlig den Boden unter den Füßen wegziehen würde.

»Ich weiß, du fühlst dich für deinen Vater verantwortlich, weil er derjenige ist, der verlassen wurde«, sagte Tai plötzlich und sprach mir damit direkt aus der Seele. »Aber das musst du nicht. Dein Vater ist erwachsen, genauso wie du. Ihr müsst beide alleine klarkommen.«

»Hmm«, machte ich frustriert und stützte mein Kinn auf die Handfläche. »Wenn das nur so einfach wäre.«

Wir schwiegen eine Weile und ich hing meinen Gedanken nach und dem, was Tai gesagt hatte. Bis er ganz plötzlich wie von der Tarantel gestochen aufsprang. Ich zuckte zusammen.

»Was ist?«

»Komm mit«, befahl er und hielt mir die ausgestreckte Hand entgegen. Irritiert sah ich zu ihm auf.

»Wohin denn?«

Ein Grinsen zierte seine Lippen. »Das wirst du dann schon sehen.«

Ich griff nach seiner Hand und ließ mich von ihm auf die Beine ziehen. Wir verließen die Wohnung und gingen mehrere Treppen hinauf. Als Tai die Tür zum Dach öffnete, wehte ein angenehmer Wind durch mein Haar. Tief einatmend nahm ich die Kühle Nachtluft in meine Lungen auf. Inzwischen war es dunkel geworden und über uns funkelten die Sterne.

»Was machen wir hier?«, fragte ich, doch Tai ging zielstrebig geradeaus.

»Ich wollte dir was zeigen«, sagte er. »Ein neues Hobby von mir.«

Er blieb stehen und trat zur Seite, womit er den Blick auf das Ding freigab, was er gemeint hatte.

Mein Mund klappte nach unten.

»Das ist ein Teleskop«, staunte ich mit großen Augen und Tai nickte stolz. »Und kein Kleines. Tai, dieses Teil ist riesig. Das war doch sicher total teuer.«

»Nicht so teuer, wie du denkst. Hab es neulich im Internet ersteigert. Willst du es mal ausprobieren?«

Da musste ich nicht lange überlegen. »Klar will ich!«

Er führte mich an das Teleskop heran und stellte es mir so ein, dass ich hindurchsehen konnte. Zunächst erkannte ich nicht viel. Aber als ich die richtige Schärfe für meine Augen fand, verschlug es mir die Sprache. Erstaunt hielt ich den Atem an. Ich hatte noch nie so etwas Schönes gesehen. Es war, als wäre ich plötzlich Teil einer anderen Galaxie. Ich erkannte Farben, die ich von hier unten mit dem bloßen Auge noch nie am Himmel wahrgenommen hatte. Sterne leuchteten in rot, gelb, weiß und blau und manche strahlten besonders hell. Heller als alle anderen. Es war einfach unglaublich. Plötzlich kam ich mir selbst nur noch wie ein winzig kleiner Stern, in einer viel zu großen Welt vor.

»Faszinierend, nicht?«, sagte Tai, während ich wie gebannt durch das Teleskop blickte.

»Das ist der Wahnsinn, Tai. Ich wusste gar nicht, dass du dich für Astronomie interessierst.«

Ich richtete mich wieder auf und sah Tai an, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte und mit den Schultern zuckte. »Es ist nur ein Hobby.« Dann beugte er sich zu mir. »Zeig mal, was du da hast.«

Es dauerte einige Sekunden, bis er das Teleskop scharf gestellt hatte.

»Ah«, machte er schließlich und ich war sofort neugierig. »Du hast dir das Sternenbild des Orion angesehen.«

Fragend runzelte ich die Stirn, als Tai sich wieder aufrichtete. »Des Orion?« Ich warf noch einen Blick hinein suchte nach irgendeinen Hinweis für seine Behauptung. Was totaler Quatsch war. Es baumelten ja schließlich keine Namensschilder an den Sternen und von Astronomie hatte ich ohnehin keine Ahnung.

»Welcher Stern ist der orange, der so hell leuchtet?«, wollte ich jedoch wissen, denn dieser Stern hatte natürlich meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er strahlte viel heller als die anderen Sterne um ihn herum.

»Welchen meinst du?«, fragte Tai und ich trat einen Schritt zur Seite, dass er einen Blick in das Teleskop werfen konnte.

»Das ist der Stern Beteigeuze, er gehört auch zum Orion«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete.

Verdutzt sah ich ihn an und fragte mich insgeheim, wie man sich nur so ein schwieriges Wort merken konnte. Tai lachte, als er mein Gesicht sah.

»Okay, ich erklär's dir.« Er trat hinter mich, legte seine Hände auf meine Schultern und drückte mich sanft nach unten, damit ich wieder in das Teleskop sah. Dann begann er zu erzählen.

»Der Stern Beteigeuze ist der erste Stern des Orion und so besonders, weil man ihn selbst von der Erde aus mit bloßem Auge finden kann. Alle Sternenbilder hatten früher in der griechischen Mythologie eine Bedeutung und die Bedeutung des Orion ist sehr interessant. Orion soll einst der Sohn des Meeresgottes Poseidon gewesen sein. Leider tat Orion etwas sehr Dummes und verlor daraufhin sein Augenlicht. Nach Heilung suchend wanderte er gen Morgensonne und traf so auf die Göttin Eos, die sich auf den ersten Blick in ihn verliebte. Aber auch die Göttin Artemis war in Orion verliebt und weil sie den beiden ihr Glück nicht gönnte, erschoss sie Orion mit einem Pfeil.«

Mit weit geöffneten Augen sah ich Tai an und hing wie gebannt an seinen Lippen.

»Das ist aber eine ziemlich traurige Geschichte.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Tai mir bei.

»Unfassbar, dass sie ihm so etwas angetan hat. Also, hat sie ihn aus Eifersucht getötet?«

Tai schüttelte den Kopf. »Vielleicht auch nicht. Eine andere Überlieferung besagt nämlich, dass die Göttin Artemis Orion über alles geliebt hat und bereit war, alles für ihn aufzugeben, sogar ihre Göttlichkeit. Er starb zwar durch ihren Pfeil, allerdings durch einen Hinterhalt. Die beiden wurden hinters Licht geführt. Dann hat sie, in ihrer Trauer, Orion nach seinem unglücklichen Tod, im Himmel verewigt. Jetzt ist er dieser helle, leuchtende Stern, den du dort oben siehst.«

»Okay«, lächelte ich zufrieden und warf noch mal einen Blick nach oben. Man konnte diesen besonderen Stern wirklich mit den bloßen Augen erkennen. »Das ist zwar immer noch traurig, aber auch irgendwie romantisch. Mir gefällt die zweite Geschichte definitiv besser als die Erste.«

Tai musste lachen. »Ja, mir auch.«

Mit hochgezogener Augenbraue sah ich ihn an. »Woher weißt du denn so viel darüber? Was studierst du noch mal? Sportwissenschaften?«

»Na ja«, gab Tai zurück und begann mit den Füßen auf und ab zu wippen. »Ich bin eben ein gebildeter Mann. Ist doch sexy, oder?« Ein verdammt freches Grinsen zierte seine Lippen, was ich irgendwie unwiderstehlich fand. Trotzdem verdrehte ich demonstrativ die Augen, denn er musste ja nicht wissen, dass er wirklich ganz schön sexy war.

»Du bist nicht sexy, sondern eingebildet. Mal ehrlich, prahlst hier mit deinem ganzen Wissen und lässt mich total dumm neben dir aussehen. Wie steh ich denn jetzt da? Du weißt doch genau, dass ich nicht mal den großen Wagen finden würde, wenn er beschriftet wäre«, witzelte ich und boxte ihn mit der Faust gegen den Oberarm. Tai lachte und rieb sich über die Stelle, obwohl wir beide wussten, dass ich ihm nicht wirklich weh getan haben konnte.

Um ehrlich zu sein, war ich froh, dass er es geschafft hatte, mich erfolgreich abzulenken. Mit diesem ganzen romantischen Sternen Kitsch hatte er mich auf andere Gedanken gebracht und mich für ein paar Minuten vergessen lassen, warum ich eigentlich hergekommen war und was zu Hause auf mich wartete. Gerade jetzt, hier oben auf dem Dach, gab es nur uns beide und das war gut so.

Als er aufhörte, zu lachen, legte ich den Kopf schief und lächelte ihn aufrichtig an.

»Danke, Tai. Für all das hier. Ich habe ehrlich noch nie so etwas Schönes gesehen.«

Tais Grinsen erstarb und seine Miene wurde ernst. Seine warmen, braunen Augen ruhten auf mir, als könnte er in meine Seele blicken. Wenn ich sie sah, musste ich wieder an den Stern denken, der noch viel heller als alle anderen Sterne um ihn herum leuchtete. Einfach wunderschön. Er erinnerte mich an Tai. Auch er trug ein Licht in sich, was alle anderen überstrahlte.

»Ich schon. Ich kenne etwas, das Schöner ist als alle Sternenbilder zusammen«, antwortete Tai und kam einen Schritt näher. Dicht vor mir blieb er stehen und ich sog scharf die Luft ein, weil er mir plötzlich so nah war. Was hatte er vor? Mein Herz begann zu rasen.

Ohne Vorwarnung hob er die Hand und legte sie an meine Wange. Er streichelte mich mit dem Daumen und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, was mich erschaudern ließ. Noch nie hatte er mich derart berührt. Wieso tat er es jetzt?

Ich erlaubte es mir, leise zu seufzen und die Augen zu schließen. Ich genoss diese kleine, unscheinbare Berührung, die so vieles in mir aufwirbelte. Tai war mein Freund. Wir teilten so vieles miteinander, aber wir waren noch nie weiter gegangen als bis hier her. Und doch schrie mein Herz plötzlich danach. Ich wollte, dass er mich berührte und erschrak vor der Vorstellung, wie es wohl wäre, ihm noch näher zu sein. Seine Lippen auf meinen zu spüren. Diese Gedanken hatte ich mir stets verboten. Jetzt drohten sie aus mir herauszubrechen. Wenn er noch länger so dicht bei mir stand und mich so sanft berührte, würde ich für nichts mehr garantieren können.

Ich zwang mich, die Augen zu öffnen und ihn anzusehen. Tai stand immer noch da, streichelte meine Wange und blickte auf mich hinab, während wir uns so nah waren, dass ich seinen Atem auf meiner Haut fühlen konnte.

»Du weißt, dass ich immer für dich da bin, oder?«, fragte er leise und ich nickte. »Und, dass du mir alles erzählen kannst.«

Ich nickte wieder und genoss dabei immer noch das Gefühl von seiner Hand auf meiner Haut. »Du kannst mir auch alles erzählen, Tai.«

Ein sanftes Lächeln schlich sich auf Tais Lippen. »Ich weiß«, sagte er. Ein angenehmer Schauer ging mir über den Rücken. Geschah das gerade wirklich? Spürte er dasselbe, was ich spürte, oder bildete ich mir das nur ein? War es einfach nur der Zauber der Nacht? Das ganze Gerede von den Sternen und dieser romantischen Geschichte hatte meine Sinne völlig benebelt. Ich konnte nicht mehr klar denken. Zeit und Raum waren plötzlich irrelevant geworden. Alles um uns herum schien zu verschwimmen. Ich stand einfach nur da und wartete ab. Wartete sehnsüchtig darauf, was als nächstes passierte. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie diese Szene zwischen uns enden konnte …

Tai öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

»Mimi, ich denke, ich bin …«

Voller Erwartung blickte ich zu ihm auf, während mein Herz hoffnungsvoll schrie.

Mein Puls beschleunigte sich so schnell, dass ich nicht mehr klar denken konnte.

Alles, was ich wollte, war, dass er mich endlich küsste.

Tai sah mir tief in die Augen, doch als ich beide Hände sanft auf seine Brust legte und mich ihm leicht entgegen reckte, zuckte er zurück.

Ich hielt augenblicklich inne, denn ich spürte, wie Tai sich unter meinen Fingern anspannte. Seine Hand glitt von meiner Wange und hinterließ ein Gefühl der Kälte. Er trat einen großen Schritt zurück, um Abstand zwischen uns zu schaffen. Er sah aus, als wäre er gerade aus einem tiefen Traum erwacht. Die Augen klar und ungläubig, als wäre ihm jetzt erst aufgefallen, was er eben im Begriff war, zu tun.

Meine Seifenblase platzte und der Rausch des Moments war schlagartig vorbei. Mein Kopf wurde zurück in die Realität katapultiert, in der es für uns nichts gab, außer eine rein platonische Freundschaft.

Etwas unbehaglich und in dem Wissen, was hier eben beinahe passiert wäre, kratzte Tai sich am Hinterkopf.

»Ähm, tut mir leid. Ich wollte sagen: ich denke, ich bin … hungrig. Genau. Das wollte ich sagen.«

Ja, klar. Was sonst?

Immer noch verwirrt sah ich ihn an. »Okay? Bist du dir sicher?«

»Wirklich, Mimi«, lächelte Tai gequält auf und wurde immer nervöser. »Ich wollte dich wirklich nicht … Also, das war einfach nur … das wollte ich echt nicht, tut mir …«

»Es ist okay, habe ich gesagt«, fuhr ich aufgebrachter dazwischen, als ich es wollte.

Das Letzte, was ich jetzt hören wollte, war ein: es tut mir Leid!

Aber ganz ehrlich - was hatte ich mir denn auch dabei gedacht?

Es war doch klar, dass er mich nicht küssen würde. Oder mir seine Gefühle gestehen wollte. Die Nacht und die Sterne über uns hatten mir einen Streich gespielt. Sie hatten uns für einen Moment zu etwas hinreißen lassen, was er offensichtlich gar nicht wollte und schneller bereute als es mir lieb war. Gott, ich war ja so was von dämlich.

Trotzdem saß die Enttäuschung tief.

»Wollen wir wieder rein gehen?«, fragte ich ausweichend und strich mir über die Arme. »Es wird langsam kalt.« Das war gelogen. Die Nacht war wunderschön und mild. Aber ich wollte nicht länger hier stehen und ihn ansehen und einem Kuss hinterher trauern, den ich niemals bekommen würde.

Tai zuckte geknickt mit den Schultern. »Klar. Lass uns reingehen.«

Wir gingen die Treppen hinunter und zurück in Tais Wohnung. Ich ging hinter Tai her, meine Augen bohrten sich in seinen Rücken und ich konnte den Geschmack von bitterer Enttäuschung auf meiner Zunge nicht unterdrücken. Warum hat er das gemacht? Warum ist er überhaupt erst so weit gegangen? Mich beinahe zu küssen und es dann doch nicht zu tun, war pure Folter.

Als wir das Wohnzimmer betraten, wäre Tai beinahe über ein Paar Schuhe geflogen, welches zerstreut auf den Boden lag.

»Was zur Hölle …?«, fragte er und sein Blick glitt weiter geradeaus. Da lagen noch eine schwarze Lederjacke, ein Motorradhelm und ein leerer Pizzakarton.

»Ich glaube, ich spinne!«, entfuhr es Tai wütend, als er Matt genüsslich schmatzend am Couchtisch sitzend vorfand. Er schob sich gerade das letzte Stück Pizza in den Mund und sah uns mit großen Augen an.

»Sag mal, hast du sie noch alle?«, schrie Tai und stampfte auf Matt zu. Ich kniff mir mit den Fingern in den Nasenrücken. Das fehlte gerade noch.

»Wieso?«, fragte Matt verdutzt und kaute dabei ganz gemütlich weiter. »Stimmt irgendwas nicht?«

Ob etwas nicht stimmte? Oh man. Das war sein Untergang.

Tai wurde fuchsteufelswild. »Man, das war unsere Pizza.«

»Ach ja? Standen da eure Namen drauf?«, entgegnete Matt immer noch ziemlich unbeeindruckt. Anscheinend erkannte er den Ernst der Lage nicht.

»Ja, das war es. Das war unsere Belohnung dafür, dass wir hier den ganzen Nachmittag die Wohnung geschrubbt haben.« Anklagend zeigte Tai mit dem Finger auf Matt, der jedoch nur den Kopf schief legte und direkt an Tai vorbei zu mir sah, als wäre ihm erst jetzt aufgefallen, dass ich auch da war.

»Du hast ihm geholfen?«

Ich nickte. Matt sah wieder zu Tai auf.

»Hilfe von Außerhalb war nicht Bestandteil der Wette.«

Mein Mund klappte auf. Wow. Der hatte vielleicht Nerven. Tais Blick nach zu urteilen, würde er ihn gleich in der Luft zerfetzen.

»Du … DUUU …«, presste Tai hinter zusammengebissenen Zähnen hervor und war drauf und dran auf Matt loszugehen, der immer noch die Ruhe selbst war.

Okay. Zeit einzugreifen.

»Jungs, ganz ehrlich«, sagte ich lachend und versuchte die Situation somit aufzulockern, ging jedoch trotzdem dazwischen, nur für alle Fälle. »Es ist doch egal, wer Tai geholfen hat, oder? Hauptsache, es ist jetzt alles sauber. Wir wollen uns doch nicht wegen so was streiten, richtig?«

Ich grinste gequält, aber innerlich war ich mir nicht sicher, ob das reichte, um die Lage zu entschärfen. Tai war stinksauer.

»Okay«, sagte Matt gleichgültig, klopfte sich die Hände ab und stand auf. »Da Mimi ja hier sowieso ein und aus geht, als wäre sie hier zu Hause … «

War da ein gewisser Unterton in seiner Stimme? Passte ihm das etwa nicht?

»… lasse ich dir das mal durchgehen.«

Tai verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte seinen Freund wütend an. »Zu gütig von dir, danke.«

»Aber das nächste Mal lässt du meine Plattensammlung in Ruhe, sonst setzt es was«, fügte Matt dann noch drohend hinterher und stieg somit wieder in den Ring. »Oder meinst du, ich habe nicht bemerkt, dass du sie alle durcheinander gebracht hast? Ein paar sind sogar zerkratzt. Hast du damit den Fußboden gewischt oder was?«

Tai ballte die Hände zu Fäusten und machte einen bedrohlichen Schritt nach vorne. »Nein, aber danke für den Tipp. Beim nächsten Mal mache ich das vielleicht.«

Au backe. Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wenn Tai ihm jetzt doch eine rein haute, war er definitiv selbst daran schuld. Doch bevor es dazu kommen konnte, gab Matt sich zum Glück geschlagen. Ergeben warf er die Hände in die Luft, während er an uns vorbei ging.

»Na gut, ich vergebe dir noch mal. Aber wenn du sie noch mal anrührst, stecke ich deine Unterhosen bei 90 Grad in den Wäschetrockner.«

Tai wirbelte herum und wollte Matt noch etwas hinterher schreien, ehe der in seinem Zimmer verschwand, doch ich presste ihm schnell meine Hand auf den Mund. Matts Zimmertür schlug krachend hinter ihm zu und Tai seufzte, als ich die Hand von seinem Mund nahm.

»Diesmal erwürge ich ihn wirklich im Schlaf.« Dann sah er mich an. »Steht das Angebot noch, mit dir zusammen zu ziehen?«

Ich lachte. »Das habe ich dir nie angeboten.«

»Nicht? Zu schade. Na ja, war ein Versuch wert. Der Kerl macht es mir manchmal wirklich nicht leicht, ihn zu mögen.«

»Und trotzdem seid ihr zwei seit der Grundschule die besten Freunde«, zwinkerte ich, doch Tai verdrehte nur grinsend die Augen.

»Komm. Geh einfach unter die Dusche. Ich besorg uns was zu Essen.«

Tai ging duschen und ich noch mal vor die Tür. Unten, im Laden an der Ecke verkauften sie ganz passable Panini. Ich kaufte uns zwei und wir aßen sie in Tais Schlafzimmer, auf dem Bett, während wir uns einen Film ansahen. Als wir fertig waren, lagen wir beide mit dicken Bäuchen auf dem Rücken und mir fielen schon fast die Augen zu.

Gerade, als ich drohte abzudriften, ergriff Tai das Wort.

»Mimi?«

»Hmm?«

»Was da vorhin oben auf dem Dach passiert ist …«

Ich riss die Augen auf. Plötzlich war ich wieder hellwach.

»Dieses kleine, na ja … Missverständnis«, sagte Tai leise und sah dabei weiter geradeaus auf den Fernseher. »Du dachtest, ich würde dich küssen, oder?«

Was? Nein! Wie kommst du denn darauf? Nur, weil du mich streichelst und mir verträumte Blicke zuwirfst und nur noch wenige Zentimeter bis zu einem Kuss gefehlt hätten?

»Hätte es dir was ausgemacht, wenn ich dich wirklich … na, du weißt schon … geküsst hätte?«

Mir blieb die Luft im Halse stecken.

»Ähm«, antwortete ich, während ich in meinem Kopf nach den richtigen Worten suchte. Was sollte ich ihm sagen? Ihm meine Gefühle zwischen Brotkrumen auf der Decke und dem Geschrei von Tom Cruise in einem Actionfilm gestehen?

Ich überlegte einige Sekunden zu lang, doch letztendlich gab es nur eine einzige Antwort auf diese Frage: es war klar, dass es so besser war.

Hätten wir uns wirklich geküsst, hätten wir damit unsere Freundschaft aufs Spiel gesetzt. Würde ich ihm jemals sagen, was ich wirklich für ihn empfinde, würde ich das Risiko eingehen, ihn für immer zu verlieren. Was, wenn ich ihm hier und jetzt alles gestehen würde und er wieder einen Rückzieher machen würde, wie vorhin oben auf dem Dach? Dieses Risiko konnte und wollte ich jetzt nicht eingehen. Tai war sich anscheinend seiner Gefühle nicht bewusst, oder hat sogar nur aus einer Laune heraus gehandelt und jetzt wollte er abchecken, ob zwischen uns noch alles in Ordnung war. Nie im Leben könnte ich es nach dieser Nummer noch übers Herz bringen, ihm meine Liebe zu gestehen. Am Ende würden wir nur beide verletzt werden.

Es war besser, wenn alles so blieb, wie es schon immer war.

Das war es, was mir alles durch den Kopf ging. Was ich jedoch lediglich zu ihm sagte, war: »Ich bin echt müde. Es ist alles okay zwischen uns, falls du das meinst. Mach dir keine Gedanken. Gute Nacht, Tai.«

»Oh. Okay. Gute Nacht.«

Tai klang enttäuscht. Ich wusste, das war nicht die Antwort, die er von mir erwartet hatte. Er wollte, dass ich ehrlich zu ihm war, aber das konnte ich nicht. Dieses Risiko würde ich nie im Leben eingehen. Denn ich hatte zu viel Angst vor den Konsequenzen.

Mimi

Wenn ich eins in meinem Leben gelernt habe, dann, dass man vor seinen Problemen nicht davon laufen kann. Das ist auch der Grund, warum ich Tais Einladung angenommen habe und heute Abend mit ihm, Sora und den anderen auf ein Konzert gehe.

Seit meinem Geburtstag vor zwei Wochen hatten wir nur noch sporadisch Kontakt. Hin und wieder meldete er sich und fragte, nach einem Treffen. Ich schob jedes Mal die Arbeit vor, dabei hatte ich sogar einige Schichten im Café getauscht und ein paar Abende hintereinander frei. Doch so langsam wird es auffällig. Tai und ich sind so gut befreundet, dass es bisher nur selten vorkam, dass wir uns länger als zwei Wochen nicht gesehen haben. Ich habe zwar keine Lust darauf, ihn und Sora zusammen zu sehen - das ist wirklich das Letzte, was ich will - aber ich muss ja irgendwie den Schein waren. Tai darf auf keinen Fall merken, dass ich Gefühle für ihn habe. Und Sora … oh mein Gott, wenn sie das wüsste. Ich will es mir gar nicht vorstellen. Ich mag Sora, sie ist meine Freundin und dass ich mich gerade nicht für sie freuen kann, ist wirklich armselig. Ich komme mir so schäbig vor, auch Tai gegenüber. Heute Abend habe ich mir vorgenommen, Buße zu tun und den beiden glaubhaft zu vermitteln, dass ich mich für sie freue. Vielleicht kann ich das ja wirklich, wenn ich mir richtig Mühe gebe.

Genau. Ich muss es einfach nur wollen. Und vor allem - und das ist das Wichtigste - ich muss mich entlieben. Sicher wird die Zuneigung zu Tai von ganz alleine verschwinden, wenn ich ihn und Sora nur lang genug zusammen sehe. So ähnlich wie eine Konfrontationstherapie.

Trotzdem geht mir der Arsch sprichwörtlich auf Grundeis, als ich auf mein Handy schaue und feststelle, dass es nur noch eine Stunde bis zum Konzert ist. Na ja, auf jeden Fall noch genug Zeit, um kurz bei meinem Dad vorbei zu sehen.

Ich schließe die Tür zu unserem Haus auf und betrete den Flur. Dad kommt gerade die Treppe runter. Meine Augen werden groß, als ich ihn sehe.

»Dad, hi … wie siehst du denn aus?«

»Oh, hey Schätzchen«, begrüßt er mich sichtlich überrascht, weil er nicht mit mir gerechnet hat. Und ich nicht mit dem, was er da an hat. Ein weißes Hemd und seinen besten Anzug? Was ist hier los? Er nimmt die letzten beiden Stufen zusammen und bleibt hippelig vor mir stehen.

»Kannst du mir bitte helfen, die Krawatte zu binden?«

»Äh, ja klar.« Ich stutze zunächst, komme seiner Bitte dann jedoch nach.

»Was machst du denn hier, Mimi? Wolltest du was Bestimmtes?«, fragt Dad und ein leichter Geruch von Whiskey schlägt mir entgegen.

»Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen«, sage ich und binde gewissenhaft seine Krawatte weiter. »Hast du was Besonderes vor? Vielleicht ein Bewerbungsgespräch?«

»Nein«, antwortet Dad und grinst ganz merkwürdig, was ich irgendwie irritierend finde. Was geht hier vor?

»Ich habe ein Date.«

»Was?«, platzt es aus mir heraus und ich halte in meiner Bewegung inne, ehe ich den letzten Knoten zu Ende binde und ihn viel zu straff zu ziehe. »Mit wem?«

»Jetzt guck nicht so«, meint Dad trocken und zieht den Knoten wieder etwas lockerer. »Mit deiner Mutter.«

Es gab bisher nicht viele Momente in meinem Leben, die mich sprachlos werden ließen. Aber dieser hier ist definitiv einer davon. Mit offenem Mund starre ich ihn an.

»Du veräppelst mich doch.« Bitte, lass das ein Witz sein.

»Nein, das ist mein Ernst«, sagt mein Dad ganz stolz, als hätte er einen Preis gewonnen. »Sie hat heute Nachmittag angerufen und gefragt, ob wir uns heute Abend zum Essen treffen. Sie hat mir irgendetwas wichtiges zu sagen und möchte das nicht zwischen Tür und Angel machen. Feiner Zug von ihr, oder?«

Mein Blick fällt auf den riesigen Strauß roter Rosen, die fein säuberlich in einer Glasvase auf der Flurkommode stehen.

Oh nein …

Oh nein, oh nein, oh nein!

Gar kein feiner Zug von ihr! Scheiße, Mom! Was hast du dir nur dabei gedacht? Dass sie sich heute mit ihm treffen wollte, kann ja nur eins bedeuten: sie möchte ihm von ihrer Schwangerschaft erzählen. Und damit endgültig das Band zwischen ihnen kappen. Ihn ein für alle Mal aus ihrem Leben verbannen. Das letzte Abendmahl, sozusagen.

Das wird grauenhaft. Das wird die Hölle. Das wird Folter. Das wird …

»Dad«, sage ich vorsichtig, während er vor dem Spiegel im Flur steht und seine Frisur richtet. »Geh da lieber nicht hin. Triff dich bitte nicht mit ihr.«

Mein Gott. Der Mann hatte gerade erst seine Frau und seinen Job verloren. Sollte er jetzt auch noch seine Würde verlieren, indem sie ihm unter die Nase rieb, wie toll ihr Leben in Zukunft sein würde und dass ein Kind unterwegs war? Ein Kind von einem anderen Mann? Mal ehrlich, was denkt sie sich nur dabei? Wie herzlos kann man nur sein? Das würde ihm den Gnadenstoß geben.

»Mimi, Schatz«, sagt mein Dad und dreht sich zu mir um. Er mustert mich mit einem Blick, als wäre ich immer noch sein kleines Mädchen. »Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Wir gehen nur essen, sonst nichts. Und du weißt doch, wie es heißt: alte Liebe rostet nicht.«

Ach. Du. Scheiße.

Und wie schnell sie sogar rostet. Wenn er nur wüsste …

»Oh Dad, bitte«, flehe ich nun fast schon und fahre mir gestresst durch die Haare. »Bitte, bitte. Vertrau mir nur ein mal und geh nicht zu diesem Essen. Bitte. Ich weiß genau, du bist dafür noch nicht bereit.«

»Bereit für was?«, lacht Dad ungläubig auf. Dann dämmert es ihm allmählich. »Warum willst du nicht, dass ich mich mit deiner Mutter treffe? Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«

Verdammt. Er trifft den Nagel auf den Kopf. Und lügen kann ich ja bekanntermaßen mal so gar nicht. Als ich nicht antworte, wirft mein Vater mir einen ernsten Blick zu.

»Mimi«, sagt er drängend. »Was wird hier gespielt? Warum soll ich mich nicht mit ihr treffen? Ist … ist deine Mutter krank?«

Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. »Was? Nein!«

»Hat sie … oh mein Gott. Hat sie etwa Krebs? Wird sie sterben? Ist es das, was sie mir sagen will?«

»Himmel, Dad«, entfährt es mir beinahe hysterisch, weil er einfach nicht aufhört. »Sie wird natürlich nicht sterben.«

»Was ist es dann? Warum machst du so einen Aufstand deswegen?« Dad wird enttäuscht. »Willst du nicht, dass wir wieder zusammen kommen?«

Das ist wirklich das aller Letzte, was passieren wird. Ihr werdet nie wieder zusammen kommen. Und dass er diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zieht, schmerzt mich. Denn ich weiß es leider besser als er. Ich weiß etwas, das er nicht weiß und weshalb er immer noch auf eine romantische Versöhnung hofft. Das ist einfach nur unfair.

»Dad, ich denke, ich muss dir da was sagen«, beginne ich schließlich seufzend und meine Schultern sacken nach unten. Genauso wie Dad's Miene, als er realisiert, dass es doch etwas Ernstes ist.

»Ich weiß, Mom möchte es dir gerne selbst sagen, aber ich möchte nicht, dass du voller Hoffnung zu diesem Essen gehst und am Ende nur enttäuscht wirst.«

Fragend sieht Dad mich an. »Was ist denn? So langsam machst du mir Angst, Mimi.«

Ich schlucke schwer, ehe ich die Worte ausspreche. »Mom ist schwanger.«

Wir verstummen beide. Dad sagt nichts mehr, sieht mich einfach nur an, während er versucht, meine Worte auf sich wirken zu lassen. Im Ansatz erinnert es mich an die Szene am Esstisch, als Mom ihm gesagt hat, dass sie sich scheiden lassen will. Nur diesmal ist es schlimmer. Die Fassungslosigkeit paart sich nun mit Enttäuschung und der Schmerz ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Dad … es tut mir so leid«, sage ich und mache einen Schritt auf ihn zu, doch er weicht zurück.

»Wie lange?«

»Was?«

»Wie lange weißt du es schon?«

Irgendwie fühle ich mich plötzlich ertappt. Als wäre ich hier die Böse in der Geschichte.

»Seit meinem Geburtstag. Da hat sie es mir gesagt.«

Enttäuscht lässt mein Vater den Kopf hängen. All seine Hoffnung schwindet und zerbricht erneut auf dem Boden. Sein Anblick bricht mir das Herz.

»Und warum hast du nichts gesagt?«

»Ich habe dich an meinem Geburtstag im Vollrausch auf dem Sofa gefunden, Dad. Denkst du, das wäre der richtige Zeitpunkt gewesen?«, versuche ich mich zu rechtfertigen, doch er wirft nur die Arme in die Luft.

»Und dazwischen? Du weißt es seit über zwei Wochen und sagst keinen Ton?«, fährt er mich an. »Stattdessen lässt du mich hier ins offene Messer laufen? Ich sehe aus wie ein Vollidiot!« Er zerrt an seiner Krawatte, bis sich der Knoten löst und schleudert sie zu Boden.

Mir treten die Tränen in die Augen. »Dad, es tut mir leid. Ich dachte nur … ich dachte …«

»Was denn, Mimi? Was hast du gedacht? Dass ich es schon noch früh genug, in neun Monaten erfahren werde?«, schreit er nun und schleudert mir all seine angestaute Wut über die unerwartete Neuigkeit entgegen. Es ist, als wäre ich nun zur Zielscheibe seines Hasses geworden.

»Es wäre wirklich schön, wenn du dir nicht immer einbilden würdest, zu wissen, was andere wollen. Ich nämlich, hätte es wirklich gerne gewusst, bevor ich mich heute Abend zum Affen mache.«

Er dreht sich um und wirft den Strauß Rosen, den er für meine Mutter besorgt hatte, zu Boden. Die Scherben der Vase klirren über die Fliesen und das Wasser verteilt sich in jeder Ritze. Dann lässt er mich stehen und stürmt nach oben ins Schlafzimmer. Als die Tür knallend hinter ihm zufällt, breche ich zusammen.

Ich hatte nie vorgehabt, ihn derart zu verletzen. Ich dachte nur, dass er vielleicht erst mal sein Leben wieder neu ordnen sollte, bevor er es erfährt. Sein psychischer Zustand ist mehr als instabil, was sein täglicher Alkoholkonsum sehr deutlich zeigt. Ich wollte ihm nur helfen - und jetzt? Jetzt habe ich alles nur noch schlimmer gemacht.
 

Als ich beim Konzert ankomme, kostet es mich alle Mühe, eine gute Miene aufzusetzen. Nach dem Streit vorhin mit meinem Vater habe ich mich zwar einigermaßen wieder gesammelt, aber seine Worte liegen mir immer noch schwer im Magen. Er ist vorhin völlig ausgeflippt. So habe ich ihn noch nie erlebt.

Gut, zu seiner Verteidigung muss man sagen: ich hätte wahrscheinlich auch so reagiert. Nur verstehe ich nicht, warum er auf mich sauer ist. Ich bin doch nicht diejenige, die ihn sitzen gelassen hat. Ich war nur der Überbringer schlechter Botschaften und habe somit alles abbekommen. Das ist wirklich unfair.

Memo an mich selbst: misch dich nie wieder in die Angelegenheiten deiner Eltern ein. Nie wieder!

»Mimi«, höre ich aus einiger Entfernung meinen Namen rufen und stöhne innerlich auf, als ich Sora sehe, die mir vom Eingang der Halle aus zuwinkt. Nach außen hin lächle ich natürlich. Aber in Wahrheit habe ich jetzt schon keine Lust mehr auf diesen Abend. Sie gleich mit Tai zusammen zu sehen, wird mir den Rest geben. Was für eine Schnapsidee heute Abend herzukommen.

Nun gut. Mitgehangen, mitgefangen. Es ist eindeutig zu spät für einen Rückzieher. Alle sind da, bis auf Izzy und Joe, aber das wusste ich vorher. Izzy hat keinen Fabel für Rockmusik und Joe … der hört, glaube ich, gar keine Musik. Weiß er überhaupt, dass so was wie Rockmusik existiert? Was das angeht ist er ganz und gar spießig. Wie gerne würde ich das selbe auch von mir behaupten. Aber die Wahrheit ist, ich fahre total auf diese Band ab, die wir heute Abend sehen werden. Deshalb habe ich mich auch richtig in Schale geworfen: Minirock, durchsichtige, schwarze Strumpfhose, Boots, Shirt und meine Lieblingsjacke - eine rote Lederjacke. Immer, wenn ich die trage, fühle ich mich total sexy und fraulich. Ein bisschen freue ich mich also doch auf den Abend. Aber das hat allein mit der Band zu tun. Wenigstens ein kleiner Lichtblick. Die Musik lässt mich sicher gleich alles vergessen.

»Hey, Leute«, sage ich in die Runde und vergrabe die Hände in den Jackentaschen. Tai's Kopf wandert in meine Richtung. Er mustert mich und bleibt für einen Moment an meinem kurzen Rock hängen. Ich sehe, wie seine Augen an meinen Beinen verharren, bis er sich schnell wieder losreißt und mir ins Gesicht sieht. Er grinst.

»Hey, wir dachten schon, du kommst nicht mehr. In letzter Zeit kommst du irgendwie immer zu spät.«

»Tja«, sage ich und werfe die Haare nach hinten. »Dafür sehe ich von euch allen am besten aus.«

Alle lachen, auch ich. Dabei war das schon ernst gemeint.

»Na ja, wo sie recht hat«, gibt T.K. schulterzuckend zu und keiner widerspricht. Trotzdem bemerke ich, wie Sora kurz an sich hinab sieht. Auch sie hat sich heute schick gemacht. Normalerweise geht sie zu solchen Verabredungen immer in Jeans und Shirt, was eben ihr Stil ist. Heute aber trägt sie hohe Stiefel und ebenfalls einen Rock, dazu eine aufreizende, langärmlige Bluse, deren offene Knöpfe etwas zu viel Einblick gewähren. Prompt denke ich daran, dass sie dieses Outfit nur für Tai angezogen hat. Um ihm zu gefallen. Allein das macht mich rasend vor Eifersucht. Aber ich schlucke es hinunter. Ich will jetzt nicht daran denken, sondern einfach versuchen, den Abend zu genießen.

»Na, dann mal los Prinzessin«, sagt Tai und zwinkert mir zu. »Lasst uns reingehen, bevor das Konzert vorbei ist.«

»Habt ihr euren Zwist beigelegt?«, frage ich Matt, während wir uns mit den anderen ganz hinten in der Schlange einreihen. Er steht direkt neben mir und sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an.

»Was meinst du?«

»Ich meine euren kleinen Zickenkrieg wegen des Putzens in der Wohnung. Ich hoffe, ihr habt das inzwischen geklärt«, grinse ich und Matt verdreht die Augen. Wir sehen uns nicht sonderlich oft, weil er immer viel unterwegs ist. Ehrlichgesagt haben wir uns neulich das erste Mal auf meiner Geburtstagsparty wiedergesehen. Soweit ich von Tai weiß, ist Matt zu 100% mit seiner Band beschäftigt und damit, die Jungs musikalisch voran zu bringen. Deshalb ist er auch so gut wie nie zu Hause, wenn ich Tai besuche. Soweit ich weiß, hat er nicht mal einen richtigen Job.

»Ach das. War nicht der Rede wert. Eine echte Männer Freundschaft kann nichts so schnell entzweien. Schon gar nicht so ein bisschen Dreck.«

Weil er es so trocken sagt, muss ich lachen.

»Verstehe. Und diese Wette? Um was ging es dabei?«, bohre ich weiter. Überrascht sieht Matt mich an und vergräbt dabei die Hände in den Hosentaschen.

»Davon hat er dir erzählt?«

Ich nicke. »Ja, er erzählt mir alles. Na ja … fast alles«, ergänze ich geknickt und sehe zu Tai und Sora, die händchenhaltend vor T.K. und Kari stehen. Was für ein Anblick. Es ist sogar noch schlimmer als erwartet.

Matt folgt meinem Blick.

»Das hat dich echt getroffen, oder?«

»Hmm?«, mache ich und tue so, als hätte ich keine Ahnung, wovon er spricht.

»Na, das mit Sora und Tai. Dass er dir nichts davon gesagt hat, bis es auch alle anderen wussten.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe, während wir unsere Eintrittskarten vorzeigen und diese abgestempelt werden.

»Ich weiß einfach nicht, warum er es mir nicht eher gesagt hat. Er vertraut mir sonst alles an«, sage ich gerade so laut, dass nur Matt es hören kann. Dieser zuckt mit den Schultern.

»Vielleicht war er sich seiner Gefühle noch nicht sicher.«

Ich schnazle mit der Zunge. »Ich bitte dich. Er kennt Sora sein halbes Leben lang. Wenn er mit ihr ins Bett steigt, sollte er wissen, was er fühlt.«

»Ich meinte nicht seine Gefühle für Sora.«

Ich bleibe stehen und starre Matt hinterher, wie er mit den anderen die Halle betritt. Was hat er da eben gesagt? Verdammt. Zu gerne würde ich ihn fragen, was er damit gemeint hat. Aber er und die anderen sind schon längst in der Halle verschwunden und wenn ich sie nicht in der Menge verlieren will, sollte ich mich lieber an ihre Fersen heften.

Weil wir wirklich ziemlich spät dran sind, stehen wir recht weit hinten, als das Konzert beginnt. T.K. nimmt Kari auf die Schultern, damit sie etwas sehen kann, was ich irgendwie süß finde. Tai und Matt besorgen uns ein paar Biere, während Sora und ich sogar im Akkord die Songtexte rausschmettern. Für einen kurzen Moment ist es genauso wie früher. Wir sind alle Freunde und ich genieße es in Soras und Tais Nähe zu sein. Bis eine Ballade kommt und Sora sich an Tais Schulter kuschelt. Sie presst sich an ihn und er legt die Arme um sie, während sie gemeinsam im Takt der Musik mit schwenken. Ich weiß nicht, ob es am Bier liegt, aber mit einem Mal wird mir schlecht. Ich lege T.K. im Vorbeigehen kurz eine Hand auf die Schulter.

»Ich muss zur Toilette«, sage ich ihm Bescheid. Er nickt nur und konzentriert sich wieder auf die Musik. So schnell wie ich kann flüchte ich aus der Halle in Richtung der Toiletten. Dort steht eine ellenlange Schlange an, weshalb ich es mir anders überlege. Ich habe keine Lust, mich dort einzureihen. Stattdessen mache ich kehrt und renne nach draußen. Für einen Moment lasse ich die kühle Nachtluft auf mich wirken und atme sie tief ein. Dann gehe ich ein Stück weiter, wo weniger Leute stehen und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand. Dieser Tag macht mich fertig. Einfach nur fertig. Wie konnte ich nur denken, dass ich hierfür schon bereit wäre? In den letzten zwei Wochen habe ich pausenlos daran denken müssen, was geschehen wäre, wenn ich Tai von meinen Gefühlen erzählt hätte. Was, wenn wir uns damals auf dem Dach wirklich geküsst hätten? Ich schlage mit der Faust hart gegen die Wand hinter mir. So eine Scheiße!

Mir ist speiübel. Und noch schlimmer wird es, wenn ich daran denke, was Tai und Sora später noch machen werden. Sicher wird er heute bei ihr übernachten oder sie bei ihm und dann werden sie … oh Gott.

In einem Schwall übergebe ich mich in die nächste Hecke. Mein Magen verkrampft sich und nachdem ich fertig bin, rutsche ich an der Wand entlang zu Boden. Zum Glück ist es kein seltener Anblick, dass irgendwer auf einem Konzert kotzen muss. Deswegen beachtet mich niemand weiter, worüber ich sehr dankbar bin. Ich halte mir den Bauch und versuche, nicht laut loszuheulen. Ich muss nicht nur an Tai denken, sondern auch an Dad. Ob er schon wieder sturzbetrunken auf dem Sofa liegt? Manchmal habe ich das Gefühl, dass einfach zu viel auf meinen Schultern lastet und ich nichts dagegen tun kann. Dieses Gefühl ist furchtbar. Ich denke, dass es Dad genauso geht und er sich deshalb in den Alkohol flüchtet. Wie schnell kann ein Leben eigentlich aus den Fugen geraten?

Während ich mich selbst bemitleide, bemerke ich die Person, die plötzlich neben mir steht und zu mir hinab sieht, zu spät. Ich hebe den Kopf und senke ihn sofort wieder.

»Was willst du denn hier? Lass mich in Ruhe.«

»Hey, was ist los mit dir?«, fragt Matt, die eine Hand in der Hosentasche vergraben, die andere hält eine glühende Zigarette zwischen ihren Fingern. »Wolltest du nicht zur Toilette?« Wahrscheinlich fragt er sich, was eigentlich in mich gefahren ist. Und ehrlich gesagt, frage ich mich das inzwischen auch.

»War mir ein bisschen zu stickig da drin«, antworte ich kurz und knapp. Unaufgefordert setzt Matt sich neben mich, aber ich drehe das Gesicht weg von ihm, damit er nicht sieht, wie schäbig ich mich gerade fühle.

»Kannst du bitte einfach wieder rein gehen und mich alleine lassen?«, frage ich gereizt und merke selbst, wie zickig ich dabei klinge. Oh, man. Die Eifersucht macht schon jetzt einen völlig anderen Menschen aus mir.

»Tut mir leid«, schiebe ich deshalb schnell hinterher und lasse den Kopf erschöpft auf meine Knie sinken. »Ich wollte dich nicht so anfahren. Das geht nicht gegen dich. Mein Tag war einfach nur beschissen, das ist alles.«

»Schon okay«, erwidert Matt mit ruhiger Stimme, nimmt einen Zug von seiner Zigarette und bläst den Rauch hoch in den Himmel. »Solche Spielereien bin ich schon von Tai gewöhnt. Was das angeht, nehmt ihr euch beide nicht viel. Ihr seid echt viel zu emotional.«

Ich lege den Kopf schief und sehe ihn an.

»Ach so? Und du meinst, du bist besser dran?«

»Wieso?«

Ich richte mich ein wenig auf und betrachte Matt genauer. Seine Miene ist völlig ausdruckslos. Sein ganzes Wesen, seine ganze Art, strahlt manchmal eine derartige Ruhe aus, die ich nur schwer in Worte fassen kann. Als könnte ihn nichts auf dieser Welt wirklich erschüttern. Ich weiß nur nicht, ob das seine größte Stärke oder seine größte Schwäche ist.

»Weil du nie irgendwas so richtig an dich ran lässt. Manchmal könnte man meinen, an dir prallt alles ab.«

Nun dreht er den Kopf in meine Richtung und seine Mundwinkel zucken belustigt.

»Denkst du, ich habe keine Gefühle?«

»Hmm«, überlege ich ernsthaft. »Wenn doch, dann kannst du sie meist ziemlich gut verbergen.«

»Ganz im Gegensatz zu dir, meinst du?«, kontert er und ich schürze ertappt die Lippen.

»Was willst du mir damit sagen?«

Matt lacht auf. »Ach, komm schon, Mimi.«

Was? Will er mich hier zum Narren halten?

»Ein Blinder mit einem Krückstock sieht, wie angefressen du bist, weil Tai und Sora jetzt zusammen sind. Ich tippe mal auf Eifersucht?«

Verdammt.

»So ein Blödsinn«, sage ich, als hätte er mich beleidigt. Ich strecke meine Beine aus und lehne mich zurück. »Ich habe kein Problem damit, dass die beiden ein Paar sind.«

»Und warum rammst du ihnen dann jedes Mal von hinten ein Messer in den Rücken, sobald sie sich umdrehen? Sinnbildlich gesprochen natürlich.«

Meine Kinnlade klappt nach unten. Bin ich wirklich so durchschaubar? Ich habe mir echt so Mühe gegeben, es zu verbergen.

Ach, na und? Was weiß denn Matt schon? Okay, wahrscheinlich mehr als mir lieb ist, wie sich gerade herausgestellt hat, aber trotzdem. Das hat noch lange nichts zu bedeuten.

»Ich ramme ihnen gar nichts in den Rücken. Wenn du mir nicht glaubst, dann ist das deine Sache«, antworte ich schnippig und stehe auf. Meine Knie sind noch etwas wacklig, aber es geht schon. Matt erhebt sich ebenfalls und so, wie er mich ansieht, fühle ich mich irgendwie überführt. Als hätte er mich komplett durchschaut. Deshalb versuche ich ihm auch nicht in die Augen zu sehen. Damit er nicht noch mehr von der Wahrheit sieht, die er eh schon längst erkannt hat.

»Es ist doch egal, was ich glaube, oder? Wichtig ist, was du daraus machst«, sagt er und sieht mich mit einem mal so durchdringend an, dass ich mich total unbehaglich fühle. Mein Herz beginnt zu flattern. So hat er mich noch nie angesehen.

»Und was soll das heißen?«, frage ich vorsichtig und weiß gleichzeitig nicht, ob ich die Antwort überhaupt hören möchte.

»Na ja, es ist doch eigentlich ganz einfach«, meint er und wirft seine Zigarette auf den Boden, um sie auszutreten. Dann verschränkt er die Arme vor der Brust und lehnt sich seitlich an die Mauer hinter uns. Den Blick lässt er dabei auf mir ruhen.

»Entweder du verstrickst dich weiter in deiner Bitterkeit und trauerst einer verpassten Chance hinterher oder du überwindest deine Eifersucht.«

Demonstrativ verdrehe ich die Augen. »Danke, Herr Lehrer. Hast du noch so einen tollen Tipp auf Lager? Mal ehrlich, Matt. Wenn das so leicht wäre, wie du das sagst, hätte ich das doch schon längst gemacht.«

Mir ist klar, dass das eben ein Schuldeingeständnis war. Aber das ist mir inzwischen auch egal. Die Katze ist eh schon aus dem Sack.

»Mimi«, schüttelt Matt grinsend den Kopf. »Jetzt stell dich nicht dümmer als du bist.« Er kommt einen Schritt auf mich zu und lehnt sich mir entgegen.

Ich schlucke schwer und halte die Luft an. »Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.«

»Ich meine damit, dass du genügend Möglichkeiten hast. Du hast es doch gar nicht nötig, eifersüchtig auf jemand anderen zu sein. Lenk dich einfach ab. Du bist ziemlich hübsch. Das sollte nicht all zu schwer sein. Such dir einfach jemand anderen.«

Verunsichert lache ich auf. »Jemanden, wie dich meinst du?« Eigentlich wollte ich das gar nicht sagen, aber es war mir so durch den Kopf geschossen, denn Matt ist nicht wirklich für seine langlebigen, tiefgründigen Beziehungen bekannt. Das weiß einfach jeder, der ihn besser kennt.

Er zuckt mit den Schultern. Ein Grinsen umspielt seine Lippen, während seine Augen zu meinen Lippen wandern.

»Warum nicht? Wenn du möchtest.«

Moment. Ich brauche eine Sekunde. Hat er das gerade wirklich gesagt oder habe ich mir das eingebildet?

»Das … äh …« Wow, er bringt mich gerade so sehr in Verlegenheit, dass ich anfange zu stottern. Hat er mir gerade ein eindeutiges Angebot gemacht?

Matt lacht kurz auf und für einen Moment denke ich schon, er hat mich verarscht. Dass er gleich sagt, dass das nur ein Witz war und er das natürlich niemals tun würde. Und dann … sagt er das genaue Gegenteil.

»Du musst nichts darauf antworten. Lass es mich einfach wissen, wenn du ein wenig Ablenkung gebrauchen kannst.«

Oh.

Mein.

Gott.

Mein Herz rutscht in den Keller. Meine Haut prickelt allein bei der Vorstellung. Matt und ich? Niemals! Diese Vorstellung bringt mich völlig aus dem Konzept. Mir schießen tausend Gründe durch den Kopf, warum wir das nicht tun sollten - nie im Leben! Doch stattdessen sage ich: »Okay« und nicke.

Bin ich bescheuert? Was ist nur los mit mir? Hat mein Mund sich gerade verselbständigt?

Matt grinst schief und sieht mich weiter herausfordernd an, was es wahrlich nicht besser macht. »Okay«, sagt er und stößt sich von der Wand ab. »Wollen wir wieder rein gehen?«

Ich versuche normal zu atmen, aber ich bin so durcheinander, dass ich kaum Luft bekomme.

»Ja«, sage ich und wir gehen wieder in die Halle, zu den anderen und in den nächsten Stunden ist es so, als wäre nichts gewesen. Als hätte es dieses Gespräch zwischen mir und Matt nie gegeben. Wenn wir alle zusammen lachen, denke ich fast, ich habe es mir nur eingebildet. Aber er hat es wirklich gesagt. Und er hat es ernst gemeint. Der beste Freund des Typen, in den ich verliebt bin, möchte mit mir schlafen? Mir ist noch nie etwas skurrileres passiert. Ich versuche, es zu verbergen, diese Idee ganz schnell wieder aus meinem Kopf zu verbannen, aber in Wirklichkeit frage ich mich, ob er vielleicht recht haben könnte. Würde mir eine gewisse Ablenkung dabei helfen, meine Eifersucht zu überwinden? Ich meine, nicht mit ihm, das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche. Aber irgendetwas muss ich ja wohl unternehmen, wenn mich diese nach Bitterkeit und Zurückweisung schmeckende Eifersucht, nicht völlig verzehren soll.

Mimi

Nach dem Konzert gehen wir noch in eine Bar, um den Abend gemütlich ausklingen zu lassen. Wobei die Gemütlichkeit bei mir schon lange flöten gegangen ist. Meinem Magen geht es zwar jetzt wieder viel besser, aber ich halte es immer noch schlecht in Tais Gegenwart aus.

Kari und T.K. verabschieden sich vorher schon, weil sie noch minderjährig sind und sich nach 24 Uhr nicht mehr draußen herumtreiben sollten. Da hat Tai zum Glück stets ein Auge drauf.

Als wir die Bar betreten, schlägt uns Rauch und laute Musik entgegen. Der Duft von Zigarettenqualm und Alkohol erfüllt die Luft und ich weiß jetzt schon, dass meine Haare morgen eine Kur brauchen.

Matt und Tai sind schon ganz schön betrunken, weshalb wir für die beiden nur eine Cola bestellen. Ich bin, dank meiner kleinen Kotzeinlage vor der Konzerthalle, wieder relativ nüchtern, während Sora doch recht angetrunken ist. Vielleicht sind beide ja am Ende des Abends so betrunken, dass sie es nicht mehr schaffen, miteinander in die Kiste zu hüpfen.

Schäm dich für deine Gedanken, Mimi Tachikawa!

Mein Gott. Alles, an was ich gerade nur noch denken kann, ist Sex. Wie Tai und Sora Sex haben. Wie Matt und ich Sex haben … KÖNNTEN. Wie ich mit Tai Sex haben … KÖNNTE. Nein. Nicht haben könnte. Denn der hat ja schon mit Sora Sex. Vielleicht könnten wir ja …

Gott, nein, denk bloß nicht weiter! So betrunken bist du wirklich nicht mehr, um diesen Gedanken zu Ende zu führen.

»Mimi?«

Ich blinzle verwirrt und sehe zu Tai auf, der hinter mir steht - und werde schlagartig knallrot.

»Was ist?«, fragt Tai lachend. »Du warst eben total weggetreten.«

»Oh, ähm. Das ist nur … es war ein langer Tag. Wo ist Sora?« Ich suche sie mit den Augen zwischen den Leuten, kann sie jedoch nirgendwo entdecken.

»Sie hat ein paar Freundinnen getroffen und trinkt an der Bar einen mit ihnen«, sagt Tai. Dann legt er unvermittelt von hinten die Arme um mich. Mein Körper versteift sich, weil ich sofort denke, dass wir so etwas nicht mehr machen dürfen - uns nahe sein. Aber dann entspanne ich mich und sinke an seine Brust, während er mich festhält. Das Gefühl der Leichtigkeit, was er mir jedes Mal gibt, ist einfach stärker. Wenn Tai mich umarmt, habe ich immer das Gefühl, dass alles gut ist.

»Ich finde es schön, dass du die Kette trägst, die ich dir geschenkt habe«, wispert er an meiner Halsbeuge. Meine Hand wandert nach oben zu dem Kirschblütenanhänger. Die Wahrheit ist, dass ich sie seit meinem Geburtstag keinen einzigen Tag abgelegt habe. Sie bedeutet mir viel, denn sie ist von ihm. Auch wenn ich immer noch nicht genau weiß, warum er sie mir geschenkt hat.

»Was ist los mit dir?«, fragt Tai nun mit ernster Stimme. Ich lasse die Hand wieder sinken und starre geradeaus.

»Was soll sein?«

»Du bist anders.«

»Inwiefern?«

Ich höre, wie er an meinem Hals seufzt. »Du versuchst, dich von mir fernzuhalten.«

»Wie kommst du denn auf so was?«, entgegne ich und weiß, wie wenig überzeugend ich dabei klinge. Ich würde es mir ja selbst nicht abkaufen. Und Tai tut es erst recht nicht. Er kennt mich besser als jeder Andere.

»Mimi«, sagt er einfühlsam und verfestigt seinen Griff um mich. »Du musst nur einen Ton sagen. Egal, was es ist, wir können das hinkriegen. Sag mir einfach, was dich bedrückt.«

Nein, können wir nicht. Und ich kann dir nichts sagen, Tai. Das bringe ich nicht übers Herz.

»Es ist alles in Ordnung, Tai«, lüge ich nun glaubwürdiger, drehe mich um und lächle ihn an, um meine Behauptung zu untermauern. Das Letzte, was ich möchte ist, dass er weiß, wie ich wirklich fühle. Wie ich für ihn fühle. Dass es mich stört, dass er mit meiner Freundin zusammen ist und nicht mit mir. Er würde diese Gefühle ohnehin niemals erwidern. Und obendrein würde ich damit sein neues Glück zerstören oder unsere Freundschaft.

»Wirklich? Du wirkst ein wenig, als würde es dich stören, dass Sora und ich ein Paar sind. Dafür wollte ich mich ohnehin noch bei dir entschuldigen, aber du bist ja nie ans Telefon gegangen, wenn ich dich angerufen habe. Ich hatte nämlich echt ein schlechtes Gewissen, weil ich es dir nicht eher gesagt habe. War so blöd von mir. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht einfach mit der Sprache rausgerückt bin. Ich hoffe, du bist nicht mehr sauer auf mich?«, fragt er, ganz offensichtlich geknickt und sieht mir dabei tief in die Augen.

Ich muss wirklich aufpassen. Eine winzige Regung von mir und er glaubt mir kein Wort. Ich lege eine Hand an seine Wange, lege den Kopf schief und lächle so aufrichtig, wie ich nur kann.

»Wirklich, Tai. Es ist alles in Ordnung. Ich war zwar ein wenig enttäuscht darüber, dass du es mir nicht selbst gesagt hast, aber …« Ich schlucke schwer und ringe mit der Fassung. Ich muss mich einfach zusammenreißen.

» … das vergebe ich dir mal. Wir sind schließlich Freunde, oder?«

Für den Bruchteil einer Sekunde, denke ich, es war nicht überzeugend genug, weil Tai ziemlich lange braucht, um zu antworten und stattdessen ungläubig den Kopf neigt. Aber dann lächelt er dieses sanftmütige Lächeln, was mich immer zum Schmelzen bringt und ich weiß, dass alles gut ist - zumindest bei ihm.

»Ja, natürlich sind wir Freunde, Mimi - beste Freunde«, korrigiert er sich noch mal und zieht mich erneut in eine feste Umarmung. »Und ich liebe dich.«

Ich liebe dich auch. Nur mit dem Unterschied, dass meine Liebe eine andere ist als deine, denn sie schmerzt, wenn ich in deiner Gegenwart bin.

Ich schiebe diesen Gedanken schnell beiseite. Ich will so nicht denken.

»Ich weiß«, sage ich, lege dann beide Hände auf seine Brust und schiebe ihn sanft von mir, weil ich seine Nähe nicht mehr ertrage. Genau im richtigen Moment. Sora kommt auf uns zu und lacht bis über beide Ohren. Dann fällt sie Tai um den Hals.

»Woah, immer mit der Ruhe«, sagt dieser und versucht sie abzuschütteln, weil sie wirklich sehr betrunken ist. Doch sie stellt sich auf ihre Zehenspitzen und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. In mir zieht sich alles zusammen.

»Wollen wir tanzen?«, fragt sie völlig beschwipst und Tai grinst unsicher.

»Ich lasse euch dann mal alleine und gehe Matt suchen«, sage ich schnell und winke ihnen zu, weil ich mir das nicht länger antun kann. Tai ruft mir noch irgendwas hinterher, aber ich höre es nicht mehr, weil ich bereits auf die Bar zusteuere und mir den stärksten Drink hole, den sie haben. Whiskey auf Eis. Ekelhaft. Aber effektiv.

Mit meinem Glas in der Hand, stelle ich mich in eine Ecke und halte Ausschau nach Matt, der ebenfalls verschwunden zu sein scheint. Ich weiß genau, wenn ich meinen Drink ausgetrunken habe, greife ich mir das nächste Taxi, fahre nach Hause und heule mich in den Schlaf.

Was für ein beschissener Abend. Warum bin ich noch mal mitgegangen? Ach ja. Weil ich die wahnwitzige Idee verfolgt habe, dass es mir leichter fallen würde, wenn ich mich selbst mit meinem Problem konfrontiere.

War eine richtige scheiß Idee, so viel steht fest. Ich fühle mich beschissener als vorher.

Ich beobachte Tai und Sora, wie sie zusammen tanzen und Spaß haben und lachen und die Eifersucht kriecht erneut meine Galle empor. Werde ich mich jemals an diesen Anblick gewöhnen?

Ich sehe, wie er die Arme an ihre Taille legt und sie an sich zieht. Dann reckt sie sich ihm entgegen und küsst ihn. Leidenschaftlich. Verlangend. Während er seine Hände über ihren Rücken wandern lässt, immer weiter nach unten. Ich ignoriere für einen Moment, dass es Sora ist, die er da berührt und stelle mir vor, an ihrer Stelle zu sein. Wie es mein Körper ist, den er mit seinen Händen erforscht. Wie es sich anfühlen würde. Wie er seinen Körper an meinen presst. Wie ich meine Lippen auf seine lege und ihm ganz genau zeige, was ich von ihm will …

»Erwischt!«

Ich zucke so heftig zusammen, dass mein Getränk überschwappt und mir über die Hand läuft.

»Sag mal, spinnst du?«, fauche ich Matt an, der plötzlich hinter mir steht und mir mit seiner tiefen Stimme an meinem Ohr einen Heidenschreck eingejagt hat. Doch er grinst mich nur frech an und ist sich keiner Schuld bewusst.

»Warum erschreckst du denn so? Hast du etwas zu verbergen?«

Sofort wende ich mich wieder von ihm ab. Er macht mich heute echt fertig, mit seiner überragenden Menschenkenntnis. Muss wohl am Alkohol liegen. Oder bekommt er immer so viel davon mit, was um ihn herum passiert und sagt nur nichts dazu?

Matt beugt sich zu mir herunter, damit ich ihn besser verstehen kann.

»Langsam wird es wirklich auffällig. Du musst besser aufpassen«, raunt er mir ins Ohr und ein Schauer durchfährt mich. »Du starrst Tai an wie eine Verhungernde im Süßigkeitenladen. Und das seit geschlagenen zehn Minuten.«

Was? Wirklich? Das hatte ich gar nicht bemerkt. Oh, warum konnte ich mich nicht ein mal zusammenreißen? Es fiel mir doch früher nie so schwer, meine Gefühle für Tai geheim zu halten. Aber Matt liest in mir wie in einem offenen Buch. Das ist total scheiße! Er hat recht. Wenn ich nicht besser aufpasse, geht es Sora bald genauso. Oder noch schlimmer: Tai bemerkt es. Oh Gott. Bei der Vorstellung sträubt sich einfach alles in mir. Was würde er nur von mir halten, wenn er wüsste, an was ich gerade gedacht habe?

»Du irrst dich. Ich will nichts von Tai. Nicht das Geringste.«

Wütend leere ich mein Glas in einem Zug und drücke es Matt in die Hand. Dann lasse ich ihn stehen. Doch dieser stellt nur schnell das leere Glas hinter sich auf die Theke und geht mir dann nach.

»Beweis es«, ruft er mir hinterher. Ich halte inne und drehe mich zu ihm um.

»Was?«

»Beweis es«, wiederholt er und grinst mich siegessicher an. Er kommt näher und bleibt so dicht vor mir stehen, dass wir uns fast berühren.

Seine Nähe macht mich nervös. Mein Körper reagiert ganz instinktiv auf ihn. Jeder Muskel spannt sich an, während Hormone wie ein Feuerwerk durch meinen Körper schießen und mein Unterleib sich verlangend zusammenzieht, als er unerwartet einen Arm um meine Taille legt und mich an sich zieht. Ich lehne mich zurück, unsicher, was ich nun tun soll. Er beugt sich zu mir und kurz erwarte ich, dass er vorhat mich zu küssen.

Doch er tut es nicht.

Stattdessen legt er die Lippen an mein Ohr, was mich erschaudern lässt und flüstert:

»Beweis, dass du nicht in Tai verliebt bist und schlaf mit mir.«

Mein Herz bleibt für einen Moment stehen, nur um dann umso schneller weiter zu schlagen, während er mich noch enger an sich zieht. Würde er mich nicht festhalten, hätten meine Beine sicher unter mir nachgegeben. Und das Schlimme an der ganzen Sache ist: er spürt ganz genau, welche Wirkung er auf mich hat. Verdammt.

Herausfordernd funkle ich ihn an. Am liebsten würde ich ihm sein überlegenes Grinsen aus dem Gesicht wischen. Ich gehe auf die Zehenspitzen und lehne mich ihm entgegen, bis auch meine Lippen sanft sein Ohr berühren. Seine Finger krallen sich erwartend in meine Haut, aber da hat er die Rechnung mit der Falschen gemacht.

»Ich muss dir gar nichts beweisen.«

Ich schiebe ihn von mir und mache einige Schritte rückwärts. »Geh nach Hause, Matt. Du bist total betrunken.«

Fast wirkt er ein bisschen beeindruckt, dass ich ihm widerstanden habe, aber sein schiefes Grinsen bleibt.

Was denkt er sich eigentlich? Dass ich mich ihm einfach so an den Hals schmeiße? Er ist völlig verrückt. Oder völlig betrunken. Oder beides, mir egal.

Er antwortet nichts mehr darauf, weshalb ich mich umdrehe und gehe. Ich will wirklich nur noch weg von hier. Doch gerade, als ich gehen will, laufe ich Tai in die Arme. Ich pralle gegen seine Brust und er hält mich an den Armen fest, damit ich nicht umfalle. Als ich zu ihm aufsehe, bemerke ich den fragenden Blick, mit dem er mich mustert. Er hebt kurz den Kopf und sieht zu Matt, der immer noch ungerührt an seinem Platz verharrt. Dann sieht er wieder mich an.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt er und ich höre den Hauch von Misstrauen in seiner Stimme. Aber dafür habe ich heute keinen Nerv mehr.

»Ja, alles gut. Ich will einfach nur nach Hause. Ich bin echt müde. Wir sehen uns« Und bevor er noch irgendetwas darauf erwidern kann, gehe ich an ihm vorbei und verlasse die Bar. Ich habe keine Lust mehr auf dieses Spiel. Tai und Sora. Matt. Das alles wächst mir über den Kopf. Alles, was ich gerade fühle, ist zu viel für mich. Dieser Abend hat mich komplett verwirrt. Ich denke, ich sollte sie alle eine Weile nicht sehen. Ja, das wäre wohl das Beste. Außerdem hoffe ich inständig, dass sich Matt morgen an nichts mehr erinnert. Das würde sonst nur peinlich werden, bei unserer nächsten Begegnung. Das kann ich nicht auch noch gebrauchen.

Als ich ein Taxi anhalte und einsteige, hämmert mein Kopf wie verrückt. Ich drücke die Stirn gegen die Fensterscheibe und schließe gequält die Augen. Wann habe ich mich das letzte Mal so sehr auf mein Bett gefreut?

Gerade, als ich drohe wegzudriften, klingelt mein Handy in meiner Jackentasche. Erschrocken fahre ich hoch und ziehe es hervor. Eine mir unbekannte Nummer leuchtet auf dem Display auf.

»Hallo?«, gehe ich dennoch ran.

»Guten Abend, spreche ich da mit Mimi Tachikawa?«, höre ich die Stimme einer jungen Frau am anderen Ende der Leitung.

»Ja, die bin ich.«

»Hier ist das St. Luke's International Hospital. Frau Tachikawa, es geht um ihren Vater. Er wurde vor einer halben Stunde hier eingeliefert.«

Mir bleibt die Luft weg. Mit einem mal sitze ich kerzengerade und hellwach auf der Rückbank des Taxis. Was? Dad? Im Krankenhaus?

»Was ist passiert?«, frage ich voller Panik, während mein Puls von 0 auf 100 in die Höhe schießt.

»Das würden wir gerne persönlich mit Ihnen besprechen. Können Sie kommen?«

Ich nicke. »Natürlich. Ich bin in einer viertel Stunde da.«

Ich lege auf und weise den Taxifahrer an, eine andere Route einzuschlagen.

Dad …

Nein, das darf nicht sein. Nicht das jetzt auch noch. Bitte nicht. Ich schicke mehrere Stoßgebete Richtung Himmel und bete dafür, dass es ihm gut geht. Aber mein Gefühl sagt mir etwas anderes. Mein Gefühl sagt mir, dass ich ihn hätte heute nicht allein lassen dürfen.

Tai

»Wie sieht’s aus?«, meint Sora, während wir durch die sternenklare Nacht wandern und greift nach meiner Hand. Erwartungsvoll sieht sie zu mir auf. »Übernachtest du heute bei mir?«

Meine Mundwinkel wandern amüsiert in die Höhe. »Meinst du nicht, dass du dafür heute ein bisschen zu betrunken bist?«

»Du bist auch betrunken«, kontert sie und zu meiner Schande muss ich nicken. Ich habe wirklich ein bisschen zu tief ins Glas geguckt. Deshalb frage ich mich auch immer noch, ob ich das, was ich vorhin gesehen habe, vielleicht fehlinterpretiert habe. Ich dachte allen Ernstes, Matt hätte sich an Mimi rangemacht und sie wäre wütend abgedampft. Aber … ehrlichgesagt weiß ich nicht mehr genau, ob das wirklich so passiert ist oder ob meine Augen mir einen Streich gespielt haben, denn die waren längst nicht mehr so klar, wie noch vor ein paar Stunden. Allerdings war Matt auch nicht mehr ganz klar im Kopf, der hat ja mindestens genauso viel getrunken wie ich, wenn nicht, sogar noch mehr. Und ich weiß genau, wie er sich den Frauen gegenüber verhält, wenn er so ist. Aber Mimi …

Ich schüttle den Kopf, was ziemlich komisch aussehen muss, weil ich Sora ja gerade noch zugenickt habe. Aber meine Gedanken überschlagen sich gerade viel zu sehr. Nein … das würde er nicht tun.

»Sag mal, geht’s dir gut?«, fragt Sora und mustert mich mit einem zweifelnden Blick. Jetzt nicke ich wieder.

»Ja, klar. Alles bestens.« Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe und wirkt nicht so richtig überzeugt, aber was soll’s.

»Wenn du unbedingt möchtest, übernachte ich heute bei dir«, schlage ich schnell vor, damit sie nicht auf die Idee kommt, nachzufragen, an was ich gerade gedacht habe. Ihr Gesicht erhellt sich.

»Wirklich? Super!«

Wir bleiben vor ihrem Haus stehen und ich lächle schief. Eigentlich wollte ich sie nur nach Hause bringen, aber wenn ich ehrlich bin, kann ich keinen einzigen Meter mehr weitergehen. Der Abend hat mich echt geschafft und ich bin mehr als dankbar für Soras Bett.

Es fühlt sich immer noch komisch an, plötzlich so oft bei ihr ein und aus zu gehen. Obwohl ich gerne bei ihr zu Hause bin, kann ich mich nicht so ganz daran gewöhnen. Sie wohnt noch bei ihrer Mutter und ich fühle mich jedes mal wie ein Eindringlich, wenn ich nachts in ihr Haus komme, um bei Sora zu schlafen. Aber Sora meint, sie hat nicht vor, während ihres Studiums von zu Hause auszuziehen, weshalb ich mich wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden muss. Wir könnten auch zu mir gehen, um ungestört zu sein, aber ihr gefällt der Gedanke nicht, dass Matt quasi nebenan schläft, wenn sie bei mir übernachtet, deshalb treffen wir uns meistens bei ihr zu Hause.

Als ich ihr Zimmer betrete, steuere ich sofort das Bett an und lasse mich wie ein Sterbender darauf fallen.

»Gott, bin ich erledigt«, stöhne ich und gleich darauf folgt ein tiefes Gähnen, während ich meine müden Glieder strecke. Sora hingegen, scheint immer noch total aufgekratzt vom Abend zu sein, denn sie kichert nur und setzt sich rittlings auf mich. Ihre Hände fahren unter mein Shirt. Müde öffne ich ein Auge und schiele sie an.

»Was soll das werden, wenn’s fertig ist?«

»Das siehst du doch«, antwortet sie breit grinsend, beugt sich hinab zu mir und beginnt meinen Hals zu küssen. Ich grinse und ziehe sie an mich. Dann rolle ich mich zusammen mit ihr herum, so dass sie nun unten liegt und ich über ihr.

»Ich hatte eigentlich andere Pläne«, hauche ich ihr entgegen, während ich ihre Hände auf beiden Seiten in die Laken drücke.

»Oh, und die wären?«, hakt sie amüsiert nach.

»Schlafen zum Beispiel.«

»Schlafen kannst du, wenn du tot bist.«

Ich muss kurz lachen, dann küsse ich sie, denn das war so was wie eine Herausforderung. Und das lasse ich mir nicht zwei Mal sagen. Ihre Hände sind schneller als meine und ehe ich mich versehe, hat sie mir das Shirt über den Kopf gezogen und neben uns auf den Boden geschmissen. Ich befreie sie ebenfalls von ihrer Bluse und ihrem BH, während wir uns weiter verlangend küssen.

Es ist immer noch etwas seltsam, so intim mit ihr zu sein. Das liegt mit großer Wahrscheinlichkeit daran, dass ich sie schon so lange kenne und sie immer nur eine Freundin für mich war. Aber als sie mir an diesem einen Abend ihre Gefühle gestanden hat, war ich plötzlich verwirrt.

Wochenlang habe ich mich gefragt, ob da was zwischen uns ist, was ich bisher nicht bemerkt habe. Als wir unsere Beziehung, erst ein mal heimlich, eingegangen sind, war ich mir immer noch nicht ganz sicher. Aber inzwischen fühlt es sich gut an. Mit Sora zusammen zu sein, hilft mir dabei, mich wieder zu fokussieren. Denn ich war drauf und dran, mich da in etwas zu verrennen, was nicht hätte sein dürfen.

Ich habe Gefühle für Mimi entwickelt. Für meine beste Freundin. Und das ist absolut das Letzte, was ich tun sollte. Ich weiß, sie würde diese Art der Zuneigung niemals erwidern, vor allem nicht, nachdem mir damals auf dem Dach beinahe dieser kleine Fehltritt unterlaufen wäre. Heute noch könnte ich mich dafür ohrfeigen. Ich kann immer noch nicht sagen, was mich an diesem Abend geritten hat, aber ich hätte sie beinahe geküsst. Zum Glück habe ich im richtigen Moment wieder klar gesehen und ihre Reaktion später, als ich sie daraufhin angesprochen habe, hat mir gezeigt, dass es genau das Richtige war, einen Rückzieher zu machen. Mimi wirkte völlig verändert danach, irgendwie verkrampft. Ich will gar nicht wissen, was aus unserer Freundschaft geworden wäre, wenn ich meinen aufkommenden Gefühlen wirklich nachgegeben und sie geküsst hätte.

Leider ließen sich diese Gefühle auch nach diesem Vorfall nicht so einfach abstellen, was mir ziemlich unangenehm war. Ständig musste ich aufpassen, was ich sage oder tue, damit sie es nicht in den falschen Hals kriegt oder gar noch etwas merkt. Denn das Letzte, was ich wollte war, Mimi als Freundin zu verlieren.

Ich kenne sie schon länger als mein halbes Leben und zunächst habe ich gar nicht gemerkt, dass sich meine Gefühle ihr gegenüber verändert hatten. Es kam so langsam, so schleichend, bis es zu spät war und sie bereits tief in meinem Herzen saß.

Doch nun versuche ich, wieder Platz darin zu schaffen, für etwas Neues. Für Sora.

Auch die Gefühle für Sora haben sich verändert. Ein zartes Band der Liebe hat sich gestrickt und auch, wenn es noch ganz dünn ist, bin ich sicher, dass es mit der Zeit stark werden kann.

Wir haben uns viel Zeit gelassen, um unsere Beziehung öffentlich zu machen - aus gutem Grund. Sie wusste, dass ich mir nicht sicher war, ob aus uns etwas Ernsthaftes werden könnte. Und um ganz ehrlich zu sein, weiß ich das immer noch nicht so genau. Aber allmählich beginne ich, sie in mein Herz zu lassen und das ist doch etwas Gutes, oder nicht? Denn die Gefühle für Mimi müssen ein für alle Mal Geschichte sein …

Rückblick Tai


 

Rückblick

Ein halbes Jahr zuvor

Tai
 

Ich gähnte herzhaft, als ich den Campus verließ und streckte meine steifen Glieder. Was für ein Gefühl! Endlich waren die Zwischenprüfungen geschafft, für die ich monatelang gepaukt hatte. Ich war so in dieser verdammten Lernerei versunken, dass ich mehr als ein mal alles andere vernachlässigt hatte. Den Sport, Matt, Mimi, all meine anderen Freunde … Das blieb alles auf der Strecke, doch jetzt, da diese lange Durststrecke für’s erste beendet war, sollte ich das unbedingt nachholen. Wenn ich gleich zu Hause sein würde, würde ich mir meine Sportklamotten überschmeißen und eine Runde joggen gehen. Und danach würde ich Mimi anrufen. Wir mussten diesen Tag unbedingt feiern.

Gerade, als ich weitergehen wollte, strömte eine Schar Studenten an mir vorbei, hauptsächlich Frauen. Dann hörte ich eine bekannte Stimme hinter mir, die meinen Namen rief.

»Hey, Tai.«

Ich drehte mich um und erkannte Sora zwischen all den anderen. Freudestrahlend kam sie auf mich zu.

»Hey, Sora. Na, hast du’s auch endlich hinter dir?«, fragte ich, als sie vor mir stehen blieb.

Sie setzte ein gezwungenes Lächeln auf und verzog das Gesicht. »Frag nicht. Die Prüfungsfragen waren dieses Jahr echt die Hölle. Aber ich denke, ich habe bestanden.«

»Das freut mich«, antwortete ich und schenkte ihr ein Lächeln. »Was machst du heute Abend? Gehst du mit deinen Mädels feiern?«

Seufzend verdrehte sie die Augen. »Nein, ich würde gerne, aber irgendwie sind sie gerade alle in einer festen Beziehung und wollen den Abend mit ihren Freunden verbringen. Da wäre ich nur das dritte Rad am Wagen. Hast du denn etwas vor? Vielleicht können wir zusammen ausgehen.«

»Nun ja, ich …«, stammelte ich etwas unbeholfen und kratzte mir den Hinterkopf. Meine Pläne sahen eigentlich anders aus. Allerdings wäre eine größere Runde auch mal wieder ganz nett. »Ja, natürlich können wir das«, sagte ich dann doch kurzentschlossen, weil es mir für sie Leid täte, wenn sie den Abend ganz allein verbringen müsste. »Ich trommle die anderen zusammen und dann treffen wir uns in der H2 Bar in Shinjuku. Sagen wir so gegen 21.00 Uhr?«

Trotz, dass Sora ja den Vorschlag gemacht hat, überlegte sie einige Sekunden, ehe sie antwortete. »Okay, klingt gut«, nickte sie schließlich.

»Super, dann sehen wir uns später. Bis dann.«

»Bis dann, Tai.«
 

Als ich zu Hause ankam, setzte ich sofort meinen Plan in die Tat um. Jogginghose, T-Shirt und ab nach draußen. Ich lief meine übliche Route, die ungefähr eine Stunde dauerte und mir ziemlich gut tat. Sport pustete mir immer den Kopf frei und gerade half es mir, diesen ganzen Prüfungsstress hinter mir zu lassen. Wieder zu Hause angekommen wollte ich keine Zeit verlieren und sprang direkt unter die Dusche, stopfte danach meine verschwitzten Klamotten in die Waschmaschine und ging zurück ins Wohnzimmer, um mir mein Handy zu schnappen. Ihren Namen fand ich sofort. Ein paar Mal tutete es, ehe Mimi abhob.

»Hallo, Prinzessin.«

»Hey Tai, wie war die Prüfung?«

»Wirklich schwer, aber ich denke, ich hab sie gemeistert«, antworte ich schnell, weil ich schnell zur Sache kommen wollte. »Was machst du heute Abend?«

Ich hörte, wie Mimi am anderen Ende der Leitung einen tiefen Seufzer ausstieß. Mir war sofort klar, was das bedeutete.

»Ich muss leider arbeiten. Eigentlich hätte ich heute frei gehabt, aber eben hat sich ein Kollege krank gemeldet und ich muss einspringen.«

»Kann das nicht wer anders machen?«, fragte ich geknickt und wippte dabei unruhig mit den Füßen auf und ab.

»Anscheinend nicht.«

»Och Mimi, komm schon. Das kannst du mir nicht antun«, sagte ich deutlich frustriert, wusste jedoch, dass es nicht viel bringen würde.

»Es tut mir so Leid, Tai. Du weißt, dass ich viel lieber was anderes machen würde«, entgegnete Mimi und klang ehrlich traurig darüber, dass wir den Abend nicht zusammen verbringen konnten.

»Schon gut, du kannst ja nichts dafür. Ich weiß ja, dass der Job wichtig für dich ist.« Ich wollte ihr kein schlechtes Gewissen machen, deshalb gab ich es auf und versuchte gar nicht erst, sie davon zu überzeugen, sich ebenfalls krank zu melden. Mimi brauchte den Job. Sie verdiente damit das Geld, das sie für ihre eigene Wohnung sparte, selbstverständlich ging das vor.

»Es tut mir trotzdem Leid«, betonte sie noch ein mal, klang im nächsten Moment jedoch schon wieder etwas fröhlicher. »Was hältst du davon, wenn wir das nachholen?«

Sofort zierte ein Grinsen mein Gesicht. »Was schwebt dir denn vor?«

»Ich lade dich zum Frühstück ein, nächstes Wochenende.«

Nur wir beide? Klingt gut.

»Okay, abgemacht«, nickte ich. Dafür lohnte es sich doch, das Treffen von heute zu vertagen. »Matt kommt gleich nach Hause. Ich denke, ich werde ihn und die anderen zusammentrommeln und wir betrinken uns im H2.«

»Oh, das klingt echt verlockend. Jetzt finde ich es noch blöder, dass ich ausgerechnet heute arbeiten muss.«

Ich musste kurz auflachen, weil Mimi’s Stimme wie die eines kleinen, bockigen Kindes klang.

»Ich freue mich auf unser Frühstück. Bis dann, Mimi.«

»Ich mich auch. Bis dann, Tai«, verabschiedete auch sie sich und ich legte auf.

Gleich danach schrieb ich Joe und Izzy und hoffte inständig, dass sie mich nicht im Stich lassen würden. Als ich die Nachricht abgeschickt hatte, hörte ich, wie die Tür ging und Matt das Wohnzimmer betrat.

»Gott, das war eine Katastrophe«, stöhnte er direkt auf und stellte seinen Gitarrenkoffer an die Wand neben seinem Schlafzimmer. Verwundert sah ich von meinem Handy auf.

»Was ist los?«, wollte ich wissen, während Matt sich direkt in die Küche begab und sich einen frischen Kaffee aufbrühte.

»Frag nicht«, meinte er und klang deutlich frustriert. »Wir hatten ein Vorspielen bei einem sehr bekannten Nachtclub. Die buchen die Künstler nicht einfach ins Blaue, sondern schauen sich ihre Live Bands vorher ganz genau an. Und Koichi hat es gründlich vergeigt.«

Ich riss die Augen auf, denn ich konnte nicht glauben, was er da erzählte. Koichi spielte das Keyboard und das eigentlich ziemlich gut. Wie hatte er es geschafft, das Vorspielen zu vermasseln?

»Guck nicht so, du hast richtig gehört«, meinte Matt mit hochgezogener Augenbraue, als er meinen Blick bemerkte. »Er hatte einen mega Hangover und hat sich so oft verspielt, dass es sogar mich völlig aus dem Konzept gebracht hat. Normalerweise stelle ich mich immer auf das Tempo der Jungs ein, auch wenn sie mal von der Norm abweichen. Aber was er heute abgeliefert hat, war einfach grottenschlecht.«

»Mist, das tut mir echt Leid.« Nun verstand ich Matts Enttäuschung. Dieser rieb sich nur mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken und schenkte sich dann eine Tasse frischen Kaffee ein. »Was soll’s. Eine Chance mehr oder weniger vertan, darauf kommt es nun auch nicht mehr an.«

Ich senkte betrübt den Blick. Mein bester Freund hatte es in letzter Zeit nicht einfach. Er ging weder studieren, noch jobbte er nebenbei. Stattdessen konzentrierte er sich voll und ganz auf die Band und auf die Musik, die er machen wollte. Dort steckte er all seine Energie rein. Und deshalb waren diese Auftritte auch so wichtig für ihn - weil sie sein einziges Einkommen waren. Doch in letzter Zeit wurden sie seltener gebucht als früher, was es ihm nicht leichter machte. Daher bewunderte ich ihn noch mehr, weil er trotzdem niemals aufgab und es irgendwie immer schaffte, wieder aufs Pferd zu steigen. Vermutlich gehörte das beim Künstler-Dasein einfach dazu.

»Hey, weißt du was?«, meinte ich schließlich und hob hoffnungsvoll den Kopf. »Ich finde, du siehst aus, als könntest du ein wenig Abwechslung gebrauchen. Ich habe meine letzte Prüfung endlich hinter mir und wollte das heute mit dir feiern.« Ich zwinkerte ihm zu, doch Matt verzog nur das Gesicht.

»Ach ja, stimmt, deine Prüfung. Entschuldige, dass ich nicht danach gefragt habe. Wie lief es denn?«

»Ganz okay, aber daran will ich jetzt nicht mehr denken. Also, was ist? Kommst du mit?«

»Puh, ich weiß nicht, Tai«, stöhnte Matt auf und wirkte dabei wenig begeistert. »Ich bin heute echt erledigt.«

»Oh, Matt …« Gerade, als ich versuchen wollte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, klingelte fast zeitgleich zwei Mal mein Handy. Ich hatte eine Antwort von Joe und Izzy erhalten.

»Das wird sicher lustig«, sagte ich äußerst motiviert zu Matt. »Joe und Izzy …« Dann erstarb mein Lächeln. » … haben abgesagt. Na, toll. Was seid ihr denn alle für Freunde?«

»Ihr?«, beschwerte Matt sich sofort und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Hey, scher mich nicht mit den anderen unter einen Kamm.«

»Ja ja, schon gut«, winkte ich schnell ab und schmiss das Handy frustriert zur Seite. »Mimi muss arbeiten, Joe anscheinend auch und Izzy … keine Ahnung, was mit dem ist. Er hat mir einen ellenlangen Text geschrieben, wovon ich nur die Hälfte verstanden habe. Was soll ich denn jetzt machen? Mich mit Sora allein betrinken gehen?«

»Sora kommt mit?«, fragte Matt und klang dabei ein wenig erstaunt. Kein Wunder, normalerweise zog sie lieber mit ihren Freundinnen los.

Ich nickte. »Sie ist offensichtlich die Einzige, die Zeit hat. Ihr anderen seid alles Verräter.«

Kopfschüttelnd verdrehte Matt die Augen. »Gott, bist du wieder dramatisch.« Dann nahm er seinen letzten Schluck von seinem Kaffee und stellte die Tasse in der Spüle ab. »Ich hab zwar echt keine Lust, aber ich kann morgen ausschlafen.«

»Du kannst immer ausschlafen«, merkte ich an, was Matt gekonnt ignorierte.

»Außerdem hältst du mir das sonst noch die nächsten drei Wochen vor, dass ich nicht mitgekommen bin.«

Ein freches, breites Grinsen zierte nun mein Gesicht. Ich wusste noch immer, wie ich meinen besten Freund rumkriegen konnte. »Super, warum nicht gleich so?«

Matt wandte sich ab, um ins Bad zu gehen, zeigte mir jedoch noch betont herzlos den Stinkefinger, ehe er die Tür hinter sich schloss.

»Ich liebe dich auch«, rief ich ihm hinterher und freute mich jetzt doch ein wenig auf den Abend …
 

Die Bar war natürlich bereits brechend voll, als wir dort ankamen. Irgendwie war hier immer was los, aber deshalb gingen wir auch so gerne hier her.

Sora saß in unserer Stammecke und wartete bereits auf uns.

»Hi«, sagte sie zur Begrüßung, als ich mich rechts und Matt links von ihr niederließ. »Nur ihr beide? Wo sind die anderen.«

»Haben Besseres zu tun«, kommentierte ich lediglich.

»Was?« Sora zog belustigt die Augenbrauen in die Höhe. »Sogar Mimi? Sie ist doch sonst für jeden Spaß zu haben.«

»Tja, aber heute muss sie arbeiten«, entgegnete ich und studierte ganz beiläufig die Getränkekarte, während mir mein Herz einen Stich versetzte. War ich enttäuscht, dass Mimi heute nicht dabei war? Ja.

Wollte ich es allen zeigen? Nein.

Schließlich wusste niemand von meinen Gefühlen für sie, nicht ein mal Matt.

Als sie das erste Mal auftauchten, und ich kann gar nicht genau sagen, wann das war … Vielleicht sollte ich lieber sagen, als ich sie das erste Mal bemerkte, war ich so fassungslos über mich selbst, dass ich beschloss, diese Gefühle ganz schnell wieder abzustellen. Ich erschrak mich vor mir selbst. Wieso sah ich sie plötzlich mit anderen Augen? Immer, wenn wir seitdem zusammen waren, war ich plötzlich verkrampft. Ich musste mich beherrschen, in ihre Augen zu sehen, anstatt ihren Körper mit meinen Blicken zu verschlingen. Und wenn ich in ihre Augen sah, verlor ich mich darin, so sehr begehrte ich sie. Es war ein Teufelskreislauf, den nur ich durchbrechen konnte.

Ich weiß noch genau, wie wir vor ein paar Monaten einen Film bei ihr zu Hause angesehen hatten. Sie war auf dem Sofa eingeschlafen. Ihr Kopf lag auf meinem Schoß und ich strich ihr eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Und als ich sie so ansah, wie sie schlief und dabei spürte, wie sich mein Herz weitete, erkannte ich zum ersten Mal, was ich wirklich für sie empfand.

Es war nicht der Gedanke von Liebe, der mir als erstes durch den Kopf schoss. Es war das Bedürfnis, nie ohne sie sein zu wollen. Mir wurde bewusst, dass, was immer auch geschah, ich sie für immer an meiner Seite haben wollte. Und dass niemals jemand etwas daran ändern könnte.

Aber ich wusste auch, dass, wenn ich dieses Ziel erreichen wollte … ich sie nicht lieben durfte.

Würde sie es nicht erwidern und ich war mir ziemlich sicher, dass sie das nicht tat, würde das unsere Freundschaft zerstören und wir hätten auf diese gemeinsame Ewigkeit, die ich mir so sehr mit ihr wünschte, keine Chance mehr. Sie würde aus meinem Leben verschwinden und das würde ich nie, niemals wollen. Ich wollte sie bei mir haben, für immer.

»Hey!« Ein Schnippen vor meinem Gesicht zog mich zurück in die Realität. »Hörst du schlecht oder hast du gerade einen Schlaganfall?«, meinte Matt wenig besorgt, der sich zu mir rüber gelehnt und mich mit einem Fingerschnipp aus meiner Narkose geholt hatte. Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, alles gut. Ich habe nur überlegt, was ich trinken soll.«

Matt wirkte irritiert. »So? Und dabei starrst du mehrere Minuten lang den Barkeeper an, als wärst du ein besessener Stalker? Stehst du auf ihn?«

Mein Kopf flog in seine Richtung. »Spinnst du jetzt völlig?«

Matt hob abwehrend die Hände. »Hey, ich hätte kein Problem damit«, sagte er zwar, aber sein freches Grinsen verriet, dass er mich aufs Korn nehmen wollte. Ich verzog das Gesicht, genauso wie Sora, die zudem noch rot anlief. Matt hat echt ein Talent dafür andere Leute in Verlegenheit zu bringen.

»Oh, man. Halt einfach die Schnauze und mach dich nützlich. Ich nehme ein Bier«, sagte ich und warf ihm einen Schein rüber. Doch Sora schnappte ihn sich, ehe Matt zugreifen konnte.

»Das mache ich. Denn, falls du ihn nicht willst, ich finde ihn ziemlich heiß.«

Überrascht zog ich eine Augenbraue nach oben. Wen? Den Barkeeper?

Mein Blick wanderte erneut in die Richtung des Mannes hinter der Bar und ich sah ihn mir das erste Mal genauer an, denn obwohl ich ihn ja offensichtlich gerade angestarrt hatte, hatte ich nichts davon mitbekommen.

Mmh. Groß, gut gebaut, südländischer Teint. Ganz okay, soweit ich das beurteilen konnte.

Sora holte uns die Getränke und eins kam zum anderen. Die Musik war gut und die Stimmung ausgelassen, und sogar Matt, der zunächst keine Lust auf den Abend hatte, entspannte sich allmählich. Er schien es tatsächlich zu genießen - vielleicht ein bisschen zu sehr.

»Hey, lasst uns ‘Würdest du lieber …?’ spielen!«, verkündete er überschwänglich, nach seinem vierten Bier und dem fünften Shot.

Ich schlug mir die Hände vor’s Gesicht. »Oh, bitte nicht das schon wieder«, stöhnte ich laut auf und ließ mich auf meinem Sitz zurückfallen.

»Wieso denn nicht?«, beschwerte mein bester Freund sich sofort, während Sora nur fragend zwischen uns beiden hin und her sah.

»Was soll das für ein Spiel sein?«

»Das will er immer spielen, wenn er getrunken hat. Er ist wie ein kleines Kind bei so was. Aber vor allem ist er ziemlich schadenfroh, wenn andere sich zum Löffel machen«, sagte ich und verdrehte dabei demonstrativ die Augen.

»Nur, weil du immer verlierst«, warf Matt ein.

Ich erhob mich von meinem Platz und funkelte ihn an. »Ich verliere überhaupt nicht immer. Deine Aufgaben sind nur einfach jedes Mal total bescheuert.«

Matt’s belustigtes Grinsen stachelte mich nur noch mehr an, aber er wandte sich lieber an Sora, legte ihr einen Arm um die Schultern und beugte sich zu ihr rüber.

»Ich erklär’s dir, Sora.« Erneut verdrehte ich die Augen. Gott, nahm er sich wichtig. »Bei dem Spiel geht es darum, dass einer von uns einem anderen eine Frage stellt. Ein Beispiel: Sora, würdest du lieber drei Shots auf ex trinken oder in die Männer Toilette marschieren, um dort für kleine Mädchen zu gehen.«

Sora lehnte sich angeekelt zurück und zog den Kopf ein. »Muss ich darauf jetzt antworten?«

Matt wog den Kopf hin und her und zuckte mit den Schultern, bevor Sora seufzte.

»Okay, ist recht einfach. Ich würde definitiv die Shots nehmen. Ich gehe doch nicht in die Männer Toilette!«

»Gute Entscheidung«, sagte Matt zufrieden.

Fragend sah sie ihn an. »Das ist alles?«

»Das ist alles. Weigerst du dich, eine der Aufgaben zu erfüllen, hast du das Spiel verloren und musst die nächste Runde schmeißen.«

Sora überlegte einige Sekunden, während ich nur die Arme vor der Brust verschränkte. Ich weiß noch, wie dieses Spiel das letzte Mal geendet hat. Nämlich mit Izzy in Unterhosen, der ganze drei Straßen an sämtlichen Bars und Restaurants vorbei gehen musste. Matt hatte ihm die Aufgabe gestellt, entweder er geht halb nackt durch die Straßen oder er geht zu einem fremden Mädchen und fragt nach ihrer Nummer. Dass er Izzys Schwäche ausgenutzt hat, war ziemlich mies von ihm - wir wussten schließlich alle, wie schüchtern Izzy war und dass er niemals einfach so eine Frau ansprechen würde.

»Ich habe keine Lust auf das Spiel«, sagte ich, aber Sora schlug mir gegen den Oberarm.

»Ach, komm schon, Tai. Das klingt doch lustig.«

Okay, sie war definitiv betrunken. Sora und ein Risikospiel - das sah ihr nicht ähnlich. Aber die beiden sahen mich so erwartungsvoll an, dass ich mich geschlagen gab.

»Okay, überredet. Aber ich ziehe mich nicht aus«, sagte ich mit erhobenen Zeigefinger in Matts Richtung. Dieser lachte nur. »Keine Sorge.«
 

Zunächst gestaltete sich das Spiel recht harmlos, was es ganz witzig machte. Sora hielt sich etwas bedeckt mit ihren Forderungen und auch Matt wählte nur Dinge wie: »Würdest du lieber drei Bier hintereinander weg trinken oder die Minderjährige da drüben nach ihrer Nummer fragen?«

Ich lachte laut auf und mein Blick flog in die Richtung, in die Matt schon die ganze Zeit sah. Das blonde, junge Mädchen, welches ausgelassen mit ihren Freundinnen tanzte und dabei ziemlich knapp bekleidet war, war definitiv noch keine 18. Vermutlich war sie mit einem gefälschten Ausweis hier rein gekommen.

»Da ich mich nicht strafbar machen möchte, wähle ich das Bier.«

Sora nickte zustimmend. »Klar!«

»Du Langweiler«, stöhnte Matt auf, dann musterte er die Kleine erneut von oben bis unten. Wenn er betrunken genug war, war er immer so drauf und vögelte für gewöhnlich alles, was nicht bei drei auf dem Baum war. »Ich wäre definitiv zu ihr rüber gegangen und hätte sie gefragt: wer ist dein Daddy?«

Während ich los prustete und mein Bier, das ich gerade trank, über den halben Tisch verteilte, verzog Sora nur angewidert das Gesicht und machte ein Würgegeräusch.

»Also echt, Matt, das hast du doch gar nicht nötig«, merkte sie mit einem wissenden Blick in seine Richtung an.

Dieser zuckte nur ergeben mit den Schultern. »Stimmt, hast recht. Ältere Frauen sind sowieso viel besser im Bett.« Noch ehe Sora erneut würgen konnte, drehte Matt sich ihr zu und sah sie schmunzelnd an.

»Du bist dran, Sora. Würdest du lieber …« Er sah sich im Raum um, bis sein Blick an mir hängen blieb. Und das Grinsen auf seinen Lippen gefiel mir gar nicht. Das kannte ich schon.

»Würdest du lieber den Barkeeper küssen oder Tai?«

»Bitte?«, platzte es aus mir heraus. Matt sah mich an, als würde er gleich in tosendes Gelächter ausbrechen, er fand sich wohl ganz besonders witzig.

»Oh, ähm …«, meinte Sora nur betreten und warf dem Barkeeper einen flüchtigen Blick zu, dann mir, dann sah sie zu Matt. »Ich denke, ich passe.« Ich konnte sehen, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Diese Herausforderung war ihr offensichtlich unangenehm.

»Wirklich?«, entgegnete Matt wenig überzeugt, aber Sora nickte.

»Ich muss erst mal zur Toilette.« Dann stand sie auf und ging in den hinteren Bereich der Bar, in dem sich die Toiletten befanden. Als sie außer Sichtweite war, schubste ich Matt unsanft von seinem Platz.

»Sag mal, hast du sie noch alle? Warum bist du so fies?«

»Warum regst du dich so auf? Das ist ein Spiel, Tai«, antworte Matt lachend und schien mich kein Stück ernst zu nehmen.

»Wieso ziehst du mich da mit rein?«, fragte ich ihn angesäuert. Ich wusste schon, warum ich keine Lust auf dieses Spiel hatte.

Matt räusperte sich und rutschte näher zu mir rüber, ohne dabei sein freches Grinsen zu verlieren. »Ich sag dir, warum du dich so darüber aufregst - weil du Schiss hast.«

»Was?« Ich sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Ich hab keinen Schiss.«

»Doch, hast du. Du denkst daran, dass sie es echt wagen könnte, dich zu küssen.«

»Wird sie nicht. Nicht in eine Million Jahre.« Davon war ich überzeugt!

»Oh, so sicher bist du dir also?«, meinte Matt, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und sah mich herausfordernd an. »Was hältst du dann von einer kleinen Wette, Yagami?«

»Was für eine Wette?«

»Ich wette … «, sagte Matt betont selbstsicher. » … dass sie dich küssen würde.«

Ich lachte laut auf. »Niemals! Eher würde sie den Barkeeper küssen. Sie steht sowieso auf ihn, hast du doch vorhin gehört. Wie kommst du darauf, dass sie mich wählen würde?«

Matt zuckte mit den Schultern. »Ist nur so ein Gefühl. Also, was sagst du? Machst du mit?«

»Sie hat gesagt, sie passt. Sie wird es so oder so nicht machen. Wieso sollte sie auch?«, versuchte ich es, aber das überzeugte Matt nicht.

»Ja, das hat sie gesagt. Aber ich denke, sie macht es trotzdem. Die Herausforderung war zu reizvoll, selbst für sie.«

Ich lachte immer noch und kniff mir in den Nasenrücken. Dieser Typ war einfach unbelehrbar. Aber diese Wette würde er so was von verlieren.

»Du bist echt unglaublich, man. Was ist der Wetteinsatz?«

Matt nahm einen Schluck von seinem Bier, ehe er mir antwortete. »Der Verlierer putzt die Wohnung. Und zwar ALLES. Er kriecht in jede noch so kleine, dreckige Ecke und macht jeden Krümel weg. Und ich lege sogar noch einen drauf. Wenn sie wirklich passen sollte, erkläre ich mich automatisch zum Verlierer.«

Zweifelnd zog ich die Augenbraue hoch. Das war sein Wetteinsatz? Lächerlich. Wobei die WG wirklich mal eine Grundreinigung nötig hätte.

Oh, man. Er hatte keine Chance!

»Deal?«, meinte Matt und hielt mir die Hand hin. Schmunzelnd schlug ich ein.

»Ich hoffe, du hast dir schon mal Putzhandschuhe gekauft.«

»Wir werden sehen«, sagte Matt nur und legte den Kopf schief, als Sora zurück kam. Fragend sah er sie an, als sie vor unserem Tisch stehen blieb.

»Bleibst du dabei?«, fragte ich ebenfalls. »Passt du?«

Sora biss sich auf die Unterlippe. »Also, ich …«

»Hey, schon okay«, sagte ich triumphierend und lehnte mich grinsend zurück. »War eh ‘ne blöde Herausforderung, ist also nicht schlimm, wenn du es nicht …«

»Ich mache es!«

»WIE BITTE?« Mir klappte der Mund auf, während Matt bereits neben mir gluckste. »Quatsch, Sora. Du musst das nicht machen!«, sagte ich und konnte nicht fassen, dass sie diesen Mist ernsthaft durchziehen wollte.

Aber Sora versteifte sich nur vor uns und ballte die Hände zu Fäusten. »Doch, ich will aber!«

Oha! Das klang ziemlich überzeugend. Ich schluckte und ein unbehagliches Gefühl machte sich in mir breit.

»Und?«, hakte Matt neugierig nach. »Wer soll der Auserwählte sein?«

Ich sah an Sora vorbei in Richtung des Barkeepers, während Sora meinem Blick folgte und kurz erwartete ich, dass sie sich in Bewegung setzen und zu ihm gehen würde. Doch dann wandte sie sich entschieden in meine Richtung. Oh, nein …

»Tai.«

Ach.

Du.

Scheiße.

»Äh …«, war alles, was ich herausbrachte, während Matt mir bereits ermutigend auf die Schulter klopfte.

»Na, dann mal ran an den Speck.«

Ich warf ihm einen bösen Blick zu, aber Sora kam ernsthaft um den Tisch herum auf mich zu. Ich wich ein Stück zurück, was sie jedoch nicht abzuhalten schien, denn sie rückte mir weiter entschieden auf die Pelle.

»Sora, ich …«, sagte ich, doch Sora lehnte sich nach vorne und flüsterte dicht an meinem Ohr: »Entspann dich, Tai. Es ist doch nur ein Kuss. Mehr nicht …«

Sie sah mich an und ihre Augen funkelten vor Hitze. Sie wirkte verändert. Hatte man sie eben auf der Toilette ausgetauscht? Seit wann ging sie so ran? Das war definitiv eine neue Seite an Sora, die ich bisher nicht kannte.

Vermutlich war das auch der Grund, warum ich mich mitreißen ließ. Oder es war der Alkohol. Oder eine Mischung aus beidem. Ich weiß es nicht. Aber ich küsste sie, als sie ihre Lippen auf meine legte und mit ihrer Zunge über sie leckte, damit ich sie für sie öffnete. Man, das fühlte sich so gar nicht freundschaftlich und unschuldig an.

Mein Kopf schwirrte von dem Kuss, der für mich so unerwartet kam. Neben mir hörte ich, wie Matt anerkennend pfiff, doch das ignorierte ich. Dieser Mistkerl war schließlich Schuld an diesem Kuss.

Einem Kuss, der sich überraschend gut anfühlte. Zumindest für den Moment. Doch der Zauber des Abenteuers verflog, als Sora sich nach einem langen Zungenspiel schwer atmend von mir löste.

»Wow«, brachte sie nur wispernd hervor, während ich noch versuchte, überhaupt wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

»Okay, Leute. Ich bin definitiv angeturnt«, sagte Matt, aber ich schenkte ihm nur ein genervtes Stöhnen.

Sora wich einen Schritt zurück und strich sich durch’s Haar. Ihre Wangen waren immer noch gerötet und ihr Mund leicht geöffnet. »Ich, äh … ich denke, ich sollte jetzt gehen.«

Verdattert sah ich ihr nach, als sie fluchtartig die Bar verließ. Im nächsten Moment sprang ich auf und hastete ihr nach.

»Hey, wo willst du hin?«, rief Matt mir hinterher. »Krieg dich ein, Tai. Das war doch nur ein Spiel.« Aber ich antwortet ihm nicht, sondern folgte Sora nach draußen. Nach einigen schnellen Schritten hatte ich sie eingeholt und packte sie am Handgelenk. Sie wirbelte zu mir herum, in ihrem Blick dieselbe Verwirrung wie in meinen Augen.

»Kannst du mir mal sagen, was das da eben war?«, stellte ich sie zur Rede, woraufhin sie deutlich genervt reagierte.

»Wieso? Warst du eben nicht dabei?«

»Du weißt genau, was ich meine, Sora.« Gestresst rieb ich mir über den Nacken. Konnte es sein …?

»Das hat sich nicht wie ein Kuss unter Freunden angefühlt.«

Nun wich sie meinem Blick aus. »Nein, hat es nicht.«

Oh man, wieso konnte sie nicht einfach mit der Sprache rausrücken? Ich hatte doch ganz genau gespürt, wie sie ihren Körper gegen mich gepresst hatte, wie sehr dieser Kuss sie erregt hatte. Das war nicht das, was ich erwartet hatte, als sie sagte, es wäre nur ein Kuss.

Nur ein Kuss fühlt sich definitiv nicht so an, so viel wusste ich.

»Komm mit«, sagte Sora und griff plötzlich nach meiner Hand, um mich in die dunkle Seitengasse hinter den Club zu führen. »Was denkst du denn, was das war?«, fuhr sie mich plötzlich an, als wir vom Lärm der Straße abgeschnitten waren. Warum war sie sauer? Sie wollte das doch.

»Bist du so blind, Tai?«

Völlig fassungslos stand ich da, wie ein Trottel, während mir die Verblüffung vermutlich ins Gesicht geschrieben stand und während der Groschen immer und immer weiter fiel. Doch erst, als sie einen großen Schritt machte, auf die Zehenspitzen ging, um die Distanz zwischen uns zu überbrücken, verstand ich, was wirklich Phase war. Erneut presste sie ihre Lippen auf meine, diesmal deutlich verlangender. Benommen taumelte ich zurück und löste mich von ihr, nur, um sie fragend anzusehen.

»Sora … bist du dir sicher?«

»Tai …«, sagte sie und kam erneut auf mich zu, um mir beide Hände auf die Brust zu legen und mit ihren warmen Augen zu mir aufzusehen, die so sehr vor Sehnsucht glänzten, dass sie mich fast verzehrten - denn sie erinnerten mich an meine eigene Sehnsucht. » … ich bin schon so lange in dich verliebt, dass ich die Tage gar nicht mehr zählen kann. Und du hast nie etwas gemerkt. Aber jetzt …« Sie schluckte hart und biss sich auf die Unterlippe, ehe sie erneut auf die Zehenspitzen ging und ihren Mund an mein Ohr legte. » … jetzt will ich es dir zeigen.«

Ein aufgeregtes Kribbeln durchfuhr mich. Sie war mir so nahe, dass ich fühlen konnte, wie sich ihre Brust schwer atmend gegen meine senkte . Ihre Hände zitterten, also ergriff ich sie und hielt sie fest, ohne den Blick dabei von ihr abzuwenden. Stattdessen stellte ich mich ihr und ihren Gefühlen, ihrem Verlangen. Auch ich hatte ein Verlangen - das Verlangen, zu vergessen. Und vielleicht war Sora genau die richtige Person dafür. Wir wollten beide etwas und wir hatten beide unsere Gründe dafür. Auch wenn meine nicht ganz so ehrenhaft waren wie ihre.

Ehe mein Kopf es sich anders überlegen konnte, packte ich sie an der Hüfte und drängte sie gegen die nächste Wand. Unsere Münder prallten aufeinander. Begierig krallte sie ihre Hände in mein Shirt und zog mich noch näher zu sich. Ihr Bein schlang sich um meine Hüfte. Meine Hand glitt von ihrer Taille hinab, bis zum Saum ihres Rockes, den ich ein Stück hochschob, gerade weit genug, um dort hin zu gelangen, wo ich hin wollte. Mit der anderen Hand kramte ich in meiner Hosentasche nach einem Kondom. Unser Atem ging kurz und schwer, weil wir uns keine Zeit ließen, um zwischen den Küssen Luft zu holen. Ich wollte das gerade wirklich. Aber ich wollte es schnell, weil ich jetzt bereits wusste, dass ich es bereuen würde, sobald es vorbei war. Aber immerhin war es eine Möglichkeit, Mimi zumindest für einen Moment aus meinem Kopf zu kriegen. Es wäre eine Chance auf etwas Neues, etwas, das am Ende nicht nur ein unerfüllter Wunsch bleiben würde. Etwas Realem. Ich durfte nicht weiter einem Hirngespinst hinterher jagen.

Letztendlich war es doch ganz einfach …

Ich musste mich irgendwie entlieben. Wie schwer konnte das schon sein?

Mimi

Als ich im Krankenhaus ankomme, laufe ich direkt meiner Mutter in die Arme. Die Fahrt hierher war der blanke Horror! Ich habe mir die ganze Zeit über die schlimmsten Dinge vorgestellt.

»Mimi, oh mein Gott. Wie gut, dass du da bist.« Sie schließt mich kurz in ihre Arme und begutachtet mich dann eingehend. »Wie siehst du denn aus? Kommst du gerade aus einem Stripclub?«

Wow. Ich dachte, sie meint meine verlaufene Schminke, weil ich im Taxi ununterbrochen geweint habe. Aber tatsächlich meint sie mein Outfit.

»Ich war feiern, Mom«, sage ich genervt und wische ihre Hände von mir. »Ist doch jetzt auch völlig egal. Wie geht es Dad? Wo ist er? Was hat er?«

Und wieso bist du hier? Aber das verkneife ich mir lieber.

Meine Mutter seufzt und nimmt mich an die Hand. Sie führt mich zu einer kleinen Sitzreihe im Wartebereich. Nachdem wir uns hingesetzt haben, sieht sie mich vielsagend an.

»Dein Vater hatte einen Nervenzusammenbruch und hat sich komplett zulaufen lassen. Alkoholvergiftung. Aber er kommt durch. Es ist also nichts Ernstes.«

Nichts Ernstes?

Nichts Ernstes?

»Wie kannst du behaupten, das wäre nichts? Ich bitte dich, Mom«, fauche ich sie an und bin gleichzeitig fassungslos, dass sie den Zustand meines Vaters - ihres Noch-Ehemannes - so herunterspielt. »Ich habe Dad heute Abend gesehen. Er war völlig am Ende. Deinetwegen. Es ist ein Wunder, dass ihm nichts Schlimmeres zugestoßen ist.«

Ich bin so wütend, dass ich kotzen könnte. Das zweite Mal an diesem Abend. Meine Mutter sieht mich nur verwirrt an.

»Meinetwegen?«

»Ja, deinetwegen«, sage ich genervt und fahre mir durchs Haar. »Du hast ihm doch nichts von deiner Schwangerschaft gesagt. Das konnte ich dann übernehmen. Stattdessen machst du ihm falsche Hoffnungen und lädst ihn zu diesem bescheuerten Abendessen in irgendein Restaurant ein. Mal im Ernst, Mom. Was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Du hast es ihm gesagt? Das mit meiner Schwangerschaft?«, entgegnet Mom und ich nicke irritiert.

»Ja, natürlich habe ich das. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Zusehen, wie du ihm ein zweites Mal das Herz brichst?«

Doch meine Mutter schüttelt nur enttäuscht den Kopf. Was ist denn jetzt los?

»Oh, Mimi … Liebes. Wie konntest du nur? Ich hätte es ihm schon schonend beigebracht, das kannst du mir glauben. Ich wollte ihn mit der Einladung nicht verletzen oder ihm neue Hoffnungen machen. Ich wollte das ausnahmsweise mal klären, wie Erwachsene das tun, ohne Streit, ohne Geschrei. Aber du musstest ja vorweg greifen.«

Moment. Entgeistert und mit offenem Mund sehe ich sie an. Was will sie mir denn damit sagen?

»Denkst du etwa, ich bin Schuld, dass er jetzt hier liegt?« Ungläubig lachend zeige ich mit dem Finger auf mich. Ich weiß gar nicht, wie ich darauf reagieren soll. »Bin ich hier jetzt die Schuldige, in diesem ganzen Szenario?«

»Oh, Mimi«, sagt sie und greift nach meiner Hand, um sie zu drücken. »Ich bin dir nicht böse. Ich weiß ja, wie du bist. Du handelst immer erst, bevor du nachdenkst. Wahrscheinlich hätte ihn die Neuigkeit so oder so getroffen.«

Ach, was? Das ist das, was ich schon die ganze Zeit versuche, zu sagen.

»Aber du hättest dich wirklich nicht einmischen dürfen. Ich hätte das schon mit ihm geklärt. Und du hättest ihn danach nicht allein lassen dürfen. Du hättest mich anrufen können. Du weißt, dein Vater ist gerade psychisch sehr labil.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Genau das habe ich mir auch schon den ganzen Abend über vorgeworfen. Aber es jetzt noch mal ausgerechnet von meiner Mutter zu hören, ist doppelt so schlimm und trägt nicht gerade dazu bei, dass ich mich besser fühle.

»Mom«, sage ich eindringlich und sehe ihr mit Nachdruck in die Augen. »Er hatte Rosen für dich besorgt. Verstehst du? Gott verdammte, beschissene Rosen! Das sind die Blumen der Liebe.« Anscheinend muss ich mit ihr reden, wie mit einem Kleinkind, damit sie mich und meine Beweggründe versteht. Ich habe ihm diese Neuigkeit ja nicht zum Spaß erzählt. Ich wollte ihn nur vor einer weiteren Enttäuschung bewahren.

Mom seufzt und verdreht die Augen darüber, als wäre das ein Witz. Sie nimmt das überhaupt nicht Ernst.

Sie kotzt mich gerade so an, mit ihrer gleichgültigen Art.

»Unsere Trennung war endgültig. Und dein Vater weiß das.« Wie, um diese These zu untermauern, legt sie eine Hand auf ihren noch flachen Bauch. Natürlich. Nun gab es kein Zurück mehr. Das war mir klar und heute war der Tag, an dem es auch Dad ein für alle mal bewusst wurde. Aber eben erst heute.

Ich weiß selbst wie es ist, die ganze Zeit über diesen kleinen Funken Hoffnung in sich zu tragen, der alle Zweifel in den Hintergrund stellt und einen nicht mehr rational denken lässt. Erst, wenn einem vor Augen geführt wird, wie aussichtslos diese Hoffnung ist, begreift man es. Erst, wenn das Herz wirklich am Boden liegt, weiß man, dass man keine Chance mehr hat.

»Weißt du was?«, sage ich, winke ab und stehe auf. »Lass uns in Zukunft einfach in Ruhe.«

»Mimi! Sag mal, wie redest du denn mit mir?«, weist sie mich sofort zurecht, als wäre ich völlig von Sinnen. Aber ich habe noch nie in meinem ganzen Leben so klar gesehen.

»Doch, ich meine es Ernst, Mom.«

Sie zischt verächtlich. »Du weißt ja gar nicht, was du da redest. Mal ehrlich, wie viel hast du getrunken? Denkst du, ich merke nicht, dass du nach Alkohol und Zigarettenrauch riechst?«

»Pfft, na und wenn schon«, sage ich und verschränke bockig wie ein kleines Kind die Arme vor der Brust.

»So habe ich dich nicht erzogen, Mimi Tachikawa«, entrüstet sich meine Mutter und steht von ihrem Stuhl auf. Nun sehen auch die anderen Leute im Wartebereich zu uns rüber, während wir uns gegenüberstehen und uns anfunkeln wie zwei uralte Erzfeinde.

»Nein, da hast du recht. Das mit dem Alkohol trinken habe ich von Dad«, erwidere ich giftig und verenge die Augen zu Schlitzen. »Aber vielleicht trinken wir ja auch nur, weil wir deine Nähe und dein Gerede nicht mehr ertragen können.«

Bäm! Das hat gesessen.

Meiner Mutter entgleiten sämtliche Gesichtszüge, was mir einen kurzen Moment des Triumphs verschafft. Bis sie blinzelt und die altbekannte Härte zurückkehrt.

»Okay. Wahrscheinlich habe ich das verdient«, sagt sie und versucht, die Fassung zu wahren. Das Letzte, was sie will, ist eine Szene in der Öffentlichkeit. Dafür kenne ich sie zu gut. »Aber glaub mir, du wirst es noch bereuen, mich so verurteilt zu haben.«

»Ja, na klar«, sage ich gelangweilt, gehe an ihr vorbei und lasse sie eiskalt stehen. Ich habe für heute genug von ihr.

»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Mimi«, ruft sie mir hinterher, aber diesmal ignoriere ich sie gekonnt.

Ach, halt doch einfach den Mund.

Ich gehe zur Anmeldung und frage, auf welchem Zimmer mein Vater liegt und ob ich zu ihm kann. Die Schwester führt mich hin und weist mich noch mal darauf hin, nicht all zu lang zu bleiben, da er noch Ruhe braucht. Als ich den Raum betrete, wird mir sofort mulmig zu mute. Ein weißes, steriles Zimmer … das piepende Geräusch der medizinischen Geräte, das als einziges den Raum erfüllt. Und mein Vater, wie er an einer Infusion hängend, auf dem Bett liegt.

»Dad«, sage ich zaghaft und er dreht den Kopf in meine Richtung.

»Mimi, Liebling«, sagt er und seine Augen werden bei meinem Anblick feucht. Ich eile zu ihm, setze mich auf die Bettkante und nehme seine Hand in meine.

»Oh, Dad. Es tut mir so, so Leid«, sage ich voller Bedauern, während er nur den Kopf schüttelt.

»Nein, Schatz. Du kannst am aller wenigsten etwas dafür.« Seine Stimme ist rau und angeschlagen. Wahrscheinlich haben sie ihm den Magen ausgepumpt. Mir schießen die Tränen in die Augen.

»Doch«, widerspreche ich ihm und senke den Blick, damit er nicht sieht, wie sehr ich mich dafür schäme, was passiert ist. »Es tut mir so Leid, dass ich mich in eure Angelegenheiten eingemischt habe. Hätte ich das nicht getan, würdest du jetzt nicht hier liegen.«

Schwach greift er nach meiner Hand und zieht sie an seine trockenen Lippen, um einen sanften Kuss darauf zu hauchen.

»Doch, Mimi. Ich wäre genau da, wo ich jetzt bin. Nur ein paar Stunden später. Du hast mir einiges erspart, weil ich durch dich nicht zu diesem Treffen gegangen bin. Und es tut mir Leid, was ich vorhin zu dir gesagt habe. Das war nicht so gemeint.«

Dad ist so stark! Ich fasse nicht, dass er sich gerade bei mir entschuldigt. Egal, wie kaputt er im Moment ist oder wie schlecht es ihm geht und was er alles getan hat, um sich selbst zu schaden. Er ist und bleibt mein größtes Vorbild.

»Soll ich wieder bei dir einziehen?«, schlage ich vor. »Ich könnte mich dann viel besser um dich kümmern. Es würde mir besser gehen, wenn du in Zukunft nicht mehr so viel alleine wärst.«

Dad schenkt mir ein sanftes Lächeln und schüttelt sofort den Kopf. »Es ist nicht deine Aufgabe, dich um mich zu kümmern.«

»Aber es macht mir nichts aus …«

»Mimi«, unterbricht er mich und legt eine Hand an meine Wange. »Du hast in den letzten Monaten so sehr unter unserer Trennung leiden müssen. Du hast das alles wortlos ertragen, als deine Mutter noch bei uns gewohnt hat. Und danach, als sie weg war, bist du länger als nötig noch bei mir geblieben und hast dich um alles gekümmert, weil ich es nicht konnte. Dass du ausgezogen bist, war die beste Entscheidung, die du seitdem für dich selbst getroffen hast. Du brauchst dein eigenes Leben, Kleines. Und ich brauche meines zurück.«

Angestrengt presse ich die Lippen aufeinander, um nicht gleich wieder losheulen zu müssen. Dass er mich nicht bittet, für ihn zurück zu kommen, beweist, wie sehr er mich liebt. Und ich liebe ihn. Ich wäre, ohne mit der Wimper zu zucken, sofort wieder bei ihm eingezogen. Hätte mich um den Haushalt gekümmert. Hätte ihm dabei geholfen, wieder auf die Beine zu kommen und sich einen neuen Job zu suchen. Aber Dad hat recht. Ich muss auf eigenen Füßen stehen, genauso wie er. Und nur, weil wir getrennt leben, heißt das nicht, dass wir nicht füreinander da sein können.

»Okay«, lächle ich zufrieden. »Dann lass mich dich wenigstens aus dem Krankenhaus abholen, wenn du entlassen wirst.«

»Das kann ich dir gerade noch so erlauben«, lacht Dad und greift sich danach sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Kehle.

»Hast du Schmerzen, Dad?«, frage ich gleich besorgt. »Soll ich einen Arzt holen?«

»Nein, nein, es geht schon. Es ist wahrlich keine Freude, wenn einem der Magen ausgepumpt wird und man vorher seine Speiseröhre mit hochprozentigen Alkohol lädiert hat.«

Ich lege eine mitfühlende Miene auf und stehe auf. »Dann lasse ich dich jetzt mal in Ruhe. Du bist sicher müde.«

Dankbar sieht mein Dad zu mir auf. »Es war schön, dich zu sehen. Ich bin froh, dass wir das geklärt haben.«

»Ich auch«, lächle ich und gehe rückwärts zur Tür. »Ruf mich an, sobald du nach Hause darfst. Ich besorge dir einen extra Premium Fahrservice nach Hause.«

Ich zwinkere ihm zu und er versucht, nicht mehr zu lachen. Dann verlasse ich das Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Ich bin so froh, dass ihm nichts passiert ist. Ich weiß wirklich nicht, was ich sonst ohne ihn gemacht hätte.

Mimi

Ein paar Tage sind seit Dads Zusammenbruch nun schon vergangen und er befindet sich auf dem Weg der Besserung. Morgen kann er entlassen werden und ich möchte ihn abholen. Gestern war ich bereits in seinem Haus und habe alles aufgeräumt und für seine Heimkehr hergerichtet. Ich habe ihm sogar ein paar Stellenanzeigen aus der Zeitung ausgeschnitten und auf den Tisch gelegt. Vielleicht sieht er sich sie ja mal an. Voller Vorfreude sehe ich auf die große Wanduhr im Hard Rock Café und freue mich jetzt schon auf den Feierabend. Die Schicht war echt anstrengend, weil es Freitag ist und der Laden dann immer prall gefüllt ist. Aber das macht mir eigentlich nichts aus. Zu arbeiten ist eine sehr gute Ablenkung von alle dem, woran ich gerade nicht denken will.

Und ein Teil davon, an den ich nicht denken wollte, spaziert gerade durch die Tür.

Schnell senke ich den Blick, als könnte er mich so nicht sehen, was natürlich Quatsch ist.

Scheiße!

Was will Tai denn hier?

Und noch schlimmer: er hat Sora im Schlepptau.

Natürlich. Was auch sonst? Gibt es die beiden jetzt nur noch im Doppelpack oder was?

Ich schubse einen Kollegen in ihre Richtung, der sich genervt zu mir umdreht. »Hey, was soll denn das?«

»Kannst du bitte die Beiden übernehmen, die gerade reingekommen sind? Bitte! Ich schenke dir auch einen Urlaubstag von mir.«

Mein Kollege grinst mich an und dreht sich dann gekonnt weg, so dass ich wieder voll ins Blickfeld der Beiden gerate.

»Vergiss es, Mimi. Ich habe nicht vergessen, dass du mir neulich brühheißen Kaffee über meine Schulter geschüttet hast.«

»Das war ein Versehen! Gott, bist du nachtragend«, verteidige ich mich, doch er winkt nur ab und widmet sich dem nächsten Kunden.

»Oh, hey Mimi«, höre ich nun Tais Stimme hinter mir. So ein Mist.

Innerlich stöhne ich auf. Dann drehe ich mich um und strahle die Beiden übertrieben freundlich an.

»Willkommen im Hard Rock Café. Was kann ich euch bringen?«

Sora kichert. »Sie ist so förmlich bei der Arbeit.«

Ja, verdammt. Das bin ich. Weil das nun mal mein gottverdammter Job ist, mit dem ich zur Zeit meinen Lebensunterhalt verdiene, denn meine Mami legt mir nicht jeden Monat eine neue Kreditkarte unters Kopfkissen.

Ich lächle freundlich und übergehe ihren Kommentar.

»Also, was darf's sein?«, frage ich noch mal. Sora schaut sich die Karte an und überlegt.

»Für mich einfach einen Kaffee«, sagt Tai kurz entschlossen und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. Täusche ich mich, oder sucht er meinen Blick? Egal. Ich habe keine Lust, ihn anzusehen oder mit ihm zu reden. Seit unserem Gespräch neulich in der Bar haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Er weiß noch nicht mal, was alles seitdem passiert ist, nichts von meinem Vater oder davon, was ich in den letzten Tagen durchmachen musste.

»Hmm. Für mich bitte einen Latte Macchiato, zum Mitnehmen bitte.

Ich tippe ihre Bestellungen ein und kassiere sie ab. Dann mache ich mich daran, die Getränke zuzubereiten.

»Was hast du die letzten Tage so getrieben?«, fragt Tai, während ich beiden den Rücken zugekehrt habe. »Wir haben uns gar nicht mehr gesehen, seit dem Konzert.«

Richtig. Und das aus gutem Grund.

»Ich musste viel arbeiten«, sage ich nur knapp und stelle ihnen die heißen Becher hin, nachdem ich fertig bin. »Ich wünsche euch noch einen schönen Tag.«

Tai sieht enttäuscht über meine offensichtliche Ablehnung aus, während Sora einfach nach ihrem Getränk greift.

»Das wünschen wir dir auch. Na komm, Tai. Man sieht sich, Mimi.«

»Halt, warte mal.«

Ich hebe den Blick. Tai legt Sora eine Hand auf die Schulter. »Könntest du kurz draußen warten? Ich muss noch was Wichtiges mit Mimi besprechen.«

Sora sieht genauso irritiert aus, wie ich mich gerade fühle, während sie uns beide abwechselnd ansieht.

»Ähm, also … ich muss eigentlich arbeiten«, werfe ich dazwischen und zeige auf die ganzen Kunden, die bereits hinter ihnen Schlange stehen und darauf warten, dass sie dran kommen. »Wir können ja später telefonieren oder so«, schlage ich vor, doch Tai's Kopf schnellt in meine Richtung.

»Nein, können wir nicht«, faucht er mich wütend an und ich zucke zusammen. Genauso wie Sora. Ihr scheint die Stimmung, die gerade zwischen uns herrscht, deutlich unangenehm zu sein, deshalb sucht sie schnell das Weite.

»Äh, ich warte dann draußen.« Sie wirft mir noch einen fragenden Blick zu, dann geht sie. Ich wende mich an Tai und stütze mich gestresst auf den Tresen.

»Tai, ernsthaft. Hinter dir stehen massenhaft Kunden. Du kannst mich später anrufen, okay?«

»Wozu?«, meint Tai und lehnt sich mir herausfordernd entgegen. »Damit du wieder nicht ran gehst? Weißt du eigentlich, wie oft ich in letzter Zeit versucht habe, dich zu erreichen?«

Ja. Genau 33 Mal.

Doch ich zucke mit den Schultern, als wäre ich ahnungslos.

»Es … es ist viel passiert, Tai.«

»Und was?«, fragt er ungeduldig. »Was ist so wichtig, dass du nicht mal zurück rufen kannst? Oder auf eine Nachricht antworten kannst? Mal ehrlich, Mimi. Ich habe dich neulich gefragt, ob alles in Ordnung zwischen uns ist. Du sagtest, das wäre es. Aber das war eine Lüge, richtig?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Scheiße, was will er denn von mir hören? Ich kann es nun mal momentan sehr schlecht ertragen in seiner Nähe zu sein. Auch, wenn es genau das ist, was ich mehr als alles andere vermisse.

Weil ich nichts antworte und stattdessen nur beschämt zur Seite sehe, seufzt Tai schwerfällig.

»Hör zu«, sagt er nun deutlich ruhiger. »Ich will mich nicht mit dir streiten. Können wir nicht einfach … miteinander reden?«

Ein trauriges Lächeln umspielt meine Lippen und ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. »Und wie?«

Wenn Sora doch immer bei dir ist …?

»Ich habe heute Abend frei. Du könntest zu mir kommen. Dann können wir reden.«

»Frei von was?«, grinse ich bitter. »Von deiner Freundin?«

Tai lacht kurz auf, weil er mich ganz genau verstanden hat.

»Was ist? Kommst du?«

Ich tippe nervös mit meinen Fingern auf den Tresen, während die Leute hinter Tai immer unruhiger werden, weil er den ganzen Verkehr aufhält.

»Hey, was dauert denn da so lange?«, höre ich einen Kunden von ziemlich weit hinten brüllen.

»Ich gehe erst, wenn du ja gesagt hast«, sagt Tai und verschränkt grinsend die Arme vor der Brust, während er sich natürlich keinen Millimeter vom Fleck bewegt

»Das ist zwar Erpressung, aber schön. Ich komme heute Abend vorbei«, flüstere ich und schiebe ihm seinen Kaffeebecher über den Tresen. »Und jetzt hau ab. Sonst werde ich deinetwegen noch gefeuert.«

Tai lächelt zufrieden, greift nach seinem Kaffee und räumt endlich den Platz.

Mein Gott. Er ist so ein Dickkopf. Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich muss schmunzeln. Diese Frage kann ich mir selbst beantworten. Meine Finger wandern unwillkürlich zu der Kette, die ich wie jeden Tag um den Hals trage. Weil ich ihm etwas bedeute. Deshalb lässt er nicht locker. Und dafür liebe ich ihn.

Mimi

Ich bin ziemlich nervös, als ich an diesem Abend Tais Wohnblock erreiche. Während ich die Treppen hoch steige, frage ich mich immer wieder, ob das wirklich eine gute Idee ist.

Was soll schon schief gehen? Es ist doch schließlich ein Abend, wie jeder andere auch. Wir saßen schon hunderte Male zusammen, haben einen Film geguckt und Popcorn gegessen. Oder wir haben mit Matt’s PlayStation gespielt. Oder stundenlang über Gott und die Welt geredet. Nur war bis jetzt keiner von uns beiden in einer Beziehung mit dem besten Freund des anderen. Ob ich mich wohl jemals daran gewöhnen werde, dass ich Tai ab jetzt mit Sora teilen muss? Ich hoffe es. Denn ich möchte so gerne mit ihm befreundet bleiben. Ich liebe ihn. Auch als Freund.

Immer wieder versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, dass Tai niemals so reagiert hätte, wie ich es getan habe. Ich war eifersüchtig, von der ersten Sekunde an. Ich konnte es plötzlich nicht mehr in seiner Nähe ertragen, weil ich ihn nur noch mit Sora gesehen habe. Meine Eifersucht hat mich blind werden lassen, für das, was zwischen uns ist. Nämlich ein tiefes Vertrauen. Loyalität. Tai und ich sind immer füreinander da. Doch all diese wunderbaren Eigenschaften unserer Beziehung habe ich nicht mehr gesehen. Stattdessen habe ich mich nur darauf fokussiert, dass er jetzt in den festen Händen einer Anderen ist und habe ihn gemieden. So etwas hätte Tai niemals getan. Irgendwie schäme ich mich für mein Verhalten. Denn wäre die Situation umgekehrt gewesen, hätte Tai sich für mich gefreut, da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich wäre es ihm leichter gefallen, weil er nicht in mich verliebt ist, aber trotzdem. Es wird wirklich Zeit, dass ich das hinter mir lasse, wie Matt gesagt hat. Dafür muss ich nur endlich mein dummes Herz abschalten. Sollte doch zu machen sein, oder?

Vor Tais Wohnungstür angekommen, atme ich noch ein mal tief durch. Ich hebe die Hand und möchte klingeln, doch noch bevor ich das machen kann, wird die Tür mit einem Ruck aufgerissen. Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück.

Matt steht in der Tür und sieht mich mit großen Augen an. In der einen Hand hat er seinen Motorradhelm, in der anderen einen schwarzen Gitarrenkoffer.

»Hey, was machst du denn hier?«, fragt er mich irritiert und ich grinse unsicher. Oh man. Das ist das erste Mal, dass wir uns seit neulich Abend wieder gegenüber stehen. Ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht, weil ich viel zu sehr mit Dad und Tai beschäftigt war. Aber jetzt fällt es mir schlagartig wieder ein.

Verdammt.

Hoffentlich weiß Matt nichts mehr davon. Er war schließlich ziemlich betrunken.

»Ich, äh …«, stottere ich unbeholfen rum, was mir total peinlich ist.

Er grinst schief.

»Tai ist nicht da, falls du den suchst. Oder wolltest du zu mir?«

Scheiße. Er hat es also nicht vergessen.

Schnell schüttle ich den Kopf. »Nein, ich bin mit Tai verabredet. Er hat gesagt, er wäre zu Hause.«

Dass er nicht da ist, versetzt mir einen kleinen Stich ins Herz.

»Er ist noch unterwegs, aber du kannst gerne hier auf ihn warten«, sagt Matt, geht einen Schritt zur Seite und hält mir die Tür auf.

»Ja, das mache ich, danke.«

Da Matt allerdings immer noch mitten in der Tür steht und voll bepackt ist, muss ich mich ziemlich eng an ihm vorbei quetschen. Kurz berühren sich dabei unsere Beine, woraufhin mir ein Schauer über den Rücken läuft. Als ich zu ihm aufsehe, zucken seine Mundwinkel. Wie schön, dass er seinen Spaß daran hat.

»Okay, ich gehe dann mal«, sagt er und geht zum Glück nicht weiter darauf ein. »Du weißt ja, wo alles steht. Wenn du Hunger oder Durst hast, bedien dich einfach. Tai war gerade erst einkaufen.« Er grinst frech und will schon die Tür hinter sich zumachen, steckt jedoch noch mal den Kopf in den Flur. »Und Finger weg von meiner Plattensammlung. Ich mein’s Ernst, sonst gibt’s Ärger.«

Ich zische verächtlich und verschränke die Arme vor der Brust. »Du bist echt doof. Was will ich denn mit deiner komischen Plattensammlung?«

Andächtig zieht er eine Augenbraue in die Höhe. »Ich wollte es nur sicherheitshalber noch mal erwähnt haben. Ciao.« Dann macht er die Tür hinter sich zu.

»Ja, du mich auch«, werfe ich noch hinterher, aber das hört er nicht mehr. Ich gehe geradewegs ins Wohnzimmer und überlege, ob ich einfach in Tais Zimmer auf ihn warten soll. Aber dann kommt mir der Gedanke, dass da inzwischen vielleicht Sachen von Sora rum liegen könnten. Ein BH oder ein Slip von ihr. Und das möchte ich lieber nicht sehen. Also gehe ich geradewegs zu dem einzigen Schrank, der im Wohnzimmer steht und mache ihn auf. Ich nehme mir ein paar von Matt’s Platten heraus und sehe sie mir an.

»So, was haben wir denn da so Schönes?«

Viele der Bands habe ich noch nie gehört, deshalb wähle ich The Cure aus. Ich lege die Platte behutsam in den Plattenspieler, der auf der Kommode steht und starte das Album. Dann werfe ich mich auf den Teppichboden und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Meine Füße wippen im Takt der Musik und ich starre an die Decke.

Wo Tai wohl steckt?

Na ja, er kommt sicher gleich. Er würde mich ja nicht zu sich einladen, wenn er gar nicht zu Hause wäre.

Die Platte lasse ich einfach laufen, während ich warte. Sie ist wirklich gut. Matt hat einen guten Geschmack. Als sie zu Ende ist, stehe ich auf und lege gleich die Nächste auf, diesmal von einer anderen Band - The Kooks. Hmm, noch nie gehört. Aber was soll's. Während ich sie laufen lasse, beschließe ich, einfach schon mal was zum Abendessen vorzubereiten. Wenn Tai nach Hause kommt, wird er sicher Hunger haben. Und mein Magen meldet sich auch so langsam zu Wort, da ich es nicht mehr geschafft habe, nach meiner Schicht im Café noch etwas zu essen.

Matt hat nicht untertrieben. Tai war wirklich gerade erst einkaufen, denn der Kühlschrank ist prall gefüllt. Ich entscheide mich für ein klassisches Currygericht mit Reis und während alles schön vor sich hin köchelt, mache ich mich wieder über Matt’s Platten her. Seine Musik gefällt mir so gut, dass ich schon ganz gespannt bin, was ich jetzt zu hören bekomme. Ich ertappe mich sogar dabei, wie ich einige Lieder mit summe oder in der Küche umher tänzle.

Nachdem das Essen gar ist und ich alles abgewaschen habe, was ich benutzt habe, gehe ich zurück ins Wohnzimmer und sehe auf die Uhr.

Verdammt. Es ist schon nach 21 Uhr. Ob Tai etwas zugestoßen ist? So langsam mache ich mir echt Sorgen. Ich checke mein Handy und erwarte eine Nachricht von ihm, dass er aufgehalten wurde und sich nur verspätet. Aber da ist nichts. Ich wähle seine Nummer und versuche ihn zu erreichen. Aber nach wenigen Sekunden werde ich weggedrückt.

Was zur Hölle …?

Ich drücke auf die Wahlwiederholungstaste und lasse es erneut klingeln. Dann wieder - weg.

Fassungslos sehe ich aufs Display meines Handys. Hat er mich gerade allen Ernstes gleich zwei Mal weggedrückt? Das ist doch wohl die Höhe! Spinnt er? Das hat er noch nie gemacht. Und das lässt für mich nur einen logischen Schluss zu. Er ist bei Sora.

Wieder ist er bei ihr und nicht bei mir. Diese verdammte Verabredung war seine Idee, nicht meine. Und jetzt versetzt er mich einfach? Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Was ist nur los mit ihm? Ist das die Rache dafür, dass ich ihn mehrere Wochen lang gemieden habe? Was hat das alles zu bedeuten? Er hat sich doch so ins Zeug gelegt und nicht locker gelassen, bis ich mich auf dieses Treffen eingelassen habe. Und jetzt? Jetzt taucht er nicht auf und lässt mich eiskalt in seiner Wohnung stundenlang auf ihn warten? Das ist echt das allerletzte, Taichi Yagami!

Wutentbrannt schnappe ich meine Jacke und renne hinaus ins Treppenhaus. Ich knalle die Tür hinter mir zu und stürme davon. Doch bevor ich nach unten gehe, mache ich kurz Halt und überlege. Meine Finger krallen sich in das Geländer. Nein, ich kann so nicht gehen. Ich muss mir erst Luft machen.

Also schlage ich eine andere Richtung ein und gehe anstatt nach unten, nach oben. Ich stoße die Tür zum Dach auf und renne hinaus in die kühle Nachtluft.

Dann schreie ich.

So laut ich kann.

Und aus voller Kehle.

Ich schreie und schreie und schreie. All meine Wut bekommt endlich ein Ventil und wird wortlos von der Nacht verschluckt. Was für ein Gefühl!

Als meine Lunge zu brennen beginnt, verstumme ich schließlich und sacke auf meine Knie. Mein Atem geht schnell und innerlich bin ich immer noch komplett aufgewühlt. Die Enttäuschung sitzt tief und schmerzt. Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen und diesmal halte ich sie nicht zurück. Ich habe keine Lust mehr, die Starke spielen zu müssen. Es reicht mir endgültig, also lasse ich ihnen freien Lauf. Wie Regentropfen fallen sie zu Boden und am liebsten würde ich mein verdammtes Herz gleich hinterherschmeißen. Warum musste ich mich nur ausgerechnet in Tai verlieben? Es hätte jeder andere sein können. Nur nicht er.

Ich weine einfach immer weiter und meine Schultern beben, bis ich keine Kraft mehr habe. Irgendwann versiegen meine Tränen und ich ziehe meine Beine dicht an meine Brust, um sie wie ein kleines Kind zu umklammern. Damit ich überhaupt noch etwas habe, woran ich mich festhalten kann. Warum fühle ich mich eigentlich so verdammt einsam? Ich hasse dieses Gefühl. Ich hasse Tai. Ich hasse meine Mutter. Und irgendwie hasse ich auch mich selbst, weil ich sie alle hasse und es doch eigentlich gar nicht will. Ich will mich ja für Tai freuen. Und auch für meine Mom. Aber es ist so verdammt schwer. Denn irgendwie habe ich das Gefühl, nicht mehr länger Teil ihres Lebens zu sein. Als hätten sie sich gegen mich entschieden. Und das tut verdammt weh.

»Hallo?«, höre ich plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu sehen, dass es Matt ist, der eben aufs Dach gekommen ist.

Schnell wische ich mir die noch übrig gebliebenen Tränen von der Wange.

»Was willst du denn hier?«

»Na ja«, sagt Matt und ich höre seine Schritte hinter mir. Er kommt näher. »Ich bin eben nach Hause gekommen und die Nachbarn haben sich bei mir über den Lärm beschwert. Irgend so eine Verrückte ist wohl Hals über Kopf aus meiner Wohnung gestürmt und aufs Dach gerannt, um wie wild herum zu schreien.«

Er setzt sich neben mich und ich lache theatralisch auf. »Das gibt das Ereignis ziemlich genau wieder«, sage ich und vermeide es dabei, ihn anzusehen. Was ihn nicht daran hindert, mich von der Seite her zu mustern.

»Du hast echt ne Schraube locker, weißt du das?«

Jetzt schnellt mein Kopf doch in seine Richtung und ich sehe ihn entsetzt an. »Wie bitte?«

»Jaah«, sagt Matt gedehnt und legt die Unterarme auf seine Knie ab. »Du kommst hier her und brüllst die ganze Nachbarschaft zusammen, weil du sauer auf Tai bist? Ernsthaft, Mimi. So was verrücktes wie dich, habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«

Zunächst klappt mir der Mund auf, doch dann pruste ich los. »So, wie du es sagst, klingt es wirklich ziemlich schräg«, gebe ich zu und halte mir den Bauch vor Lachen. Er hat ja recht. Mal ehrlich, was habe ich mir dabei gedacht?

»Das ist nicht nur schräg, das ist total krank«, grinst Matt nun breit. »Du solltest wirklich mal über eine Therapie nachdenken. Ich denke, eine Schrei-Therapie könnte genau das Richtige für dich sein - wenn es so was überhaupt gibt.«

Ich muss noch mehr lachen. So sehr, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Doch diesmal sind es keine Tränen der Trauer.

»Du bist echt ziemlich unhöflich, weißt du das?«, entgegne ich, während ich mich langsam wieder beruhige.

Matt zuckt belanglos mit den Schultern. »Das macht nichts. Damit kann ich leben.« Er steht auf und geht weg.

»Hey«, sage ich empört und drehe mich zu ihm um. »Das war's schon? Du beleidigst mich, anstatt mich aufzubauen und haust dann ab?«

Er vergräbt die Hände in den Hosentaschen und lächelt verschmitzt. »Dich aufzubauen ist Tai's Job, nicht meiner. Außerdem hat irgendwer unten dieses super leckere Curry gekocht und ich habe echt Hunger.«

Er legt eine Hand auf seinen Bauch und zeigt dann auf mich. »Was ist? Kommst du mit?«

Ich schüttle den Kopf und lächle. So ein Idiot.

»Ja, natürlich«, sage ich, stehe auf und klopfe mir die Hose ab. »Hab ich ja schließlich nicht für dich gekocht.«

»Sondern?«

»Für Tai.«

»Dann wird es mir doppelt so gut schmecken«, lacht er, als wir die Treppen runter gehen. »Und ich werde alles aufessen. Bis auf den letzten Tropfen.«

»Du bist echt gehässig«, lache ich. Matt lacht auch, schließt die Wohnung auf und wir gehen rein.

»Auch damit kann ich leben.«

Weil das Essen schon etwas abgekühlt ist, mache ich es schnell noch mal warm und wir essen im Wohnzimmer. Wir sitzen beide auf dem Fußboden und Matt schaufelt sich mehr von dem Curry rein, als gut für ihn sein kann.

Wow. Und ich dachte, Tai wäre gefräßig. Kein Wunde, dass ihr Kühlschrank sonst immer leer ist.

»Wenn du noch mehr isst, wirst du platzen«, sage ich, während ich skeptisch beobachte, wie er sich noch eine Portion auf den Teller lädt.

»Ich hatte Bandprobe. Das war echt anstrengend und macht hungrig«, meint er mit vollem Mund und zeigt dann auf den Schrank hinter sich. »Wo wir gerade beim Thema sind. Was sollte das? Ich habe dir doch extra gesagt, du sollst die Finger davon lassen.«

Ohje. Ich lege den Kopf schief und schiele an ihm vorbei. Matt’s Platten liegen immer noch kreuz und quer auf dem Fußboden, so wie ich sie zurückgelassen habe.

»Tut mir leid«, sage ich und lege ein mitleidiges Gesicht auf. »Ich war nur neugierig.«

»Hast du wenigstens was Gutes gefunden, wenn du schon alles respektlos durchwühlst?«

Ich öffne den Mund und möchte mich eigentlich beschweren, weil ich nicht wühle. Und noch nie gewühlt habe. Aber dann entscheide ich mich doch anders.

»Ja, es waren einige gute Sachen dabei. Du hast einen guten Musikgeschmack.«

Kauend sieht Matt auf und grinst. »War das etwa ein Kompliment?«

Ich verziehe das Gesicht. »Niemals, nein.« Er grinst und isst weiter.

»Warum bist du vorhin auf dem Dach eigentlich so ausgerastet?«, fragt Matt plötzlich und ich sehe ihn irritiert an. Liegt das nicht auf der Hand?

»Weil ich sauer auf Tai war, das weißt du doch.«

»Wirklich? Nur deswegen? Ich meine, ich kenne dich jetzt schon ziemlich lange und weiß, dass Tai dich manchmal auf die Palme bringen kann. Ganz ehrlich, das geht uns allen so.«

Ich muss kurz lachen, bis ich wieder ernst werde. »Die letzten Tage waren ziemlich hart«, erzähle ich schließlich. »Oder besser gesagt: die letzten Monate.«

Tatsächlich ist es kein Geheimnis, was in letzter Zeit familiär bei mir abging. Das war alles kein Zuckerschlecken und ist es noch nicht. Nur kann ich inzwischen besser damit umgehen - habe ich gedacht.

»Wahrscheinlich lag es nicht nur an Tai, dass ich so die Fassung verloren habe«, sage ich schulterzuckend und stochere nebenbei in den Resten auf meinem Teller herum. »Mein Dad liegt im Krankenhaus. Morgen wird er zum Glück wieder entlassen, aber … als ich erfahren habe, dass er wegen meiner Mom und des Alkohols dort liegt, ist für mich eine Welt zusammen gebrochen. Manchmal habe ich das Gefühl, egal, wie sehr du versuchst für einen anderen Menschen da zu sein … Manchmal hast du einfach nicht die Macht zu verhindern, dass er sich zerstört. Verstehst du, was ich meine?«

Ich hebe den Blick und schaue in Matt’s Gesicht, der inzwischen fertig mit Essen ist und mir aufmerksam zuhört. Er nickt.

»Natürlich. Ich denke, jeder von uns hat sich schon mal derart hilflos gefühlt.«

»Ja«, stimme ich ihm traurig zu. »Ich habe mit noch niemanden darüber gesprochen, wie es meinem Dad geht. Ich denke, weil ich Angst habe, dann Dinge zu hören, die ich nicht hören will. Und die ich längst schon weiß.«

Inzwischen ist ein offenes Geheimnis, dass mein Vater ein Alkoholproblem hat. Dass er seinen Job verloren hat und nicht mehr weiß, wie er seine laufenden Rechnungen bezahlen soll. Die Sache mit meiner Mutter und ihrer Schwangerschaft hat ihm den Rest gegeben. Manchmal habe ich Angst, dass der nächste Tropfen das Fass zum überlaufen bringt. Dass nur noch eine einzige Sache passieren muss, bis es zu spät ist. Und ich dachte, dieser Moment sei vor wenigen Tagen gekommen, als das Krankenhaus anrief.

»Von mir wirst du das nicht hören«, meint Matt und ich sehe ihn dankend an. Es tut wirklich gut, dass er einfach nur zuhören kann, ohne kluge Ratschläge zu erteilen. Trotzdem sieht er mich mitfühlend an. Als würde er genau verstehen, was ich gerade durchmache.

»Es wird besser, Mimi. Versprochen. Jeder Sturm ist irgendwann vorüber.«

Ich lächle. »Ich weiß.«

Das tue ich wirklich. Es ist nur manchmal schwer, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen, wenn der Tunnel einem so endlos lang erscheint.

Matt sieht mich mitleidig an und ich starre auf meinen Teller. Warum ist es mir so unangenehm, Gefühle vor ihm zu zeigen?

Weil gerade eine beklemmende Stimmung zwischen uns herrscht, räuspere ich mich schließlich. »Ich denke, ich gehe jetzt.«

Matt nickt, steht auf und begleitet mich zur Tür. Ich ziehe meine Schuhe an und werfe mir meine Jacke über.

»Nun«, sage ich schwergewichtig, als ich mich zu ihm umdrehe. »Richte Tai bitte aus, dass er mich mal kann. Kreuzweise.«

Matt lacht. »Sehr gerne.«

»Gut, bis dann.« Ich hebe die Hand zum Abschied, doch Matt öffnet erneut den Mund, um noch etwas zu sagen.

»Tut mir übrigens echt Leid, dass ich dir neulich Abend so auf die Pelle gerückt bin.«

»Oh, ähm …«, stammle ich voller Unbehagen, weil ich jetzt absolut nicht damit gerechnet habe, dass er mich auf diesen Abend anspricht. Ehrlichgesagt habe ich gehofft, dass sich unser Gespräch in der Bar durch den Alkohol in Schall und Rauch aufgelöst hat. Aber irgendwie bin ich mir jetzt doch unsicher, an was er sich alles noch erinnern kann. Deswegen pokere ich hoch …

»Ach, kein Thema. Du weißt doch eh nicht mehr, was du in der Nacht alles gesagt hast.« Triumphierend hebe ich das Kinn an, doch er grinst nur.

»Jedes einzelne Wort.« Sein Blick fixiert mich. Verdammt. Er meint es ernst.

Ich schlucke und versuche irgendwie zu verbergen, wie nervös mich dieses Gespräch macht. Und seine Nähe. Plötzlich ist es wie neulich Abend zwischen uns.

Es knistert.

Und das spüre nicht nur ich. Das macht mich wahnsinnig. Weil es nicht sein darf und nicht sein soll und …

»Ich muss jetzt gehen«, sage ich ausweichend, woraufhin er noch mehr grinst. Oh, man. Er hat mich genau durchschaut. Mal wieder.

»Alles klar.«

Ich schließe die Tür hinter mir und atme aus. Mein Gesicht glüht. Das muss aufhören, definitiv. Was auch immer das da ist, was Matt ins rollen gebracht hat. Es kann absolut nicht gesund sein. Schon gar nicht, weil ich in seinen besten Freund verliebt bin und ihm gegenüber auf keinen Fall solche Gedanken haben sollte. Schnell verdränge ich das - was wäre wenn? - wieder und denke daran, wie schön es war, mit Matt einfach nur zusammen zu sein. In seiner Gegenwart konnte ich meine Sorgen für einen kurzen Moment vergessen. Und das hat sich einfach gut angefühlt. Auf dem Heimweg springen meine Gedanken jedoch wieder zu Tai und ich werde traurig. Die Zeit, die ich heute mit Matt verbracht habe, wollte ich eigentlich mit ihm verbringen. Ich wollte ihm von meinen Sorgen erzählen, mich an ihn kuscheln, mich von ihm trösten lassen. Doch wahrscheinlich muss ich einfach einsehen, dass es nie wieder so zwischen uns sein wird. Vielleicht sollte ich mir einfach einen neuen, besten Freund suchen. Eigentlich bleiben ja da nur noch Kari und T.K., aber die beiden sind noch so jung und haben ganz andere Probleme. Teenie-Probleme. Sora kann ich, als jetzige Freundin von Tai, wohl auch vergessen. Joe ist zu beschäftigt und hat nur Arbeit im Kopf, genauso wie Izzy.

Toll. Und schon lande ich wieder bei Matt …

Er kann wirklich nett sein, wenn man hinter seine grummelige Schale guckt. Und er hört mir zu. Er versteht, was in mir vorgeht. Und trotzdem will mein Herz nur einen.

Oh, Tai. Warum bist du nur so ein Blödmann?

Tai

Als ich drei Stunden später nach Hause komme, ist mir fast klar, dass Mimi schon weg ist. Die zwei leeren Teller auf dem Tisch verraten mir, dass sie sogar ziemlich lang auf mich gewartet haben muss.

»Ihr habt zusammen gegessen?«, frage ich Matt zur Begrüßung, der auf dem Rücken auf dem Sofa liegt. Die Beine überkreuzt, zappt er sich durch das abendliche Fernsehprogramm.

»Jop, Mimi hat gekocht«, antwortet er, ohne mich anzusehen. »Eigentlich für dich, aber … du warst ja nicht da.«

Ich fahre mir durch die Haare und seufze. »Ich weiß. Tut mir leid. Ich hatte … was wichtiges zu erledigen.«

»Bei mir musst du dich nicht entschuldigen«, sagt Matt träge und gähnt. Ich beiße mir auf die Unterlippe und traue mich beinahe nicht, zu fragen.

»War sie sehr sauer?«

Matt entfährt ein Lachen. »Was denkst du denn?«

Ja, was denke ich denn? Ich kenne Mimi schließlich. Natürlich war sie sauer. Und nachdem ich sie zwei Mal wegdrücken musste, als sie angerufen hat, war sie wahrscheinlich fuchsteufelswild. Scheiße, ich wollte sie doch nicht absichtlich versetzen. Das muss ich unbedingt klarstellen.

»Okay, na ich hoffe, es war wenigstens lecker«, sage ich frustriert und deute hinter mich. »Ich verzieh mich in mein Zimmer.« Ich drehe mich um und will gehen, doch plötzlich schaltet Matt den Fernseher aus und richtete sich auf.

»Warte mal, Tai«, sagt er und ich sehe ihn fragend an.

»Was ist?«

»Ist dir eigentlich klar, dass du heute echt Mist gebaut hast?«

»Wie bitte?«

Matt dreht sich ein Stück weit zu mir um und sieht mich jetzt endlich an. »Mit Mimi. Keine Ahnung, warum du nicht aufgetaucht bist, aber das war scheiße.«

»Wow«, entgegne ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Danke, dass du diese offensichtliche Tatsache noch mal klargestellt hast. Meinst du, ich habe sie mit Absicht versetzt?«

Matt zuckt mit den Schultern. »Hey, ich will mich in euer Ding nicht einmischen, okay?« Bei dem Satz macht er mit den Fingern zwei Hasenohren, woraufhin ich die Stirn runzle. Was denn für ein Ding? »Ich meine nur, dass sie dich heute echt gebraucht hätte. Ich weiß nicht, ob du bei Sora warst oder wo auch immer …«

»Ich war nicht bei Sora«, fahre ich wütend dazwischen, aber Matt hört mir gar nicht zu.

» … aber Mimi ist deine Freundin und zur Zeit behandelst du sie nicht so, wie sie es verdient hätte. Du vernachlässigst eure Freundschaft.«

Fassungslos klappt mir der Mund auf. Hat er das gerade wirklich gesagt?

»Muss ich mir gerade ernsthaft Beziehungstipps von dir anhören? Ausgerechnet von dir?«, entgegne ich sauer, weil ich nicht weiß, was das jetzt plötzlich soll. Matt mischt sich sonst nie in meine Angelegenheiten ein. Er lässt mich machen und ich lasse ihn machen. Wir haben beide unsere eigene Art, mit bestimmten Dingen umzugehen und das ist okay. Dass er gerade versucht, mich zurechtzuweisen, was Mimi betrifft, ist völlig unangebracht. Matt ist nicht gerade für seine innigen Freundschaften zum weiblichen Geschlecht bekannt.

»Ich werde mich vor dir nicht rechtfertigen«, sage ich und merke selbst, wie feindselig das klingt.

Matt zuckt desinteressiert mit den Schultern. »Musst du nicht, man. War nur ein kleiner Hinweis.« Dann legt er sich wieder hin und schaltet den Fernseher ein. Ich sage nichts mehr dazu, sondern verschwinde stattdessen in mein Zimmer. Ich schmeiße mich aufs Bett und starre die Zimmerdecke an. Eins kann ich Matt jedoch nicht verübeln: er hat recht. Dass ich Mimi versetzt habe, war scheiße. Und ich habe ein richtig schlechtes Gewissen deswegen. Mir ist durchaus klar, dass sie mir in den letzten Wochen ganz bewusst aus dem Weg gegangen ist. Auch, wenn sie es abstreitet und behauptet, es wäre nicht so. Ich weiß, dass sie ein Problem hat und ich denke, dass Sora etwas damit zu tun hat. Obwohl das überhaupt keinen Sinn ergibt. Wieso sollte Mimi eifersüchtig auf ihre beste Freundin sein? Sie will schließlich nichts von mir. Und ich nicht von ihr. Zumindest rede ich mir das ein. Einfach, damit es sich besser anfühlt.

Egal. Das kann ich später mit ihr klären. Zuerst einmal muss ich wieder in Ordnung bringen, was ich heute verbockt habe. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und wähle ihre Nummer.

Es tutet genau zwei Mal, dann verschwindet das Signal.

Was …?

Verwirrt betrachte ich das Display und wähle gleich noch mal.

Diesmal tutet es nur ein Mal und wieder wird die Verbindung unterbrochen.

Stirnrunzelnd schaue ich auf mein Handy. Hat sie mich gerade weggedrückt?

Wow. Sie ist nicht nur sauer, sondern stinksauer. Ich schreibe ihr eine Nachricht.
 

»Bitte geh ran. Es tut mir wirklich leid!«
 

Ich sehe, dass sie sie liest und dann … geht sie offline.

Wirklich, Mimi Tachikawa? Du strafst mich mit Missachtung? Oh, man. Falls ja, kann sie das verdammt gut. Und es wirkt. Prompt fühle ich mich noch mieser als ohnehin schon. Anscheinend habe ich echt ihre Gefühle verletzt. Ich bin so ein Idiot.

Ich schicke ihr noch weitere Nachrichten, doch sie antwortet auf keine von ihnen. Frustriert rolle ich mich auf die Seite und umklammere mein Kissen. Diesmal hab ich's richtig verbockt.
 

Am nächsten Tag mache ich Nägel mit Köpfen. Da Mimi bisher auf keine meiner Nachrichten und Anrufe reagiert hat, fahre ich gleich am Morgen zu ihr. Ich habe echt keine Lust darauf, dass diese Sache zwischen uns steht. Es ist gerade ohnehin schwierig mit uns und ich will ihr wenigstens erklären, was gestern los war.

Ich parke direkt vor ihrem Wohnblock. Gerade, als ich die Eingangstür durchqueren möchte, wird sie von innen aufgestoßen und knallt mir beinahe an den Kopf. Ruckartig springe ich zurück und hebe abwehrend die Hände.

»Woah, immer langsam, Prinzessin.«

Mimi steht vor mir und sieht mich einen Moment lang irritiert an. Dann blinzelt sie und ihre Miene verhärtet sich.

»Können wir das noch mal machen? Noch mal von vorne?«

»Was noch mal machen?«, frage ich.

»Das mit der Tür? Ich gehe einfach noch mal rein und du bleibst genau da stehen. Vielleicht erwische ich dich dann richtig.«

Sie zuckt nicht mal mit der Wimper, während sie mir damit droht, mir die Tür vor den Latz zu hauen. Au backe. Ich habe echt Buße zu tun. Also lege ich den Kopf schief und stecke die Hände in die Hosentaschen meiner Jeans.

»Na ja, wenn es dir dann besser geht …«

Kurz sieht sie mich an, als würde sie überlegen. Dann geht sie einfach an mir vorbei. »Nein, wahrscheinlich nicht«, sagt sie und lässt mich eiskalt abblitzen.

Ich seufze, ehe ich kehrt mache und ihr hinterher gehe.

»Okay, schon klar. Das habe ich verdient. Wirklich«, sage ich an ihren Rücken gewandt. »Aber darf ich es dir wenigstens erklären?«

»Nein. Ich will es nicht hören«, antwortet sie knapp. Mein Magen zieht sich zusammen.

»Mimi, bitte. Es gab einen Grund dafür, dass ich gestern nicht nach Hause gekommen bin. Ich war nämlich …«

Plötzlich dreht sie sich so abrupt zu mir um, dass ich fast gegen sie pralle. Wütend sieht sie zu mir auf.

»Sag mal, bist du taub? Ich will es nicht wissen.«

»Aber …«, stammle ich und sehe sie flehend an. » … es war wirklich wichtig.«

»Oh, man«, meint sie und reibt sich den Nasenrücken. »Was war denn so wichtig, hm? Ist deine Mutter mit ihrem Lover durchgebrannt?«

»Was? Nein! Meine Mutter hat keine Affäre.«

»Wie schön für dich. Liegt dein Vater mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus?«

Entrüstet starre ich sie an. »Was redest du denn da? Nein, natürlich nicht.«

»Gut«, sagt sie und wendet sich wieder ab, um weiter zu gehen. »Meiner aber schon, deshalb muss ich jetzt auch los. Tut mir leid, dass ich gerade keine Zeit für deine Beziehungsprobleme habe.«

Beziehungsprobleme?

»Halt, Moment mal«, sage ich und halte sie am Handgelenk fest. Sie wirbelt zu mir herum und ich sehe ihr fest in die Augen.

»Denkst du, ich habe dich für Sora versetzt?«

Mimi erstarrt unter meinen Blicken. Ihr Gesicht spricht Bände.

»Für wen denn sonst, Tai?«, antwortet sie giftig. »Das tust du doch in letzter Zeit ständig. Du ziehst sie mir vor.«

Ich lache frustriert auf. »Das wirfst du mir vor? Sie ist meine Freundin.«

Mimi’s Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen und ich weiß, das hätte ich eben besser nicht gesagt. Ich bin so dumm.

Sie reißt sich von mir los. »Danke, dass du mich daran erinnerst.«

»Oh, Prinzessin«, sage ich und fahre mir gestresst durch die Haare, weil ich mir furchtbar dämlich vorkomme. »Tut mir Leid, was ich eben gesagt habe. Darum geht es doch auch gar nicht. Ich wollte mich einfach nur bei dir entschuldigen. Ich habe mich gestern Abend echt mies gefühlt, weil ich nicht bei unserem Treffen aufgetaucht bin und tue es immer noch. Und ich würde mir wirklich wünschen, dass du mir verzeihst. Das ist alles.«

Mimi steht vor mir, die Arme vor der Brust verschränkt und tippt unruhig mit den Zehenspitzen auf dem Asphalt. Bittend sehe ich sie an, bis sie endlich die Augen verdreht.

»Okaaay«, sagt sie gedehnt. Ich lächle vorsichtig.

»Wirklich? Du verzeihst mir?«

»Jaah, und jetzt hör auf zu nerven«, antwortet sie, während mir ein kleiner Stein vom Herzen fällt. Ich bin echt froh, dass Mimi kein nachtragender Mensch ist. Sie hatte zwar allen Grund auf mich sauer zu sein, aber sie weiß genauso gut wie ich, dass ich nicht ohne sie kann. Und sie nicht ohne mich.

»Wir können später reden, wenn du möchtest«, schlägt sie versöhnlich vor und schaut dann auf ihre Armbanduhr. »Aber jetzt muss ich echt los.«

Sie dreht sich um und will gehen.

»Halt, warte mal«, sage ich schnell. »Hast du nicht eben was von Krankenhaus gesagt und dass du da hin musst?«

»Ja, schon …«

»Ich kann dich fahren, wenn du willst«, schlage ich ihr vor. »Dann können wir auf der Autofahrt reden.«

Mimi legt den Kopf schief und überlegt. Schließlich nickt sie. »Okay, das ist eine gute Idee.«

Ich nicke glücklich, sprinte an ihr vorbei und halte ihr die Autotür auf. Sie kichert.

»Du musst es nicht gleich übertreiben.«

»Doch, ich muss Buße tun, für das, was ich verbockt habe.«

Lachend schüttelt Mimi den Kopf, während sie einsteigt und sich anschnallt. Wir fahren los und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Mimi ihre Hände im Schoß knetet und aus dem Fenster sieht. Sie ist nervös.

»Also«, sagt sie schließlich und ich höre die Unsicherheit in ihrer Stimme. »Was war gestern los? Warum hast du dich nicht gemeldet?«

Ich atme hörbar aus, als ich an den gestrigen Abend zurückdenke. Das war kein schöner Abend und ich hätte ihn tausend Mal lieber mit Mimi verbracht, so viel steht fest.

»Ich war auf einer Party«, sage ich. Mimi’s Kopf schnellt zu mir herum.

»Du versetzt mich wegen einer Party? Wow, Tai. Das ist …«

»Nein«, würge ich sie sofort ab und schüttle energisch den Kopf, während ich an einer roten Ampel anhalte. Dann sehe ich sie an. »Ich war wegen Kari dort. T.K. hat mich angerufen. Er sagte, Kari wäre bei Freundinnen und als er mit seinen Kumpels dazugestoßen ist, war sie schon total betrunken. Sie hat sich einfach mit ihnen zulaufen lassen und war nicht mehr ansprechbar. Ich musste einfach da hin und sehen, ob es ihr gut geht.«

Mimi’s Augen weiten sich, als ich es ihr erzähle. Die Ampel springt wieder auf grün und ich fahre weiter.

»Aber warum hat sie das gemacht? Und wie geht es ihr jetzt? Oh mein Gott.« Sie schlägt sich die Hände vor den Mund. »Haben eure Eltern was mitbekommen? Sie hat sicher einen riesen Ärger gekriegt.«

Ich schüttle den Kopf und lege einen gequälten Gesichtsausdruck auf. »Nein, zum Glück haben sie nichts mitbekommen. Ich konnte sie unbemerkt ins Haus schaffen. Als du mich angerufen hast, war ich gerade mit ihr im Badezimmer und habe ihre Haare gehalten, weil sie sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat. Tut mir ehrlich Leid. Ich hätte dir gerne eine Nachricht geschickt, was los war, aber dazu hatte ich keine Zeit. Kari hat mich gestern gebraucht.«

Ich werfe einen Blick zu Mimi. Sie nickt verständnisvoll.

»Ich weiß, Tai. Ich finde es wunderbar, dass du immer für deine kleine Schwester da bist und dich so um sie sorgst, dafür liebe ich dich.«

Ich schlucke schwer und halte die Luft an. Hat sie gerade bemerkt, was sie da gesagt hat?

»Aber ich verstehe es nicht. Kari hat sich noch nie voll laufen lassen oder überhaupt etwas Verbotenes getan. Sie ist noch minderjährig und sollte sich nicht auf Partys rum treiben, wo so viel Alkohol ausgeschenkt wird und kein Erwachsener dabei ist.«

Seufzend atme ich wieder aus. »Wem sagst du das? Ehrlich gesagt frage ich mich, was in letzter Zeit in sie gefahren ist. Manchmal erkenne ich sie gar nicht mehr wieder. Vielleicht liegt es einfach daran, dass sie so langsam erwachsen wird und ihre Grenzen neu austesten will. Vielleicht will sie auch cool sein und dazu gehören. Aber für diese Aktion gestern gibt es keine plausible Rechtfertigung. Du hättest sie mal sehen müssen, Mimi. Sie war wirklich komplett zugedröhnt. So habe ich sie noch nie gesehen. Sie hat Dinge gefaselt …« Verwirrt schüttle ich den Kopf, doch Mimi wird hellhörig.

»Was denn für Dinge?«

»Keine Ahnung. Sie hat nicht in ganzen Sätzen gesprochen. Es waren immer nur kleinere Wort-Fetzen, die sie vor sich hin gemurmelt hat, als ich sie nach Hause gefahren habe. Irgendwas von wegen … Sie wäre selber Schuld. Und sie hätten sie ja gewarnt. Und dass sie irgendwas nicht mehr rückgängig machen könne. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hatte. Oder ob sie sich da nur was in ihrem Alkohol-Wahn zusammengesponnen hat.«

Mimi runzelt die Stirn und beißt sich auf die Unterlippe. Sie denkt offensichtlich nach, zieht dann jedoch die Schultern hoch und richtet ihren Blick wieder aus dem Fenster.

»Wer weiß. Ich hoffe nur, dass das nicht noch mal passiert. Hoffentlich geht es ihr heute so schlecht, dass sie nie wieder daran denkt, sich so abzuschießen.«

Ich lache gequält auf. »Oh ja, glaub mir, das tut es. Sie hat mir vorhin eine Nachricht geschrieben, dass sie Mama und Papa gesagt hat, sie wäre krank und jetzt wird sie den ganzen Tag im Bett bleiben. Mit den schlimmsten Kopfschmerzen, die sie jemals hatte.«

Mimi und ich verkneifen uns ein Lachen. So schlimm diese Situation gestern auch war … ich hoffe, es wird Kari eine Lehre sein. Exzessives Feiern passt einfach nicht zu meiner Schwester. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es einen guten Grund dafür gab, dass sie sich so hat gehen lassen. Aber das wollte ich jetzt nicht mit ihr besprechen. Im Augenblick hat sie genug mit sich selbst zu tun.

»Also«, sage ich schließlich, als ich auf den Parkplatz des Krankenhauses fahre und den Motor abschalte. Dann lege ich einen Arm über Mimi’s Sitz und wende mich ihr zu. »Erzählst du mir jetzt, warum wir hier sind? Was ist vorgefallen?«

Mimi beißt sich auf die Unterlippe und versucht meinem Blick auszuweichen. Allein das verrät mir, dass es ziemlich übel sein muss. Im selben Moment versetzt es mir einen Stich ins Herz, weil sie mir bis jetzt nichts davon erzählt hat. Warum nur? Sie weiß doch, dass sie mir immer alles anvertrauen kann.

»Es ist einiges passiert in den letzten Tagen, Tai«, sagt sie geknickt und faltet die Hände in ihrem Schoß. »Mein Vater hatte einen Nervenzusammenbruch, als er von der Schwangerschaft meiner Mom erfahren hat. Anscheinend ist er durchgedreht und hat sich so sehr betrunken, dass sie ihn mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert haben. Das war an dem Abend neulich, als wir auf dem Konzert waren. Nachdem ich die Bar verlassen hatte, habe ich einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen und bin sofort hergefahren.«

Meine Augen weiten sich, während sie mir das erzählt. Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie fest. Mit geröteten Augen sieht sie mich an.

»Das tut mir Leid, Mimi. Ehrlich. Ihr habt es nicht verdient, noch mehr durchmachen zu müssen, als ohnehin schon.«

Mimi nickt und versucht angestrengt, die aufkommenden Tränen wegzublinzeln.

»Ich fühle mich so schuldig, Tai.«

»Warum? Du kannst doch nichts dafür.«

»Aber ich war es, die meinem Dad von der Schwangerschaft erzählt hat.«

Schnell schüttle ich den Kopf. Glaubt sie ernsthaft, sie hat etwas mit seinem Zustand zu tun?

»Nein, Mimi. Das ist Blödsinn, dass es deine Schuld war. Dein Dad hätte es ohnehin irgendwann erfahren. Wenn nicht von dir, dann von deiner Mutter. Und in beiden Fällen wäre es wahrscheinlich so geendet. Nicht du hast ihm den Boden unter den Füßen weggerissen, sondern diese Neuigkeit. Es waren einfach die Umstände, nicht du. Verstehst du?«

Mimi nickt wieder und jetzt rollt ihr doch eine Träne über die Wange, die sie jedoch schnell wegwischt. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Immer versucht sie, die Starke zu sein und keine Schwäche zu zeigen. Nicht mal vor mir. Dabei weiß ich genau, wie es in ihrer Seele aussieht. Sie braucht einen Anker, an dem sie sich festhalten kann. Sonst wird sie irgendwann ertrinken.

»So was Ähnliches hat mein Dad auch gesagt«, meint sie dann lächelnd. Dann atmet sie schwer aus. »Es ist nur … ich versuche irgendeinen Schuldigen dafür zu finden, was passiert ist. Aber ich kann es einfach nicht. Weil wir irgendwie alle daran schuld sind, dass es so gekommen ist. Mein Vater hat sich nicht im Griff. Meine Mutter ist eine verlogene Heuchlerin. Und ich stehe da und versuche ständig zu retten, was noch zu retten ist und mache dabei alles nur noch schlimmer. Das ist echt scheiße.«

Eine weitere Träne rollt über ihr Gesicht und diesmal ziehe ich sie an mich und nehme sie in den Arm. Ich kann es wirklich nicht ertragen, wenn sie weint. Außerdem überkommt mich jetzt erst recht das schlechte Gewissen. Matt hatte vollkommen recht: Mimi hätte mich gestern gebraucht. Die ganzen letzten Tage hätte sie mich gebraucht, doch ich war nicht für sie da. Weil sie mich an ihrem Kummer nicht hat teilhaben lassen. Weil sie offensichtlich denkt, dass sie nicht mehr an erster Stelle bei mir steht. Dass ich keine Zeit mehr für sie habe.

»Hey, hör mir mal zu«, sage ich schließlich, während sie an meiner Brust schluchzt. Ich nehme ihr Gesicht in beide Hände, damit ich in ihre verweinten, haselnussbraunen Augen sehen kann. Die Augen, die ich so sehr liebe.

»Ich möchte nie wieder, dass du so etwas Dummes tust.«

Verwirrt sieht sie mich an. »Was?«

»Du hast dich nicht bei mir gemeldet. Kein einziges Mal«, sage ich mit Nachdruck, damit sie versteht, wie ernst es mir ist. »Du hättest mich gebraucht, als deinen Freund. Und ich wäre für dich da gewesen. Aber du scheinst zu glauben, dass ich das nicht mehr kann. Für dich da sein. Aber das ist Blödsinn, Mimi. Hörst du? Blöd-sinn!«

Immer noch irritiert von meinen Worten sieht sie mir in die Augen. Aber auf meinen Lippen legt sich langsam ein sanftes Lächeln. Ich will, dass sie das begreift.

»Mimi, wenn du mich brauchst, werde ich immer für dich da sein. Ich werde sofort alles stehen und liegen lassen und von mir aus ans andere Ende der Welt für dich reißen. Nur um dich in den Arm zu nehmen. Also hör auf, zu denken, dass du ständig all deine Sorgen mit dir alleine ausmachen musst. Du bist keine Einzelkämpferin. Das warst du noch nie und das musst du auch nicht sein. Denn ich werde immer da sein, um dich aufzufangen, wenn du fällst. Das verspreche ich dir.«

Erneut steigen ihr Tränen in die Augen. Doch sie nickt. Mein Herz weitet sich bei diesem Anblick, denn ich habe jedes Wort genau so gemeint, wie ich es gesagt habe. Mimi wird immer einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben bleiben. Egal, ob sie nun dasselbe für mich empfindet, wie ich für sie oder nicht. Das spielt gar keine Rolle.

»Danke, Tai«, wispert sie und ich ziehe sie noch ein mal in eine feste Umarmung. Ich spüre, wie ich ihre Nähe mehr als alles andere genieße und wie ich nicht mal den Hauch eines schlechten Gewissens deswegen habe.

»Kein Problem, Prinzessin. Immer wieder gern.«

Nach einer Weile seufzt sie erleichtert auf und ich drücke ihr einen Kuss aufs Haar.

»Wollen wir jetzt deinen Dad abholen?«

Mimi schenkt mir ein dankbares Lächeln, das Aufrichtigste, das ich je gesehen habe.

»Ja, sehr gerne.«

Mimi

Trotz, dass ich gerade mit Tai das Krankenhaus betrete und noch schmerzliche Erinnerungen an meinen letzten Besuch hier habe, fühlt es sich gut an, mit ihm hier zu sein. Ich bin so erleichtert, ihn an meiner Seite zu wissen. Im Moment weiß ich auch gar nicht mehr, warum ich überhaupt je an uns gezweifelt habe. Nur, weil er jetzt eine feste Freundin hat, heißt das doch nicht, dass unsere Freundschaft weniger Gewicht hat als vorher. Wir können immer noch füreinander da sein und uns gegenseitig Halt geben, so wie es immer schon war. Unabhängig davon, ob er mich nun liebt oder nicht. Wahrscheinlich werde ich ihn immer lieben, denn er ist der beste Mensch, den ich kenne. Aber ich denke, ich habe nun endlich eingesehen, dass ich einen Weg finden muss, mit diesem Gefühl umzugehen. Dem Gefühl ihn nicht haben zu können. Ich dachte, durch Sora hätte ich ihn verloren. Dass sie ihn mir weggenommen hätte. Ich war so eifersüchtig. Aber jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt. Nachdem, was er eben im Auto zu mir gesagt hat, bin ich mir ziemlich sicher, dass das niemand jemals schaffen würde. Unser Band der Freundschaft ist stark - sehr stark. Und es war höchste Zeit, dass Tai mir das in Erinnerung ruft. Allein dafür bin ich ihm unendlich dankbar. Die letzten Wochen, in denen ich nicht mehr an uns geglaubt habe, waren die dunkelsten Tage in meinem Leben. Die Sache mit meinen Eltern hat mir zwar den Boden unter den Füßen weggerissen, aber das Gefühl zu verspüren, Tai als Freund verloren zu haben, hat mich erst recht fallen lassen. Ich bin gefallen und er hat mich wieder aufgefangen - so wie er es immer tut. Wie konnte ich nur je daran zweifeln? Tai ist mein Licht in der Dunkelheit und das wird er immer für mich sein.

Als wir am Warteraum entlang gehen, ergreife ich seine Hand. Es versetzt mir einen Stich, wenn ich daran zurückdenke, was für einen schlimmen Streit ich hier mit meiner Mutter hatte, in der Nacht, als das mit Dad passiert ist. Ich bleibe kurz stehen und verweile, in dem Wissen, dass ich die Sache mit ihr klären muss. Sie ist meine Mutter. Ich kann ihr nicht ewig aus dem Weg gehen.

Ich spüre, wie Tai meine Hand drückt.

»Alles in Ordnung?«, fragt er, doch ich schüttle nur den Kopf und lächle.

»Es ist alles gut. Lass uns meinen Dad abholen.«

Als wir das Zimmer meines Vaters betreten, wartet er bereits startklar, mit gepackter Tasche auf seinem Bett. Seine Augen leuchten auf, als er mich durch die Tür kommen sieht.

»Hi, Dad«, begrüße ich ihn.

»Hallo, Kleines«, sagt er, steht auf und umarmt mich innig. Mir fällt sofort auf, dass er viel besser aussieht als das letzte Mal, als ich ihn besucht habe. Die Auszeit scheint ihm gut getan zu haben. Sein Blick wandert an mir vorbei, als er sich wieder von mir löst.

»Wie ich sehe, hast du Besuch mitgebracht.«

»Hi, Herr Tachikawa«, grinst Tai und hebt die Hand zum Gruß. Mein Vater lächelt ihn freundlich an.

»Schön, dich mal wieder zu sehen, Taichi. Ist ja eine Ewigkeit her.«

»Das stimmt«, bestätigt Tai, während ich selig schmunzle. Ich fand es schon immer toll, dass Tai und mein Dad sich so gut verstehen. Aber immerhin ist Tai ja auch früher bei mir ein und aus gegangen, als wäre er bei uns zu Hause. Meine Eltern kennen die Yagamis schon, seit meiner und Tais Kindergartenzeit.

»Dann nehme ich mal an, dass du heute mein Taxi spielst?«, fragt Dad und will nach seiner Tasche greifen.

»Nicht doch, die kann ich doch nehmen«, sage ich und greife nach dem Gurt, aber mein Vater entzieht ihn mir wieder.

»Ich bin vielleicht schon in die Jahre gekommen, aber du musst mich nicht behandeln, wie einen alten Knacker. Ich kann mein Gepäck wohl noch selber tragen«, antwortet er gespielt beleidigt und ich muss lachen.

»Okay, aber übernimm dich nicht, alter Mann.«

Mein Dad zeigt mir den Finger und nun muss auch Tai lachen. Ich bin froh, dass die Situation zwischen uns so unbefangen ist, das war lange Zeit nicht so. Irgendwie hatte es immer einen bitteren Beigeschmack, wenn ich meinen Dad besucht habe und er mal wieder fix und fertig war. Aber gerade fühlt es sich fast so an wie früher. Auf dem Weg zum Parkplatz machen wir Witze darüber, ob wir meinem Dad nicht doch lieber einen Rollstuhl besorgen sollen und er meint, dass er sich Mühe geben wird, nie wieder im Krankenhaus zu landen, wenn wir ihn danach so aufziehen. Ich hoffe, er hält Wort.

Dad setzt sich nach vorne zu Tai, auf den Beifahrersitz, während ich auf die Rückbank rutsche. Wir fahren los und Dad sieht so begeistert aus dem Fenster, als wäre er ein kleines Kind. Oder als hätte er jahrelang im Knast gesessen. Er lässt das Fenster runter und atmet die frische Sommerluft tief ein.

»Es tut gut, wieder raus zu kommen. Das hab ich vermisst.«

Ich beuge mich leicht nach vorne und lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Und ich habe dich vermisst.« Er legt seine Hand auf meine und ich spüre, wie er zittert. Als er mitkriegt, dass ich es bemerkt habe, zieht er die Hand schnell wieder weg und reibt sie an seinem Hosenbein.

»Ich habe beschlossen, einen Entzug zu machen«, verkündet er plötzlich. Ich sitze kerzengerade in meinem Sitz.

»Was? Wirklich?«

»Das ist toll, Herr Tachikawa. Eine gute Entscheidung«, nickt Tai zustimmend.

»Nicht?«, sagt Dad stolz, dreht sich zu mir um und grinst mich an. »Der Sozialdienst der Klinik hat es mir angeboten und ich habe zugesagt. Sie versuchen, so schnell wie möglich einen Platz in einer Entzugsklinik für mich zu bekommen. Danach werde ich versuchen, einen neuen Job zu finden. Ich denke, ich bin jetzt bereit, meine Probleme anzupacken.«

Mit offenem Mund sitze ich da und hänge wie gebannt an seinen Lippen. Träume ich? Das ist das absolut Beste, was ich seit langem gehört habe. Abgesehen von Tais Ansprache vorhin im Auto, aber das hier …

»Das freut mich wirklich sehr, Dad«, meine ich und schenke ihm ein Lächeln. »Du tust das Richtige. Ich bin stolz auf dich.«

Dad’s Augen werden ganz weich vor Liebe, als er mich das sagen hört und er lächelt mich zuversichtlich an. Auch mein Herz weitet sich und die ganzen dunklen Gedanken der letzten Tage, scheinen sich langsam zu verflüchtigen. Gerade, in diesem Moment, fühle ich einfach nur Zufriedenheit. Ich bin froh, die Sache mit Tai geklärt und nun die Gewissheit zu haben, dass sich zwischen uns nichts verändert hat. Und ich bin glücklich darüber, dass mein Vater sein Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken will. Ich bin mir bewusst, dass das nicht von heute auf morgen gehen wird und dass noch ein langer Weg vor uns liegt. Aber einen Schritt nach dem anderen. Immer einen nach dem anderen.

Ich grinse vor mich hin und als ich den Kopf hebe, sehe ich, wie Tai mich durch den Rückspiegel beobachtet. Er schenkt mir sein sanftes Lächeln, was mir sagen soll, dass alles gut werden wird. Wenn er mich so ansieht, und sei es nur durch den Rückspiegel eines Autos, wird mir immer ganz warm ums Herz.

»Sagt mal, was ist das eigentlich bei euch beiden?«, unterbricht mein Dad plötzlich die Stille, da ihm nicht entgangen zu sein scheint, dass Tai und ich uns Blicke zuwerfen.

Tai beendet sofort den Blickkontakt und richtet seine Augen wieder stur auf die Straße.

»Was meinen Sie, Herr Tachikawa?«, fragt er ganz treulos, während mir die Hitze ins Gesicht steigt. Etwas misstrauisch sieht mein Vater erst mich und dann Tai eindringlich an. Oh je. Bitte jetzt nicht einer dieser Du-bekommst-meine-Tochter-nicht-Szenen. Das hat er früher schon mal gebracht und es war äußerst peinlich für Tai und mich.

»Ich habe da so was wie … Schwingungen gespürt«, sagt Dad spitzfindig. Ich verdrehe die Augen und tue so, als hätte er einen Knall.

»Du spürst wahrscheinlich nur die Hitze, die dir zu Kopf steigt. Da kann man schon mal halluzinieren.«

Dad dreht sich zu mir um. Seine Mundwinkel zucken.

»Was?«, frage ich deutlich erregt und fühle mich von ihm provoziert. »Tai und ich sind nur Freunde.«

Ein Räuspern kommt von der Fahrerseite. »Ja, genau … nur Freunde.«

Dad verengt die Augen zu Schlitzen und grinst nun noch breiter.

»Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ihr auf mich wie ein Paar wirkt. Keine Ahnung, warum ihr euch gleich so verteidigt. Da hab ich wohl einen Nerv getroffen.«

Ich schlage die Hände vor’s Gesicht und knurre in mich hinein, während mein Vater lacht. Oh, dieser …!

»Erinnere mich daran, dass ich dir das nächste Mal einfach ein Taxi bestelle.«

»Ach, was. Wieso denn, Mimi? Ich fahre doch gerne mit dir und meinem zukünftigen Schwiegersohn nach Hause.«

»Dad!«, rufe ich peinlich berührt. »Tai hat eine Freundin.«

Das Lachen verschwindet aus Dad's Gesicht und er sieht angesäuert zu Tai rüber, der nun unruhig auf seinem Sitz hin und her rutscht.

»So? Du ziehst eine andere meiner Tochter vor? Ich bin schwer enttäuscht von dir, Yagami.«

Ich schlage gegen meine Stirn. Warum hat er beschlossen, ausgerechnet heute so peinlich zu sein, wenn Tai und ich uns gerade erst wieder versöhnt haben?

»Nun, also … das ist so … ich meine, es ist einfach … oh man«, stammelt Tai vor sich hin, während er sich krampfhaft versucht auf den Verkehr zu konzentrieren und das Lenkrad immer fester umklammert.

»Halt«, gehe ich nun dazwischen und lehne mich mit erhobenen Zeigefinger nach vorn zu Tai. »Du sagst kein einziges Wort mehr!« Dann sehe ich Dad an, der sich das Lachen verkneifen muss. »Und du: hör auf damit!«

Dad prustet los und schlägt Tai mehrmals mit der flachen Hand auf die Schulter.

»Ach, ich ziehe dich doch nur auf, Kumpel. Das war die Rache für eure blöden Witze vorhin.«

»Ha ha, du Komiker«, sage ich genervt und lasse mich zurück in den Sitz fallen, während Tai in sich zusammensackt und einfach nur froh ist, dass diese Unterhaltung nicht vertieft wird.

Bei meinem Dad zu Hause angekommen, steigen wir beide aus.

»Ich komme gleich wieder«, sage ich an Tai gewandt, der brav nickt und im Auto auf mich wartet, während ich meinen Vater noch rein begleite.

»Soll ich dir noch helfen, die Sachen auszuräumen?«

»Nein, danke«, sagte er und stellt seine Tasche im Flur ab.

»Hast du vielleicht Hunger? Ich kann dir was kochen«, schlage ich vor, doch Dad dreht sich nur lachend zu mir um.

»Mimi, Schatz. Ich komme klar«, meint er und ich grinse unsicher. Irgendwie habe ich ein schlechtes Gefühl, ihn jetzt schon allein zu lassen. Im Krankenhaus war er wenigstens die ganze Zeit unter ärztlicher Beobachtung. Am liebsten würde ich darauf bestehen, wenigstens heute Nacht hier zu bleiben, aber ich will keine Klette sein. Und ich will ihm vertrauen können.

»Okay«, sage ich schließlich, auch wenn es mir schwer fällt. »Aber wenn etwas ist, ruf mich an. Oder Tai. Ganz egal, wen. Wir sind für dich da.«

»Das weiß ich, danke«, erwidert er und schenkt mir ein Lächeln. Ich will mich umdrehen und wieder zum Auto gehen, als er noch mal meinen Namen ruft.

»Ach, und Mimi?«

Fragend sehe ich ihn an.

»Eigentlich war das vorhin gar kein Witz«, sagt er und ich lege den Kopf schief.

»Was genau meinst du?«

Dad legt ein zaghaftes Lächeln auf und wirkt unsicher, ob er es mir sagen soll. »Ich habe gesehen, wie Tai dich durch den Rückspiegel angesehen hat. Und ich sehe, wie du ihn ansiehst. Nenn mich verrückt, aber … ganz egal, ob er eine Freundin hat. Er empfindet etwas für dich. Das sieht ein Blinder mit einem Krückstock.«

Ich schlucke schwer. Ich muss kurz sacken lassen, was er eben gesagt hat. Ist das wirklich so? Und wieso rückt er ausgerechnet jetzt mit dieser Sache raus, wo ich doch beschlossen habe, die Liebe zu Tai aufzugeben und mich stattdessen nur auf unsere Freundschaft zu fokussieren?

»Ach«, sage ich einfach nur und versuche cool zu bleiben. »Und du bist der Einäugige unter den Blinden, was?«

Mein Vater lacht auf und zwinkert mir dann zu. Er hat mich genau durchschaut.

»Denk einfach mal drüber nach«, meint er, als ich schon halb zur Tür raus bin.

»Ja ja«, sage ich und winke ab, während ich die Tür hinter mir zuziehe und zurück zum Auto gehe. Mit jedem Schritt, den ich tue, beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Warum verunsichern mich die Worte meines Vaters so sehr? Hat er vielleicht etwas gesehen, was ich bislang nicht gesehen habe? Oder nicht sehen wollte? Oder erfolgreich verdrängt habe? Verdammt, ich weiß es nicht. Was ist nur los mit mir?

Als ich zu Tai ins Auto steige, tippt er gerade auf seinem Handy rum. Ich sehe ihn an und werde prompt rot. Er schreibt seine Nachricht zu Ende und schaut mich an.

»Was ist?«, fragt er verdutzt und legt den Kopf schief, als er meinen verdattertes Gesicht sieht.

Oh Gott, nicht so auffällig, bitte.

Schnell schüttle ich den Kopf. »Gar nichts. Ich bin einfach nur froh, dass er wieder zu Hause ist.«

Tai nickt und startet den Motor. »Kann ich mir vorstellen. Aber er klang ziemlich entschlossen. Er wird das ganz sicher in den Griff kriegen.«

»Ja, ich hoffe, du hast recht.«

Tai fährt los und biegt auf die Hauptstraße ab. Irgendetwas in mir sagt mir, dass es nicht so einfach wird. Da ist immer noch ein Funken Zweifel, der mir zuflüstert: freu dich mal nicht zu früh. Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird und dass Rückschläge nicht auszuschließen sind. Dennoch versuche ich mich zusammenzureißen und meinem Dad einfach zu glauben, dass er ab jetzt alles geben wird, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Danke, dass du mitgekommen bist«, sage ich an Tai gewandt. »Das hat mir wirklich Kraft gegeben.«

Ein sanftes Lächeln schleicht sich auf seine Lippen, während sein Blick weiter auf die Straße gerichtet ist.

»Immer und jederzeit, das weißt du doch.«

Oh, Gott. Mein unruhiges Herz beginnt erneut zu flattern und das wohlig, warme Gefühl in meiner Magengegend, dass ich nur all zu gut kenne, macht sich breit.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragt er.

Ich falte die Hände im Schoß und denke an etwas, worüber ich schon so oft nachgedacht, es aber stets aufgeschoben habe.

»Ja, bitte. Ich denke, es ist an der Zeit, es meinem Dad gleich zu tun.«

Tai runzelt die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Ich muss mich endlich damit auseinandersetzen, was ich zukünftig machen will. Ich schiebe das schon so lange vor mir her. Wahrscheinlich aus Angst, die falsche Entscheidung zu treffen und am Ende unglücklich zu werden. Aber das, was ich momentan tue, im Cafè arbeiten … das macht mich genauso wenig glücklich. Es ist keine wirkliche Alternative.«

Leider ist das die Wahrheit. Auch wenn ich sie mir bis jetzt immer schön geredet habe. Ich habe versucht, mir selbst vor zu gaukeln, dass ich einfach noch nicht weiß, wohin mich mein Weg führt und was ich letztendlich mit meinem Leben anfangen will. Dabei hatte ich die ganze Zeit einfach nur Panik davor, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Ich habe mir immer gesagt, dass irgendwann schon der nächste Schritt kommen wird. Aber wenn ich ihn nicht gehe, dann wird er nie kommen. Und auch wenn mir die Vorstellung, sich für einen Beruf oder für ein Studium zu entscheiden, Angst macht, so weiß ich doch auch, dass es ebenso eine Chance sein könnte. Die Chance, endlich etwas zu finden, dass mich erfüllt und mir Freude bereitet. Und es ist an der Zeit, diese Chance zu ergreifen. Ich mache es wie Dad.

Das wird mein Neuanfang!

»Ich habe heute einen Tag frei und werde die Zeit dazu nutzen, mich hinter den Laptop zu klemmen. Ich werde in mich gehen und mir ganz genau überlegen, was ich in Zukunft machen möchte.« Dabei mache ich eine Handbewegung, die wie das Omm aus dem Yoga-Kurs aussieht, den ich mal besucht habe. Noch so eine Sache, die ich nie durchgezogen habe. Mir scheint, als würde mein Leben aus lauter Dingen bestehen, die ich abgebrochen, aufgeschoben oder gar nicht erst versucht habe. Das hat heute ein Ende.

Tai lacht kurz auf und ich schaue ihn verwirrt an, weil ich glaube, dass er sich über mich lustig macht. Doch dann sehe ich in sein zuversichtliches Gesicht und muss grinsen.

»Das ist eine sehr gute Idee, Mimi. Ich vertraue dir da voll und ganz, dass du am besten weißt, was gut für dich ist. Du wirst deinen Weg schon gehen, daran habe ich nie gezweifelt.«

»Danke«, lächle ich und bin froh darüber, dass er mir Mut macht. Tai hat mich immer unterstützt, in allem, was ich je getan habe. Er bevormundet mich nicht, wie meine Mutter es tut. Er vertraut mir einfach. Und genau dieses Vertrauen brauche ich jetzt, um mir selbst zu vertrauen, das Richtige zu tun.

Leider ist die Fahrt viel zu schnell vorbei und wir halten auf einem Parkplatz in meiner Straße. Ich hätte gerne noch ein wenig länger mit ihm im Auto gesessen und erzählt. Aber das kann warten. Ich habe nicht vor, ihn noch mal derart von mir zu weisen. Ich brauche ihn. Das ist mir heute wieder mal klar geworden.

»Sehen wir uns an meinem Geburtstag?«, fragt er, dreht sich zu mir und legt einen Arm über meine Rückenlehne.

Ich verziehe das Gesicht. »Geburtstag? Keine Ahnung, welcher Tag war das noch mal?«

Tais Mundwinkel zuckt ungläubig. »Ja ja, schon klar.«

Ich grinse, denn ich habe natürlich nur so getan, als wüsste ich nichts von seiner Geburtstagsfeier. In Wahrheit liegt schon seit Monaten ein Geschenk bei mir zu Hause, weil ich es nicht abwarten konnte.

»Mal sehen, ob ich komme«, necke ich ihn weiter und verdrehe dramatisch die Augen. »Ich bin jetzt eine vielbeschäftigte Frau. Ich weiß noch nicht, ob ich Zeit habe.«

Tais Hand umklammert sein Shirt an der Stelle, wo sein Herz ist und er legt eine so traurige Miene auf, als würde er körperliche Schmerzen empfinden. »Oh nein, das bricht mir das Herz.«

Ich muss kichern und öffne die Beifahrertür. »Okay, dann muss ich wohl doch kommen. Ich werd's schon irgendwie einrichten können.«

Tai grinst breit. »Das wollte ich hören.«

Ich strecke ihm die Zunge zum Abschied raus und knalle die Tür zu. Tai schenkt mir ein amüsiertes Grinsen, ehe er den Motor startet und los fährt. Ich sehe ihm noch eine Weile nach und eine tiefe Zufriedenheit erfüllt mein Herz. Ich greife mir ebenfalls an die Stelle, an die Tai sich gerade gegriffen hat und atme aus. Es fühlt sich gut an, wie es ist. Darauf muss ich mich konzentrieren.

Mimi

Mehrere Tage sind vergangen, seit ich beschlossen habe, meine Zukunft ab jetzt selbst in die Hand zu nehmen. Allerdings ist es schwieriger als gedacht, sich für eine Sache zu entscheiden, die man vorher noch nie gemacht hat. Heute habe ich frei und sitze mal wieder frustriert vor meinem Laptop im Wohnzimmer. In den letzten drei Stunden habe ich gefühlt hundert Internetseiten durchforstet, mir Studiengänge angesehen, Anzeigen zum x-ten Mal gelesen und in diversen Foren nach Antworten gesucht. Woher, zum Kuck-kuck, soll man denn wissen, was einem liegt, wenn man es noch nie ausprobiert hat? Ich verstehe ehrlichgesagt nicht, wie die anderen das alle gemacht haben. Wenn ich an Tai denke, war es ganz klar, dass er Sportwissenschaften studieren wird. Fußball war schon immer sein größtes Talent und seine Leidenschaft, die er irgendwann zum Beruf machen wird. Sora hat ihren Mode Kram. Joe wollte immer schon Arzt werden. Izzys Talent, was Technik und Informatik angeht, steht außer Frage. Und Matt wusste von Anfang an, dass er nicht den »normalen« Weg über ein College gehen wird. Für ihn stand schon immer fest, dass er Musik machen möchte, auch wenn sie nicht viel Geld einspielen würde. Aber was ist mit mir? Welches Talent habe ich? Für was interessiere ich mich? Bin ich genauso begeisterungsfähig wie die anderen? Kann ich mich voll und ganz einer Sache verschreiben?

Oh man.

Frustriert stütze ich meinen Kopf auf meinen Handrücken ab. »Das ist doch zum Haare raufen.«

Ich mache einen tiefen Seufzer und lasse dabei die Schultern sinken. Doch das Klingeln meines Handys lässt mich zusammenfahren. Ich richte mich kerzengerade auf und greife danach, nur, um kurz danach wieder zusammen zu zucken.

Soras Name leuchtet mich in fetten, weißen Buchstaben an.

Scheiße. Was jetzt? Soll ich rangehen? Ich habe sie seit Wochen nicht gesprochen. Um genau zu sein, das letzte Mal auf meiner Geburtstagsfeier, die sie für mich in ihrem Haus gegeben hat. Na ja, wenn man den kurzen Schlagabtausch neulich im Café nicht mit zählt, als sie ganz plötzlich mit Tai bei meiner Arbeit aufgetaucht ist.

Ich seufze erneut. Ich muss rangehen. Sora ist immer noch meine Freundin und sie kann schließlich nichts dafür, dass ich in ihren Freund verliebt bin. Wenn ich ihr weiter aus dem Weg gehe, schöpft sie am Ende nur Verdacht und ich zerstöre damit unsere Freundschaft. Das wäre wirklich unreif von mir.

Sie lässt es weiter klingeln und ich weiß, jeden Moment wird die Mailbox anspringen, also gehe ich schnell ran.

»Hey, Sora. Lange nichts gehört von dir«, sage ich freundlich.

»Hi, Mimi«, antwortet sie mir. Ihre Stimme zu hören tut gut. Man könnte meinen es wäre alles so wie immer.

»Hast du heute Zeit?«, fragt sie mich gleich.

Ich denke nach und starre auf meinen Laptop. Das Ding wird mir heute sicher nicht mehr die passenden Antworten ausspucken und mein Kopf qualmt schon gewaltig.

»Was auch immer du vor hast«, sage ich seufzend und kratze mich am Hinterkopf. »Ich komme mit. Ich brauche dringend frische Luft, sonst drehe ich hier noch durch.«

»Oh, spitze«, freut Sora sich ganz offensichtlich und ich höre, wie im Hintergrund ein Auto an ihr vorbei fährt. »Ich hatte gehofft, dass du das sagst. Bin nämlich schon auf dem Weg zu dir.«

Ich richte mich kerzengerade auf. »Was? Warum?«

»Wir müssen dringend shoppen gehen.«

»Okay …«, sage ich gedehnt. »Shoppen? Klar, warum nicht? Hört sich gut an.«

»Tai hat doch morgen Geburtstag und ich habe immer noch kein Geschenk für ihn. Ich hatte gehofft, dass du als enge Freundin von ihm, mir vielleicht helfen kannst.«

Puff. Und schon platzt die Blase.

Ich schlucke ein paar Mal, ehe ich so fröhlich wie möglich antworte. »Klar, kein Problem. Natürlich helfe ich dir.«

»Super«, antwortet Sora. »Dann bis gleich.«

Sie legt auf und ich rutsche im Stuhl hinab. Das darf doch nicht wahr sein. Aus dieser Nummer komme ich definitiv nicht mehr raus. Da muss ich jetzt durch, ganz klar. Aber vielleicht wird es ja auch gar nicht so schlimm, wie ich es mir denke. Vielleicht liegt ja mein Gefühl ausnahmsweise mal falsch.
 

Mein Gefühl lag goldrichtig. Das weiß ich spätestens jetzt, eine Stunde später, weil ich den Ausflug schon jetzt bereue. Sora ist wirklich süß und würde es um einen anderen Jungen gehen, würde ich mich wahnsinnig für sie freuen, dass sie so glücklich ist. Aber es geht um Tai. Und nach fünf Läden und zig verschiedenen Satz-Varianten von: »Tai ist unglaublich toll«, kann ich einfach nicht mehr.

»Neulich hat er für uns beide gekocht«, schwärmt Sora, als sie das dritte Polo Shirt ausbreitet und vor sich in die Luft hält, um es ganz genau zu begutachten. Wenn sie Tai kennen würde, würde sie wissen, dass er Polo Shirts nicht mag. Aber ich habe es aufgegeben, ihr das zu verklickern.

»Es war irgendwie gewöhnungsbedürftig«, erzählt Sora weiter, während ich neben ihr stehe und so tue, als wäre ich in ein Kleid vertieft, das ich eben entdeckt habe. »Ehrlich gesagt kann er überhaupt nicht kochen. Es hat total eklig geschmeckt.«

Ja, auch das weiß ich. Tai hat ein mal probiert uns etwas zu kochen, als wir uns auf einen DVD Abend getroffen haben. Es endete darin, dass uns beiden schlecht wurde und wir uns letztendlich eine Pizza bestellt haben.

»Vielleicht wollte er dich vertreiben«, rutscht es mir gelangweilt heraus, also zucke ich schnell noch mit den Schultern und grinse unsicher, um den Anschein zu erwecken, ich hätte einen Witz gemacht. Zum Glück kommt es genau so bei Sora an, denn sie lacht herzhaft auf.

»Das schafft er nicht. Ich habe ihm nicht gesagt, dass es eklig war. Er hat mich zwar beim Essen die ganze Zeit mit Argusaugen beobachtet und darauf gewartet, dass ich irgendwas sage. Aber ich habe brav aufgegessen. So wie sich das für eine Freundin gehört.«

Falsch.

»Sollte man nicht in einer Beziehung immer ehrlich zueinander sein?«

Sora grinst und verdreht wissend die Augen, ehe sie das Polo Shirt Gott sei Dank zurück legt und die Hände in die Hüften stemmt. »Kleine Notlügen sind durchaus erlaubt. Und sie erhalten eine Beziehung am Leben.«

Ich runzle die Stirn. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so darüber denkt.

»Wie oft hast du bisher einen Orgasmus vorgetäuscht?«

Wie vor den Kopf gestoßen, klappt mir der Mund auf. »Was?«

Sora lacht wieder, aber diesmal ist es kein Witz. »Hast du das etwa noch nie gemacht? Also, einen Orgasmus vorgetäuscht, um die andere Person nicht zu kränken.«

Mit dieser Frage lässt sie mich stehen und schlendert weiter durch die Regale. Kurz bleibe ich wie angewurzelt stehen, dann folge ich ihr schnellen Schrittes.

»Warum fragst du mich so was?«, flüstere ich ihr zu, als hätten wir ein Geheimnis, das niemand hören darf. Dabei war ihre Frage laut und deutlich.

»Kannst du nicht einfach antworten, Mimi?«, fragt sie und klingt belustigt. Ich bleibe dicht hinter ihr stehen und beiße mir auf die Lippe. Sora und ich haben schon oft über Sex geredet, aber nie hat sie mich so direkt mit so einer Frage konfrontiert. So sehr ins Detail sind wir nie gegangen. Aber wenn ich ihr jetzt nicht antworte, denkt sie, ich wäre prüde und das will ich nicht.

»Nein, habe ich nicht«, sage ich schließlich und das ist die Wahrheit.

Sora dreht sich zu mir um und wirft mir einen wissenden Blick zu. Dann hebt sie den Zeigefinger, als wären wir in der Schule und sie müsste mir, als Lehrerin, ganz dringend was erklären.

»Also, wenn ich es mir aussuchen kann, ob ich meinem Freund ein gutes oder ein schlechtes Gefühl vermittle, dann entscheide ich mich für das Gute. Ist doch ganz klar, oder? Hätte ich Tai sagen können, dass sein Essen schrecklich war? Auf jeden Fall. Aber was hätte es mir gebracht? Es hätte ihn vermutlich gekränkt und die Stimmung wäre im Eimer gewesen. Also sind kleine Notlügen durchaus vertretbar.«

Ich schlucke und versteife mich und schüttle innerlich den Kopf über das, was sie gesagt hat. So denkt sie also wirklich? Das ist die Grundlage ihrer Beziehung? Dem anderen etwas vorgaukeln, damit es den Anschein erweckt, alles sei in Ordnung?

»Also …«, beginne ich zaghaft und bringe die Frage beinahe nicht über die Lippen. »Hast du ihm auch schon mal einen Orgasmus vorgetäuscht?«

Ich bereue es sofort in dem Moment, als die Worte meinen Mund verlassen und Sora vielsagend grinst.

»Nein. Das war zum Glück bis jetzt noch nicht nötig. Tai ist suuuper gut im Bett. Echt der Hammer, wenn du wüsstest …«

Mich schüttelt es so sehr, dass ich glaube, kreidebleich zu werden. Sofort schießt mir das Kopfkino ins Gehirn und zerrt an meinen Nervenenden, dass mir ganz schlecht davon wird.

Oh, man. Ich weiß doch, dass die beiden zusammen sind und ganz sicher auch Sex miteinander haben … aber jetzt habe ich es auch noch direkt vor Augen. Das will ich auf gar keinen Fall.

Sora beginnt bei meinem Anblick zu lachen und legt mir eine Hand auf die Schulter.

»Entschuldige. Das wolltest du ganz sicher nicht wissen. Schließlich bist du wie eine Schwester für ihn.«

Wusch! Noch ein Schlag in die Magengegend.

»Hat er …« Ich schlucke schwer. Meine Kehle ist mit einem mal staubtrocken. »Hat er das gesagt?«

Sora nickt lächelnd und mehr muss ich nicht wissen. Mehr will ich gar nicht wissen.

»Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Lassen wir das Thema«, sagt sie schließlich und widmet sich ungerührt wieder ihrer Suche nach dem perfekten Geschenk. Ich hingegen stehe da wie eine Vollidiotin und fühle mich hundeelend. Ich weiß, dass wir beste Freunde und quasi wie Geschwister aufgewachsen sind, weil wir immer in dieselben Kindergärten, in dieselben Schulen, in dieselben Vereine gingen. Aber, dass ich wie eine Schwester für ihn bin, höre ich zum ersten Mal. Kein Wunder, dass er mich kein einziges Mal angerührt hat, wenn ich bei ihm übernachtet habe.

Ich bin so blöd!

»Wie findest du das?«, rüttelt mich Sora aus meiner Trance und hält mir ein hellblaues Hemd vor die Nase.

Ich lege den Kopf schief. Tai hasst hellblau.

Ich atme tief ein, weil ich versuche so viel wie möglich Luft in meine Lungen zu pumpen. Ich fühle mich wie benebelt und mir schwirrt der Kopf.

»Nein, hellblau mag er nicht«, antworte ich ehrlich. Geknickt lässt Sora das Hemd sinken. Dann stöhnt sie laut auf. »Es ist hoffnungslos.«

Ich versuche mich zu berappeln. Ich muss so schnell wie möglich hier weg und das schaffe ich nur, wenn diese furchtbare Tai-Shopping-Tour ein Ende hat.

»Komm mal mit«, sage ich und gehe in Richtung Kasse. Neugierig heftet Sora sich an meine Fersen. Zielsicher greife ich in ein Regal und drücke ihr ein schwarzes Leder Portemonnaie in die Hand.

Sora runzelt die Stirn. »Also, darauf wäre ich jetzt nicht gekommen.«

Ungerührt zucke ich mit den Schultern. »Tai hat seines letzten Monat verloren. Und weil er zu faul ist, sich ein neues zu besorgen, schleppt er seitdem sein Geld und all seine Personalien mit sich in der Hosentasche rum. Das Geschenk wäre also perfekt.«

Soras Mund verzieht sich zu einem breiten Lächeln. »Oh, wirklich? Das wusste ich gar nicht.«

Du weißt so vieles nicht von ihm - schießt es mir durch den Kopf und Tränen der Verbitterung steigen mir in die Augen.

»Danke, Mimi«, strahlt Sora glücklich. »Du bist echt die Beste!« Dann marschiert sie mit dem Portemonnaie zur Kasse. Ich tippe sie an der Schulter an und sehe ihr lächelnd in die Augen, als sie sich zu mir umdreht.

»Ehrlichgesagt habe ich noch etwas zu tun. Wäre es okay, wenn ich schon mal nach Hause gehe? Du hast ja jetzt das, wonach du gesucht hast.«

Sora zuckt mit den Schultern. »Klar, kein Thema. Ich hatte zwar gehofft, dass wir noch was essen gehen, aber das können wir auch verschieben.«

Ich nicke. Der Appetit war mir gehörig vergangen. Wir verabschieden uns und ich verlasse das Geschäft. Kaum bin ich auf die Straße getreten, schießen mir schon die Tränen in die Augen, die ich die ganze Zeit zurückgehalten habe und die ich eigentlich gar nicht zulassen wollte. All diese Gefühle wollte ich nicht mehr zulassen. Die Eifersucht. Die Bitterkeit. Das Gefühl von Zurückweisung.

Ich hasse es.

Ich hasse all diese Gefühle so sehr.

Aber am meisten hasse ich mich selbst dafür, dass ich so empfinde.

Mimi

Zwei Tage später starre ich wie hypnotisiert auf den Kalender an meiner Wand im Schlafzimmer. Der Tag ist rot markiert und ich starre ihn so intensiv an, als könnte ich ihn dadurch irgendwie verändern. Die Zeit vor drehen oder ihn einfach komplett verschwinden lassen. Aber ich seufze nur, denn es nützt nichts. Heute ist Tais Geburtstag und eben hat er mir geschrieben, wie sehr er sich freut, mich heute Abend zu sehen. Hastig tippe ich eine Antwort, bevor ich es mir anders überlegen kann. Natürlich freue ich mich auch, wirklich. Tais Geburtstag war schon immer etwas Besonderes, weil wir, obwohl er ihn jedes Jahr mit einer großen Party feiert, ihn immer haben gemeinsam ausklingen lassen. Am Ende des Tages waren wir immer zu zweit und haben uns mit den Resten vom Kuchen den Bauch vollgeschlagen. Danach hat Tai seinen Wunsch fürs kommende Lebensjahr auf einen Zettel geschrieben, ihn an eine Rakete gebunden und wir haben ihn mit einem lauten Knall in den Himmel abgefeuert. Eine Tradition, die seine Mom früher ein mal in die Familie eingeführt hat. Irgendwann dachte sie, Tai und Kari wären zu alt dafür geworden. Aber Tai hat die Tradition fortgesetzt. Jedes Jahr, mit mir zusammen.

Bei dem Gedanken daran lächle ich. Nur, um eine Sekunde später gequält das Gesicht zu verziehen. Dieses Jahr wird es das erste Mal anders sein. Dieses Jahr werde ich nicht als Letzte an seiner Seite sein. Dieses Jahr werde ich keine Rakete mit ihm abfeuern. Weil Sora es tun wird.

Und das ist okay. Sie ist immerhin seine Freundin. Trotzdem weiß ich jetzt schon, dass ich es vermissen werde. An diesen Abenden habe ich mich Tai immer besonders nahe gefühlt. Es war diese eine Sache, die er nur mit mir geteilt hat und deshalb habe ich mich ihm verbunden gefühlt.

Noch etwas, das ich nun hinter mir lassen muss.

Dennoch gehe ich zu meinem Schrank und suche mir ein Kleid aus. Als ich es jedoch in den Händen halte und es betrachte, frage ich mich, wozu ich mich eigentlich so aufbrezeln soll? Interessiert doch eh keinen.

Eine Jeans und Shirt tun es auch. Ich krame die Älteste von allen aus der hintersten Ecke hervor und ziehe sie entschlossen an. Sie hat ein paar Risse und kneift an den Schenkeln, weil ich, seit ich sie das letzte Mal getragen habe, ein wenig zugenommen habe. Aber egal. Dafür wird das Shirt umso weiter. Ich entscheide mich für ein oversized T-Shirt, welches ich mir in die eh schon hautenge Jeans stecke. Dann lege ich Tais Kette an. Egal, wie ich mich gerade fühle … sie erinnert mich immer daran, dass Tai immer für mich da sein wird. Sie gibt mir Kraft. Und genau das brauche ich heute Abend.

Ich stecke Tais Geschenk in meine Tasche und als es an der Zeit ist, mache ich mich auf den Weg. Ich weiß, es ist eigentlich noch viel zu früh. Aber je eher ich komme, desto eher kann ich wieder gehen. Ich fahre einige Stationen mit der U-Bahn, steige jedoch etwas früher aus, um den Rest des Weges zu Fuß zu gehen und noch ein wenig die frische Abendluft zu genießen.

In Wahrheit versuche ich einfach nur Zeit zu schinden. Was mir nicht besonders gut gelingt, denn nur nach zwanzig Minuten gemütlichem Spaziergang, bin ich an Tais Wohnung angekommen. Glücklicherweise höre ich von innen bereits Musik. Gut, ich bin also nicht die Erste.

Ich hebe meinen Finger und will klingeln, als im selben Moment die Tür aufgerissen wird und Tai vor mir steht.

Erschrocken springe ich zurück. »Gott, verdammt«, stoße ich fluchend aus. »Kannst du Gedanken lesen oder wolltest du mich einfach nur zu Tode erschrecken?«

Tai verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich grinsend gegen den Türrahmen. »Vielleicht ein bisschen von beidem.«

»Okay«, schnaufe ich. »Ich drehe gleich wieder um.« Auf dem Absatz mache ich kehrt, doch Tai packt mich am Handgelenk und zieht mich zurück - direkt in seine Arme.

Er drückt meinen Körper an seine harte Brust und meine Lungen versagen mir den Dienst. Mit seinen Armen umschließt er mich und presst mich fest an sich. Zu viel unerwartete Nähe … ich werde sicher gleich ohnmächtig.

»Ich freue mich, dass du da bist«, seufzt er in mein Haar.

»Schön«, keuche ich, nach Luft ringend. »Aber du erdrückst mich.«

Tai spannt seine Muskeln noch mal extra an, so dass ich fast ersticke, dann lässt er mich los. Hastig schnappe ich nach Luft.

»Hätte ich gewusst, dass du mich mit deiner Liebe fast erdrücken würdest, hätte ich dir einen Teddy geschenkt«, sage ich und Tai sieht mich amüsiert an.

»Ich kann nichts dafür, dass du so klein und zerbrechlich bist. Übrigens …« Er sieht an mir hinab, dann wieder in meine Augen. »Tolles Outfit.«

Ich stutze. Will er mich veräppeln? Andächtig ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe.

»Du musst mich nicht auf den Arm nehmen.«

»Das war kein Witz«, erwidert Tai und zwinkert mir zu.

Dieser Blick … verdammt.

Hitze schießt mir ins Gesicht. Er hat das wirklich ernst gemeint. Aber warum sieht er mich gerade an, als würde ich im Ballkleid vor ihm stehen? Es sind doch nur irgendwelche alten Klamotten.

»So gefällst du mir am besten«, fügt er noch hinzu, ehe er mich am Arm packt und rein zieht. Völlig überrumpelt stolpere ich mit ihm, doch bevor er mich zu der Meute ins Wohnzimmer zerren kann, halte ich ihn auf.

»Tai, warte.«

Überrascht dreht er sich zu mir um. »Was ist denn?«

»Dein äh … dein Geschenk«, stammle ich etwas verlegen und ziehe eine kleine Schachtel hervor. »Ich möchte es dir gerne jetzt geben. Später haben wir sicher keine Gelegenheit mehr dazu und ich dachte …«

»Zeig mal her«, unterbricht Tai mich und reißt mir das Geschenk gierig aus der Hand.

»Äh ja, also dann … Happy Birthday.«

Verdattert sehe ich ihm dabei zu, wie er die Schachtel eilig öffnet, als wäre er ein kleines Kind und ich der Weihnachtsmann. Zunächst runzelt er die Stirn, als er zwei kleine Papierstücke darin findet. Doch dann grinst er breit.

»Das sind zwei Tickets«, erkläre ich ihm.

»Für's Cosmo Planetarium«, sagt er und seine Augen beginnen zu leuchten. Und das ist das schönste Geschenk für mich.

»Wow, danke! Hey Mimi, wir könnten doch …«, setzt er an, doch dann greift eine Hand um seine Schulter und entreißt ihm die Karten.

»Zwei Karten fürs Planetarium?«, höre ich Matt's Stimme hinter Tai sagen, bevor er an ihm vorbei tritt. Seine Stirn ist in Falten gelegt. »Wow! Ich stehe total auf Dunkelheit und enge Räume«, sagt er und schielt kurz zu mir rüber, was ausreicht, um mich erröten zu lassen. Dann wendet er sich wieder an Tai. »Also, wenn du möchtest, gehe ich gerne mit dir hin.«

Tai knurrt und reißt ihm die Karten aus der Hand. »Als ob ich mit dir da hin gehen würde, Dummkopf.«

Matt verdreht die Augen und grinst. »Das verletzt mich jetzt aber. Dann nimm doch einfach Mimi mit. Ich bin sicher, sie steht auf so einen Kitsch. Sonst hätte sie dir das nicht geschenkt.«

Ein weiteres Schielen in meine Richtung und wenn ich eben schon rot war, glühen meine Wangen jetzt lichterloh.

»Du Vollidiot«, presse ich hervor und sehe ihn giftig an. »Natürlich sind die Karten für Tai und Sora. Wieso sollte er nicht mit ihr dort hin gehen?«

Tai wirft mir einen seltsamen Blick zu, öffnet dann den Mund, um etwas zu erwidern, schließt ihn jedoch wieder und haut stattdessen Matt eine auf den Hinterkopf.

»Genau. Vollidiot. Danke, für das Geschenk, Mimi.« Mit den Augen rollend dreht er sich um und verschwindet im Wohnzimmer. Matt lacht und möchte ihm folgen, doch ich halte ihn am Arm fest.

»Hey, sag mal, was sollte das denn eben?«

Fragend sieht er mich an. »Was meinst du?«

»Du weißt genau, was ich meine?«, flüstere ich bissig. »War das eben etwa kein total bescheuerter Versuch, uns beide zu verkuppeln? Dachtest du ernsthaft, Tai würde mich um ein Date bitten, wenn du einen dämlichen Spruch loslässt? Du weißt genauso gut wie ich, dass er das nicht tun wird. Also, was soll das Gestichel?«

Für einen Moment sieht Matt mich einfach an. Dann beginnt er belustigt zu schmunzeln.

»Ich habe wirklich keine Ahnung, was du meinst.« Er streift meine Hand von seinem Arm und geht zurück ins Wohnzimmer, während ich irritiert auf der Stelle stehe.

Was ist nur los mit ihm? Erst macht er mir dieses unmoralische Angebot, dass ich mit ihm schlafen soll und jetzt bringt er mich vor Tai in Verlegenheit? Was soll das? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er es in letzter Zeit auf mich abgesehen hat. Und das gefällt mir gar nicht.
 

Für den Rest des Abends gehe ich Matt so gut es geht aus dem Weg. Und auch er redet seit dem peinlichen Schlagabtausch im Flur kein Wort mehr mit mir. Aber das ist auch nicht schwer, denn es sind genügend Leute da, mit denen ich mich unterhalten kann. Kari zum Beispiel, deren neulicher Zusammenbruch, von dem Tai mir erzählt hat, mir nicht mehr aus dem Kopf geht.

»Hey«, sage ich deshalb und schleiche mich von hinten an sie ran. Sie erschrickt kurz, lächelt mich dann jedoch an.

»Oh, Mimi. Du bist es nur. Ich dachte schon, es wäre …« Sie stoppt und schüttelt den Kopf. »Nicht so wichtig. Hast du Spaß?«

Ich nicke und stelle mich neben sie. »Und du? Möchtest du was trinken?« Provokativ halte ich ihr mein Weinglas hin. Sie schaut es kurz an und schüttelt dann angewidert den Kopf.

»Nein, danke.«

»Du hast wohl erst mal genug von dem Zeug«, sage ich spitzfindig und nehme selbst einen Schluck. Kari verdreht die Augen. Dabei sieht sie immer genauso aus wie Tai, wenn er das tut.

»Natürlich hat mein Bruder dir davon erzählt«, stöhnt sie genervt. »Was auch sonst.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust und ich kichere.

»Tut mir Leid, aber er erzählt mir alles, das weißt du doch.« Oder … fast alles. Bis auf diese eine Sache, die er mir nicht erzählt hat. Aber das ist jetzt nicht wichtig.

»Was war an dem Abend los mit dir, Kari?«, frage ich mitfühlend, doch ihr Blick bleibt stur geradeaus gerichtet.

»Gar nichts. Ich hatte lediglich ein bisschen Spaß. Ist das etwa verboten?«

Oh, oh. Dünnes Eis. Manchmal vergesse ich, dass Kari mitten in der Pubertät steckt. Wenn ich nicht aufpasse, was ich sage, wird sie dicht machen.

»Natürlich ist das nicht verboten«, sage ich deshalb verständnisvoll, obwohl ich etwas anderes denke und ihr am liebsten eine Standpauke halten würde, was in ihrem Alter alles noch verboten ist. »Aber dein Bruder hat sich wirklich Sorgen um dich gemacht. Und ich ehrlichgesagt auch, als er mir davon erzählt hat. Es ist nur … das bist doch nicht du, Kari.«

»Nun, aber vielleicht bin ich ja jetzt so«, sagt sie und wirkt beleidigt. »Anscheinend sind Menschen oft anders als man denkt.«

Bingo. Das war mein Stichwort.

»Hattest du Streit mit jemanden und hast dich deshalb so betrunken?«, hake ich vorsichtig nach.

»Kann man so sagen«, entgegnet sie und seufzt. Mir entgeht dabei nicht, dass ihre Augen dabei zu T.K. wandern, der mit seinem Bruder in einer Ecke des Wohnzimmers steht und redet. »Wie kann das sein, Mimi?«

Ich folge ihren Blicken und bleibe ebenfalls an T.K. und Matt hängen. »Was meinst du?«

»Ich meine: wie kann das sein, dass du denkst, du kennst eine Person und von der einen Sekunde auf die andere, verändert sie sich wortwörtlich vor deinen Augen? Und plötzlich steht da ein anderer Mensch und du stellst alles in Frage, was du je geglaubt hast, über diesen Menschen zu wissen. Wie ist das möglich?«

Ihre Worte versetzen meinem Herzen einen kurzen Stich, denn sie treffen genau ins Schwarze. Ich sehe noch einen Moment Matt an, der sich ausgelassen unterhält und dabei lacht und frage mich ernsthaft, wie gut ich ihn eigentlich kenne. Dann suchen meine Augen Tai, der wenige Meter entfernt steht und sich mit Sora unterhält. Dabei kichert sie und wirft ihm verliebte Blicke zu.

Ich weiß genau, was Kari meint …

»Diese Frage kann ich dir nicht beantworten«, sage ich aufrichtig und zwinge mich, den Blick von den beiden abzuwenden. Stattdessen sehe ich Kari an und lege ihr eine Hand auf die Schulter.

»Ich weiß nicht, was vorgefallen ist«, sage ich. »Aber manchmal lohnt es sich, noch ein zweites Mal hinzusehen und sich zu fragen, ob diese Person sich wirklich so sehr verändert hat wie man glaubt.«

Kari legt den Kopf schief und lächelt gequält auf.

»Danke, Mimi. Vielleicht hast du recht.«

Ich schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Wenn du reden willst, ich bin jederzeit da.«

»Ich weiß«, sagte sie und nickt. Dann grinst sie breit. »Aber bei dir muss ich immer Angst haben, dass du es meinem Bruder erzählst. Ihr zwei seid einfach unmöglich. Nichts könnt ihr voreinander verbergen.« Anklagend zeigt sie mit dem Finger auf mich, während ich ihre Aussage mit einem Grinsen überspiele. Wenn sie wüsste … schließlich verberge ich schon seit Ewigkeiten etwas vor Tai.

»Ich kann schweigen wie ein Grab, wenn es sein muss«, sage ich und hebe ergeben die Hände.

»Gut«, lacht Kari. »War auch nur ein Witz.«

»Hey, Leute«, unterbricht uns plötzlich eine Stimme und wir zucken beide zusammen. T.K. und Matt stehen vor uns. Und so wie sie beide grinsen, heißt das nichts Gutes. »Habt ihr Lust auf ein Spiel?«, fragt T.K.

Kari und ich sehen uns fragend an.

»Welches Spiel?«, will Kari wissen und T.K. stemmt beide Hände in die Hüfte.

»Es heißt Who among you …?«, erklärt T.K.

»Das heißt: Wer von euch …?«, übersetze ich stirnrunzelnd.

»Sehr gut, du Sprachgenie«, neckt mich Matt und ich strecke ihm die Zunge raus.

»Klingt für mich schwer nach Flaschendrehen«, werfe ich genervt ein. »Das ist echt kindisch.«

Matt stöhnt auf und wirft den Kopf in den Nacken. »Oh man, kannst du nicht wenigstens mal versuchen, ganz ungezwungen Spaß zu haben?« Sein neckisches Grinsen durchbohrt mich und trifft genau den richtigen Nerv. Ich werde rot. Schon wieder.

Na warte, Ishida!

»Doch, kann ich«, zicke ich ihn an und schnappe mir Kari. »Komm Kari, klingt doch nach einem lustigen Spiel, findest du nicht?« Siegessicher stapfe ich an Matt vorbei und wir gesellen uns zu der kleinen Gruppe, die sich bereits um den Wohnzimmertisch gebildet hat, während Kari sich sträubt.

»Na, ich weiß ja nicht«, sagt sie zweifelnd, setzt sich jedoch trotzdem neben mich. Außer uns haben sich noch Tai und Sora, Izzy, Matt und T.K. natürlich und noch einige Freunde von Tais Uni hinzugesellt, die ich aber alle nicht kenne. Zwei Minuten später bereue ich es schon wieder, als jemand die Spielregeln erklärt.

In der Mitte des Tisches liegt ein Stapel Karten, auf dem Fragen stehen. Die Fragen sind jeweils an alle Spieler gestellt und jeder muss antworten. Es sind total peinliche Fragen, die teilweise mit Aktionen verbunden sind, bei denen sich mir die Nackenhaare aufstellen.

Schon nach der ersten Frage, möchte ich im Erdboden versinken. Aber vorher haue ich Matt noch eine runter.

»Was denkt ihr, wer hat das heißeste Unterhöschen an? Stimmt ab! Derjenige muss es ausziehen und den Rest des Abends ohne Höschen gehen oder sein Getränk auf ex trinken«, fordert ein Mitspieler und ich rutsche unruhig auf meinem Platz hin und her. Jedes Mal, wenn ein Auserwählter eine Aufgabe ablehnt, muss er dafür einen Shot trinken.

Okay. Ich werde definitiv betrunken aus diesem Spiel rausgehen.

Oder aber ich habe so viel Glück und niemand stimmt für mich. Bis jetzt stehen meine Sterne gut. Ich danke Gott dafür, dass ich mich vorhin für meine alte Jeans und das übergroße T-Shirt entschieden habe, denn so kommt niemand auf den Gedanken, dass ich ein heißes Höschen tragen könnte. Stattdessen wird ein Mädchen von Tais Uni auserkoren, die nur ihren Shot schief angrinst, dann jedoch aufsteht und ins Badezimmer verschwinden. Mir klappt der Mund auf, während ihr alle anderen hinterher pfeifen und Beifall klatschen.

Oh Gott. Man merkt eindeutig, dass ich keine Uni-Party-Erfahrung habe. Nachdem das Mädchen zurückkehrt, sich wieder hinsetzt und allen verkündet, ihr Höschen hätte sie im Badezimmer gelassen, als Geburtstagsgeschenk für Tai, lachen alle auf, während mir die Hitze ins Gesicht schießt. Kari, die neben mir sitzt, geht es offensichtlich ähnlich und sie steht von ihrem Platz auf.

»Das wird mir zu viel.«

»Hey«, sage ich vorwurfsvoll. »Du kannst mich doch nicht hier alleine lassen.«

»Äh, doch«, sagt sie schief grinsend. »Minderjährig. Schon vergessen?« Sie zwinkert mir zu, während ich ihr einen »Echt jetzt?« Blick zuwerfe. Betrinkt sich vor kurzem noch besinnungslos und spielt jetzt die Ich-bin-minderjährig-Karte aus?

Leider kann ich nicht mit so einer Ausrede dienen und ein Blick in Matt’s Gesicht, der mir direkt gegenüber sitzt genügt, um zu wissen, dass ich sowieso keine andere Wahl habe. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und grinst mich vielsagend an, weil er nur darauf wartet, dass ich aufgebe und ihm somit beweise, wie prüde ich bin.

So ein Arsch. Warum hat er es nur darauf angelegt, mich so aus der Reserve zu locken?

Bissig erwidere ich seinen Blick und verwerfe jeden Gedanken daran, bei diesem Spiel das Handtuch zu werfen. Ich schaue zu Sora und Tai, die sich kaputt lachen und ganz offensichtlich Spaß an diesem Theater haben.

»So, nächste Frage«, fordert Izzy den Kartenleser ungeduldig auf, weil er es anscheinend gar nicht erwarten kann. Man … sogar er findet es gut. Vielleicht muss ich mich einfach nur darauf einlassen und locker machen. Ich atme tief durch und erwarte die nächste Frage. Was ich nicht erwartet habe ist, dass sie mich komplett aus der Bahn wirft.

»Stimmt ab: …«, beginnt der Spielführer laut vorzulesen und sieht erwartungsvoll in die Runde. » … Welche Spieler wären das süßeste Pärchen? Das gewählte Pärchen ist für den Rest des Abends in einer Beziehung oder trinkt seine Getränke aus.«

Ich schlucke schwer, während ich hastig alle anwesenden Gesichter überfliege und überlege, wer von ihnen wohl am besten zusammen passen würde. Na ja, Sora und Tai jedenfalls schon mal nicht. Die sind raus, weil sie ja eh schon ein Paar sind. Das wäre witzlos.

Vielleicht Matt und das Höschen Mädchen? Ha! Damit könnte ich es ihm so richtig heimzahlen! Obwohl … so wie ich ihn kenne, würde er sich noch darüber freuen. Vielleicht doch lieber Izzy und …

»Die beiden!«, unterbricht das Höschen Mädchen laut meine Gedankengänge und rüttelt mich augenblicklich wach, indem sie mit dem Finger auf mich zeigt. Und dann auf Tai.

Was? Spinnt die?

Ich reiße die Augen auf und sehe Tai an, der nicht weniger überrascht ist. Und Sora … die sieht nur entgeistert zwischen uns beiden hin und her.

Oh Gott. Scheißeee!

»Sorry, Sora«, flötet sie unterdessen und faltet entschuldigend die Hände. »Aber das wäre doch echt witzig, oder?«

Aha. Finde ich nicht.

Ich versuche nicht all zu bestürzt zu wirken und stattdessen zu Tai rüber zu schielen, um irgendwie in Erfahrung zu bringen, was er davon hält. Doch seine Miene ist völlig ausdruckslos. Er sieht mich nicht mal an. Dafür sieht er Sora umso eindringlicher an, als würde er sie still um ihr Einverständnis bitten, was aber nicht kommen wird. Tai, du … Idiot.

Gekränkt balle ich die Hände auf meinem Schoß zu Fäusten, während Wut in mir aufsteigt. Wenn er es nicht will, dann soll er es doch einfach sagen.

»Also, ich fände es auch witzig. Der beste Freund und die beste Freundin. Irgendwie putzig«, fängt jetzt auch noch Matt an zu sticheln und sieht mich herausfordernd an. Alle anderen stimmen lachend mit ein. Er wirft Tai ein vielsagendes Grinsen zu, der immer noch stumm bleibt und ihn einfach nur ansieht. Dann wendet er den Kopf in meine Richtung und öffnet den Mund. Doch es kommt immer noch kein Ton heraus. Nichts. Er sagt einfach gar nichts dazu.

»Also, was ist jetzt?«, drängt das Höschen Mädchen und der Kartenleser, weil alle anderen uns bereits ungeduldig ansehen und auf eine Antwort warten.

Ich werfe einen letzten Blick zu Tai, dessen Augen immer noch wortlos auf mich gerichtet sind. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen und meine Augen verengen sich zu zwei Schlitzen. Kurzentschlossen schnappe ich mir den Shot, der vor mir steht und kippe ihn in einem Zug runter.

Ungläubiges, aber auch belustigtes Gelächter bricht aus, während ich wütend das Glas auf den Tisch knalle.

»Okaaay«, sagt der Spielführer gedehnt und legt die Karte beiseite. »Wie es aussieht, hat sie sich entschieden.«

»Scheint so«, sagt nun auch Tai, nachdem er den kurzen Moment der Schockstarre überwunden hat und greift ebenfalls nach seinem Glas, um es auszutrinken. Genauso wie ich, knallt er es danach auf den Tisch und steht auf.

»Ich spiel nicht mehr mit«, verkündet er knapp, dreht sich um und verschwindet ins Badezimmer. Sora, ich und alle anderen sehen ihm irritiert hinterher.

Ist er gerade wütend abgedampft? Aber wieso?

Als nächstes steht Sora auf und sagt ebenfalls, dass sie genug habe. Und auch ich habe auf dieses blöde Spiel keinen Bock mehr. Ich werfe Matt einen wütenden Blick zu, der sich offenbar keiner Schuld bewusst ist und stehe auf. Warum ist Tai nur so sauer?

Dazu hat er kein Recht. Und überhaupt: er war doch derjenige, der nichts gesagt hat. Ich habe lediglich die Entscheidung für uns beide getroffen, was das einzig Vernünftige war. Sonst hätte Sora ihm den Kopf abgerissen. Wobei, nach Tais Reaktion eben, macht sie das wahrscheinlich ohnehin. Ich verstehe wirklich nicht, was er für ein Problem hat.

Ach. Zum Teufel mit dir, Taichi.

Und zum Teufel mit dir, Matt. Ich frage mich inzwischen wirklich, was er vor hat und warum er uns so zwanghaft aus der Reserve locken will? Letztendlich geht das hier mal wieder auf sein Konto.

Mimi

Ich ziehe mich den restlichen Abend so sehr zurück, dass ich Tai so gut wie gar nicht mehr zu Gesicht kriege. Warum ich nicht einfach nach Hause gehe, weiß ich selbst nicht. Wahrscheinlich möchte ich mir selbst was beweisen. Nämlich, dass mir seine Reaktion von vorhin nichts ausmacht. Würde ich jetzt einfach so verschwinden, wäre das nur eine weitere Bestätigung, wie schlecht ich meine Gefühle unter Kontrolle habe. Nach dem Treffen neulich mit Sora war ich kurzzeitig vom Weg abgekommen. Ich war eifersüchtig über die Dinge gewesen, die sie mir erzählt hatte und sauer über meine Gefühle, weil ich sie nicht im Griff hatte.

Anscheinend hatte Tai sich ebenso wenig im Griff. Ich verstehe nur nicht, warum das so ist. Hat ihn meine Reaktion vorhin so sehr getroffen, dass er beleidigt abgedampft ist? Das kann ich mir nicht vorstellen. Das Ganze war doch nur ein dummes Spiel gewesen und wir hätten alles Mögliche antworten können. Aber wir entschieden uns für die denkbar schlechteste Variante. Er, indem er einfach gar nichts sagte und ich, indem ich beleidigt und getroffen agiert hatte. Ich spüre jetzt noch Soras misstrauischen Blick auf uns haften. Dabei hat sie überhaupt keinen Grund, irgendetwas zu denken. Tai ist der treuste und loyalste Mensch, den ich kenne. Was man von jemand anderen wohl nicht behaupten kann …

Matt ist so ein Idiot!

Früher hat er nie irgendwelche Anspielungen gemacht, in Bezug auf Tai und mich. Aber seit er bei dem Konzert neulich Abend spitz gekriegt hat, dass ich Gefühle für meinen und seinen besten Freund hege und offensichtlich ein Problem mit Tais Beziehung zu Sora habe, lässt er nicht mehr locker. Aber warum? Was weiß er, was ich nicht weiß? Was hat er für Absichten?

Während ich noch diesen Fragen nachhänge, bringe ich mein leeres Glas in die Küche und gehe zurück ins Wohnzimmer. Ich lasse den Blick über die Leute wandern. Kari ist leider gerade in ein Gespräch mit einem anderen Mädchen vertieft, genauso wie Izzy, der mal wieder sein grenzenloses Informatikwissen zum Besten gibt und dabei auf begeisterte Zuhörer stößt. T.K. kann ich nirgendwo entdecken. Und mit allen anderen Anwesenden habe ich auch schon gesprochen, um mich abzulenken.

Diese Party ist wohl für mich vorbei.

Ich sollte Tai suchen und mich höflich verabschieden.

Aber ich kann ihn nirgendwo finden. Seltsam. So groß ist diese Wohnung doch gar nicht. Weil ich ihn im Wohnzimmer und in seinem Schlafzimmer nicht finden kann, gehe ich in die Küche zurück. Sicher ist er auf dem Dach und schießt mit Sora seine Wunschrakete gen Himmel.

Dicht vor dem Kühlschrank bleibe ich stehen. Ein Seufzen dringt aus meiner Kehle, ehe meine Stirn gegen die Kühlschranktür knallt und darauf liegen bleibt.

»Ich bin so eine Idiotin«, sage ich zu mir selbst und würde mir am liebsten eine Ohrfeige verpassen.

»So weit würde ich jetzt nicht gehen.«

Ich zucke zusammen und fahre herum. Matt steht in der Tür und sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. Die Hände hat er in den Hosentaschen seiner schwarzen Jeans vergraben.

»Vielleicht ein bisschen naiv«, fügt er hinzu und legt den Kopf schief. »Aber sicher keine Idiotin.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. Was will er denn jetzt schon wieder? Wenn er denkt, ich wäre gut auf ihn zu sprechen, dann hat er sich geschnitten.

Matt kommt auf mich zu und bleibt viel zu dicht vor mir stehen, während ich die Arme sinken lasse und so weit zurückweiche, dass sich mein Rücken gegen die Kühlschranktür drückt.

Matt sieht zu mir hinab und ich funkle ihn an. Er hebt die Hand und legt einen Zeigefinger auf meine Stirn.

»Du bist keine Idiotin, Mimi«, sagt er noch einmal, diesmal nicht belustigt, sondern mit ruhiger Stimme. Sein Zeigefinger gleitet hinab, über meinen Nasenrücken, meine Nasenspitze, bis er schließlich meine Lippen erreicht. Dort verweilt er einen Moment, während er mir fest in die Augen sieht und ich in eine Art Schockstarre gerate. Meine Lippen wollen unter der Berührung seines Fingers beben, aber ich gestatte es ihnen nicht. Meine Finger suchen nach irgendetwas, an das sie sich festkrallen können. Doch da ist nichts. Außer die Kühlschranktür hinter mir und er, dicht vor mir.

Sein Blick ist durchdringend, geht mir direkt unter die Haut, die bereits erwartungsvoll kribbelt. Eben war ich noch kampflustig und wollte ihm mal so richtig die Meinung geigen. Jetzt bringen seine blauen Augen mich total aus dem Konzept. Es verwirrt mich, dass er solch eine Wirkung auf mich hat, wenn er mir so nah ist, wie jetzt.

Doch als seine Finger mein Kinn umfassen, er es anhebt und sich zu mir beugt, erwache ich aus meiner Trance.

Wütend schlage ich seine Hand weg und er hält inne.

»Lass den Unsinn!«, fordere ich ihn auf und er richtet sich grinsend wieder auf.

Innerlich atme ich auf. Er hatte nicht wirklich vor, mich eben zu küssen, oder?

Nein … das würde er nicht tun. Er spielt nur mit mir.

»Was sollte das vorhin?«

»Was?«, meint er neckend und seine Mundwinkel zucken. »Du meinst das blöde Spiel?«

»Genau das meine ich, Sherlock«, erwidere ich bissig. »Du hast mich total vorgeführt. Und Tai auch, vor Sora.«

»Oh nein, ich habe euch nicht vorgeführt. Das erledigt ihr schon selbst.«

Mir klappt der Mund auf, so fassungslos bin ich über seine Antwort. »Was soll das bedeuten?«, frage ich und recke mich ihm herausfordernd entgegen, was den Abstand zwischen uns noch weiter verringert. Matt scheint das nicht im Geringsten abzuschrecken. Im Gegenteil. Er hebt das Kinn an und beugt sich zu mir, so dass er nur noch flüstern muss und ich ihn trotzdem verstehe.

»Ich sagte doch, du bist naiv, Mimi. Siehst du denn nicht, was direkt vor deinen Augen passiert?« Er sieht mich an, doch ich kann nur den Kopf schütteln.

»Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«

Wieder schüttle ich den Kopf. Was will dieser Kerl von mir?

»Nun«, sagt er und seine Hand schiebt sich hinter meine Taille. Ich erstarre und ziehe scharf die Luft ein, weil es das erste Mal ist, dass er mich dort berührt.

Mir schwirrt der Kopf.

Ich kann seinen Duft riechen, seinen festen Griff in meinem Rücken spüren.

Verlockend …

Oh, verdammt!

Er ist mir viel zu nah. Schon wieder.

»Es ist nicht meine Aufgabe, Amor zu spielen«, seufzt er plötzlich resigniert. »Könnte ich mir jetzt also bitte endlich ein Bier nehmen?«

Verdattert sehe ich ihn an, während er nur schief grinst. Erst jetzt bemerke ich, dass seine Hand gar nicht mich berührt, sondern auf dem Griff der Kühlschranktür liegt. Er wollte lediglich an den verdammten Kühlschrank.

»Oh«, bringe ich peinlich berührt hervor und springe augenblicklich zur Seite. Matt öffnet den Kühlschrank, nimmt sich ein kaltes Bier raus und öffnet es, völlig unbeeindruckt, während ich schon wieder im Erdboden versinken möchte. Die Hitze schießt mir in die Wangen und ich wende den Blick von ihm ab.

Er spielt nur mit dir. Du bist doch eine Idiotin, Mimi.

»Hör mal«, beginnt Matt nun trocken, nachdem er das Bier zur Hälfte geleert hat und sieht mich an. »Du musst das echt lassen. Du kannst nicht jedes Mal rot werden, wenn ich in deiner Nähe bin. Das macht mich so ziemlich wahnsinnig.«

Das …

Was?

Meine Kinnlade fällt zu Boden und ich starre ihn an. Das schlägt doch dem Fass den Boden aus. Was bildet dieser Kerl sich ein? Er hat es doch auf mich abgesehen, nicht umgekehrt.

»Denkst du etwa, du bist so unwiderstehlich?«, kontere ich, als ich meine Stimme wiederfinde.

Matt ist attraktiv, ja.

Jede Frau, die Augen im Kopf hat, sieht das. Aber ich werde einen Teufel tun und ihm das sagen.

Eher friert die Hölle zu!

Außerdem weiß er das selbst wohl am besten. Er ist der Inbegriff von Dreistigkeit.

Matt lehnt sich mit verschränkten Armen gegen den Kühlschrank und mustert mich eingehend, was mich nur noch wütender macht. Sein Mundwinkel wandert nach oben, als er wieder bei meinen Augen angelangt ist.

»Nein, das bin ich sicher nicht«, sagt er überzeugt. »Denn so wie es aussieht, kannst du mir sehr gut widerstehen.«

Kurz sehe ich ihn stumm an, weil ich nicht mit so einer Antwort gerechnet habe. Dann nicke ich einfach nur, während ich bereits rückwärts aus der Küche gehe.

»Da hast du ausnahmsweise mal recht.«

Oh Gott. Als ich zurück ins Wohnzimmer gehe, schlägt mir das Herz bis zum Hals. So sehr ich mich auch bemühe … ich kann es langsam nicht mehr leugnen. Matt löst etwas in mir aus. Das kann nicht gut sein. Das kann auf keinen Fall gut sein! Dass mein Körper so auf ihn reagiert, wenn er mir zu nah kommt, ist absolut inakzeptabel.

So eine Scheiße!

Ich ärgere mich so sehr über mich selbst, dass ich einen Moment wie versteinert da stehe und mich am liebsten an den Schultern gepackt und wieder wachgerüttelt hätte.

Herrgott, was ist nur mit dir los, Mimi?

Nur allzu gern wäre ich dieser Frage auf den Grund gegangen, aber im nächsten Augenblick dringt ein Lachen an mein Ohr.

Soras Lachen. Es übertönt sogar das Gerede der Leute und die Musik. Und das aus einem einfachen Grund: sie steht direkt hinter mir. Nichts ahnend drehe ich mich um und erstarre augenblicklich. Tai und Sora kommen geradewegs vom Flur aus ins Wohnzimmer gestolpert. Sofort erkenne ich den intimen Moment, den sie gerade hatten und mein Herz zerspringt. Er hat beide Arme von hinten um sie gelegt. Sein Kopf ruht auf ihrer Schulter. Seine Lippen an ihrem Hals. Sora kichert und versucht ihn von sich zu drücken, aber Tai gibt nicht nach.

Beinahe wären die beiden gegen mich geprallt, weil ich mich keinen Zentimeter zur Seite bewegt habe, als sie mich endlich bemerken.

»Oh, Mimi«, sagt Sora überrascht. Tai hebt den Kopf und lässt sofort von ihr ab, als er mich sieht. Irritiert sehe ich ihn an. Was sollte das denn?

»Hey«, sage ich nur und räuspere mich. »Wie es aussieht, habt ihr euch wieder versöhnt.« Verlegen kratze ich mich am Hinterkopf, während Tai mal wieder stumm bleibt und mich einfach nur ansieht. Sora ist diejenige, die das Wort ergreift.

»Versöhnt? Haben wir gestritten?« Fragend sieht sie zu Tai hinauf.

»Ähm, ich dachte nur, wegen vorhin … dieses blöde Spiel. Das tut mir ehrlich Leid. Ich wollte keinen Streit heraufbeschwören.« Wollte ich ehrlich nicht. Und habe ich eigentlich ja auch nicht. Tai war derjenige, der Sora hat sitzen lassen und sauer abgedampft ist.

»Ach, das«, sagt Sora lachend, als wäre es nicht der Rede wert. »Schnee von gestern. Du konntest ja nicht wissen, was auf der Karte steht. Außerdem hat Tai sich bereits ausgiebig für sein Verhalten entschuldigt«

Oh. Mein. Gott. Bitte halt einfach den Mund, Sora.

»Das äh … ist ja schön«, stammle ich, obwohl ich mir einfach viel lieber die Hände auf die Ohren pressen will.

Was redest du da, Mimi?

»Okay«, sagt Sora und anscheinend ist für sie die Sache tatsächlich vom Tisch. Aber ist es das auch für Tai? Ich suche seinen Blick, aber er weicht mir aus. Mal wieder.

»Wir gehen mal wieder zu den anderen«, meint Sora schließlich, weil keiner von uns mehr irgendetwas sagt. Sie greift nach Tais Hand und zieht ihn hinter sich her ins Wohnzimmer, wo sie sich direkt zu Izzy und den anderen gesellen. Mit verengten Augen sehe ich ihnen nach. Ich starre Tai's Rücken an und würde ihm am liebsten in den Nacken springen. Was, verdammt noch mal, ist sein Problem? Seit dieser blöden Herausforderung ist er total komisch. Ignoriert mich. Geht mir aus dem Weg. Ist offenbar wütend auf mich.

Warum?

Ich habe doch nichts getan. So langsam glaube ich, dass nicht Matt derjenige ist, der mit mir spielt, sondern er. Letzte Woche war er für mich da. Ich habe ihm mein Herz ausgeschüttet und er hat mir versichert, immer an meiner Seite zu sein. Jetzt behandelt er mich wie Luft, wegen eines dummen Spiels. Oder wegen Sora, weil er sie anscheinend grad gevögelt hat. Weiß der Kuckuck, was für ein scheiß Problem er hat.

Sein Verhalten macht mich so unsagbar wütend und als ich auch noch sehe, wie er sich Sora erneut zuwendet und ihr einen innigen Kuss gibt, brennen bei mir alle Sicherungen durch.

Kurzschlussreaktion.

Ich mache auf dem Absatz kehrt und marschiere zurück in die Küche. Matt steht immer noch da, wo ich ihn zurückgelassen habe und hat von alledem nichts mitbekommen. In der einen Hand hält er sein Bier und in der anderen sein Handy, auf dem er gerade irgendeine Nachricht eintippt. Mit gekreuzten Beinen lehnt er gegen die Arbeitsplatte und beachtet mich gar nicht.

Mein Kopf schaltet sich aus, genauso wie mein Herz.

Vermutlich werde ich das bereuen, aber … das erste Mal in meinem Leben folge ich dem Impuls in meinem Inneren und gehe geradewegs und schnellen Schrittes auf ihn zu. Er bemerkt mich erst, als ich schon fast bei ihm bin und hebt überrascht den Kopf. Allerdings hat er keine Zeit mehr, irgendetwas zu sagen oder zu tun, was mich aufhalten könnte, denn als ich bei ihm bin, gehe ich auf die Zehenspitzen und lege beide Hände an sein Gesicht.

Meine Lippen landen so schnell auf seinem Mund, dass es mich selbst kurz überrumpelt. Doch dieses Gefühl verschwindet sofort, als er alles, was er in den Händen hält, hinter sich ablegt, um mich an sich zu ziehen. Seine Finger legen sich auf meine Hüfte und ich presse mich ihm entgegen, so sehr, dass ich kurz nach Luft schnappen muss. Unser Kuss ist wild und seine kühlen Lippen fühlen sich wunderbar an. In meiner Magengegend beginnt etwas zu explodieren und dieses Gefühl ist so viel besser, als das, was ich eben noch empfunden habe. Dieser Kuss lässt die ganze angestaute Wut auf Tai verpuffen. Sie löst sich in Rauch auf und ich sinke immer weiter in Matt’s Arme, gebe mich diesem Kuss hin. Seine Zunge drängt sich gegen meine und tanzt mit ihr, was die Hitze zwischen uns nur noch mehr anfacht.

Wow! So einen heißen Kuss hatte ich lange nicht mehr …

Meine Hände gleiten von seinem Gesicht hinab, über seine Brust und verharren dort. Durch den Stoff seines Shirts kann ich fühlen, wie er seine Muskeln anspannt. Seine Arme legen sich nun fester um mich und mit einem Ruck dreht er mich um und hebt mich auf die Arbeitsplatte. Dabei lässt er keine einzige Sekunde von meinen Lippen ab, während er sich zwischen meine Beine schiebt.

Offenbar ist es ihm egal, dass die anderen nur einen Raum weiter von uns stehen und alles mitbekommen könnten.

Seine Finger ziehen an meinem Shirt, bis sie meine Haut berühren. Ein angenehmer Schauer durchfährt mich und ich möchte sofort mehr davon.

Es ist unheimlich, wie mein Körper auf seinen reagiert - wie automatisch. Als wären wir zwei Magnete, die sich instinktiv anziehen. Das macht mir Angst und mir ist klar, dass jeden Moment jemand reinkommen und uns sehen kann.

Dennoch lege ich meine Hände in seinen Nacken und fahre mit den Fingern in sein Haar. Ich ziehe daran, weil wir damit aufhören müssen, doch leider versteht er mein Signal völlig falsch und stöhnt nur in den Kuss hinein. Seine Finger krallen sich unter meinem Shirt in meine nackte Haut und ich seufze schwer. Das ist einfach zu gut, um jetzt aufzuhören. Leider.

Trotzdem ziehe ich nun etwas fester an seinem Haar, bis er nachgeben und von mir ablassen muss. Seine geröteten Lippen verziehen sich zu einem vielsagenden Grinsen, als er mich mit einem hitzigen Blick betrachtet.

»Das war überraschend«, gibt er flüsternd zu, während ich nach Luft und Worten ringe.

»Meinst du, dass ich damit angefangen habe oder dass ich jetzt damit aufhöre?«

»Wir hören auf?«

Als Antwort schiebe ich ihn von mir und springe von der Arbeitsplatte.

»Du weißt schon, dass mein Schlafzimmer nur wenige Meter entfernt ist?«, entgegnet er und deutet mit dem Finger hinter sich, aber ich werfe ihm nur einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Und du weißt genau, dass das nicht geht«, sage ich und stopfe mein Shirt so gut es geht wieder in die Jeans zurück. Es war eh pures Glück, dass nicht Tai oder Sora oder Kari reingeplatzt sind, während wir hier rum gemacht haben. Obwohl … hätte es mir überhaupt was ausgemacht? Mir ist klar, dass ich Matt eben benutzt habe, um meiner angestauten Wut und der Eifersucht Luft zu verschaffen. Und Himmel, es hat geholfen. Aber weiter dürfen wir nicht gehen. Auf keinen Fall.

Als ich Matt ansehe, wirkt er fast enttäuscht. Trotzdem lächelt er und kommt einen Schritt näher. Er legt eine Hand an meine Taille und beugt sich zu mir hinab. Allein diese kleine Geste reicht aus, um fast wieder schwach zu werden.

»Das war schön«, flüstert er an meinem Ohr, was mir einen weiteren Schauer verschafft. Aber ich reiße mich zusammen.

»Bild dir bloß nichts ein«, antworte ich schmunzelnd. »Das war eine einmalige Sache.«

»Wenn du das sagst«, meint er schulterzuckend, richtet sich wieder auf, grinst jedoch dabei. Dieser Kuss war wirklich der Wahnsinn. Nur allzu gerne hätte ich mehr davon gehabt. Ich muss mir keine Mühe mehr machen, es weiter zu leugnen. Anscheinend stehe ich auf ihn, so ist es nun mal. Aber die Wahrheit ist, es hätte gerade auch jeder andere Typ sein können. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre es egal gewesen, wen ich hier küsse - wichtig war nur, dass es mich von Tai ablenkt. Und das hat es.

Leider hält das nicht allzu lange an, denn eine Sekunde später, steht er hinter Matt in der Tür und wirft uns einen fragenden Blick zu. Genau in dem Moment, wo Matt seine Hand von meiner Taille nimmt und zurück tritt. Doch das entgeht Tai trotzdem nicht. Er verharrt in der Tür und an seinem Blick erkenne ich, dass ihm gerade eine bestimmte Frage in den Kopf schießt. Vor allem, als Matt sich zu ihm umdreht und ihn endlich bemerkt.

»Oh, hey Kumpel«, sagt er völlig unverfangen, als wäre nichts gewesen. Ich bin verblüfft über seine Fähigkeit diesen Moment eben zu überspielen, versuche es jedoch, ihm gleich zu tun. Allerdings gelingt es mir nicht ganz so gut wie ihm.

Verdammt. Werde ich schon wieder rot?

»Hey«, presst Tai hervor und mustert uns argwöhnisch. Sein Misstrauen ist deutlich spürbar und es ist nicht einmal unbegründet. Wäre er nur zwei Minuten eher rein gekommen, hätte er uns In flagranti erwischt. Aber scheiß drauf. Was geht’s ihn an?

Ich sage nichts weiter, sondern gehe an den Jungs vorbei. Tai hält mich jedoch am Arm fest, als ich die Küche verlassen will. Ich starre auf seine Hand an meinem Arm und dann in sein Gesicht. Er wirkt nicht gerade erfreut und sieht mich mit ernstem Blick an.

»Wir müssen reden«, sagt er leise.

Beinahe hätte ich aufgelacht.

»Wieso?«

»In fünf Minuten auf dem Dach.« Meine Frage übergeht er und lässt mich los. Mit halb geöffnetem Mund stehe ich da und überlege, ob ich ihm eine gepfefferte Antwort zurück schleudere. Aber dann lasse ich es, schließe meine Lippen wieder und wende mich ab. Wenn er was zu sagen hat, dann soll er es tun. Vielleicht erfahre ich ja endlich den Hintergrund für sein merkwürdiges Verhalten.

Tai

Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, als ich meiner besten Freundin nachsehe.

Was zum Henker war das eben?

Es hatte neulich schon mal eine ähnliche Situation gegeben, nur hatte ich sie nicht als diese wahrgenommen. Als wir abends nach dem Konzert alle noch ausgegangen waren … waren sich Mimi und Matt auch schon einmal so nahe gewesen. Ich hatte es nur bemerkt, weil ich zufällig dazugestoßen war. An dem Abend habe ich mir nichts weiter dabei gedacht und diesen kleinen, kurzen Moment auch schnell wieder vergessen. Nun kommt er mir wieder in den Sinn, nachdem ich gesehen habe, wie Matt ihr was zugeflüstert hat. Wie er sie dabei berührt hat.

Das hat er vorher noch nie getan.

Ich möchte es nicht, aber diese neue Erkenntnis, dass sich anscheinend zwischen den beiden etwas verändert zu haben scheint, stört mich. Es stößt mir sauer auf und das noch mehr, als ich in Matt’s unbekümmertes Gesicht sehe. Will er mir ernsthaft weiß machen, dass das eben nicht zweideutig war?

Ich gehe an ihm vorbei zum Kühlschrank und nehme mir ein kühles Bier heraus, wie ich es ursprünglich vorhatte. Er bleibt regungslos stehen, auch, nachdem ich es geöffnet und einen Schluck davon genommen habe. Ich kenne meinen besten Freund. Auch wenn er gerade so tut, als wäre nichts geschehen, weiß ich doch, dass er genau weiß, was ich gesehen habe. Und was ich gerade denke. Allein dieser Gedanke reicht aus, um es in mir brodeln zu lassen.

Matt dreht sich um, nimmt sein Handy von der Arbeitsplatte und steckt es in die Hosentasche. Sein angefangenes Bier lässt er stehen. Ich beobachte ihn genau, als er einfach so an mir vorbei gehen und mich stehen lassen will.

»Moment mal«, sage ich und lege eine Hand auf seine Schulter, damit er stehen bleibt. Mein Griff ist unverkennbar hart, genauso wie meine Augen. Er wirft einen Blick auf meine Hand, dann in mein Gesicht.

»Lass deine Finger von ihr«, sage ich bedrohlich und verstärke meinen Griff sogar noch, um meine Forderung zu verdeutlichen.

»Was?«

»Du hast mich schon verstanden.«

Mit einem Schnaufen wischt Matt die Hand von seiner Schulter und sieht mich herausfordernd an.

»Du meinst Mimi?«

»Wen denn sonst?«, entgegne ich scharf. »Oder willst du mir etwa sagen, dass da eben nichts bei euch gelaufen ist?« Ich konfrontiere ihn ganz direkt damit, aber Matt ist kein Mensch, der sich von so etwas aus der Ruhe bringen lässt.

»Oh, ich frage nur«, kontert er stattdessen, ohne dabei auf meine Frage zu antworten. »Weil ja Sora eigentlich deine Freundin ist und du somit keinerlei Besitzanspruch auf Mimi hast. Meinst du wirklich du hast ein Recht darauf, Mimi oder mir etwas vorzuschreiben? Was würde wohl deine Freundin dazu sagen?«

Ich balle die Hand zur Faust und Wut macht sich in meinem Bauch breit. Nicht nur, weil er so frech geantwortet hat, sondern auch, weil er natürlich recht hat, mit dem, was er sagt. Mimi ist nicht meine Freundin. Ich bin nicht in einer Beziehung mit ihr. Und trotzdem verhalte ich mich gerade so - wie ein eifersüchtiger Freund.

»Du bist vielleicht schräg«, wirft Matt fast schon belustigt ein, was mich nur noch wütender auf ihn macht. »Du hast ganz offensichtlich Gefühle für beide und sagst weder der einen, noch der anderen die Wahrheit.«

Ich zucke zusammen.

Woher …?

Er ist zwar mein bester Freund und wir wohnen zusammen … aber ich habe ihm nie gesagt, für wen mein Herz schlägt. Ist es tatsächlich so offensichtlich?

»Schau nicht so überrascht«, entgegnet Matt stirnrunzelnd, als er mein Gesicht sieht. »Wenn du denkst, ich kenne dich nicht, dann bist du schief gewickelt. Vielleicht kannst du Mimi und Sora was vormachen und allen anderen. Aber nicht mir. Ich verstehe nur eins nicht …« Er tritt einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu schaffen. Dann wirft er einen Blick zur Tür, um sicherzugehen, dass uns auch niemand zuhört. »… Mimi ist deine beste Freundin und du hattest jahrelang Zeit, einen Versuch bei ihr zu starten. Jetzt, als es nicht mehr geht, stört es dich plötzlich? Du hast dich nun mal für Sora entschieden. Kann ich verstehen, irgendwie. Sie ist die sichere Wahl gewesen. Bei Mimi wärst du ein Risiko eingegangen, aber nicht bei Sora. Also, was nun? Magst du Mimi, weil sie die Eine für dich sein könnte oder geierst du ihr plötzlich hinterher, weil du sie nicht mehr haben kannst? Die verbotenen Früchte schmecken immer besonders gut, nicht?«

Stumm starre ich ihn an, die Augen zu Schlitzen verengt, die Fäuste immer noch geballt. Auch Matt verzieht keine Miene, was mir zeigt, dass er es ernst gemeint hat, was er eben gesagt hat. Nicht mal ein Grinsen kommt über seine Lippen.

Ich presse die Kiefer aufeinander und habe keine Ahnung, was ich ihm antworten soll. Doch das muss ich auch nicht, denn er hebt bereits abwehrend die Hände.

»Aber hey, kein Ding. Wenn du es so willst, dann lasse ich die Finger von ihr. Ich habe sowieso keine Lust darauf, in eure Dreiecksgeschichte mit reingezogen zu werden. Glaub mir, das ist sie mir nicht wert.«

Er dreht sich um und geht. Ich sehe ihm nach, bleibe aber wie angewurzelt stehen. Ich bin so sauer darüber, was er gesagt hat, dass ich am liebsten auf irgendetwas einprügeln würde. Manchmal hasse ich diesen Idioten echt und nicht nur dafür, dass er anscheinend noch vor ein paar Minuten was mit Mimi hatte. Sondern auch dafür, dass er voll ins Schwarze getroffen hat.

Ehrlichgesagt weiß ich ja selbst nicht, warum ich mich Mimi gegenüber so unmöglich verhalte. Warum ich Sora nicht die Wahrheit sagen kann.

Matt hat recht. Sora ist die sichere Wahl gewesen. Ich war mir so sicher, dass Mimi meine Gefühle zurückweisen würde, wenn sie davon wüsste, dass ich es gar nicht erst ernsthaft versucht habe. Jetzt ist es zu spät und ich kann es ihr nicht verübeln, wenn sie sich einem anderen zuwendet. Das ist ihr gutes Recht. Aber Matt? Ausgerechnet er? In mir zieht sich alles zusammen. Ich hoffe, er hält Wort und lässt zukünftig die Finger von ihr. Was auch immer zwischen den beiden gelaufen ist - ob überhaupt was gelaufen ist - es darf sich nicht wiederholen. Das könnte ich nicht ertragen.
 

Als ich mit etwas Verspätung oben auf dem Dach ankomme, ist die Abendluft angenehm mild. Es geht nicht viel Wind und der Himmel ist sternenklar. Es wäre der perfekte Abend, um die Rakete abzuschießen. Aber dieses Vorhaben schiebe ich vorerst nach hinten. Zunächst einmal habe ich etwas anderes vor.

Ich atme die klare Luft tief ein und seufze schwer, bevor ich rüber zu Mimi gehe, die am Rande des Hochhauses steht und über die Lichter der Stadt hinweg sieht. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und sieht zu mir auf, als ich mich neben sie stelle, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ich schaffe es kaum, sie anzusehen.

»Du hast Glück«, sagt sie völlig tonlos. »Fünf Minuten später und ich wäre gegangen.«

»Tut mir Leid«, sage ich aufrichtig. »Ich … wurde aufgehalten.« Von wem oder von was sage ich nicht.

Mimi schweigt. Dann seufzt sie.

»Tai«, sagt sie sanft und wendet sich mir ganz zu. Auch ich schaue sie nun an und beobachte, wie ihr Haar sanft im Wind weht. Bei ihrem Anblick krampft sich mein Herz so sehr zusammen, dass es weh tut. Aber was ich gleich sagen werde, wird noch mehr weh tun.

»Was ist los mit dir?«, fragt sie mich ganz direkt. »Warum warst du vorhin so sauer? Nur wegen diesem blöden Spiel?«

Ich verdrehe die Augen über mich selbst und stöhne.

»Nein, natürlich nicht«, sage ich ehrlich. »Das Spiel war … einfach nur dumm. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so etwas passiert. Irgendwie hat es mich überrumpelt. Genauso wie deine Reaktion.«

»Aber«, fährt sie dazwischen und sieht mich verständnislos an. »Ich dachte, genau das wolltest du. Und ich wollte keinen Ärger zwischen dir und Sora heraufbeschwören.«

»Oh, glaub mir«, sage ich gequält und reibe mir über den Nacken. »Den Ärger gab es, nachdem ich abgedampft bin. Sie hat meine Reaktion nicht verstanden, aber ich konnte sie wieder beschwichtigen. Ehrlichgesagt habe ich mich in dem Moment selbst nicht verstanden.«

Ich sehe zur Seite, während ich spüre, dass ihr Blick mich durchbohrt. In ihrem Gesicht spiegeln sich so viele Fragen wieder und ich kann ihr keine einzige davon beantworten. Weil ich diese Antworten selbst nicht kenne.

»Weißt du noch, wie ich vor drei Jahren an meinem Geburtstag krank war?«, beginne ich plötzlich in Erinnerungen zu schwelgen, weil es das Erste ist, was mir in den Sinn kommt. Mimi fängt an zu kichern.

»Klar«, sagt sie und grinst gehässig. »Du hattest eine richtige Männergrippe und lagst den ganzen Tag im Bett. Ich habe dir Hühnersuppe, statt Kuchen vorbei gebracht und du hast fast geweint, weil du nichts mehr geschmeckt hast.«

»Ich habe nicht geweint«, protestiere ich sofort.

Mimi lacht. »Ich sagte ja auch: fast.«

»Okay, fast«, stimme ich ihr amüsiert zu, doch dann wird mein Gesicht wieder ernst. Eine tiefe Sorgenfalte legt sich auf meine Stirn. »Damals war alles noch einfacher. Es gab nur dich und mich. Na ja und Matt. Der Typ ist wie eine Klette. Den wird man nicht los.« Ich lache zwar, aber mir entgeht nicht, wie Mimi sich ganz kurz versteift, als ich seinen Namen erwähne. Eigentlich wollte ich es nicht ansprechen. Ich habe Matt meinen Standpunkt deutlich gemacht und gehe davon aus, dass er sich an sein Versprechen hält. Damit sollte die Sache vom Tisch sein. Nur leider ist mein Mund schneller und ich bereue es bereits, bevor ich es ausgesprochen habe.

»Lief da was mit Matt?«

Mimi verschränkt die Arme vor der Brust.

»Wie kommst du darauf?« Sie wirkt nicht bestürzt. Eher so, als müsste sie sich verteidigen. Ein flaues Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Eigentlich will ich es doch gar nicht wissen, aber …

»Vorhin, in der Küche, meine ich. Ihr habt so … vertraut gewirkt. Kann sein, dass ich es mir einbilde, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass er …«

»Taichi«, faucht sie mich plötzlich an und ich zucke zusammen. »Worum geht es hier wirklich? Um Matt und mich? Oder geht es um etwas anderes?«

Überrascht sehe ich sie an, während sie mich anfunkelt.

»Sei bitte ehrlich. Ich habe in letzter Zeit zu viel durchgemacht, um jetzt angelogen zu werden«, sagt sie mit fester Stimme und ich seufze.

»Okay, du hast recht« Ich fahre mir mit einer Hand durchs Haar und versuche immer noch die richtigen Worte für das zu finden, was ich zur Zeit empfinde.

»Ich habe das Gefühl, dass ich sie mit dir betrüge.«

»Was?« Irritiert runzelt Mimi die Stirn.

»Sora«, sage ich. »Ich weiß nicht, wieso das so ist. Aber immer, wenn du in der Nähe bist, habe ich das Gefühl ich betrüge sie mit dir. Weil du mir dann wichtiger bist. Ist einfach so. Und anders rum genauso. Es ist total schräg, aber ich habe ein schlechtes Gewissen dir gegenüber, weil ich mit Sora zusammen bin.«

Mimi wendet den Blick ab. Sie beißt sich auf die Unterlippe, was sie normalerweise nur tut, wenn sie nervös ist oder nicht weiß, was sie sagen soll.

»Das solltest du nicht haben. Und ich möchte auch nicht dafür verantwortlich sein, dass du ein schlechtes Gewissen hast.«

Ich schnaufe frustriert. »Ich habe mir schon gedacht, dass du so was in der Art sagen würdest.«

»Tut mir Leid.«

»Nein, das muss es nicht«, widerspreche ich ihr sofort. Ich möchte auf keinen Fall, dass sie sich wegen meiner Gefühle schlecht fühlt. Irgendwie bin ich schließlich selbst schuld, dass ich überhaupt in dieser Situation stecke. Es ist, wie Matt gesagt hat. Und nun möchte ich keine von beiden verletzen.

»Weißt du was?«, meint Mimi plötzlich und greift nach meiner Hand. Sie verschränkt ihre Finger mit meinen und drückt sie ganz fest, was mein Herz unglaublich zum rasen bringt.

»Ich fand es auch schöner, als es nur dich und mich gab. Das wollte ich dir eigentlich gar nicht sagen, aber … so ist es. Ich vermisse das. Ich vermisse dich. Dabei will ich überhaupt nicht so egoistisch und besitzergreifend sein.« Sie schenkt mir ein trauriges Lächeln und ich habe sie noch nie so gut verstanden, wie in diesem Moment. Sie spricht mir aus der Seele. Allein zu glauben, dass da etwas mit Matt gelaufen sein könnte, macht mich rasend. Ich bin eifersüchtig. Ich möchte nicht, dass ein anderer sie berührt und bis jetzt musste ich mir auch noch nie Sorgen deswegen machen. Aber dieser Moment, den ich vorhin aufgeschnappt habe und der diese merkwürdigen Gefühle in mir zum Vorschein gebracht hat, sollte mir zu denken geben.

»Was willst du nun tun?«, fragt Mimi und legt den Kopf schief, als ich nichts weiter antworte und stattdessen meinen Gedanken nachhänge. Ich wünschte, ich hätte sofort eine Antwort auf alles, aber das habe ich nicht.

Ich räuspere mich und löse unsere Finger voneinander, weil jetzt der Teil kommt, vor dem ich mich schon seit Tagen drücke. Erst vorhin ist mir klar geworden, dass ich so nicht weiter machen kann. Das wäre Sora gegenüber nicht fair. Und Mimi gegenüber auch nicht.

Geknickt richte ich den Blick nach unten auf die Straße, damit ich sie nicht ansehen muss. Ihre warmen Augen, die sich wie ein sanfter Schleier auf mich legen, ertrage ich jetzt nicht. Wenn sie mich so ansieht, werde ich schwach. Und das darf ich jetzt nicht sein. Ich muss endlich mal das Richtige tun.

»Da sind so viele widersprüchliche Gefühle in mir«, beginne ich mit ruhiger Stimme. »Gefühle, die nebeneinander nicht existieren können. Deshalb denke ich, es wäre besser, wenn wir erst mal ein wenig Abstand zueinander haben. Bis ich weiß, wie ich damit umgehen soll.«

Mein Blick wandert zu ihr und versucht eine Emotion von ihr aufzufangen. Doch sie steht völlig regungslos da. Ich wusste, dass sie es mir nicht ausreden würde. Dafür ist Mimi viel zu selbstlos. Sie hat schon immer eher an mein, als an ihr Wohl gedacht. Und dafür liebe ich sie. Aber ich empfinde auch etwas für Sora - auch wenn diese Art der Zuneigung sich völlig von der zu Mimi unterscheidet.

»Was ist mit Sora?«, fragt sie schließlich und ich beiße mir auf die Unterlippe.

»Ich rede mit ihr. Ich brauche Zeit, ich …«

Und plötzlich liegt sie in meinen Armen. Ihr Gesicht drückt sich in meine Brust und ihre Arme schließen sich um mich, als würde sie mich für immer festhalten wollen. Ihre Finger krallen sich in den Stoff meines Shirts und ehe ich mich versehe, lege auch ich die Arme um sie und drücke sie fest an mich.

Ihre Nähe tut so gut, dass ich gar nicht weiß, wie ich je darauf verzichten soll.

»Ich verstehe dich«, murmelt sie an meiner Brust und ich zucke zusammen. »Ich war die ganze Zeit eifersüchtig auf Sora. Ich habe mir gewünscht, dass du dich mir eher offenbart hättest. Ich hatte keine Ahnung, dass du Gefühle für sie hast, du hast nie etwas gesagt. Das mit dir und ihr kam so plötzlich für mich, dass es mir fast den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Ich dachte, ich würde dich als Freund verlieren. Ehrlichgesagt hat es sich auch genauso angefühlt. Ich war so eifersüchtig auf sie. So kenne ich mich gar nicht.«

»Mimi …«, hauche ich in ihr Haar und mein Herz zieht sich zusammen. Plötzlich kann ich verstehen, warum sie sich die letzten Wochen über oft so distanziert mir gegenüber benommen hat. Ich habe es zwar schon geahnt, aber ich dachte, sie brauchte einfach noch Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich mit ihrer Freundin zusammen bin. Jetzt habe ich das Gefühl, sie verletzt zu haben.

»Das war nie meine Absicht«, sage ich deshalb und drücke sie noch enger an mich, atme ihren Duft ein. »Du würdest mich nie verlieren. Das weißt du doch.«

Sie seufzt. »Ich weiß. Das war total blöd von mir. Und trotzdem konnte ich diese Eifersucht nicht abstellen. Man kann eben nicht beeinflussen, was man fühlt, richtig?«

Sie schiebt sich sanft von mir und sieht zu mir auf. Bei ihrem Anblick beginnt mein Herz zu flattern und ich frage mich schon so lange, ob sie etwas Ähnliches fühlt. Bekommt auch sie weiche Knie, wenn sie mich so ansieht? Oder werde ich auf ewig ihr bester Freund bleiben?

»Danke, dass du das verstehst«, sage ich und schenke ihr ein Lächeln, das sie sogleich erwidert.

»Ist okay«, antwortet sie und tritt noch einen Schritt zurück. Sie verschränkt die Arme hinter dem Rücken. »Rede mit Sora. Und versuch herauszufinden, was du willst. Und ich …« Sie sieht über die Lichter der Stadt. » … werde dasselbe tun.«

Ich nicke und bin unendlich dankbar dafür, dass sie meine beste Freundin ist. Selbst, wenn niemals ein Paar aus uns werden sollte. So werde ich doch immer dankbar dafür sein, sie an meiner Seite zu wissen. Etwas Besseres kann mir nicht geschehen.

Ich verabschiede mich und verspreche ihr, mich bei ihr zu melden, sobald ich ein wenig Klarheit geschaffen habe. Zunächst ein mal muss ich mit Sora sprechen. Ihr irgendwie begreiflich machen, was in mir vorgeht. Ich würde nicht so weit gehen und sagen, dass die Beziehung mit ihr ein Fehler war. Ich mag Sora sehr. Aber Mimi … mag ich mehr.

Mimi

Inzwischen sind drei Wochen vergangen, in denen ich nichts von Tai gehört habe.

Und das ist okay. Es war nie meine Absicht gewesen, ihm zu offenbaren, wie eifersüchtig ich auf ihn und Sora bin. Doch dann ist es aus mir rausgerutscht, als auch er mir gestanden hat, wie verwirrt er ist. Ich kann ihn so gut verstehen. Manchmal weiß man einfach nicht, was man fühlt, bis es aus einem herausbricht. Bis die Gefühle so stark sind, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Ich habe immer noch keine Ahnung, zu wem Tai sich mehr hingezogen fühlt. Ich glaube ihm, dass er Sora sehr gern hat und echte Gefühle für sie hegt - sonst wäre er nicht so weit gegangen, eine Beziehung mit ihr einzugehen. Aber diese widersprüchlichen Gefühle, von denen er gesprochen hat … die betreffen eindeutig mich. Und diese zwei Gefühle - die für Sora und die für mich - werden niemals zueinander passen. Das weiß Tai. Das wissen wir beide.

Daher ist es gut, dass er endlich herausfinden will, was das alles zu bedeuten hat. Und ich brenne auf den Tag, an dem er es mir sagen wird. Wobei mir die Vorstellung auch ein wenig Angst bereitet. Was, wenn er sich dazu entschließt, dass die Gefühle für Sora stärker sind als die Gefühle für mich oder für unsere Freundschaft?

Er sagte, ich würde ihn nie verlieren. Das glaube ich ihm. Ich weiß, dass es so ist. Dieser Gedanke ist das Einzige, was mir Hoffnung und Zuversicht gibt. Egal, wie oder für was er sich entscheiden wird - er wird immer an meiner Seite sein. Und dafür bin ich unendlich dankbar.

Ich habe beschlossen, ihm den Freiraum zu geben, den er jetzt braucht. Weswegen ich mich auch nicht mehr bei ihm gemeldet habe. Oder er sich bei mir.

Ganz im Gegensatz zu Sora. Seit Tagen schon bombardiert sie mich mit Nachrichten und Anrufen und möchte von mir wissen, was los ist. Tai sagte, er würde mit ihr sprechen - und das hat er wohl auch getan. Doch Sora scheint nicht zu verstehen, was plötzlich in ihn gefahren ist. Weiß sie überhaupt, dass ich der Grund für ihre Beziehungspause bin? Das fühlt sich ziemlich beschissen an. Aber würde ich ihr das jetzt sagen, würde ich mich in ihre Angelegenheiten einmischen. Tai möchte das alleine klären. Also halte ich weiter die Füße still und versuche Sora hinzuhalten. Sie drängt natürlich trotzdem auf ein Treffen, weil sie denkt, ich als seine beste Freundin wüsste, was wirklich in ihm vorgeht.

Da liegt sie aber so was von falsch. Wenn ich es wüsste - oder wenn Tai es wüsste - dann wären wir jetzt nicht an diesem Punkt. Ich habe immer noch keine Ahnung, was Tai fühlt. Ober er nur mit mir befreundet sein möchte oder ob da mehr ist …? Ich wünsche mir, dass da mehr ist. Ich wünsche es mir schon so lange, dass ich die Tage nicht mehr zählen könnte. Aber eins ist mir klar - wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, wird entweder mein Traum wahr oder ich werde endgültig und auf alle Zeiten seine beste Freundin bleiben.

Mein Handy vibriert erneut, heute bereits das dritte Mal, als ich im Wartezimmer des Krankenhauses für Gynäkologie und Geburtshilfe sitze. Kurzentschlossen drücke ich Soras Anruf weg und lasse sie auf die Mailbox sprechen, antworten kann ich ihr später. Im Moment habe ich keine Zeit, denn heute sehe ich meine Mom das erste Mal wieder …

Nach unserem Streit vor ein paar Wochen im Krankenhaus, als Dad eingeliefert wurde, hatte sich meine Mutter redlich um meine Aufmerksamkeit bemüht. Zuerst hatte ich sie ignoriert, weil ich so sauer auf sie war. Nur leider habe ich eine schlechte Angewohnheit: nämlich, dass ich nie lange auf sie wütend sein kann, oder generell auf jemanden. Und sie hat die schlechte Angewohnheit, genau das auszunutzen. Sie hat sogar am Telefon geweint, als sie mich letzte Woche anrief und mich darum bat, dass der Zwist zwischen meinem Dad und ihr, uns nicht im Weg stehen soll.

Irgendwie hat sie ja recht. Ich bin immer noch wütend über das, was sie gesagt hat und wie sie Dad zum Teufel geschickt hat. Aber … der Gedanke daran, dass sie eine neue Familie gründet und ich bald große Schwester werde, ist gleichermaßen beschissen wie aufregend. Ich brauche noch, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es nun mal so ist. Aber ich freue mich auch, denn ich wollte nie ein Einzelkind sein. Deswegen war ich als Kind auch so oft bei Tai zu Hause gewesen - ich mochte die Atmosphäre einer großen Familie.

Aus dem Grund habe ich Mitleid gezeigt und den Streit mit meiner Mutter vorerst beigelegt. Zumindest habe ich mich breitschlagen lassen, zu einem ihrer Ultraschall Termine mitzukommen. So läuft das bei uns: wir streiten uns bis aufs Blut und reden wochenlang kein Wort mehr miteinander, bis wir uns wieder versöhnen und uns dann wieder streiten. Es ist das ewige Auf und Ab, was ich schon seit Jahren kenne. Leider ist es inzwischen zur Gewohnheit geworden, denn ich kenne meine Mom. Sie wird nie aufhören, mich auf die Palme zu bringen und mich zu provozieren und ich werde nie damit aufhören, ihr meine Meinung schonungslos ins Gesicht zu sagen. So war es immer und so wird es immer sein. Deshalb will ich es zumindest für heute vergessen und mich auf diesen Termin hier konzentrieren. Irgendwie bin ich sogar ein bisschen aufgeregt, gleich meinen kleinen Bruder oder meine Schwester zu sehen. Das ist auch für mich eine ganz neue Erfahrung.

Mom ist schon eine Weile im Behandlungszimmer, während ich im Flur auf sie warte. Kurz nachdem ich Soras Anruf weggedrückt habe, öffnet sich die Zimmertür und die Ärztin ruft mich rein.

»Fräulein Tachikawa? Sie können jetzt dazu kommen.«

Ich nicke und stehe von meinem Platz auf. Mom liegt auf einer Liege und hat ihre Bluse hochgeschoben. Ihr Bauch wölbt sich bereits und ich weiß gar nicht so recht, wo ich hinsehen soll. Es ist so merkwürdig, sie so zu sehen.

»Wow«, sage ich und wirke vermutlich irgendwie peinlich berührt. »Du bist ja schon ganz schön … schwanger.«

Die Ärztin lacht auf, als sie sich neben meine Mutter setzt, die lediglich das Gesicht über meinen komischen Kommentar verzieht.

»Keine Sorge«, erwidert sie. »Ich weiß, in deinem Alter mag das noch beängstigend wirken. Aber du kommst früher oder später auch in den Genuss.«

Jetzt bin ich es, die das Gesicht verzieht. »Lieber später.« Ich nehme auf einem Hocker neben ihr Platz. »Aber nicht so spät, dass ich so alt bin wie du«, scherze ich, weil ich's mir nicht verkneifen kann und Mom verdreht die Augen darüber.

»Es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass Frauen mit Ende 30 oder Anfang 40 heutzutage noch einmal ein Kind bekommen. Wenn Sie wüssten, was ich hier jeden Tag erlebe …«, erklärt die Ärztin mir grinsend, während sie eine klebrige Flüssigkeit auf dem Bauch von Mom verteilt.

»Kann ich mir vorstellen«, bestätigt meine Mutter eifrig. »Man wird ja nicht automatisch sexuell inaktiv, nur, weil man die 40 überschritten hat. Höchstens ein bisschen unvorsichtig.«

Sie und die Gynäkologin fangen beide an wie die Ziegen zu kichern, doch ich halte mir nur die Ohren zu.

»Oh mein Gott. Zu viel Information, Mom!«

Die beiden glucksen noch ein wenig weiter vor sich hin, weil sie in einem Alter sind und sich anscheinend prächtig verstehen. Schön für sie.

»Könnten wir dann endlich mal zur Sache kommen?«, dränge ich etwas ungeduldig, da mir nun doch plötzlich etwas unwohl in diesem Zimmer wird. »Ich bin schließlich hier, um das Baby zu sehen. Nicht, um mir Geschichten über dein Sexualleben anzuhören.«

Ich schnaufe errötend und frage mich, was denn jetzt bitte so lange dauert? Die Ärztin ist gerade dabei, die richtige Position des Babys auszumachen, als meine Mom mir einen provokanten Blick zuwirft.

»Ich weiß gar nicht, was du für ein Problem hast, Mimi.«

Was ich für ein Problem habe? Mein Problem ist, dass du Dad verlassen hast und jetzt mit einem anderen Mann ein Kind bekommst. Aber frag ruhig.

»Und überhaupt«, fügt sie noch hinzu und anhand ihrer Tonlage erkenne ich, dass jetzt nichts Gutes kommt. »Was ist eigentlich mit deinem Sexualleben? Ich habe dich schon ewig nicht mit einem Mann zusammen gesehen.«

Schockiert reiße ich die Augen auf, fassungslos über diese Frage, die sie gerade gestellt hat. Die Gynäkologin hingegen tut, als wären wir gar nicht da. Oder aber sie hat genauso einen Knall wie Mom und findet diese Frage völlig normal. Würde mich nicht wundern.

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, flüstere ich pampig, als könne man nicht eh im ganzen Raum hören, was ich sage. Ist ja sonst keiner hier, außer uns dreien. »Und dass du mich ewig nicht mit einem Mann gesehen hast, liegt wohl daran, dass ich dich auf meinen Dates nicht mitnehme.«

Argh! Warum tut sie das nur immer? Ständig bringt sie mich in solche Situationen, dass sie mir entweder peinlich ist oder ich stinkwütend auf sie werde - meist in aller Öffentlichkeit.

Meine Mom seufzt über meine schnippige Antwort. Ihr typisches Seufzen, wenn sie insgeheim denkt, dass ich mein Leben vergeude. Oder nichts anständiges daraus mache. Dass das allerdings auch auf Männerbekanntschaften zutrifft, wusste ich bisher nicht.

Super. Noch eine Disziplin, in der ich als Tochter kläglich versagt habe. Total beschämend, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich selbst nicht mal mehr weiß, wie lange mein letztes Date, geschweige denn mein letzter Sex her ist. Aber das sage ich natürlich nicht laut und zum Glück hat Mom auch keine Gelegenheit mehr, etwas hinzuzufügen, um dieses Thema zu vertiefen, denn ein erstauntes »Ooh!« der Ärztin lässt uns aufsehen.

»Was ist?«, möchte meine Mom sofort wissen. »Ist mit dem Baby alles in Ordnung?«

Ich springe fast von meinem Stuhl, weil ich plötzlich ganz aufgeregt bin, aber die Ärztin schüttelt nur den Kopf.

»Alles bestens. Das ist es nicht. Ich war nur so überrascht, weil man tatsächlich schon ganz eindeutig das Geschlecht erkennen kann.«

Jetzt hat sie meine volle Aufmerksamkeit. »Und?«, frage ich ungeduldig und rutsche wie wild auf meinem Hocker hin und her, als würde ich auf den Weihnachtsmann warten. »Was ist es? Ich meine … wird es ein Junge oder ein Mädchen?«

Ehrlich gesagt habe ich mir bis jetzt noch gar keine Gedanken darüber gemacht, was ich lieber hätte. Wozu auch? Ist ja schließlich nicht mein Baby. Aber jetzt bin ich doch irgendwie gespannt darauf, es zu erfahren.

Die Ärztin wirft meiner Mutter einen Blick zu. »Möchten Sie es wissen?«

Erwartungsvoll sehe ich sie an und sie nickt tatsächlich, unfähig, noch einen Ton zu sagen.

»Okay«, meint die Ärztin grinsend und wirft noch einen letzten prüfenden Blick auf den Bildschirm vor ihr. »Eindeutig ein Junge. Sie bekommen einen Sohn.«

Mir klappt der Mund auf. Mein Herz bleibt für einen kleinen Moment stehen, um dann in Windeseile weiter zu rasen. Ein Bruder. Ich bekomme einen kleinen Bruder. Ich hätte nicht gedacht, dass mich diese Neuigkeit so berührt.

Meine Augen werden feucht und ich muss mir eine Träne verkneifen, während Mom anfängt zu lachen.

»Was ist so witzig?«, möchte die Ärztin wissen.

»Ach, nichts. Es ist nur …«, winkt Mom schnell ab. »Mein Freund hat bereits Kinder. Söhne, um genau zu sein. Er hat sich ein Mädchen gewünscht, aber daraus wird nun leider nichts.«

Ich sehe sie schräg an. »Man, bist du schadenfroh.«

Mom zuckt nur mit den Schultern und lacht weiter. So so, der Typ hat also schon Kinder. Das wusste ich gar nicht.

Die beiden tauschen noch einige Sätze aus und die Ärztin schaut noch ein mal genau, ob auch alles am Baby dran ist, aber ich höre ihnen nicht mehr zu. Ich bin so überwältigt von dieser Nachricht, dass ich mich nicht traue, aufzustehen. Völlig trunken vor Glück und Vorfreude, taumle ich schließlich nach der Untersuchung aus dem Arztzimmer. Anfangs fand ich diese Schwangerschaft einfach nur beschissen. Aber als ich eben gesehen habe, wie sein kleines Herz schlägt und wie er sich bewegt hat, freue ich mich nun doch. Dieses Kind kann schließlich nichts dafür, dass es in solche Verhältnisse geboren wird. Und ich werde persönlich dafür sorgen, dass meine Mom ihn nicht komplett verkorkst.

Erst war ich ja skeptisch, heute mit hierher zu kommen. Aber letztendlich bin ich mehr als froh, es getan zu haben. Nicht auszumalen, wenn ich das verpasst hätte.

»Oh man, ich muss gleich unbedingt noch mal zur Toilette, bevor wir raus gehen«, stöhnt Mom.

»Danke, dass ich dabei sein durfte«, sage ich zu meiner Mom, als wir uns auf den Weg zum Haupteingang machen. »Das war der Hammer!«

Meine Mutter zieht über meiner Wortwahl zwar eine Augenbraue in die Höhe, lächelt dann jedoch.

»Du darfst immer gerne mitkommen, wenn du das möchtest.«

»Gerne. Insofern es meine Schichten im Café zulassen.«

Meine Mom bleibt stehen und legt eine Hand auf ihren Bauch. »Du arbeitest immer noch da? Ich dachte, du hättest dich inzwischen für die Uni eingeschrieben.«

Ich kann gar nicht so schnell Luft holen, wie die Stimmung mit einem mal umschlägt. Ich sehe ihr in die Augen und erkenne die alte Sorge darin, dass ich einfach nichts aus meinem Leben mache. Die Enttäuschung über diese eine kurze Äußerung lässt sie all die Freude von eben schlagartig vergessen.

»Oh, bitte«, stöhne ich gequält auf, weil sie mir den schönen Moment verdorben hat. »Nicht jetzt, okay?«

»Wann denn dann?«, erwidert sie hartnäckig. »Wir sehen uns doch kaum noch. Ich habe wirklich das Gefühl, dass, sobald du deine eigene Wohnung hattest, es den Bach runter ging.«

Den Bach runter ging? Womit? Mit mir?

»Vorher warst du ja wenigstens noch bemüht, etwas zu finden, Mimi. Aber jetzt jobst du dich schon viel zu lange durch die Gegend und nichts passiert. Du hast dich einfach mit der Situation abgefunden.«

Das ist nicht wahr. Tatsächlich habe ich mich in den letzten Wochen intensiv mit meiner Zukunft auseinander gesetzt. Habe versucht, etwas zu finden, das mir liegt und das mir Spaß macht. Dass ich dabei noch nicht besonders erfolgreich war, sage ich natürlich nicht. Aber immerhin versuche ich einen Schritt in die richtige Richtung zu wagen. Dass sie das nicht versteht, hätte mir klar sein müssen.

»Du bist echt unmöglich«, seufze ich und wende mich beleidigt ab. Ich will ihr keine Rechenschaft über mein Leben ablegen und ich habe jetzt auch keine Lust dazu, mich in eine Diskussion verstricken zu lassen.

»Warte«, ruft Mom mir hinterher, weil ich sie einfach stehen lasse. Es war doch eine schlechte Idee gewesen, ihr so schnell zu verzeihen. Sie wird sich nicht ändern. Solange ich nichts an meinem Leben ändere, wird sie weiter rum nörgeln und es schlecht machen, weil sie nicht versteht, warum ich so lebe. Weil sie mich nicht versteht.

Ich ignoriere ihr Rufen und verlasse das Klinikum forschen Schrittes, weil ich einfach nur noch von ihr weg will. Diese Frau bringt mich echt auf die Palme. Manchmal frage ich mich, wie Dad es all die Jahre mit ihr ausgehalten hat. Aber das braucht mich jetzt auch nicht mehr zu kümmern.

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr und fluche.

»Scheiße!«

Dann renne ich los. Der letzte Bus, der gleich von hier abfährt, ist jeden Moment verschwunden. Und ehe ich mich versehe, laufe ich ihm auch schon hinterher, weil er vor meiner Nase wegfährt. Ich winke und rufe und mache mich total zum Affen, aber er hält einfach nicht an.

»So ein … blöder … fick … scheiße … verdammt nochmal«, keuche ich fluchend und stütze mich auf meinen Knien ab, weil ich bis zur Bushaltestelle gerannt bin. Wie ärgerlich. Dieses blöde Klinikum liegt so abgelegen, dass ich keine Chance habe, mit der Bahn zu fahren und weil es jetzt schon später Nachmittag ist, kommt der nächste Bus auch erst Morgen. Na, bravo.

Reflexartig hole ich mein Handy aus der Hosentasche und wähle Tais Nummer. Doch schon nach dem ersten Tuten drücke ich wie eine Irre den Aus-Knopf. Erschrocken über mich selbst stehe ich da und starre das Display an.

Mist! Jetzt habe ich doch allen ernstes vergessen, dass zwischen Tai und mir gerade Funkstille herrscht. Verdammt, was mache ich denn jetzt? Mit Mom nach Hause fahren? Auf keinen Fall, das ertrage ich sicher nicht. Tai hätte wenigstens ein Auto gehabt und ich weiß, er hätte mich auch abgeholt. Aber das konnte ich jetzt echt nicht bringen. Nicht, nachdem er mich um diese Pause gebeten und sich drei Wochen nicht bei mir gemeldet hat.

Seufzend lasse ich den Kopf hängen und tue das Einzige, was mir einfällt.
 

»Hey, kannst du mich vielleicht abholen? Ich habe den Bus verpasst und komme hier nicht weg. Habe keine Lust, hier zu übernachten und … ach, egal. Hol mich einfach ab. Bitte. Danke. Hier ist meine Adresse: …«, tippe ich eilig in mein Handy ein und schicke die Nachricht ab. Na, wenn das mal schief geht.
 

Fünf Minuten später steht meine Mom neben mir und sieht mich verdattert an.

»Was machst du denn noch hier? Ich dachte, du wärst schon gegangen. Es war nicht schön von dir, mich vorhin einfach stehen zu lassen, Mimi.« Sie stemmt die Hände in die Hüfte, aber ich kann über ihre gespielte Entrüstung nur die Augen verdrehen.

»Ich habe den Bus verpasst«, erkläre ich ihr knapp und recke den Hals, um Ausschau nach meiner Mitfahrgelegenheit zu halten. Vorausgesetzt sie kam überhaupt.

»Ich kann dich doch nach Hause fahren«, schlägt Mom vor und ich verziehe das Gesicht.

»Nein, nicht nötig. Ich werde gleich abgeholt.«

»Aber das macht mir wirklich nichts aus.«

»Du wohnst in der entgegengesetzten Richtung«, sage ich tonlos.

»Halb so wild. Ich könnte dich trotzdem nach Hause fahren.«

»Ich sagte doch, nicht nötig«, wimmle ich sie weiter ab. Ihre Aufdringlichkeit ist mir unangenehm, auch wenn ich ihre Geste ganz nett finde. Aber ich weiß, dass das nur daher rührt, weil sie hofft, sie könne unser Gespräch von vorhin fortsetzen, was ich so abrupt abgebrochen habe. Also, auf keinen Fall steige ich mit ihr in ein Fahrzeug, um ihr noch mehr Raum zu geben, damit sie mich fertig machen kann. Ich bin doch nicht verrückt.

Weitere Minuten vergehen, in denen keiner von uns etwas sagt und so langsam wird mir das Warten unangenehm.

Mom räuspert sich auffallend. »Bist du sicher, dass da noch jemand kommt, Liebes?«

Innerlich grummle ich. Nein, bin ich nicht. War ja klar, dass ich hängengelassen werde. Ich hatte mich ja seit unserer letzten Begegnung auf Tais Geburtstag auch nicht mehr gemeldet und …

Das Geräusch eines Motors lässt mich aufsehen. Aus der Ferne erkenne ich, wie ein schwarzes Motorrad um die Ecke biegt und direkt vor uns anhält.

Matt richtet sich auf und nimmt seinen Helm vom Kopf.

»Hey«, sagt er zur Begrüßung.

»Hey«, entgegne ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Warum hat das so lang gedauert?«

Sofort legt er die Stirn in Falten und sieht mich empört an. »Na, hör mal. Du kannst froh sein, dass ich deine Nachricht überhaupt gelesen habe und hier bin. Das ist ja am Arsch der Welt. Was machst du überhaupt hier?« Forschend wirft er einen Blick hinter mich auf das Schild am Eingang: Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe.

»Du, Mimi? Willst du mir vielleicht was sagen?«

Ich stöhne genervt auf und zeige mit dem Finger auf meine Mutter.

»Sie ist schwanger, nicht ich.«

Erst jetzt scheint er meine Mutter zu registrieren, die völlig entgeistert neben mir steht und Matt anstarrt.

Als wäre er ein Geist. Gott, geht’s vielleicht noch etwas peinlicher?

Matt grinst. »Na, da bin ich aber froh. Hi, Frau Tachikawa. Lange nicht gesehen.«

Meine Mom braucht einige Sekunden, um den Mund wieder zu schließen und um eine passende Antwort zu formulieren.

»Bist du nicht Yamato … I-ishida?«

»Genau der«, bestätigt Matt nickend, während ich ein wenig verwirrt bin.

Warum ist sie so erstaunt?

»Ich glaube, das letzte Mal habe ich dich auf einem Schulfest gesehen. Aber da warst du deutlich kleiner als jetzt. Ich habe dich kaum wiedererkannt«, sagt sie und auch mir dämmert es jetzt. Stimmt. Matt war nicht wie Tai ständig bei uns zu Hause. Im Grunde hat ihn meine Mutter so gut wie nie zu Gesicht bekommen, außer auf irgendwelchen offiziellen Schulfeiern.

»Richtig«, bestätigt ihr Matt. »Ich glaube, bei unserer letzten Begegnung war ich vierzehn, oder so.«

Meine Mutter nickt und lässt es sich nicht nehmen, ihren Blick prüfend über ihn gleiten zu lassen. Was sie da sieht gefällt ihr nicht, das sehe ich ihr sofort an der Nasenspitze an.

Klar … Lederklamotten, ein Motorrad (oder auch Todesmaschine, wie sie es gerne nennt), das wilde Rocker Image …

»Ist das etwa ein Tattoo?«, fragt sie fast schon fassungslos und legt den Kopf schief, um besser sehen zu können. Wie ein Spiegelbild tue ich es ihr gleich und folge ihrem Blick zu Matt’s Schlüsselbein. Allerdings. Das ist tatsächlich ein Tattoo. Es sind eindeutig schwarze Konturen hinter dem Reißverschluss seiner Lederjacke zu erkennen, aber das ganze Motiv kann ich nicht ausmachen.

»Oh, ist das neu?«, frage ich verwundert und Matt grinst stolz.

»Jepp. Habe es mir letzte Woche stechen lassen. Ist ziemlich übel, wenn man erst ein mal damit anfängt. Dann kann man gar nicht aufhören.«

Angewidert verzieht meine Mutter das Gesicht. Tattoos waren für sie schon immer ein rotes Tuch.

Ich schiele sie an und lächle innerlich. Jetzt gefällt mir, was ich sehe. Meine Mundwinkel wandern zu einem diabolischen Grinsen in die Höhe, als sie sich zu mir rüber beugt und mir ins Ohr flüstert: »Bitte sag mir, dass das nicht dein neuer Freund ist.«

»Ach, Mom«, säusle ich amüsiert und greife nach dem Helm, den Matt mir entgegen hält. »Ich weiß gar nicht, was du für ein Problem hast.« Um es mit ihren eigenen Worten zu sagen. »Du hast dich doch vorhin noch darüber beschwert, dass du nie einen meiner Männer kennenlernst.«

Ich setze den Helm auf und steige wie selbstverständlich hinter Matt auf die Maschine.

»Mimi, du kannst doch nicht auf dieses Ding … mit diesem …«, fängt meine Mom an sich zu entrüsten, doch ich schlinge bereits die Arme um seine Taille.

Ihr klappt der Mund auf. Für diesen Anblick hätte ich töten können. Ein tiefes Gefühl von Genugtuung macht sich in mir breit, als Matt den Motor startet und ich nur noch Mom’s fassungslosen Blick sehe, der uns folgt und in der Ferne immer kleiner wird.

»Einen deiner Männer? So, so«, ruft Matt mir zu, als wir an der nächsten Ampel halten.

»Ach, fahr einfach weiter«, antworte ich und muss mir ein Lachen verkneifen. Wie gut hat es getan, dieses Gesicht von ihr zu sehen? Das hat sie verdient.

»Okay, darüber reden wir noch. Und wo kann ich die veehrte Dame hin chauffieren?«

»Nach Hause natürlich.«

»Aber das liegt in die entgegengesetzte Richtung. Das hättest du eher sagen können«, beschwert sich Matt.

»Das macht gar nichts.« Ich kneife ihn in die Seite und er zuckt zusammen, während ich nur triumphierend grinse. Wer hätte gedacht, dass der Tag doch noch so ein gutes Ende nehmen würde?

Mimi

Matt fährt nicht zu mir nach Hause. Als mir das klar wird, sind wir schon drei Häuser weiter.

»Hey«, beschwere ich mich bei ihm. »Hast du vergessen, wo ich wohne?«

»Nein«, antwortet er wie selbstverständlich und ich frage mich, was dann sein Problem ist. »Aber ich habe Hunger.«

Stirnrunzelnd warte ich darauf, dass er endlich anhält. Und das tut er dann auch. In der Nähe eines Parks. Als er den Motor abstellt, klettere ich runter und nehme den Helm ab.

»Außerdem muss ich mit dir reden«, fügt er nun hinzu und steigt ebenfalls von der Maschine. Ich schlucke.

Was?

Reden?

Das klingt so ernst.

Warum klingt das so ernst?

Matt und reden? Das passt nicht zusammen.

»Keine Sorge«, lacht er auf, als er mein Gesicht sieht. »Erst einmal essen wir was.«

Ich werfe ihm einen misstrauischen Blick zu. »Gut, wenn du meinst.«

Er führt mich durch den Park und wir halten vor einem Hot Dog Stand.

»Das ist …«, setze ich an und der Duft von Fett und Würstchen steigt mir in die Nase. »Äußerst romantisch.«

Wieder lacht er neben mir und diesmal geht mir sein Lachen unter die Haut. Meine Nackenhärchen stellen sich auf und ich versuche dieses Gefühl ganz schnell wieder, nach ganz weit hinten zu verdrängen.

»Das soll keineswegs romantisch sein«, sagt er und bestellt uns zwei Hot Dogs und zwei Cola, als wir an der Reihe sind. »Ich wollte mit dir lediglich über Tai sprechen.«

Nun hat er meine volle Aufmerksamkeit, aber das lasse ich mir nicht anmerken.

»Ach ja?«, sage ich und schaue dabei völlig belanglos in der Gegend umher, als wäre nichts so uninteressant wie dieses Thema. »Was ist denn mit Tai?«

»Nun ja«, beginnt er etwas unsicher, als wir uns mit den Hot Dogs an einem der kleinen Tische niederlassen. »Er ist verdammt merkwürdig, seit seinem Geburtstag.«

Mir bleibt der erste Bissen fast im Halse stecken, doch ich schlucke ihn unzerkaut runter.

»Warum das?«, frage ich und Matt reicht mir die Cola, von der ich schnell einen Schluck nehme.

Matt antwortet mit einem Schulterzucken. »Er war ja schon immer eher der verschwiegene Typ, aber … jetzt geht er nur noch zur Uni und schließt sich danach in sein Zimmer ein. Kein Fußball mehr. Keine Partys mehr. Noch nicht einmal Sora kommt vorbei. Und du auch nicht. Also, was ist da los?«

Du verdammter, kleiner Detektiv. Du solltest wirklich aufhören, mit dieser Fragerei. Das führt zu nichts Gutem, wie man neulich erst gesehen hat.

Schnell nehme ich einen großen Bissen und stopfe mir den Mund voll, damit ich noch etwas Zeit habe, mir eine passende Ausrede zu überlegen. Aber er kommt mir wie immer zuvor.

»Ich glaube, das hat was mit uns zu tun. Weil wir uns neulich geküsst haben, meine ich.«

Jetzt verschlucke ich mich tatsächlich. Hustend klopfe ich mir auf die Brust und starre ihn dann an, als ich mich wieder eingekriegt habe.

»Hast du ihm das etwa brühwarm serviert? So dumm kannst du doch nicht sein, oder Matt?«, schimpfe ich mit ihm, doch er verdreht nur die Augen.

»Natürlich nicht. Für wie blöd hältst du mich? Nein, man, er hat sich das so zusammengereimt, als er uns in der Küche gesehen hat. Und ich konnte ja schlecht sagen, dass es nicht stimmt.«

Okay. Das erklärt auch, warum er mich nach Matt gefragt hat, als wir auf dem Dach standen und uns unterhalten haben.

»Auf jeden Fall benimmt er sich seitdem merkwürdig. Aber er erzählt mir nichts. Ich mache mir einfach Sorgen, das ist alles.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe.

Fuck! Diese ganze Sache ist so verworren, dass selbst Matt, der eigentlich nichts mit dieser Geschichte zu tun hat, da mit hineingezogen wird. Und jetzt macht er sich ernsthafte Sorgen um seinen besten Freund, was ich ihm wohl kaum verdenken kann.

»Musst du nicht«, sage ich deshalb nur knapp und wage noch einen Bissen. Man, dieses Zeug ist echt verdammt lecker. Auch wenn ich einen Großteil der Soße bereits auf dem Tisch verteilt habe.

Matt mustert mich mit Argusaugen, während ich versuche, mich auf mein Essen zu konzentrieren und dabei so unschuldig wie möglich zu wirken. Bei ihm habe ich neuerdings ständig das Gefühl, dass er mir direkt in den Kopf sehen kann. Dass er meine Gedanken liest und ganz genau weiß, was eigentlich abgeht.

Daher überrascht es mich wirklich, dass er es diesmal auf sich beruhen lässt.

»Okay«, sagt er endlich und schiebt sich den Hot Dog zur Hälfte in den Mund. Wow.

Fragend sehe ich ihn an. Okay? Mehr nicht?

»Wirklich?«, frage ich unsicher und er nickt kauend.

»Wenn du sagst, ich muss mir keine Sorgen machen, dann ist das okay für mich. Ich vertraue dir da«, sagt er vor sich hin schmatzend, während ich ihn verdattert ansehe.

Gut. Das war ein kurzes Gespräch. Aber schön, dass ich helfen konnte.

»Was war das vorhin eigentlich mit deiner Mutter?«, fragt er plötzlich, nachdem er in Lichtgeschwindigkeit aufgegessen hat, und sieht mich forschend an. »Sie mag mich nicht sonderlich, oder?« Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem amüsierten Lächeln und auch ich muss bei dieser Vorstellung von ihrem Gesicht vorhin schmunzeln. Das war eine ziemliche Genugtuung sie so zu sehen.

»Das ist nichts persönliches. Sie mag prinzipiell nichts, was aus der Reihe tanzt. Dabei ist sie diejenige, die nicht nur aus der Reihe tanzt, sondern den ganzen Ballsaal sprengt.«

Die Ironie meiner Worte wird mir schlagartig bewusst. Sie verlässt meinen Dad und unsere heile Welt, um mit einem anderen Mann eine neue Familie zu gründen, aber die Vorstellung, dass ein Kerl mit einem Tattoo und einem Motorrad mein Freund sein könnte, ist für sie ein Albtraum?

»Verstehe«, sagt Matt und schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln. »Ich wusste gar nicht, dass sie schwanger ist.«

Ein Zischen dringt aus meinem Mund. »Tja, ich denke, mein Dad hätte es lieber auch nicht gewusst.«

»Muss schwierig für ihn sein. Ich kann mir gut vorstellen, wie er sich fühlt.«

Verwundert schaue ich Matt ins Gesicht. Er reagiert mit einem Stirnrunzeln und zeigt dann auf sich selbst.

»Guck nicht so, vor dir sitzt ebenfalls ein Scheidungskind.«

»Ach ja«, sage ich peinlich berührt, da ich das tatsächlich komplett vergessen habe. »Deine Eltern haben sich auch getrennt.«

»Richtig und daher weiß ich ganz genau, wie beschissen das ist. Ich war zwar noch ein Kind, aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie sich das angefühlt hat. Ob nun mit acht Jahren oder mit über Zwanzig. Das Gefühl ist sicher dasselbe.«

Ja, wahrscheinlich ist das so.

»Nur, dass deine Mom nicht noch ein Kind bekommen hat«, sage ich und zucke mit den Schultern.

»Nein«, bestätigt er, legt den Kopf schief und faltet die Hände auf dem Tisch. »Dafür waren T.K. und ich ziemlich lange voneinander getrennt. Das war keine schöne Zeit. «

Stimmt. Und mir wird es genauso ergehen. Auch ich werde meinen zukünftigen, kleinen Bruder nur sehr selten zu Gesicht bekommen. Was irgendwie eine bittere Pille ist, jetzt, nachdem ich mich doch so auf ihn freue.

»Mein Vater … ich habe ehrlichgesagt keine Ahnung über sein Liebesleben. Er redet nicht darüber. Ich vermute mal, er ist ein einsamer Wolf, so wie ich«, erzählt Matt weiter. »Meine Mutter hingegen hat wieder geheiratet, schon vor Jahren. Anfangs war ich auch nicht begeistert davon, aber was will man machen? Es ist schließlich keine Entscheidung, wen man liebt oder wen man nicht liebt. Das passiert einfach. Dagegen ist man machtlos.«

Meine Augenbraue wandert überrascht in die Höhe. »So weise Worte aus deinem Mund? Da sprichst du wohl aus Erfahrung, was?«

Matt schnaubt, doch in seinen blauen Augen funkelt es amüsiert. »Ich rede von unseren Eltern, ist dir das klar?«

»Glasklar.«

Ob er schon jemals verliebt war? Wieder einmal wird mir bewusst, dass, egal, wie lange ich ihn schon kenne, ich eigentlich kaum etwas über ihn weiß.

Und plötzlich verspüre ich den Wunsch, das zu ändern. Ich möchte mehr über ihn erfahren. Aber bei Matt kann man nur an der Oberfläche kratzen, mehr nicht. Das war schon immer so. Mehr würde er nicht zulassen. Ob das eine Art Selbstschutz ist?

»Vermutlich ist das die einzige Sache, die wir beide gemeinsam haben. Ich meine, dass wir beide Scheidungskinder sind«, stelle ich nüchtern fest und zucke mit den Schultern.

»Das ist nicht ganz richtig«, widerspricht Matt mit erhobenem Zeigefinger. »Tai ist unser gemeinsamer, bester Freund. Du stehst auf meine Musikplatten. Und wir finden beide, dass das Gesicht deiner Mom vorhin einen Bilderrahmen verdient hätte.«

Ich lache herzhaft auf, nachdem ich meine Cola leer getrunken habe.

»Allerdings. Das hat meine Stimmung mindestens für die nächsten fünf Tage deutlich gehoben.«

Matt’s Mundwinkel verziehen sich zu einem richtig süßen Lächeln und ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Ich hätte nie gedacht, dass er so locker und offen reden kann, das ist irgendwie … verdammt charmant.

Ach, Shit! Warum muss er nur so smart sein? Ich darf mich auf keinen Fall wieder zu irgendwas hinreißen lassen. Auch, wenn mir dieser Kuss seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Aber das ist egal. Matt ist und bleibt tabu! Großes Indianer Ehrenwort.

»Wo wir gerade von Musik sprachen«, durchbricht er meinen Gedankengang und stützt sich am Tisch ab, um aufzustehen. »Lust auf ein Konzert?«

»Äh …«, mache ich nur, weil mir dieser Themenwechsel nun doch etwas zu plötzlich kommt. »Wer spielt denn?«

»Ich.« Er grinst schief, doch ich verziehe deutlich abgeneigt das Gesicht.

»Hmm, nääh. Keinen Bock.«

»Herrgott«, stöhnt Matt auf, kommt um den Tisch herum gelaufen und greift nach meiner Hand, um mich auf die Beine zu ziehen.

»Hey … huch!«, protestiere ich. Beinahe wäre ich hingefallen.

»Nicht mal ein bisschen Spaß kann man mit dir haben. Voll ätzend.«

»Pfft! DU bist voll ätzend!« Empört schaue ich ihn an, während er mich hinter sich her zu seinem Motorrad schleift, als wäre ich sein Kind.

»Okay, Vorschlag zur Güte«, meint Matt plötzlich und bleibt so ruckartig stehen, dass ich fast gegen ihn knalle. Dann holt er sein Handy aus der Hosentasche, schaltet die Frontkamera ein und positioniert sich mit einem breiten Lächeln direkt neben mich. Während ich ihn noch schräg von der Seite her anschaue, drückt er schon ab.

»Was zur …?«

Hat er gerade ein Selfie gemacht?

Matt begutachtet das Foto mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.

»Du siehst furchtbar aus, so schräg wie du guckst.«

Ich verschränke beleidigt die Arme vor der Brust »Oh, danke für das Kompliment.«

»Das kannst du besser«, sagt er dann und will noch ein Foto machen. Ich weiß zwar nicht, wofür, aber ich habe keine Lust, mich noch mal beleidigen zu lassen, also lächle ich, vermutlich etwas gezwungen, in die Kamera.

»Hmm, schon besser«, meint er leicht nickend, als er sich das Foto anschaut. Er tippt etwas auf seinem Handy rum und kurze Zeit später klingelt es in meiner Hosentasche.

»Ich habe es dir geschickt«, erklärt mir Matt, noch bevor ich nachsehen kann, wer das war. »Und wenn du mitkommst und den Abend mit mir verbringst, kriegst du später noch eins davon.«

Beinahe fällt mir die Kinnlade runter, weil er mich so frech dabei angrinst.

Tickt er noch ganz richtig?

»Du weißt schon, dass ich nicht eines deiner Fangirls bin? Hast du so was überhaupt? Falls nicht, tut es mir Leid, aber ich werde es sicher nicht sein. So toll bist du nun auch wieder nicht.«

»Du musst nicht gleich zickig werden«, erwidert Matt zischend und zeigt auf das Handy in meiner Hosentasche. »Das ist für deine Mutter. Das kannst du ihr nachher schicken, um sie so richtig auf die Palme zu bringen.«

Jetzt starre ich ihn an.

Was für eine … geniale Idee!

»Das ist stark«, sage ich anerkennend und frage mich gleichzeitig, warum ich nicht selbst schon auf die Idee gekommen bin. »Aber warum sollte ich für noch ein Foto mit zum Konzert kommen? Ich habe doch jetzt schon das. Eins reicht.«

»Ich kann es auch wieder aus dem Chat löschen.«

»Verdammt.«

»Also«, sagt er schief grinsend und hält mir den Helm hin. »Sind wir uns einig?«

Skeptisch mustere ich ihn. Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Was springt für dich dabei raus?«

Er verdreht seine Augen gen Himmel und grinst, was auch immer das zu bedeuten hat. »Denkst du immer, ich habe irgendeinen Hintergedanken?«

»Hast du?«

»Und wenn schon«, lacht Matt kopfschüttelnd. »Du bist meinem Charme gegenüber doch sowieso immun.«

Eifrig nickend stimme ich ihm zu. »Gut erkannt. Na schön, ich komme mit. Habe sowieso nichts besseres vor.«

»Sehr schön«, grinst Matt, als ich den Helm endlich an mich nehme und aufsetze.

Ich puste die Luft aus und seufze. Okay, was soll's. Mit meinem selbst abgegebenen Versprechen, ihn nicht mehr anzufassen, kann ja eigentlich nichts passieren. Wir sind einfach zwei Freunde, die den Abend miteinander verbringen. Also, was soll schon schiefgehen?

Mimi

Warum zum Teufel bin ich nur mitgegangen?

Das frage ich mich, seit wir hier angekommen sind, weil in der Bar, in der Matt heute Abend spielt, sprichwörtlich die Hölle ausgebrochen ist. Der Barchef hat uns vorhin gleich am Eingang abgefangen und uns mitgezerrt. Er faselte irgendwas von wegen: »Rauch«, »so ein Dummkopf« und »total bescheuert«. Leider konnte ich mir da noch keinen Reim darauf machen, was er meint.

Jetzt stehe ich vor einem Haufen Equipment, aus dessen Mitte eine Wasserlache läuft. Wir stehen hinter der Bühne und als ich einen Schritt zur Seite tue, um das Unglück genauer zu beschauen, rutsche ich in einer Pfütze aus. Im Bruchteil einer Sekunde greift Matt nach meinem Arm und zieht mich wieder auf die Beine.

»Danke«, hauche ich, nachdem ich natürlich erst einmal erschrocken gekreischt habe.

»Tut mir Leid«, sagt er bedauernd.

»Ich weiß. Es ist noch alles nass von den Sprinkleranlagen.«

»Das meine ich nicht. Ich meine … das hier.« Er breitet die Arme aus und deutet auf das Chaos vor uns. »Das war so nicht geplant.«

»Nein, sicher nicht«, zische ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich sage es nicht gerne, aber: du bist am Arsch.« Und das ist noch dezent untertrieben. Die meisten der Musikinstrumente, darunter auch Matt's Gitarre, der Bass, das Mikrofon, das Keyboard und das Schlimmste: sämtliche Kabel und Verstärker sind klitschnass. Das Zeug taugt nicht mal mehr für den Schrottplatz noch was, geschweige denn für eine Bühne. Wie es zu dem Vorfall gekommen ist, wissen wir allerdings noch nicht.

»Hey, man«, ruft ein Typ, den ich schon mal gesehen habe. Forschen Schrittes kommt er auf uns zu und stellt sich neben Matt. Ich glaube, er ist Teil der Band. Eventuell spielt er das Schlagzeug, aber genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich habe Matt’s Band bis jetzt nur ein Mal auftreten sehen und das war vor Jahren, auf einem Schulfest. Keine Ahnung, ob er genau so oft die Mitglieder wie den Namen der Band gewechselt hat. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, wie sie sich gerade nennen …

Auf jeden Fall ist der Typ ebenfalls klitschnass. Von oben bis unten. Seine Schuhe machen ein ekliges Pflatschgeräusch bei jedem Schritt und seine dunkelbraunen Haare kleben ihm in Strähnen im Gesicht. Er atmet so schnell, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen.

»Mir tut das so, so leid, man. Du glaubst nicht, wie sehr. Wir haben versucht, zu retten, was zu retten war, ehrlich.« Im selben Moment eilen die anderen zwei Bandmitglieder herbei, ebenfalls nass bis auf die Knochen. Sie wirken nicht weniger zerstreut. Und beschämt.

»Alter!«, fängt Matt an zu wüten und deutet noch ein Mal mit Nachdruck auf den nassen Schrotthaufen vor uns. »Das gesamte Equipment ist im Arsch! Ihr solltet es aufbauen, nicht in Wasser tränken. Was habt ihr hier getrieben, verdammt noch mal?«

Kurz herrscht Stille, während sich alle Beschuldigten peinlich berührte Blicke zuwerfen. Gerade, als Matt erneut den Mund öffnen und seinen Bandkollegen eine Standpauke halten will, fährt einer von ihnen hoch.

»Tatsuya hat geraucht«, platzt es aus ihm heraus und er zeigt anklagend mit dem Finger auf sein Gegenüber. »Und dann ist die Sprinkleranlage angesprungen und ließ sich nicht mehr abstellen.«

Der Typ, mit den dunkelbraunen Haaren sieht erschrocken auf. »Du Verräter!«

»Was?«, entrüstet sich Matt und sein Kopf schnellt zu Tatsuya herum. »Wirklich, Tatsuya? Wie oft habe ich euch gesagt, bei der Arbeit wird nicht geraucht? Und warum habe ich das gesagt? Damit genau so was nicht passiert. VERDAMMT!«

Die letzten Worte schreit er und alle zucken zusammen, inklusive mir.

Herrgott. So außer sich habe ich Matt ja noch nie erlebt. Niedergeschmettert sieht er hinab auf das unbrauchbare Equipment und fährt sich gestresst durch die Haare.

»Was machen wir denn jetzt?« In dem Moment, als er diese Frage an uns alle richtet, kommt ein Mitarbeiter der Bar hinter die Bühne und stellt Eimer und Wischmopp neben uns ab.

»Putzarbeiten sind in eurer Gage nicht mit enthalten. Um den Kram müsst ihr euch selbst kümmern.« Dann nickt er Matt zu, geht und lässt uns stehen.

Matt schnaubt. »Grandios.« Er wirft einen Blick in die Runde und stemmt die Hände in die Hüfte. »Wir können den Auftritt wohl absagen.«

Entsetzt sehen sich alle an.

»Was?«

»Nein, man!«

»Aber wir brauchen die Kohle.«

»Heute Abend soll die Hütte voll sein, das können wir uns doch nicht entgehen lassen«, kommt lauthals Protest von allen Seiten.

»Leute«, meint Matt nur sichtlich genervt und drückt sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken. »Ich habe genauso Bock auf den Auftritt wie ihr. Und ich brauche die Kohle auch. Aber all unsere Sachen sind hinüber. Wie sollen wir ohne Instrumente einen Auftritt hinbekommen? Sollen wir A capella singen?« Er geht vor dem Haufen Schrott in die Knie und zerrt seine triefende E-Gitarre hervor. Ein Anschlag der Saiten beweist nur allzu deutlich, dass sie nicht mehr zu gebrauchen ist. Matt verzieht das Gesicht und sieht wirklich, wirklich bemitleidenswert aus. So bemitleidenswert, dass ich das Wort ergreife.

»Also, ich …«, räuspere ich mich und durchbreche die Totenstille, die sich über alle Anwesenden gelegt hat. »Ich hätte da vielleicht eine Idee.«

Alle sehen mich verdattert an.

»Wer bist du noch mal?«, kommt die Frage von der Seite, als hätten sie erst jetzt Notiz von meiner Anwesenheit genommen und auch dieser Tatsuya sieht mich nun verwundert an.

»Genau, das wollte ich auch schon die ganze Zeit fragen.«

Matt seufzt. »Sie ist eine Freundin.«

»Ihr braucht neue Instrumente, richtig? Elektronische, richtig?«, frage ich und alle sehen mich an, als wäre ich nicht ganz dicht in der Birne.

Ich hebe die Hände. »Okay. Lasst mich kurz telefonieren.«

Ohne große Worte zu verlieren, verschwinde ich in einen abgelegeneren Bereich.

Fünf Minuten später komme ich wieder. Die Jungs haben sich inzwischen daran gemacht, das Chaos zu beseitigen. Zwei von ihnen schrubben den Fußboden, während Matt und Tatsuya die nassen Geräte und Instrumente nach draußen schleppen.

»Seht euer Problem als gelöst an«, verkünde ich feierlich und grinse breit, während alle in ihrer Arbeit innehalten und mich dämlich ansehen. »Ich habe Instrumente für euch klar gemacht. Und Equipment, Kabel … den ganzen Scheiß eben, den man so braucht.«

Verdatterte Blicke wandern hin und her. Matt stellt einen vor Nässe triefenden Verstärker ab, kommt zu mir rüber und packt mich an den Schultern.

»Treib keine Späße mit uns«, haucht er hoffnungsvoll. Mit hochgezogener Augenbraue streife ich seine Hände ab.

»Ich mache keinen Spaß«, erkläre ich. »Schon vergessen, dass ich im Hard Rock Café arbeite? Dort finden andauernd live Auftritte statt. Und rein zufällig liegen die Instrumente für morgen Abend schon in unserem Lagerraum bereit. Ich habe einen Kollegen bestochen, dass wir sie uns heute ausleihen dürfen und bis Mitternacht zurückbringen. Na ja, wobei bestochen nicht unbedingt das richtige Wort ist. Erpresst trifft es eher.«

Matt’s Augen beginnen zu leuchten, als er so langsam realisiert, was ich sage. Das bringt mich zum Lächeln. All die Anspannung fällt von ihm ab und sein Gesicht bekommt wieder Farbe.

»Wahnsinn«, haucht Tatsuya völlig benommen und auch die anderen starren mich an, als hätte ich eben ein Wunder vollbracht.

»Mimi, du bist der Hammer!«, jubelt Matt und umarmt mich fest.

»Nicht der Rede wert«, erwidere ich peinlich berührt, als er mich wieder loslässt. »Es war ja nur ein Anruf.«

»Also, worauf warten wir? Holen wir die Sachen ab, bauen sie hier auf und dann kann’s losgehen!«, meint Tatsuya, doch Matt wirft ihm einen tadelnden Blick zu.

»Ähm, ich denke, du hast für heute Abend genug Instrumente ruiniert. Wir können es uns ganz sicher nicht leisten, die Geliehenen auch noch zu ersetzen.«

Geknickt lässt Tatsuya die Schultern hängen, widerspricht jedoch nicht.

»Ich kann sie holen«, schlage ich vor und wieder sehen mich alle an, als würde ich chinesisch sprechen. »Das ist kein Problem. Ich weiß, wo alles steht und so sind wir am schnellsten. Außerdem wollt ihr doch nicht so auf die Bühne gehen nachher, oder?« Mit dem Zeigefinger deute ich auf die klitschnassen Klamotten. »Geht euch schnell duschen und umziehen. Und wenn ihr fertig seid, könnt ihr mit dem Aufbau beginnen.«

»Super Idee. Ich komme mit und helfe dir«, stimmt Matt mir zu und klatscht in die Hände. »Auf, auf, Jungs. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir vielleicht sogar noch einen Probelauf, bevor die Bar öffnet.«

Niemand verliert mehr große Worte. Stattdessen setzen sich alle schnellstmöglich in Bewegung und strömen wie die Ratten auseinander. Ich folge Matt durch den Hinterausgang, wo der geliehene Van der Gruppe steht. Er ist groß genug, so dass alle Instrumente locker hineinpassen sollten.

Schwungvoll hüpfe ich auf den Beifahrersitz, während Matt den Motor startet.

»Ich weiß gar nicht, wie ich das je wieder gut machen kann«, sagt Matt zu mir, doch ich zucke nur mit den Schultern.

»Keine Sorge. Ich erinnere dich daran, wenn es soweit ist.«

Sein Grinsen ist kaum zu übersehen und ich schmunzle in mich hinein. Das hat sich gerade richtig gut angefühlt, den Jungs zu helfen. Und ihn so glücklich zu sehen.
 

Genau eine Stunde später kehren wir zur Bar zurück, vollbepackt, mit allem, was die Band für ihren Auftritt braucht. Auch die Jungs sind soweit und haben sich frische Klamotten angezogen. Alle helfen beim Reintragen und während Matt auf der Bühne koordiniert, welche Kabel in welchen Verstärker gehören, lasse ich mich an der Bar nieder und folge dem Treiben. In 45 Minuten ist offiziell geöffnet und nach circa einer halben Stunde Einlass, beginnt der live Auftritt.

Irgendwie bin ich tatsächlich ein bisschen aufgeregt. Warum habe ich Matt noch nie richtig spielen sehen? Ich weiß, dass Tai auf einigen von seinen Auftritten war, genauso wie Kari und T.K., natürlich. Ich war nie wirklich dabei gewesen. Man kann schon sagen, dass es mich einfach nicht interessierte. Matt’s Musik habe ich immer wie eine Art Hobby betrachtet. Und mal ehrlich … er würde auch zu keinen von meinen Tennisspielen kommen und mich anfeuern. Nicht, dass ich Tennis spielen würde. Aber es hätte ihn genauso wenig interessiert. Fakt!

Aber nun habe ich gesehen, wie wichtig es den Jungs ist, hier aufzutreten. Wie wichtig es Matt ist. Ich sehe, wie viel Mühe er sich gibt, vom Aufbau, bis zum Show Down. Heimlich beneide ich ihn dafür, dass er etwas gefunden hat, was er mit so viel Leidenschaft tut. Und da ist noch etwas: ich bin wirklich, wirklich neugierig geworden, wie sich seine Singstimme anhört. Deshalb rutsche ich auch die ganze Zeit auf meinem Barhocker hin und her, während der Barkeeper zu mir rüber schlendert.

»Hey, Hübsche«, begrüßt er mich und ich drehe mich zu ihm um. »Kann ich dir schon irgendwas bringen?«

Er lehnt sich über die Theke und sieht mich erwartungsvoll an.

»Aber ihr habt doch noch gar nicht geöffnet«, sage ich.

Er grinst. »Du gehörst zu den Jungs, richtig?« Mit einer Kopfbewegung deutet er in Richtung Bühne. Ich nicke, obwohl das ja nicht so ganz stimmt, aber egal.

»Dann geht das in Ordnung. Also, was möchtest du trinken?«

Ich bestelle mir einen Gin Tonic, in der Hoffnung, dass der Alkohol meine leicht aufkommende Nervosität hinunter spült. Oh, man. Hoffentlich funktionieren alle Instrumente. Sonst mache ich mich ja total lächerlich. Aber immerhin habe ich alles getan, was ich tun konnte. Der Rest liegt nun bei ihnen. Der Barkeeper stellt mir den Drink hin und ich nippe vorsichtig daran. Puh, ziemlich stark. Aber lecker.

»Trink nicht so viel.«

Ich zucke so heftig zusammen, dass mir das Glas beim Abstellen über schwappt. Dann drehe ich mich zur Seite. Matt’s Mund verharrt noch immer an meinem Ohr, nachdem er mir die Worte zugeflüstert hat. Ein angenehmer Schauer streicht über meinen Rücken und ich muss mich kurz räuspern, um mich wieder zu sammeln.

»Schleich dich nicht so von hinten an, verdammt.«

»Sorry«, lacht er und lässt sich auf den Hocker neben mir sinken. »Ich wollte dich nur warnen. Jack ist nicht dafür bekannt, dass er schwache Drinks mixt.« Er nickt dem Barkeeper zu. »Ich nehme das, was sie hat.«

»Seid ihr soweit fertig?«, erkundige ich mich, als Matt seinen Gin Tonic bekommt.

»Sind wir. Die Jungs machen sich gerade hinter der Bühne etwas warm. Die Zigaretten habe ich ihnen natürlich weggenommen. Alle.« Er kramt in seinen Hosentaschen und knallt dann drei fast volle Packungen auf den Tresen. »Also, wenn du Bedarf hast, nur zu.«

Ich lache und sehe ihn schräg an. »Du weißt doch, dass ich nicht rauche.«

Matt zuckt mit den Schultern und dreht sich dann in meine Richtung. Seine Hand landet auf meinem Knie und er sieht mich direkt an.

»Hör mal, Mimi«, sagt er.

Ich schlucke schwer. »Ja?«

»Dass du dich heute für uns so weit aus dem Fenster gelehnt hast, das war … wirklich nett von dir.«

»Nett?« Ich grinse ihn an.

»Okay«, korrigiert er sich selbst lachend. »Es war so ziemlich das Netteste, was jemals jemand für uns getan hat. Ich meine, Jingle hat reiche Eltern und nicht mal die hätten sich herabgelassen, uns aus der Patsche zu helfen.«

»Warte«, sage ich und hebe verwirrt die Hand. »Wer ist Jingle?«

»Oh«, lacht Matt und verdreht die Augen. »Sorry, wir waren vorhin einfach so durch den Wind, dass sich die Jungs gar nicht richtig bei dir vorgestellt haben. Also, Tatsuya kennst du ja schon. Er spielt das Schlagzeug. Dann gibt es da noch Koichi, er spielt das Keyboard. Und Jingle ist am Bass. Frag mich nicht, wie er richtig heißt. Das hat er uns nie verraten.«

Ich kichere, weil dieser Name echt schräg ist.

»Jedenfalls, was ich damit sagen wollte … ich danke dir. Ehrlich, Mimi«, redet Matt weiter und schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln, was mein Herz erwärmen lässt.

»Wow«, meine ich und versuche, seinem Blick irgendwie auszuweichen, weil ich sonst rot werde. »Kaum zu glauben, dass ich zur Abwechslung mal was Nützliches getan habe.«

Matt nimmt endlich die Hand von meinem Bein, was eine unangenehme Kälte hinterlässt. Schnell widme ich mich wieder meinem Drink, während er mich irritiert von der Seite her mustert.

»Was soll das denn bedeuten?«

»Nichts«, versuche ich den Kommentar runter zu spielen. »Es ist nur … meine Mutter hat heute Nachmittag etwas ziemlich Dummes gesagt. Eigentlich macht sie das ständig. Gott, jetzt weiß ich auch, woher ich mein loses Mundwerk habe. Kein Wunder, sie sagt auch immerzu, was sie denkt. Ob es die Leute nun interessiert, oder nicht. Was für eine miese Angewohnheit.«

»Hör auf vom Thema abzulenken«, unterbricht Matt meine Selbstrede. Ich stöhne ergeben auf.

»Na, schön. Sie sagt andauernd, ich würde mein Leben vergeuden. Dass ich endlich etwas finden soll, das ich machen möchte. Also, dauerhaft.«

»Und nur, weil sie das sagt, hast du das Gefühl, was du tust, wäre nutzlos?«

»Na ja«, entgegne ich zweifelnd und lege die Stirn in Falten, während ich mit meinem Strohhalm rum spiele. »Ich serviere Getränke. Manchmal auch ein Sandwich. Aber hauptsächlich heißen Kaffee. Was ist daran bitteschön sinnvoll?«

»Hey!«, schnaubt der Barkeeper beleidigt, der gerade einige Gläser poliert und uns offensichtlich belauscht hat.

»Oh sorry, Jack«, winke ich schnell ab. »Das war nichts gegen dich. Dein Job ist toll. Viel toller als meiner und ich …«

»Schwachsinn.«

»Was?« Ich fahre zu Matt herum. Seine Finger sind um das Glas auf dem Tresen gekrallt und seine Oberarmmuskeln spannen sich an. Haben ihn meine Worte so wütend gemacht?

»Nicht jeder Mensch muss etwas tun, was andere für sinnvoll erachten. Meinst du, meine Eltern finden es gut, dass ich nichts mache, außer Musik? Zumindest sagen sie es immer so: es ist NUR Musik. Für mich ist es das nicht. Für mich ist es … Freiheit. Es bedeutet mir einfach alles. Ich tue das, was mir gefällt und ich liebe es. Für andere ist es eben nur Musik und das ist auch okay so. Was ich damit sagen will …« Mit seinen blauen Augen sieht er mich durchdringend an. Bei diesem Blick wird meine Kehle staubtrocken. »Lass dir von niemanden sagen, was du mit deinem Leben anfängst. Oder was du zu sein hast. Von niemanden! Dieses Leben gehört nur dir allein, Süße.« Er trinkt den Rest seines Getränks in einem Zug aus und springt vom Barhocker. Dann beugt er sich zu mir, ganz nah an mein Gesicht. Ein Grinsen umspielt seine Lippen.

»Genieß das Konzert«, säuselt er und stupst mir mit dem Finger gegen die Nase. »Wir sehen uns später.«

Er verschwindet wieder hinter die Bühne, während ich da sitze, ihm nachsehe und mir geistesabwesend an die Nase fasse. Seine Worte hallen noch immer in meinem Kopf nach.

Sie geben mir Kraft.

Und es ist das Beste, was ich seit langem gehört habe.

Mimi

Eine Stunde später ist die Bar brechend voll und die Jungs haben sich so richtig warm gespielt. Jetzt weiß ich jedenfalls, warum sie sich diesen Auftritt auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen wollten. Und auch Jack schiebt ein Getränk nach dem anderen über die Theke. Also, quasi eine win win Situation.

Matt ist fantastisch an der Gitarre. Es scheint fast so, als könne er jeden einzelnen Akkord im Schlaf spielen. Die Musik, die er schreibt, ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen und in jedem Wort, das er singt, kann ich die Leidenschaft hören, die darin liegt.

Ich beneide ihn so sehr darum. Wirklich.

Er lebt seinen Traum. Auch wenn es eine kleine Bühne ist und die meisten der hier anwesenden Leute ihn wahrscheinlich in ein paar Wochen schon wieder vergessen haben werden - es erfüllt ihn mit Leben.

»Er ist der Wahnsinn, oder?«, ruft Jack mir über den Tresen hinweg zu, aber ich verstehe ihn nicht so gut. Der Bass, das Schlagzeug, die Gitarre - die Klänge jagen wie Stromschläge durch meinen Körper und nehmen den Raum ganz für sich ein.

»Was?«, rufe ich zurück. Jack lehnt sich etwas weiter zu mir rüber.

»Ich sagte, dass die Jungs echt der Hammer sind, oder?«

Zweifelnd ziehe ich einen Mundwinkel nach oben und zucke mit den Schultern. »Ich stehe eigentlich nicht so auf Rock Musik.«

Jack grinst. »Dafür hampelst du aber ziemlich viel auf deinem Stuhl rum.«

Schnell lege ich beide Hände auf meine Beine, damit sie aufhören im Rhythmus der Musik mitzuwippen.

»Blondi hat echt Talent, das muss man ihm lassen«, redet Jack weiter.

»Matt?«

»Klar, sieh ihn dir nur an.«

Ich folge seinem Blick und bleibe für einen kurzen Moment an Matt kleben. Er hat die Augen geschlossen und schmettert die Töne heraus, als gäbe es kein Morgen mehr. Seine Stimme klingt rau und unnahbar. Wie aus einer anderen Galaxie. Sie ist wirklich einzigartig.

»Ich denke, er hat Potential«, stimme ich etwas defensiv zu, weil ich nicht zugeben will, wie grandios ich ihn auf der Bühne finde. Jack sieht mich nur stirnrunzelnd an, während seine Mundwinkel zucken.

»Fragt sich nur für was. Ich habe gehört, er hat viele Talente.« Dann grinst er breit. Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu.

Bis ich checke, dass das gerade eine sexuelle Anspielung war und empört den Mund aufreiße, ist er schon beim nächsten Gast. Also, so was …

Ich schaue wieder zur Bühne. Der Song endet gerade und die Leute applaudieren. Matt umfasst das Mikrofon und ergreift das Wort.

»Der nächste Song ist für eine Freundin, die uns heute sprichwörtlich den Arsch gerettet hat.« Seine Augen suchen mich, bis er mich an der Bar entdeckt.

Oh, Gott. All eyes on me. So was kann ich gar nicht leiden.

»Mimi …«

Nein. Nein. Nein. Tu das nicht.

Leute drehen sich suchend nach mir um. Wie unangenehm. Ich grinse peinlich berührt und schüttle meinen Kopf, damit mir die Haare ins Gesicht fallen.

Dann sehe ich Matt lächeln. » … schäm dich niemals für das, was du bist. Niemals!«

Das Scheinwerferlicht schwenkt um und mit einem mal steht er allein im Rampenlicht. Alle anderen Bandmitglieder versinken im Dunkeln. Wow, wird das etwa eine Akustikversion? Meine Finger tippen unruhig aneinander, während ich wie alle anderen die ersten Töne erwarte.

Und dann … hauen sie mich um.
 

»Do you ever feel like a plastic bag

drifting through the wind

wanting to start again

Do you ever feel, feel so paper thin

like a house of cards

one blow from caving in …«
 

»Oh, verfickte Scheiße«, entfährt es mir, weil ich völlig sprachlos bin. Singt er da etwa gerade eine eigene, wunderschöne Version von Katy Perry's »Firework«?
 

»… Do you know that there's still a chance for you

'cause there's a spark in you

You just gotta ignite the light

and let it shine …«
 

Ich hänge förmlich an seinen Lippen, sauge jedes Wort in mir auf. Seine Finger gleiten über die Gitarre, bis im Hintergrund die Violine einsetzt. Ich habe keine Ahnung, wer sie spielt, weil ich es nicht sehe. Aber es ist wunderschön.
 

»… You don't have to feel like a waste of space

you're original, cannot be replaced

if you only knew what the future holds

after a hurricane comes a rainbow

maybe you're reason why all the doors are closed

so you could open one that leads you to the perfect road …«
 

»Ich sagte doch, er hat's drauf.« Ich zucke zusammen, weil ich so sehr in Matt's Musik vertieft bin, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie Jack sich über die Theke zu mir rüber lehnt.

»Du hast nicht untertrieben«, sage ich und lächle.

»Ich glaube, er steht auf dich.«

Mein Kopf fährt herum. »Was?«

Jack zuckt lediglich die Schultern, als wäre es keine große Sache. »Na ja, er spielt jetzt schon seit ein paar Jahren in dem Schuppen hier. Und seit ich ihn kenne, hat er noch nie für eine Frau einen Song gesungen.«
 

»… So don't let them take your life for granted

you're the only one who needs to rule your world

when life leave you feel empty handed

light on and show what you're worth …«
 

Ich starre Matt an, kann mich jedoch kaum noch auf seine Worte konzentrieren. Er steht auf mich? So ein Blödsinn. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das, was da neulich zwischen uns passiert ist, ein Versehen war. Im Grunde war ich selbst dran schuld. Er hat mit mir gespielt, hat mich provoziert, mich herausgefordert. Und ich hatte das Spiel verloren. Mehr war doch da nicht, oder?
 

»… 'cause baby you're a firework

come on show 'em what your worth

make 'em go "Oh, oh, oh!"

as you shoot across the sky-y-y …«
 

Unsere Blicke treffen sich. Seine raue Stimme geht mir direkt unter die Haut und ich weiß nicht mehr, was ich denken oder fühlen soll. Obwohl der ganze Raum voller Menschen ist, fühlt es sich so an, als wären wir allein.
 

»… 'cause baby you're a firework.«
 

Der letzte Ton erklingt, dann verstummt alles. Bis der Applaus einsetzt. Die Leute jubeln ihm zu und ich höre, wie einige neben mir anfangen zu schwärmen. Auch ich klatsche in die Hände, immer noch benommen von diesem wunderschönen Lied. Ich kann echt nicht fassen, dass er das für mich gesungen hat.

Es war der letzte Song des Abends. Die Jungs bedanken sich, aber ich bleibe nach dem Auftritt trotzdem noch eine Weile an der Bar sitzen. Bis sich von hinten zwei Hände auf meine Schultern legen.

Ich drehe mich um. Es sind Tatsuya und Koichi.

»Hey, Mimi«, flötet Tatsuya mir ins Ohr. Ich grinse schief. Mein Gott, ist er etwa beschwipst?

»Hey, Leute. Toller Auftritt«, sage ich, während sie sich rechts und links neben mir niederlassen. Tatsuya bestellt sich ein Bier, Koichi eine Cola und wir stoßen gemeinsam an.

»Danke, für deine Hilfe heute. Ohne dich wäre der ganze Auftritt ins Wasser gefallen. Wortwörtlich«, sagt Tatsuya.

»Das stimmt. Und wahrscheinlich hätten wir nie wieder einen Auftrag hier bekommen. Wobei …« Er legt den Kopf schief und sieht zur Decke, als würde er nachdenken. » … wäre das wirklich ein Verlust gewesen? Wir werden es nie erfahren.«

Ich kichere. »Wo ist Jingle?«

»Oh, der ist schon nach Hause gegangen. Er wohnt in einem Studentenwohnheim auf dem Campus und dort werden um 24 Uhr die Pforten geschlossen. Wer dann nicht da ist, kann unter der Brücke pennen. Oder sonst wo«, erklärt Koichi, während Tatsuya mitleidig mit dem Kopf nickt.

»Ich dachte, seine Eltern wären reich. Zumindest hat Matt mir das gesagt. Warum wohnt er dann auf dem Campus?«, frage ich interessiert.

»Er will auf eigenen Beinen stehen. Na ja, das stimmt nicht so ganz. Seine Eltern sind solche Snobs, dass sie ihm gesagt haben, entweder er hört mit der Musik auf, oder sie streichen ihm die Kohle.«, antwortet Tatsuya und kippt sein Bier runter. Dann wischt er sich mit dem Ärmel den Schaum vom Mund und bestellt sich noch eins. Ich sehe ihn schräg an.

»Das ist bitter«, sage ich. Gut zu wissen, dass nicht nur ich eine Mutter habe, die mit dem Leben ihres Kindes unzufrieden ist. »Wo ist Matt? Ist er auch schon nach Hause gegangen?«

Koichi grinst mich von der Seite her an. »Der … wollte nur noch kurz was erledigen. Müsste gleich zu uns stoßen.«

Tatsuya prustet los und spuckt fast sein ganzes Bier zurück ins Glas. »Zu uns stoßen … bist du bescheuert?«

Ich runzle nur die Stirn, weil ich den Witz offenbar nicht verstanden habe. Was soll’s. Jungs unter sich sind echt komisch.

»Okay, ich gehe mal für kleine Mädchen«, verkünde ich und schlüpfe vom Barhocker.

»Tu das, Matt hat uns dazu verdonnert, die Instrumente bis Mitternacht zurückzubringen. Also, werden wir gleich mit dem Abbau beginnen«, sagt Koichi.

»Na, dann … Seid schön vorsichtig damit.« Warnend hebe ich einen Zeigefinger in die Luft und grinse. Ich denke, die Jungs haben ihre Lektion gelernt. So etwas wird ihnen ganz sicher nicht noch mal passieren.

Ich gehe zur Toilette und mache mich noch ein mal vor dem Spiegel frisch. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was der Abend noch bringen wird. Matt hat nur gesagt, ich soll mir das Konzert ansehen. Theoretisch könnte ich jetzt nach Hause gehen und … was sind das für Geräusche?

Als ich die Damentoilette verlasse, höre ich eindeutig … ist das ein Stöhnen?

Oh mein Gott.

Ich drehe mich in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Dann erstarre ich in meiner Bewegung. In der hinteren Ecke des Flurs, lehnt eine Frau mit dem Rücken gegen die Wand. Vor ihr steht ein Kerl, der gerade dabei ist, ihren Hals abzulecken, während die Frau den Kopf in den Nacken geworfen hat und genüsslich aufstöhnt. Ihr Bein schlingt sich um seine Taille. Seine Hand liegt auf ihrem Arsch, während die andere ihren Busen knetet.

Ich schlucke schwer.

Das ist Matt. Mit irgendeiner wildfremden Frau. Wobei … ich weiß ja nicht einmal, ob die zwei sich nicht vielleicht doch kennen. Was für seltsame Gedanken schießen mir denn hier durch den Kopf, während sie ihm vor meinen Augen in den Schritt langt? Sie stöhnt lustvoll auf, als er weiter an ihrem Hals saugt.

Mit einem Mal wird mir ganz heiß. Viel zu heiß. Das ist schlimmer und besser als jede Piep-Show.

Oh, Gott. Was mache ich hier? Die beiden werden sicher gleich vögeln. Ich sollte mich schleunigst verpissen. Spätestens jetzt, als er ihren Minirock hochschiebt, sollte ich mich einfach …

Unter meinen Füßen knackt eine Diele.

Die beiden fahren hoch.

»Scheiße«, murmle ich fluchend und beiße die Zähne zusammen, als könnte ich so meinen Fehltritt irgendwie ungeschehen machen.

»Sorry … ach, fuck«, rufe ich halbherzig und will schon auf dem Absatz kehrt machen, als Matt mich erkennt.

»Mimi?«

»Äh … nein?«, sage ich zwar, aber erkannt wird er mich wohl trotzdem haben.

»Scheiße, wer ist das?«, ruft die Tussi. Ich verdrehe die Augen. Na, großartig.

»Ich wollte gerade gehen«, sage ich peinlich berührt, lasse meinen Worten jedoch keine Taten folgen, weil ich wie versteinert bin. Warum bewegen sich meine verdammten Beine nicht?

»Was machst du hier?«, fragt Matt und ich sehe ihn verständnislos an.

»Ich musste pinkeln, was sonst?« Ganz sicher wollte ich keine private Pornovorstellung haben.

Matt’s Augen mustern mich eingehend, dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Eroberung. Wie hat er die eigentlich so schnell nach dem Auftritt klar gemacht? Scheint wohl einer der Vorzüge zu sein, wenn man Musiker ist. Irgendwo steht immer ein Groupie, der bereit und willig ist.

»Ich denke, wir lassen das besser«, sagt Matt zur Überraschung aller Anwesenden. »Mach's gut.«

Mach's gut?

Er wollte die Tussi eben noch vögeln und jetzt kriegt sie ein liebloses ‘Machs gut’ vor die Füße geschmissen?

Die Kleine wirkt ein wenig enttäuscht, nickt dann jedoch. Anscheinend weiß sie, dass es keinen Sinn macht sich aufzudrängen. Endlich lässt sie von ihm ab. Erst jetzt fällt mir auf, wie angespannt ich die ganze Zeit über dagestanden habe. Als sie an mir vorbei geht und uns allein lässt, werde ich lockerer.

»Das war ziemlich … interessant«, sage ich und räuspere mich verlegen, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Von mir aus könnte sich auch jetzt der Boden auftun und mich verschlucken. Dabei bin ich noch nicht mal diejenige, die beim Beinahe-Sex ertappt wurde.

Matt kommt auf mich zu. »Interessant?«

»Ja, ich …«, sage ich und streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr. » … wollte eigentlich gerade nach Hause. Tut mir Leid, ich wollte euch nicht stören. War keine Absicht.«

Er macht noch einen Schritt und lässt mich dabei nicht aus den Augen.

»Das macht gar nichts.«

Ich schlucke schwer, als ich seinen Blick auf mir spüre. Er sieht mich genauso durchdringend an wie vorhin, als er den Song gesungen hat. Nur … auf eine andere Art und Weise.

Der Song.

Plötzlich werde ich sauer.

Was soll das hier alles, diese ganze Show? Ist das wieder nur ein Spielchen von ihm?

Ich stemme die Hände in die Hüfte und recke das Kinn.

»Machst du das häufiger?«

»Frauen auf der Toilette vögeln? Oooh ja!«

Wow.

Äh …

Ich muss mich zusammenreißen, nicht puterrot anzulaufen. Irgendwie schaffe ich es sogar, seinem vielsagenden Blick standzuhalten. Seine Mundwinkel zucken, weil er genau weiß, dass er mich damit aus der Reserve locken kann.

»Ich meine, für Frauen auf der Bühne einen Song singen und dann eine andere auf dem Kloflur ficken?«

Ficken?

Habe ich gerade wirklich »ficken« gesagt?

Das tue ich sonst nie, weil ich finde, dass es bessere Wörter für Sex gibt. Aber diese kleine Pornoeinlage hat mich wohl übermütig werden lassen.

»Ach, das«, sagt er und legt den Kopf leicht schief, als hätte er nicht mit so einer Frage gerechnet. Überraschung und Verwirrung flackern in seinen Augen auf. »Nein, eher nicht. Wieso? Stört es dich?«

Ein Zischen kommt mir über die Lippen.

Als ob! Es ist mir so was von egal, wann und wo und mit wem er es tut. Als Antwort verschränke ich die Arme vor der Brust und verdrehe demonstrativ die Augen.

Warum bin ich plötzlich so auf Krawall gebürstet? Ist das der Alkohol?

»Wenn du denkst, es würde mich interessieren, was du so treibst, dann …«

Mit einem Mal macht er einen weiteren großen Schritt auf mich zu und drängt mich somit zurück gegen die Wand. Ich spüre die Kälte der Mauer hinter mir und die Hitze vor mir, die sich zwischen uns ausbreitet, als er mit seinen blauen Augen auf mich hinab sieht. Seine Arme landen rechts und links neben mir, so dass er mich einkerkert und ich keine Chance habe zu entkommen.

»Ich weiß, dass es dich nicht interessiert«, sagt er mit rauer Stimme. »Aber ich weiß, dass es dich angemacht hat.«

Woah.

Gänsehaut.

Meine Haut beginnt vor Aufregung zu kribbeln und es zieht in meinem Unterleib. Du verräterisches Miststück!

Scheiße, Mimi! Hör auf damit! Stell das ganz schnell wieder ab!

»Was würde dich wohl noch anmachen …?« Er drückt sich noch näher an mich heran. »Vielleicht, wenn ich dich hier berühre?«

Ich zucke zusammen, als seine Hand auf meinem Po landet, genau wie bei der Frau zuvor. Dann fährt er an meinem Oberschenkel hinab, packt mit festem Griff zu und schlingt mein Bein um seine Taille. Diese Position ist perfekt, um mir zu zeigen, wie ernst er es meint, denn ich kann nun deutlich spüren, wie erregt er ist.

Ich ziehe scharf die Luft ein. Mein Innerstes vibriert vor hoffnungsvoller Erwartung. Oder zittere ich nur am ganzen Körper?

Wie erstarrt lehne ich gegen die Wand, unfähig mich zu bewegen oder irgendetwas zu tun. Würde die Mauer hinter mir mich nicht stützen, ich schwöre, meine Beine hätten längst nachgegeben. Mein Atem geht schwer und viel zu schnell, weil ich ihn nicht mehr unter Kontrolle habe. So wie alles andere. Mein Körper reagiert mal wieder ganz instinktiv auf ihn und es gibt keinen Weg, das zu verhindern.

Ich kann ihn riechen. Er duftet nach Zigarettenrauch, gepaart mit Lust. Eine gefährliche Kombination. Die mich unwahrscheinlich anturnt.

Er packt noch etwas fester zu, als er meinen flehenden Blick sieht, während seine andere Hand immer noch neben mir gegen die Wand drückt. Er ballt sie zur Faust. Ein kaum hörbares Knurren dringt aus seiner Kehle, ehe er sich weiter zwischen meine Beine schiebt. Noch näher. Noch fester. Seine Härte wird mir nur allzu deutlich bewusst.

Scheiße. Ich bin so was von am Arsch. Wenn er diesmal ernst macht, schaffe ich es nicht, ihn von mir zu weisen. Nicht diesmal. Nicht so. Nicht, wenn ich spüre, wie sehr er mich will und wenn es mich gleichzeitig so wahnsinnig macht, dass ich ihm am liebsten alle Klamotten vom Leib reißen würde.

Beinahe hätte ich aufgestöhnt, weil ich diese Distanz zwischen uns nicht länger ertrage und trotzdem weiß, dass ich sie nicht überbrücken darf. Nicht schon wieder.

Nun beugt er sich langsam zu mir hinab, verharrt kurz vor meinen Lippen. Er kommt mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Mund spüren kann, so, als würde er mich jeden Moment küssen wollen.

Doch er tut es nicht. Stattdessen wandern seine Lippen hinab zu meinem Hals, streifen sanft meine Haut, ohne sie dabei richtig zu berühren. Ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper und spüre, wie heftig meine Halsschlagader pulsiert, als er mit seinen rauen Lippen darüber fährt. Ich hebe einen Arm und vergrabe meine Finger in seinem Haar, während ich leise und vor Verlangen aufwimmere. Warum tut er es nicht endlich, Gott verdammt?

»Mimi«, haucht er nun und seine Muskeln, sein ganzer Körper spannen sich an. Als würde er gegen etwas ankämpfen wollen. Seine Stimme hat einen seltsamen Unterton. Unausgesprochenes lastet darin.

Ich bemühe mich, keine Reaktion zu zeigen, doch das ist kaum mehr möglich.

Ich will dich!

Doch in dem Moment, als mir das ein weiteres Mal bewusst wird, kommt die Angst hinzu.

Ich öffne den Mund, doch noch bevor ich etwas sagen kann, lässt Matt gequält den Kopf sinken.

»Fuck!«, flucht er leise, krallt noch einmal kräftig seine Finger in meinen Oberschenkel, ehe er ihn dann loslässt. Mein Bein sinkt zu Boden. Er tritt einen Schritt zurück und ich atme aus. Endlich.

Aber mein Herz hämmert immer noch wie wild. Und meine tiefste Sehnsucht bleibt wie immer unbefriedigt.

Verflucht noch eins. Was war das eben?

Irritiert sehe ich ihn an, während mir tausend Fragen durch den Kopf schießen. Matt erwidert meinen Blick ebenso verwirrt. Doch eins scheint für ihn ganz klar zu sein: er wird es nicht tun. Nicht mit mir. Nicht heute.

Erleichterung, aber auch Enttäuschung breiten sich in mir aus. Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Das Knistern zwischen uns ist immer noch allzu deutlich spürbar, während wir uns in die Augen sehen.

»Es tut …« Er schluckt hart und fährt sich durchs Haar. »… tut mir leid. Manchmal … wenn du in der Nähe bist … habe ich mich nicht mehr im Griff. Das ist doch verrückt oder? Eigentlich will ich das gar nicht.«

Benommen schüttle ich den Kopf. »Das muss dir nicht leid tun.«

Wie könnte ich sauer auf ihn sein? Mir geht es doch ganz ähnlich. Auch ich fühle mich zu ihm hingezogen, obwohl ich es nicht sollte.

»Wir können das einfach vergessen«, schlage ich kleinlaut vor. Meine Wangen glühen immer noch und auch das Ziehen in meinem Unterleib hat noch nicht nachgelassen. Aber ich muss mich einfach zusammenreißen. Genauso wie er. »Und den Kuss neulich auch, wenn du das möchtest.«

Matt hebt die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. »Das wäre mir eigentlich ganz lieb. Ich habe da nämlich jemanden ein Versprechen gegeben.«

Ein Versprechen?

Wieso schießt mir bei diesem Satz sofort das Bild von Tai in den Kopf? Hat er etwa …?

Ich würde zu gerne wissen, was er damit meint, aber ich stelle diese unausgesprochene Frage nicht. Ich will ihn nicht noch mehr quälen.

Stattdessen nicke ich, gleichermaßen frustriert wie erleichtert. Der Gedanke, dass wir uns beim letzten Mal geküsst haben und heute beinahe Sex im Hinterflur einer Bar gehabt hätten, erschreckt mich. Was, um alles in der Welt, geschieht, wenn wir uns das nächste Mal über den Weg laufen? Fallen wir dann gleich übereinander her und reißen uns die Klamotten vom Leib? Was für eine verrückte Vorstellung. Und doch gar nicht so abwegig.

Oh, nein. So weit darf es nicht kommen. Deshalb grinse ich und hebe versöhnlich die Hand.

»Freunde?«

Matt sieht hinab auf meine Hand, als müsste er überlegen, was zu tun ist. Doch zu meiner Erleichterung lächelt er und schlägt ein.

»Freunde.«

Ich schnaube zufrieden. »Gut. Fährst du mich vielleicht nach Hause?«

Matt nickt und wir gehen zu seinem Motorrad, was hinter der Bar parkt.

Es ist besser so, definitiv. Wir hätten es ohnehin später bereut und es wäre nur peinlich geworden. Was, um alles in der Welt, ist nur in uns gefahren? Ich könnte ihm allein die Schuld geben, weil er mit der ganzen Sache angefangen hat. Vorzuschlagen, ich solle mich mit ihm von Tai ablenken - welch blöde Idee. Und gleichzeitig so verlockend. Deshalb kann ich ihm nicht allein die Schuld daran geben. Das wäre unfair. Ich wollte es eben genauso wie er. Dass wir es nicht getan haben, ist ein Gewinn für uns beide.

Als wir vor meinem Wohnblock anhalten, steige ich ab und gebe ihm den Helm zurück.

»War gar nicht so schlimm, auf diesem Monstrum mitzufahren«, lächle ich unsicher und streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Auch sein Mundwinkel verzieht sich zu einem zaghaften Lächeln, dann zuckt er mit den Schultern.

»Jederzeit wieder.«

Ich nicke und drehe mich um, doch er ruft noch ein mal meinen Namen.

»Mimi?«

Fragend sehe ich ihn an.

»Haben wir nicht was vergessen?« Dann wedelt er mit seinem Handy vor meiner Nase. »Ich halte meine Versprechen, immer.«

Ich grinse und gehe zu ihm zurück, um mich vor ihm zu positionieren. Er legt einen Arm von hinten um mich und zieht mich an sich.

»Meine Mom wird ausrasten«, lache ich nur und freue mich jetzt schon über ihr Gesicht, wenn sie das sieht.

Amüsiert schnaubt Matt an meinem Ohr. »Das will ich doch wohl hoffen.«

Mein Grinsen wird noch breiter, als er den Kopf etwas hinabsenkt und so tut, als würde er mir gleich einen Kuss auf die Wange geben wollen. Dann drückt er ab.

Sofort entferne ich mich wieder von ihm, während er sein Handy angrinst. »Warte, ich schicke es dir.«

Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche und ich zwinkere ihm zu. »Ist angekommen. Vielen Dank dafür. Wir sehen uns.«

»Ja, bis dann«, verabschiedet er sich, setzt seinen Helm wieder auf und fährt davon. Ich sehe ihm nicht mehr nach, sondern gehe nur breit lächelnd nach oben in meine Wohnung. Doch erst, als ich im Bett liege, öffne ich das Foto, das er mir geschickt hat. Mir wird warm, als ich es etwas zu lange betrachte. Ehe ich es mir anders überlegen kann, schicke ich beide Fotos an meine Mom und freue mich innerlich über ihren Tobsuchtsanfall. Ob das gesund für Schwangere ist, sich so aufzuregen? Na ja. Da das Baby sich nun mal diese Frau als Mutter ausgesucht hat, wird es sich so früh wie möglich daran gewöhnen müssen.

Nachdem ich es abgeschickt habe, schreibe ich Matt noch eine Nachricht.
 

»Habe mich noch gar nicht für den Song bedankt … und dass du mir ins Gewissen geredet hast. Du hast recht. Ab jetzt mache ich nur noch das, was ich will :P«
 

Ich sehe, wie zwei blaue Haken erscheinen und er sofort eine Antwort eintippt. Wenige Sekunden später verschwinden die Punkte allerdings wieder. Bis sie kurz darauf wieder auftauchen.
 

»Freut mich, dass ich helfen konnte ;-) Schlaf gut.«
 

Ich runzle die Stirn. Wollte er eben noch etwas anderes schreiben?

Egal. Es war ein schöner Abend, mit vielen neuen Erkenntnissen, wofür ich sehr dankbar bin.

Ich lege das Handy weg und drehe mich auf die Seite. Beinahe hätte ich aufgelacht. Was ist nur in mich gefahren? Wildes Knutschen auf einer Party? Motorrad fahren? Rummachen in einer Bar?

Unwillkürlich frage ich mich, ob Matt nun das Beste oder das Schlechteste in mir zum Vorschein bringt. All das habe ich vorher noch nie getan. Als Tochter meiner Mutter wäre ich nicht einmal auf den Gedanken gekommen. Aber das Gefühl, was es mir verschafft, ist einmalig. Es ist befreiend. Es ist echt. Wahrscheinlich ist es toxisch. Aber irgendwie ist es auch befriedigend.

Mimi

Es ist absolut nicht in Ordnung, was Matt mit mir gemacht hat!

Dank ihm kann ich seit ein paar Tagen nicht mehr abends ins Bett gehen, ohne daran zu denken, was da neulich in der Bar zwischen uns geschehen ist. Dabei ist noch nicht mal was nennenswertes vorgefallen. Eigentlich ist überhaupt nichts passiert. Eben nur … fast.

Aber es reichte vollkommen aus, um sich in meine Gedanken zu schleichen. Wieso kann ich nicht aufhören, daran zu denken? Das nervt mich tierisch.

Trotzdem ist mir klar, dass das nie wieder vorkommen wird. Darauf haben wir uns geeinigt.

Wir hatten uns an diesem einen Abend zu etwas hinreißen lassen. Genauso wie an dem Abend auf Tais Party. Und beide Male war eine nicht unerhebliche Menge Alkohol im Spiel. Zumindest bei mir.

Also: keinen Alkohol mehr für mich!

Als ich an diesem Abend meine Schicht im Café beende, klingelt mein Handy. Ich will gerade zur Tür raus.

Ich krame in meiner Handtasche danach, dann sehe ich stirnrunzelnd auf den Namen, der erscheint.

»Matt?«, gehe ich verwirrt ran, weil er mich sonst nie anruft und wir uns auch nicht mehr gesehen haben, seit … na ja, seit neulich Abend.

»Hey, Süße«, begrüßt er mich fröhlich, während ich leicht mit den Augen rolle. Süße? Was sind das denn für neue Angewohnheiten?

»Nenn mich nicht so!«

»Oh, wir sind wohl heute etwas kratzbürstig?«

Ich knurre in mein Telefon. »Nein, aber du sollst das trotzdem lassen.«

»Okay, Kätzchen«, flötet er und ich stöhne auf. »Hättest du eventuell kurz Zeit für mich? Ich brauche deine Hilfe.«

Ich bleibe in der Bewegung stehen und sehe mich fragend um. »Wie? Meinst du mich?«

»Natürlich meine ich dich, sonst hätte ich dich doch wohl kaum angerufen, oder?«

Okay. Das ist merkwürdig. Matt hat mich noch nie um Hilfe gebeten. Das kann doch nix Gutes sein, oder?

»Na schön, und wofür brauchst du mich?«, frage ich und kaue dabei nervös auf meiner Unterlippe herum.

»Wir haben ein sehr gutes Angebot für einen Gig, bei einem ziemlich bekannten Veranstalter bekommen. Er will, dass wir auf einem Open Air Festival spielen«, erklärt Matt mir.

»Wow, das ist fantastisch. Glückwunsch!«

»Danke«, sagt er, bevor er schnaubt. »Wir brauchen dafür neue Instrumente, die sind ja leider neulich alle dank Tatsuya drauf gegangen.«

Allerdings. Daran kann ich mich noch gut erinnern.

»Oh, Matt«, unterbreche ich ihn, noch bevor er seine Frage stellen kann. »Ich kann euch nicht noch mal aushelfen, wirklich nicht. Ich habe mich eh schon viel zu weit aus dem Fenster gelehnt.« Das tut mir zwar unendlich leid, aber ich kann für die Band nicht meinen Job riskieren.

»Deswegen rufe ich nicht an«, meint Matt und ich hebe überrascht den Kopf. »Ich habe bereits neue Instrumente gekauft. Die liegen zur Abholung im Music Shop bereit. Wir sollen sie bis heute Abend dem Veranstalter des Festivals liefern, damit er sie bis zum Auftritt für uns einlagern kann. Es soll einfach nicht noch mal etwas schief gehen, so kurz vor einem Auftritt. Sie bauen die Instrumente sogar vorher für uns auf.«

Ich nicke. »Das kann ich verstehen. Aber wie kann ich dir dabei helfen?«

»Könntest du die Instrumente abholen und dort hin bringen? Wir schaffen es alle zeitlich nicht, es zu erledigen. Ich bin gerade bei meinem Dad im Büro eingespannt, weil ein Kollege ausgefallen ist und ich ihn diese Woche bei der Arbeit unterstütze. Die anderen haben auch keine Zeit. Aber wenn wir uns nicht an die Vertragsbedingungen halten, wirkt das sehr unprofessionell.«

Ich nicke wieder. »Ich verstehe dein Problem. Ich habe gerade Feierabend gemacht und hätte Zeit.«

Ich höre, wie Matt am anderen Ende der Leitung erleichtert aufatmet. »Wirklich? Das würdest du für uns tun?«

»Klar.« Die traurige Wahrheit ist, dass es gerade Freitagabend ist und ich nichts Besseres vor habe. Also, warum dann nicht einem Freund aus der Patsche helfen?

»Super, Mimi. Du rettest uns den Arsch. Schon wieder.«

Ich schmunzle und zucke mit den Schultern. »Mach ich doch gerne.«

»Danke. Ich schicke dir gleich die Adresse auf dein Handy, wo du die Instrumente abholen und dann hin fahren kannst. Der Van steht beim Music Shop für dich bereit.«

»Okay«, sage ich, doch dann fällt mir noch was ein. »Aber wie komme ich an die Schlüssel für den Van?«

Im Hintergrund höre ich, wie jemand Matt’s Namen ruft. Anscheinend ist er gerade bei der Arbeit.

»Ich bin gleich da«, ruft er zurück, bevor er hastig weiter spricht. »Die Schlüssel habe ich Tai mitgegeben. Ich muss wieder an die Arbeit. Bis später. Und danke.«

Ich öffne den Mund, um zu widersprechen, doch er legt auf.

Mit verwirrtem Blick starre ich mein Handy an. Wie, er hat die Schlüssel Tai mitgegeben? Was soll denn das? Er müsste doch wissen, dass Tai und ich uns momentan nicht sehen.

Ehe ich mir weiter den Kopf darüber zerbrechen kann, wie ich denn jetzt an diese verdammten Schlüssel komme, klingelt mein Handy erneut. Tais Name blinkt auf und ich zucke zusammen. Was zur Hölle ist hier los? Er hat mich nicht mehr angerufen, seit … seit seiner Party. Da haben wir das letzte Mal miteinander gesprochen und vereinbart, dass er sich über seine Gefühle klar werden muss. Oh man, das ist jetzt bereits vier Wochen her. Mit zittrigen Fingern hebe ich ab.

»Hallo?«

»Mimi«, ertönt seine Stimme am anderen Ende der Leitung und ich atme erleichtert aus.

Es fühlt sich wie ein Segen an, ihn zu hören.

Wie eine Erlösung.

Mir war gar nicht bewusst, wie sehr ich ihn vermisst habe.

»Tai …«, antworte ich mit bebender Stimme, während ich versuche, meine Hormone unter Kontrolle zu bringen. »Was gibt's?«

Ich höre Tai auflachen. »Wir haben uns seit vier Wochen nicht gesprochen und du fragst mich, was es gibt? So ganz nebenbei?«

Mein Herz macht einen Hüpfer, als ich ihn Lachen höre. Es streckt seine Arme nach ihm aus und möchte am liebsten sofort durch's Telefon greifen und ihn an sich ziehen.

»Na ja«, grinse ich. »Du hast mich angerufen. Also, wirst du wohl irgendetwas von mir wollen.«

»Da hast du recht«, antwortet er. Ich kann fast schon hören, wie er lächelt. Mir wird ganz warm ums Herz.

»Ich vermisse dich.«

Was? Träume ich? Oder hat er das gerade wirklich gesagt?

»Mimi?«, fragt er, als ich nichts darauf erwidere. »Bist du noch dran?« Ich schüttle den Kopf, um mich wach zu rütteln.

»Ja. Ja, natürlich.«

»Gut. Wollen wir uns treffen? Heute Abend?«

Völlig benommen starre ich ins Leere. Heute Abend? Also … jetzt gleich? Das geht schnell. Zu schnell. Darauf bin ich nicht vorbereitet.

»Klar«, schießt es aus mir heraus. Gleich danach beiße ich mir auf die Zunge. Was war denn das bitteschön? Kannst du ein Mal denken, bevor du sprichst?

»Super. Ich komme … na ja, sagen wir so in einer Stunde zu dir und hole dich ab. Bis dann.«

»Abholen? Wo gehen wir denn …«

Es tutet. Er hat aufgelegt.

»Verdammt«, fluche ich und stampfe wütend mit dem Fuß auf. Warum legen alle immer so wahnsinnig schnell auf? Eine Stunde? Scheiße, da komme ich doch gerade mal zu Hause an.

Nicht, wenn ich renne. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr, dann sprinte ich los. Wenn ich drei Stationen laufe, dann die U-Bahn nehme und dann noch mal zwei weitere laufe, könnte ich es sogar noch pünktlich schaffen, ohne einen Umweg fahren zu müssen.

In meinem Kopf klingt dieser Plan definitiv besser und einfacher, aber als ich nach 40 Minuten total erhitzt und verschwitzt zu Hause ankomme, merke ich, wie bescheuert diese Idee war. Ich bin aber auch blöd. Ich hätte Tai doch einfach anrufen und sagen können, dass ich es nicht schaffe. Aber irgendwie wollte ich mir die Chance nicht entgehen lassen, ihn jetzt gleich schon sehen zu können. Ehrlich gesagt geht in meinem Kopf gerade nichts anderes mehr vor. Eilig springe ich unter die Dusche und ziehe mir frische Sachen an. Gerade, als ich aus dem Bad komme, klingelt es an der Tür.

Man, ist der pünktlich. Und Gott verdammt, bin ich aufgeregt! Wie albern von dir, Mimi. Er ist dein bester Freund und du warst schon zig Mal mit ihm abends aus.

Aber was, wenn es heute anders ist? - schießt es mir durch den Kopf.

Was, wenn er mich sehen will, um mir eine endgültige Entscheidung zu verkünden?

Okay. Was auch immer geschieht - jetzt bloß keine Panik!

Ich schaudere, atme noch mal tief durch, dann öffne ich die Tür.

Ich strahle Tai an, während er mir ein warmes Lächeln schenkt.

»Hey«, sagt er fast schon im Flüsterton.

Meine Augen kleben an ihm.

Genauso wie seine an mir.

Es kommt mir vor, als würden wir uns heute zum ersten Mal sehen.

»Hey«, sage ich ebenfalls und weiß gar nicht, wohin mit mir. Allein seine Anwesenheit löst ein so warmes Gefühl in mir aus, dass mein Herz platzen könnte. Ein paar Sekunden lang stehen wir da und sehen uns einfach nur an, als könnten wir uns nicht voneinander losreißen.

Schließlich runzelt Tai die Stirn und unterbricht die Stille.

»Deine Haare sind nass«, bemerkt er und ich greife mir erschrocken an den Kopf.

»Oh, shit«, fluche ich und renne ins Bad. »Hab vergessen, sie zu föhnen. Bin gleich wieder da. Mach's dir gemütlich.«

Ich höre, wie die Tür ins Schloss fällt, während ich den Föhn anstelle. Als ich wieder aus dem Bad komme, diesmal deutlich mehr gestylt als vorher, steht Tai im Wohnzimmer und sieht aus dem Fenster. Er bemerkt mich und dreht sich zu mir um.

Wieder dieses warme Lächeln, als er seinen Blick über mich gleiten lässt.

Unfassbar. Ich werde nervös.

»Tut mir leid, es war etwas chaotisch, nachdem du mich angerufen hast«, entschuldige ich mich. »Ich hatte gerade erst Feierabend gemacht und bin nach Hause gerannt, um pünktlich hier zu sein, wenn du kommst.«

»So?« Tai legt den Kopf schief. »Du hättest auch einfach was sagen können, dann hätte ich dich mit dem Auto vom Café abgeholt.«

Oh. Ja, das wäre auch eine Option gewesen. Nun gut …

»Egal«, winke ich nervös ab. »Also, was wolltest du unternehmen? Du hast am Telefon gesagt, wir gehen irgendwohin?«

Tais Mundwinkel wandern in die Höhe. Er nickt und zieht zwei Karten aus der Hosentasche. Meine Augen weiten sich.

»Das sind …«

»Ich weiß«, grinst er, weil er merkt, wie perplex ich bin. »Die zwei Karten fürs Cosmo Planetarium, die du mir zum Geburtstag geschenkt hast. Ich dachte, es ist an der Zeit, sie einzulösen.«

Kurz steht mir der Mund offen und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dann muss ich lachen. »Moment. Heißt das etwa, du lädst mich auf ein Date ein, das ich selbst bezahlt habe?«

Tai legt die Stirn in Falten und denkt gerade ernsthaft darüber nach. »Wenn man es so formulieren will: ja. Irgendwie schon.«

Wir prusten beide los.

»Hey, darüber habe ich mir gar keine Gedanken gemacht«, verteidigt Tai sich nun. »Ich hatte einfach Lust mit dir da hin zu gehen und ich dachte, es wäre eine schöne Idee.«

»Das ist typisch du«, sage ich und halte mir den Bauch, während ich mir eine Lachträne aus dem Augenwinkel wische.

»Das heißt, du kommst nicht mit?« Für einen Moment wirkt er ernsthaft schockiert. Aber nur, bis er meine Grimasse sieht.

»Klar komme ich mit. Was denkst du denn? Man verschenkt ja wohl nichts, was man nicht selbst gerne machen würde.«

»Gut, dann bin ich ja beruhigt«, erwidert Tai nun grinsend und kommt auf mich zu. Vor mir bleibt er stehen und fängt an, in seiner Jackentasche herumzuwühlen. »Warte mal, ich hab da noch was für dich.« Er zieht einen Schlüsselbund hervor. In dem Moment macht es bei mir Klick.

»Oh, Mist.«

»Wieso Mist?«, hakt Tai verwundert nach. »Matt meinte, ich soll dir den hier geben? Was du damit machen sollst, hat er nicht gesagt. Er hatte es heute Morgen ziemlich eilig, weg zu kommen. Ich weiß auch nicht … ist das nicht der Schlüssel für den Van seiner Band?«

Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.

Verdammt, verdammt, verdammt. Das hatte ich vor lauter Aufregung völlig vergessen.

»Tut mir leid«, sage ich entschuldigend. »Er rief mich vorhin an und hat mich um einen Gefallen gebeten. Ich soll seine neuen Instrumente abholen und sie zu … äh …« Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und halte es ihm vor die Nase. » … zu der Adresse bringen.«

»Zeig mal her«, meint Tai und reißt mir das Handy aus der Hand. Er scrollt durch unseren Chatverlauf. Seine Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen. Er sieht nachdenklich aus. Ich lege den Kopf schief. Was hat er denn?

Oh NEIN!

Er scrollt durch unseren Chatverlauf!

Die Bilder könnte er definitiv falsch verstehen.

»Gib her«, entfährt es mir viel zu schnell und ich entreiße ihm das Handy wieder. Er sieht mich fragend an. Weiß er überhaupt, dass Matt und ich neulich den Abend zusammen verbracht haben? Scheiße, ich weiß, dass er irgendwie eifersüchtig auf Matt ist und ich will lieber nichts riskieren. Nicht heute.

»Wieso? Ich weiß, wo das ist. Kein Problem. Wir schaffen es locker, die Instrumente zu holen, sie abzuliefern und trotzdem noch pünktlich im Planetarium zu sein. Ich frage mich nur, warum er nicht gleich mich gebeten hat. Ich hätte ihm doch auch aus der Patsche geholfen«, überlegt Tai nun laut.

Während mir bereits der Schweiß auf der Stirn glitzert und Tai immer noch unwissend drein blickt, sehe ich ihn verdattert an. Bin ich bescheuert? Ich habe seit neulich Abend nicht mehr mit Matt geschrieben. Unsere gemeinsamen Fotos, auf denen wir so innig wirken, müssten genau oberhalb der Adresse erscheinen, die er mir geschickt hat. Quasi nicht zu übersehen …

»Stimmt was nicht?«, fragt mich Tai nun besorgt, da mir jegliches Blut aus dem Gesicht gewichen zu sein scheint. Ich werfe einen Blick auf das Display und scrolle nun selbst weiter hoch.

Gelöscht.

Er hat alles gelöscht.

Die gesamten Nachrichten. Entfernt. Für uns beide nicht mehr sichtbar. Als hätten sie nie existiert. Die letzte Nachricht, die wir uns geschrieben haben, war nun offiziell die, als ich ihn gefragt habe, ob er mich vom Krankenhaus abholen kann. Völlig harmlos. Völlig unschuldig.

Ich atme erleichtert auf. Oh Gott. Das wäre beinahe in die Hose gegangen. Ich will mir gar nicht erst Tais Gesicht ausmalen, wenn er diese Fotos gesehen und viel zu viel rein interpretiert hätte. Obwohl ich nicht seine Freundin bin, weiß ich, dass er es nicht gut finden würde, wenn ich ausgerechnet mit Matt was anfangen würde.

Na, wie auch immer. Ich habe keine Zeit, mich weiter in diese Situation hineinzusteigern, also nicke ich nur und versuche, die Fassung zurück zu gewinnen.

»Es ist alles in Ordnung. Wollen wir dann gehen?«

Tai sieht mich zwar immer noch zweifelnd an, weil ihm meine Reaktion natürlich nicht entgangen ist, aber er sagt nichts mehr dazu. Wir verlassen die Wohnung und machen uns auf den Weg zum Music Shop.
 

Dort angekommen, falle ich aus allen Wolken.

»WAS?«, donnert meine Stimme durch den gesamten Laden, wodurch ich mir mehrere fragende Blicke einheimse. »Das kann ja wohl nicht ihr Ernst sein!« Entsetzt schlage ich mit der flachen Hand auf den Tresen. Der Verkäufer vor mir und Tai neben mir, zucken beide zusammen.

»Das ist viel zu viel Geld. Sie haben die Jungs abgezockt!«

Ich sehe, wie der Verkäufer schluckt, während ich ihn wütend anfunkle. Als er uns die Instrumente und die dazugehörige Rechnung gezeigt hat, um zu beweisen, dass die komplette Summe bereits beglichen wurde, hab ich große Augen gemacht. Das war nicht von schlechten Eltern. Der Preis, den Matt für die neuen Instrumente bezahlt hat, war viel zu hoch angesetzt. Da war ich mir sicher.

»N-nein … das sind gute Instrumente. Die kosten nun mal etwas. Der Preis ist vollkommen gerechtfertigt«, versucht der Verkäufer sich zu verteidigen, aber das lasse ich mir nicht bieten.

»Wollen sie mich für dumm verkaufen?«, fahre ich ihn an und er weicht instinktiv einen Schritt vor mir zurück, als würde ich gleich über den Tresen springen und ihm die Halsschlagader aufbeißen.

»Mimi«, sagt Tai beschwichtigend und legt eine Hand auf meinen Unterarm. »Lass gut sein. Ich denke nicht, dass du in dieser Angelegenheit mitreden kannst.«

Er und der Verkäufer tauschen einen beunruhigenden Blick aus, bevor ich seine Hand weg schlage und nun auch Tai böse anschaue.

»Rein zufällig arbeite ich in einem Café, wo jede Woche live Auftritte stattfinden. Ich habe schon die unterschiedlichsten Instrumente, von den unterschiedlichsten Musikern gesehen und mich abends, nach den Auftritten mit ihnen unterhalten. Ich weiß also sehr wohl, was dieses Zeug wert ist«, fauche ich. Ich kann nicht fassen, dass Matt sich hat dermaßen über den Tisch ziehen lassen. Er müsste doch am allerbesten wissen, was diese Instrumente normalerweise kosten. Dieser skrupellose Verkäufer hat mindestens ein Drittel mehr drauf geschlagen, als es auf dem freien Markt üblich ist.

»Okay, hier mein Angebot«, wende ich mich wieder dem Verkäufer zu. »Du erlässt uns die Hälfte des Kaufpreises.« Er öffnet den Mund, um zu widersprechen, aber ich zische ihn nur an. »Und legst uns noch ein Ersatzmikrofon mit oben drauf. Dann wird niemand von euren unseriösen Geschäften erfahren. Und ich werde auch keine schlechte Bewertung im Internet schreiben, dass ihr eure Kunden abzockt. Schlechte PR kann wirklich niemand gebrauchen.«

Sein hilfloser Blick wandert zurück zu Tai.

»Sieh mich an!«, meckere ich und schnippe mit den Fingern vor seinem Gesicht rum. »Der kann dir jetzt auch nicht mehr weiter helfen.«

Tai grinst unschuldig und zuckt nur mit den Schultern. Er weiß genau, dass es keinen Sinn hat, mich aufzuhalten, wenn ich einmal so richtig in Fahrt komme.

»Also, Deal?«, dränge ich und warte auf eine Antwort. Der Verkäufer hat keine andere Wahl. Nach kurzem Zögern und einem ergebenen Stöhnen schlägt er ein. »Okay. Deal.«

»Geht doch«, grinse ich diabolisch. Zähneknirschend öffnet er die Kasse und zahlt mir die abgemachte, nicht unerhebliche Summe bar auf die Hand aus. Wenn Blicke töten könnten …

Höchst zufrieden mit mir selbst, schlendere ich mit Tai aus dem Geschäft, während ich Matt eine Nachricht schreibe …
 

»Was ist nur in euch gefahren? Ist euch klar, dass ihr viel zu viel Kohle für diese mittelmäßigen Instrumente hingelegt habt?«
 

Seine Antwort folgt auf der Stelle.
 

»Was??? Wirklich? Ich habe Tatsuya damit beauftragt, die Instrumente zu kaufen. Ich glaube, er hat sie lediglich telefonisch bestellt, weil er keine Zeit hatte. Diese Ratten. Wie viel haben sie uns abgeknöpft?«
 

»Keine Sorge«, schreibe ich schnell zurück. »Ich habe das für euch geregelt. Jetzt habt ihr die Teile fast für umsonst bekommen. Grandios, oder? Du hättest das Gesicht des Verkäufers sehen müssen, als er mir die Hälfte der Summe wieder ausgezahlt hat. In dem Laden habe ich wahrscheinlich ab jetzt Hausverbot ;-P«
 

Matt schreibt zurück, wie sprachlos er darüber ist und dass er nicht weiß, wie er das wieder gut machen soll. Ich grinse nur und stecke das Handy weg. Mir würde da schon was einfallen …

Aber zurück zum Thema.

»Das war ja vielleicht ein Auftritt«, merkt Tai glucksend an, während ich in den Van springe. »So verbissen kenne ich dich gar nicht. Du warst eine richtige Löwin.«

»Tja«, zucke ich nur mit den Schultern. »Ich lasse mich eben nicht gerne über den Tisch ziehen. Außerdem sind diese Instrumente für Matt sehr wichtig.«

Tai runzelt die Stirn. »Seit wann ist dir wichtig, was Matt wichtig ist?«

Ich stocke. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Und auch nicht gemeint.

»Also, das ist … nur so«, stammle ich rum und weiß selbst nicht so richtig, was ich darauf antworten soll. Doch zum Glück lacht Tai im nächsten Moment.

»Keine Sorge. Ich mag diese neue, rebellische Art an dir.« Er grinst und geht auf die Zehenspitzen, um mir einen Kuss auf die Schläfe zu drücken. »Wir sehen uns gleich. Fahr mir einfach hinterher.«

Ich nicke, wie betäubt und fahre schließlich los, Tai hinterher. Dabei frage ich mich die ganze Zeit: mag ich diese rebellische Art an mir genauso wie er? Und: würde er sie immer noch mögen, wenn er jede dunkle Seite von mir kennen würde?
 

Zum Glück läuft alles wie geplant und ich kann die Instrumente pünktlich beim Veranstalter abgeben. Sie werden sofort abgeladen und in eine Halle eingelagert, um rechtzeitig vor dem Auftritt aufgebaut werden zu können. Den Van lasse ich stehen, weil Matt mir geschrieben hat, dass Jingle ihn am nächsten Tag abholen wird.

»Na, das lief doch wie am Schnürchen«, freue ich mich und steige in Tais Auto. Ich gebe ihm die Schlüssel zurück und er verstaut sie sicher wieder in seiner Jackentasche, ehe er den Motor startet und wir losfahren. Dann grinst er und sieht mich schief von der Seite her an.

»Du bist grad ziemlich stolz auf dich, oder?«

Sofort versuche ich mein dämliches Grinsen zu unterdrücken, nicke jedoch wahrheitsgemäß. »Irgendwie schon. Wieso? Stört es dich?«

Tai schüttelt sofort den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Ich habe dich selten etwas mit so viel Begeisterung tun sehen. Das ist schön. Dir scheint was daran zu liegen, dass die Jungs voran kommen. Vielleicht solltest du sie fragen, ob du als fünftes Mitglied in ihre Band einsteigen kannst.«

Okay, der letzte Satz war definitiv ein Witz. Aber mit dem Rest hat er recht.

»Es fühlt sich einfach richtig gut an, wenn ich ihnen dabei helfen kann, ihren Traum zu leben. Das ist … etwas Sinnvolles weißt du.«

»Hey, vielleicht ist es das ja«, meint Tai plötzlich und macht große Augen. »Vielleicht ist es nicht deine Berufung, deinen eigenen Traum zu leben, sondern anderen dabei zu helfen, dass sie ihren leben können.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und sehe ihn schräg an. »Das erklär mir mal.«

»Na ja«, sagt Tai und zuckt nachdenklich mit den Schultern. »Vielleicht so etwas wie … ich weiß auch nicht. Eine Agentin oder so was.«

Ich pruste los. »Eine Agentin? Wenn du so was sagst, muss ich an James Bond denken.« Meine Hände formen sich zu einer Pistole und mit einem »Pow« ziele ich auf Tais Brust. Dieser lacht nur und schüttelt den Kopf.

»Keine Geheimagentin, du Dummchen. Ich meine eher so was wie eine Managerin. Vielleicht ist das genau dein Ding.«

»Ha ha«, witzle ich, weil ich mir kaum vorstellen kann, so eine Person zu sein. »Das klingt irgendwie abgehoben. Und es klingt nach viel Verantwortung. So etwas kann ich nicht.«

Tai seufzt kurz auf, lässt das Thema dann jedoch fallen. Worüber ich sehr dankbar bin. In den letzten Wochen habe ich sehr viel Zeit damit zugebracht, herauszufinden, was ich machen möchte. Wohin meine berufliche Zukunft mich führen wird. Managerin einer Musikgruppe - da wäre ich nie drauf gekommen. Überhaupt ist dieses ganze Thema ziemlich frustrierend, denn auf die richtige Antwort bin ich immer noch nicht gestoßen.

»Okay, lassen wir das«, lenkt Tai ein, während er sich weiter auf die Straße konzentriert. »Wie geht es deinem Dad?«

Ich stütze den Kopf in meine Hand und den Ellenbogen gegen das Fenster. »So la la. Er gibt sich Mühe. Aber es fällt ihm schwer. Er macht eine ambulante Therapie. Außerdem habe ich ihm ein Bewerbungsgespräch für die kommende Woche beschafft. Es ist eine kleine Start Up Firma, die gerade erst anfängt. Aber so gesehen, fängt er ja auch gerade erst wieder von Neuem an. Deshalb dachte ich, das wäre vielleicht genau das Richtige für ihn.«

Tai nickt zustimmend. »Ich finde es klasse, dass du dich so um ihn kümmerst. Er hat wirklich Glück, dass er dich hat.«

Er stellt mir noch einige Fragen. Wie es auf der Arbeit läuft. Wie es meiner Mom und dem Baby geht. Wir reden über ganz alltägliche Dinge, so wie wir es immer tun. Dass wir uns vier Wochen lang nicht gesehen und gesprochen haben, merkt man kein Stück. Es ist unbefangen wie eh und je zwischen uns. Das endet jedoch, als wir auf den Parkplatz des Planetariums einbiegen und ich so langsam nervös werde. Bis jetzt habe ich es verdrängt, aber … so langsam frage ich mich, ob das hier ein richtiges Date ist oder mit welchem Hintergedanken mich Tai hierher eingeladen hat. Vielleicht will er mich abschießen, weil er gemerkt hat, dass Sora ihm mehr bedeutet und er nicht uns beide haben kann. Ein letzter, schöner Abend als Freunde und dann sayonara.

»Stimmt etwas nicht?«, fragt Tai mich, als wir reingehen und unsere Karten an der Kasse abgeben. Ertappt hebe ich den Kopf. Natürlich spürt er es mal wieder sofort, wenn mich etwas bedrückt. Doch ich traue mich nicht, ihm das zu sagen - jetzt noch nicht.

»Nein«, entgegne ich deshalb. »Es ist alles in Ordnung. Ich freue mich, mit dir hier zu sein.«

Das beschwichtigt ihn zwar nicht ganz, denn er sieht mich weiterhin mit einem ungläubigen Blick an. Aber für den Moment reicht es, um ihn zaghaft lächeln zu lassen.

»Gut. Ich freue mich nämlich auch, mit dir hier sein zu dürfen. Wollen wir dann?«

Ich nicke und folge ihm und ein paar anderen Gästen in den Raum mit der großen Kuppel. Auf zwei gekippten Sesseln in der dritten Reihe nehmen wir Platz.

»Verdammt, ist das bequem«, merkt Tai erstaunt an und kuschelt sich so richtig in seinen Sessel rein.

Auch ich seufze, weil er so schön weich ist. »Oh ja, ich muss aufpassen, dass ich nicht einschlafe.«

»Kein Problem. Sobald du die Augen zu machst, kneif ich dich. Ungefähr so.« Sein Angriff kommt so schnell, dass ich nicht mal mehr mein Bein wegziehen kann, ehe er mich beherzt und mit voller Absicht rein kneift.

»Aua«, jaule ich auf und reibe mir die schmerzende Stelle, während Tai nur dämlich grinst. »Du bist so was von fies. Das nächste Mal kannst du alleine herkommen.«

Tai streckt mir die Zunge raus und verschränkt dann gemütlich die Arme hinter dem Kopf, als auch schon das Licht aus geht und die Vorstellung beginnt. Eine raue Stimme aus den Lautsprechern erklärt uns die unendlichen Weiten des Universums. Im Hintergrund läuft leise Musik, als auf der Kuppel über uns zahlreiche Sterne erscheinen, die rotieren und sich wie im Zeitraffer immer wieder verändern. Planeten werden in den Sternenhimmel hinein projiziert und sogar Galaxien erscheinen, die uns Menschen normalerweise verborgen bleiben. Mit Begeisterung lausche ich der Stimme und bin wie gefesselt von diesem Antlitz. Es ist einfach wunderschön.

»Gefällt es dir?«, flüstert Tai mir nach einer Weile zu und lehnt sich etwas zu mir rüber.

Ich nicke schwach. »Hmm, hab schon Besseres gesehen.«

Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, kneift Tai mich erneut ins Bein. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht laut aufzuschreien und mir böse Blicke von den anderen Gästen einzufangen.

»Hey, ist ja gut«, gebe ich schließlich zu. »Das war nur ein Spaß. Um ehrlich zu sein, hab ich noch nie etwas Schöneres gesehen. Hier drin fühlt es sich an, als könnte man alles um sich herum vergessen, weil man sich selbst nur noch klitzeklein vorkommt. Wie unbedeutend muss unser kleines Leben hier auf der Erde wohl sein, wenn es da draußen so viele Galaxien und Sterne gibt, die seit tausenden von Jahren auf uns hinabsehen?«

Ich werfe einen flüchtigen Blick zu Tai und sehe, wie seine Mundwinkel sich zu einem Lächeln formen.

»Das ist die Kunst dabei, oder?«, sagt er leise. »Unserem kleinen, kurzen Leben hier auf diesem Planeten eine Bedeutung zu geben. Etwas Besonderes daraus zu machen, bevor wir verschwinden.«

Seine Worte gehen mir durch Mark und Bein. »Buh, das baut aber Druck auf. Ich komme mir noch kleiner vor als die Sterne da oben.«, lache ich leise auf.

»Oh, das bist du auch«, bestätigt mir Tai wissend. »Wie wir alle. Aber deine Aufgabe ist es, zu leuchten.«

Ich drehe den Kopf in seine Richtung und grinse ihn an. »Du bist ja ein richtiger Poet«, flüstere ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Ich würde mich eher als Philosophen bezeichnen. Vielleicht sollte ich mein unendliches Wissen für die Nachwelt niederschreiben, um mich zu verewigen.« Arrogant verschränkt er die Arme vor der Brust.

Ich hole aus und schlage ihm gegen den Arm, während er die Lippen zusammen presst, um nicht loslachen zu müssen. Dann widme ich mich wieder der Milchstraße über mir, die hell über uns aufleuchtet. Ich bin so froh, dass Tai mich hierhin mitgenommen hat. Ich habe selten etwas Schöneres erlebt.

Ehrlich gesagt habe ich fest damit gerechnet, dass er Sora hierher einlädt.

Sora …

Bei dem Gedanken an sie krampft sich mein Magen zusammen und ich lege die Hände auf den Bauch, um ihn zu beruhigen. Das Gefühl, dass es nicht richtig sein könnte, gerade mit Tai hier zu sein, keimt in mir auf. Mit einem Mal fühlt es sich falsch an, weil ich weiß, dass es da noch jemand anderen gibt. Und ich bis jetzt nicht sicher weiß, was mit diesem Jemand ist. Hat er sie vor mir getroffen? Hat er schon mit ihr gesprochen? Oder hat er sie ebenfalls seit vier Wochen nicht gesehen? Was fühlt er, wenn er an sie denkt? Vermisst er sie in diesem Augenblick?

Ich weiß es nicht …

Ich weiß es nicht.

Ich … weiß … es … nicht!

Und das macht mich wahnsinnig.

So sehr, wie ich diesen Ausflug mit Tai bis eben noch genossen habe, so sehr bereue ich es jetzt. Ich hätte mich nicht hierher schleifen lassen dürfen, ohne vorher Klarheit zu schaffen.

Gott, bin ich naiv.

Genau in dem Moment, als ich mich so schlecht deswegen fühle, greift Tai zu mir rüber und sucht meine Hand. Er verschränkt unsere Finger miteinander, was mich verwundert aufsehen lässt. Was tut er da?

Irgendwie ist mir das alles zu viel, diese ganzen kleinen, liebevollen Gesten. Das macht es noch schlimmer. Deshalb winde ich mich aus seinem Griff und schiebe seine Hand von mir weg. Er seufzt und dreht sich halbliegend auf die Seite, damit er mich ansehen kann. Ich drehe ebenfalls den Kopf in seine Richtung. Sein Blick ist sanft, während mein Gesicht wie versteinert wirken muss. Viel zu ernst.

»Ich weiß genau, was du denkst«, flüstert er.

»Ach ja? Was denn?«

Gequält atmet er aus. »Du denkst, dass es falsch war, dich mit mir zu treffen. Du kannst nicht aufhören, an sie zu denken.«

Das trifft den Nagel so ziemlich auf den Kopf. Tai kennt mich eben zu gut. Er weiß genau, was in meinem Kopf vor sich geht.

»Und …«, setze ich zaghaft an. » … geht es dir genauso?«

Er überlegt nicht lange und schüttelt stattdessen den Kopf. »Nein, überhaupt nicht.« Dann hebt er eine Hand und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Allein davon kriege ich eine angenehme Gänsehaut.

»Ich habe es nicht länger ausgehalten, dich nicht zu sehen. In den letzten Wochen habe ich sehr viel nachgedacht - über Sora und mich, aber vor allem über dich und mich.«

Ich ziehe die Luft scharf ein.

»Weißt du, Mimi«, erzählt Tai leise und mit ruhiger Stimme weiter. »Es ist nicht so, dass ich Sora nicht gern habe. Das kannst du dir sicher denken. Ich gehe mit keinem Mädchen aus, dass mir nicht irgendwas bedeutet.«

Oh.

Ich glaube, mir wird schlecht.

Was will er mir damit sagen?

»Aber als ich nach meinem Geburtstag mit ihr gesprochen habe und ihr erklärt habe, dass ich verwirrt bin und Zeit brauche, um mir über meine Gefühle klar zu werden … hat sich das richtig angefühlt. Danach musste ich pausenlos an dich denken. Ich habe mich gezwungen, Abstand von dir zu halten. Das war wie die schlimmste Folter für mich, glaub mir.« Er lacht leise auf. »Du warst einfach ständig in meinem Kopf. Und das nicht nur, weil du meine beste Freundin bist und ich dich vermisst habe. An Sora habe ich kaum gedacht … so gut wie gar nicht, um ehrlich zu sein.«

Bei seinen ehrlichen Worten beginnt mein Herz wie wild zu rasen. Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen, weil es mir genauso geht wie ihm.

»Mimi, ich weiß …«, sagt er nun und wirkt plötzlich ein wenig angespannt. » … dass ich ein Idiot war. Es war gelogen, als ich damals auf dem Dach zu dir gesagt habe, ich wollte dich nicht küssen. Ich hatte einfach nur Schiss, dass du nicht das Gleiche für mich empfinden würdest, wie ich für dich. Deshalb habe ich einen Rückzieher gemacht. Deshalb bin ich mit Sora zusammen gekommen. Weil ich wusste, dass ich dich niemals haben kann. Aber mir ist klar geworden, dass das nichts bringt. Ich kann davor nicht weglaufen. Ich habe mich in eine Beziehung geflüchtet, um dich aus meinem Kopf zu kriegen, weil ich zu feige war, dir zu sagen, was ich fühle.«

Ich habe Angst zu atmen.

Ich habe Angst, mich zu bewegen.

Ich habe Angst, dass ich jeden Moment aufwache und alles war nur ein Traum …

»Tut mir leid, wenn ich jetzt vielleicht eine Grenze überschreite, aber ich muss das tun. Ich muss alles auf eine Karte setzen.«

Tais Blick wird ernst. Er beugt sich zu mir rüber und ohne eine Antwort auf sein Geständnis von mir abzuwarten, küsst er mich.

Seine Lippen sind warm und vorsichtig. Das erste Mal in meinem Leben spüre ich sie auf meinen und verliebe mich ihren süßen Geschmack.

Sein Kuss ist so sanft, dass ich mich kurz frage, ob ich es mir in der Dunkelheit um uns herum nur einbilde.

Aber er tut es wirklich.

Er küsst mich.

Für einen kurzen Augenblick bin ich wie versteinert, weiß nicht, was ich tun soll.

Doch dann gewinnt das wilde Pochen meines Herzens die Oberhand und ich schlinge meine Arme um ihn. Ich ziehe ihn an mich und küsse ihn ebenfalls, mit all den Gefühlen, die ich für ihn habe. Das ist meine Antwort.

Mein Innerstes explodiert genau in dem Moment, als über uns ein Stern explodiert und eine Supernova hell aufleuchtet.

Als sie vorbei ist, lösen wir uns wieder voneinander. Meine Lippen spüren noch immer den zarten Kuss, der ein angenehmes Prickeln auf ihnen hinterlässt. Tais Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln, während seine Stirn an meine sinkt. Auch ich muss lächeln.

»Ist das gerade wirklich passiert?«, frage ich hoffnungsvoll. »Kneif mich noch mal.«

Prompt spüre ich den stechenden Schmerz, diesmal in meinem Arm.

»Au, das tut verdammt weh«, beschwere ich mich, nachdem ich heftig zusammengezuckt bin.

Tai grinst frech. »Du wolltest es doch so.«

Stimmt. Genau das wollte ich immer schon. Und jetzt war es endlich passiert. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass er mir seine Gefühle gestehen würde. Schon gar nicht nachdem er mich damals auf dem Dach zurückgewiesen hat. Nun weiß ich, dass er die ganze Zeit dasselbe empfunden hat wie ich. Wir hatten beide Angst davor, uns diese Gefühle einzugestehen, weil wir unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen wollten. Aber Tai hat recht mit dem, was er gesagt hat. In diesem Spiel gab es nur einen Ausweg. Und nun war es an der Zeit, alles auf eine Karte zu setzen.

Hitze schießt mir in die Wangen, weil ich die folgenden Worte nun zum aller ersten Mal in meinem Leben aussprechen werde …

»Ich liebe dich, Tai.«

Tai

Das war der Wahnsinn!

Und es war besser als ich es mir erträumt hatte.

Als ich den Entschluss gefasst habe, Mimi meine Gefühle zu gestehen, wusste ich nicht, wie sie reagieren würde. Auch, als ich sie endlich geküsst habe, hatte ich keine Ahnung, ob sie mich wegstoßen, mir zwischen die Beine treten oder weglaufen würde. Oder alles auf ein mal.

Dass sie den Kuss erwidert, habe ich zwar gehofft, allerdings bis zuletzt dran gezweifelt. Trotz, dass sie mir neulich offenbarte, dass sie die ganze Zeit eifersüchtig auf Sora gewesen sei, war ich mir nicht sicher, ob das nur daher rührte, weil sie Angst hatte, mich als ihren besten Freund zu verlieren oder, weil sie aufrichtige Gefühle für mich hegt, so wie ich für sie. Ich hatte einfach keine Ahnung, woran ich bei ihr bin - bis eben.

Eben hat sich meine Welt auf einen Schlag verändert und meine Sonne kreist nicht mehr nur um die Erde, sondern einzig allein nur noch um sie. Und als sie auch noch als Erste die alles entscheidenden Worte ausspricht, weiß ich einfach, dass wir zusammengehören.

»Ich liebe dich, Tai«, flüstert sie mir zu und legt nun ebenfalls eine Hand an meine Wange. Ihre Nähe und ihre Wärme zu spüren, ist so unglaublich schön, dass ich fast vergesse, dass wir in diesem Raum nicht allein sind. Obwohl es sich gerade so anfühlt, als gäbe es nur uns zwei.

»Das klingt jetzt sicher total kitschig, wenn ich es auch sage«, lache ich leise auf und sie sieht mich empört an. Dann schlägt sie mich unsanft auf den Kopf.

»Hey, ich will, dass du es auch sagst. Sonst nehme ich es zurück. Willst du, dass ich es zurück nehme?«, droht sie mir, doch ich grinse nur.

»Willst du es denn zurück nehmen?«

Sie verdreht die Augen und lächelt, aber ihre Antwort ist ein klares: »Nein.«

»Gut«, flüstere ich leise und beuge mich vor, bis meine Lippen ihr Ohr streifen. »Ich liebe dich, Mimi.«

Ich spüre, wie sie erschaudert, dann nehme ich ihr Gesicht in beide Hände und küsse sie erneut. Diesmal ist der Kuss intensiver, nicht so zaghaft wie unser Erster. Es ist das beste Gefühl der Welt, sie zu küssen - ohne jeden Zweifel. Ihre Lippen schmecken irgendwie nach süßer Orange und ich hoffe, ich kann sie für den Rest meines Lebens schmecken.

Leider bekommen wir nicht mehr viel von der Vorstellung mit, denn wir lösen uns erst wieder voneinander, als das Licht an geht und alle anderen Gäste aufstehen. Völlig benommen lassen wir voneinander ab und müssen uns erst ein mal orientieren. Dieses Liebesgeständnis scheint uns alle anderen Sinne geraubt zu haben. Zeit und Raum sind plötzlich nicht mehr wichtig.

Als wir beide von unseren Plätzen aufstehen, greife ich nach ihrer Hand. Ich möchte unbedingt Hand in Hand mit ihr hier raus gehen. Nicht mehr als Freunde - sondern als Paar.

Dass es ein mal so weit kommt, hätte ich nie für möglich gehalten. Aber es ist passiert. Sie liebt mich. Was ich immer noch nicht ganz fassen kann.

Wir steigen in mein Auto und ich rutsche gleich zu ihr rüber. Meine Hand wandert in ihren Nacken und ich ziehe sie erneut an mich. So muss es sich wohl anfühlen, wenn die älteste, tiefste Sehnsucht endlich Befriedigung findet.

Als unsere Lippen sich wieder treffen, seufzt sie auf. Ich muss lächeln.

»Das kannst du von nun an gerne öfter tun. Mich so küssen, meine ich«, wispert Mimi liebestrunken.

»Kein Problem«, erwidere ich. »Ich habe bereits vor einer halben Stunde festgestellt, dass ich kaum die Finger von dir lassen kann. Ich möchte dich am liebsten für immer küssen und nie wieder damit aufhören.«

Ich beuge mich ein weiteres Mal zu ihr, doch plötzlich klopft es so laut an meinem Fenster, dass wir beide vor Schreck auseinanderfahren. Ich drehe mich um und sehe in das Gesicht eines wütenden Mitarbeiters des Planetariums. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich nicht die Augen verdrehe, als ich die Scheibe runter lasse und stattdessen unschuldig grinse.

»Was gibt es, Sir?«

»Das hier ist kein Kino, wo ihr rum knutschen könnt«, poltert er sofort los. »Ihr blockiert hier den Parkplatz. Wir haben noch eine Vorstellung und die Leute wollen schließlich irgendwo parken. Außerdem seid ihr mir drin schon negativ aufgefallen.«

Beim Meckern redet er so schnell, dass er rum spuckt und ich bin fast schon gewillt, die Scheibe einfach wieder hoch zu fahren.

»Also, wenn ihr jetzt die Güte hättet, von diesem Parkplatz zu fahren, damit er endlich frei wird?«

Gott, was für ein Spießer.

Am liebsten hätte ich ihm eine passende Ansage gemacht, aber für so etwas hat mich meine Mutter zu gut erzogen. Deshalb nicke ich nur. Und salutiere. »Ai ai, mein Käpt'n.«

Das bringt ihn noch mehr auf die Palme und er knurrt, richtet sich dann jedoch auf und geht. Er murmelt noch irgendetwas dummes vor sich hin, aber das ist mir egal. Ich fahre die Scheibe wieder hoch und starte den Motor. Neben mir kichert Mimi.

»Hast du gehört?«, sagt sie. »Wir sind negativ aufgefallen.«

»Jaah«, erwidere ich und biege auf die Hauptstraße ab. »So was hat man mir seit der achten Klasse nicht mehr ins Gesicht gesagt.«

Wir lachen und ich lege eine Hand auf Mimi’s Bein. Es fühlt sich so gut an, zu wissen, dass sie immer noch an meiner Seite ist - jetzt mehr denn je. Ich hätte nicht gewusst, was ich getan hätte, wenn sie sich anders entschieden hätte. Wenn sie mir gesagt hätte, sie empfinde nichts für mich. Das wäre schrecklich gewesen. Und vermutlich hätte es einen Cut in unsere Freundschaft gerissen.

Trotzdem war es das Risiko wert, das weiß ich nun ganz sicher.

Mimi verschränkt ihre Finger mit meinen und lehnt sich seufzend im Sitz zurück. »Schade, dass wir schon gehen mussten.«

»Halb so wild«, antworte ich und werfe ihr einen Seitenblick zu. »Ich habe noch eine Überraschung für dich. Und da es jetzt bereits dunkel ist, passt es perfekt in meinen Zeitplan.«

»Überraschung? Zeitplan?«, wirbelt Mimi zu mir herum. »Na, du hast das ja alles gut durchdacht. Was wäre denn gewesen, wenn ich dir vorhin einen Korb gegeben hätte?«

Ich zucke mit den Schultern. »Dann wäre ich nach Hause gefahren und hätte die ganze Nacht lang in meine Kissen geheult. Wie ein kleines Mädchen.«

Mimi lacht, gibt mir einen Klaps gegen den Oberarm und nickt dann eifrig. »Ja, das kann ich mir bei dir gut vorstellen.« Sie streckt mir die Zunge raus und ich grinse.

»Nein, mal im Ernst«, sage ich nun mit fester Stimme. »Es hätte mich wirklich getroffen, wenn du mich zurückgewiesen hättest. Ich habe schließlich eine halbe Ewigkeit gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen.«

Mimi dreht ihren Kopf in meine Richtung und lächelt mich an. »Ich weiß. Deshalb danke ich dir, dass du heute einfach mutig für uns beide warst. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es jemals fertig gebracht hätte, dir das zu gestehen«, sagt sie mit sanfter Stimme, was augenblicklich mein Herz erwärmt. Ich drücke ihre Hand noch fester.

»Ich bin froh, dass ich dich habe.« Ich sehe kurz zu ihr rüber und sie schenkt mir das schönste Lächeln der Welt.

»Geht mir genauso, Tai.«
 

Ich fahre uns zu mir nach Hause, weil ich tatsächlich noch eine Überraschung für sie vorbereitet habe. Allerdings gehen wir nicht in meine Wohnung, so wie sie annimmt. Stattdessen führe ich sie rauf aufs Dach.

»Was machen wir hier?«, fragt sie verwundert und reibt sich über die Arme. »Ist doch schweinekalt hier oben.« Heute Nacht war es wirklich ein wenig windig und der Himmel wolkenverhangen. Aber das war nicht von Bedeutung.

»Warte … hier«, sage ich und ziehe meine Jacke aus, um sie Mimi über die Schultern zu legen. Sie kuschelt sich sofort rein und macht ein zufriedenes Gesicht. Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Grinsen. Sie ist wirklich süß.

»Also«, meint Mimi etwas ungeduldig und sieht sich suchend um. »Gibt es einen Grund, warum ich mir hier oben den Arsch abfriere?«

»Klar, was denkst du denn?«, erwidere ich und gehe zu der Stelle, wo ich die Sachen bereitgelegt habe. Ich bücke mich danach. »Wir hatten ja neulich leider keine Gelegenheit mehr dazu. Aber Tradition ist eben Tradition, oder?«

Mimis Augen weiten sich vor Freude und sie kommt zu mir rüber gelaufen.

»Die Rakete«, staunt sie und nimmt sie in die Hand. »Ich dachte du hättest sie … na ja … mit Sora abgeschossen.«

Ich schnaube amüsiert. »Als ob es dafür noch gereicht hätte, an dem Abend. Sie war total sauer auf mich, nachdem ich die Beziehungspause vorgeschlagen habe.«

Überrascht hebt Mimi den Kopf. »Wirklich?«

Ich runzle die Stirn. Hat sie etwa gerade keinen Kontakt zu Sora? Sie ist doch ihre Freundin, oder etwa nicht? In dem Moment bekomme ich das Gefühl, die beiden entzweit zu haben. Als wäre ich der Störfaktor, der sich zwischen ihre Freundschaft gedrängt hat.

Allerdings habe ich Sora ja zu nichts gezwungen und ich hatte oft das Gefühl, dass sie eifersüchtig auf die Freundschaft zwischen mir und Mimi ist - auch schon vor unserer Beziehung.

»Was ist jetzt eigentlich mit euch?«, hakt Mimi unsicher nach und dreht dabei die Rakete in der Hand hin und her, nur, um mich nicht ansehen zu müssen.

»Was meinst du denn, was mit uns ist?«, entgegne ich und stecke die Hände in die Hosentaschen. Dann lächle ich zaghaft. »Meinst du, ich lade dich auf ein Date ein, küsse dich und sage dir, dass ich mit dir zusammen sein möchte, wenn es da noch eine andere geben würde?«

Überrascht sieht Mimi zu mir auf, als hätte sie nicht mit dieser Antwort gerechnet.

Mal ehrlich, was hat sie sich gedacht? Dass ich hier gerade Zweigleisig fahre?

Ich gehe zu ihr und bleibe dicht vor ihr stehen. Dann lege ich einen Finger unter ihr Kinn und hebe ihren Kopf leicht an. Sie soll sehen, wie ernst es mir ist.

»Mimi, ich habe dir gesagt, dass ich dich liebe.« Meine Hand wandert an ihre Wange und sie schmiegt sich hinein, was mir ein leises Seufzen entlockt. Es ist so schön, wie sie meine Nähe endlich wieder genießen kann. Und ich ihre.

»Ich habe mich schon vor einer Woche mit Sora getroffen und ihr gesagt, dass unsere Beziehungspause ein Ende hat. Ich habe Schluss gemacht - endgültig«, beantworte ich nun endlich ihre Frage und ich kann förmlich spüren, wie sie sich unter meinen Fingern entspannt. »Es tut mir leid, dass du so lange auf meine Entscheidung warten musstest. Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich war feige. Als ich angefangen habe, dir gegenüber das erste Mal was zu empfinden, habe ich mich vor meinen eigenen Gefühlen erschreckt. Ich dachte, das dürfte nicht sein, dass ich dich liebe. Ich dachte, es stünde mir nicht zu. Immerhin bist du meine beste Freundin. Also habe ich das alles unterdrückt und von mir geschoben, so lange es ging. Ich wusste nicht, wie ich mit diesen Gefühlen umgehen sollte. Und ich dachte, ich würde Sora lieben … oder zumindest etwas für sie empfinden, was über Freundschaft hinaus geht. Aber die Wahrheit ist, …«

Ich mache eine kurze Pause und atme tief durch. Es fällt mir immer noch nicht leicht, mein ganzes, nacktes Herz vor ihr auszuschütten.

» … es wird niemals einen Menschen geben, für den ich mehr empfinden werde als für dich. Ich hatte wirklich Angst davor, dass du mich von dir stößt, sobald ich aufrichtig zu dir bin. Aber jetzt, bin ich froh, dass ich es getan habe.«

Ein sanftes Lächeln legt sich auf meine Lippen. Mimi atmet gequält aus, als hätten ihr meine Worte endlich Erlösung verschafft.

»Ich bin so froh, dass du das sagst.« Sie legt ihre Hand auf meine, schließt die Augen und schmiegt sich noch näher in meine Hand.

»Und ich bin froh, dass du genauso empfindet«, entgegne ich, beuge mich zu ihr und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn.

Mimi grinst gespielt unschuldig. »Wenn du wüsstest, wie lange schon.«

»Sag’s nicht«, meine ich und wir lösen uns wieder voneinander. Ich winke ab und verziehe qualvoll das Gesicht. »Ich will’s gar nicht wissen. Am Ende würde ich mir nur selbst eine in die Fresse hauen, weil ich’s dir nicht eher gesagt habe.«

Sie kichert und verdreht dabei die Augen. »Okay, mein Mund ist verschlossen.«

»Warum hast du eigentlich nie den ersten Schritt gewagt?«, necke ich sie und schiele sie fies von der Seite her an.

»Aus den selben Gründen wie du, nehme ich an.« Ihr freches Grinsen schlägt mir entgegen und ich muss lachen, weil sie so süß aussieht. Ich kann es ihr nicht verdenken. Wir haben uns beide nicht getraut, den ersten Schritt zu tun und ich will nicht daran denken, wie viele innige Stunden und Momente uns deshalb schon verloren gegangen sind, hätten wir nur eher was gesagt.

»Lass uns nicht mehr darüber reden«, wehre ich schließlich ab, weil ich diesen schönen Moment nicht kaputt machen will. Stattdessen hole ich zwei Zettel und einen Stift aus der Innenseite meiner Jacke. »Diesmal möchte ich, dass wir beide einen Wunsch aufschreiben, bevor wir die Rakete abfeuern.«

Ungläubig runzelt Mimi die Stirn. »Aber …«

»Nichts aber«, widerspreche ich ihr und lege einen Finger an ihre Lippen, damit sie ruhig ist. »Das ist eine schöne Idee, Fräulein Tachikawa. Also red sie nicht schlecht.«

Mimis Lippen formen sich zu einem Lächeln unter meinem Finger. »Du hast recht«, nuschelt sie. »Das ist eine schöne Idee.«

»Geht doch, warum nicht gleich so?« Ich grinse schief und reiche ihr einen Zettel und einen Stift. »Bitte, Ladies first.«

Mimi überlegt ziemlich lange, was sie drauf schreiben soll. Inzwischen sind mehrere Minuten vergangen, in denen sie einfach nur den Zettel angestarrt hat. Nun sitzen wir im Schneidersitz auf dem schweinekalten Boden, während sie angespannt auf dem Stift rum kaut.

»Du machst aber ein ernstes Gesicht«, stelle ich schmunzelnd fest, aber sie verzieht keine Miene. »Du bist nicht bei einer Prüfung. Es gibt keine Punkte auf diese Aufgabe.«

Seufzend stützt sie ihr Kinn auf ihrer Handfläche ab, sieht mich aber mit schmalen, vorwurfsvollen Augen an.

»Das ist nicht so einfach«, rechtfertigt sie sich. »Ich habe schließlich nur einen Wunsch frei.«

Lachend werfe ich den Kopf in den Nacken, weil mir nicht klar war, wie ernst sie diese Sache hier nimmt. »Mimi«, sage ich so verständnisvoll wie möglich. »Wir sind hier nicht bei Aladdin und seine Wunderlampe. Es kommt jetzt nicht wirklich ein magisches Wesen angeflogen, dass dir deine Wünsche erfüllt. Es ist mehr eine symbolische Sache.«

Sie wirft mir einen grimmigen Blick zu, weil ich mich derart darüber lustig mache.

Dann richtet sie sich plötzlich auf, als hätte sie einen Einfall. »Wie viele deiner Wünsche sind denn schon in Erfüllung gegangen? Nur für meine Statistik.«

»Hmm«, mache ich und meine Mundwinkel zucken. »Alle, wenn man es genau nimmt.«

»Was?« Erstaunt reißt Mimi die Augen auf. Ich glaube, sie springt gleich auf und fängt an im Kreis zu laufen. »Alle? Wie … aber wie hast du das angestellt? Warte …«, meint sie dann und zeigt anklagend mit dem Stift auf mich. »Du hast dir sicher so was albernes wie eine Pizza gewünscht. Solche Wünsche sind einfach zu erfüllen, keine große Kunst.«

»Nicht so ganz«, lache ich und sehe sie vielsagend an. »Um ehrlich zu sein, war es immer nur ein Wunsch. Immer derselbe. Jedes Jahr. Und er ist heute in Erfüllung gegangen.«

Zuerst schnaubt sie, doch dann schüttelt sie ungläubig den Kopf. »Wirklich? Meinst du das Ernst? Du hast dir …« Sie wedelt mit der Hand zwischen uns beiden hin und her. » … das hier gewünscht? Jedes Jahr wieder?«

»Du kapierst aber schnell«, grinse ich nun breit, während Mimi zu Tränen gerührt ist. Voller Liebe sieht sie mich an, legt dann Stift und Zettel weg und kommt auf allen Vieren zu mir rüber gekrabbelt, um sich auf meinen Schoß zu setzen. Sie legt ihre Arme um meinen Hals und ich ziehe sie an mich.

»Das ist das absolut Schönste, was mir je jemand gesagt hat. Du überraschst mich immer wieder, Taichi Yagami. Und ich dachte, ich würde schon jede Seite von dir kennen, aber …«

Sie stockt und sieht mich an. In ihren Augen glitzern Tränen, die ich sanft wegwische.

» … diese hier gefällt mir am aller besten.« Dann küsst sie mich und zwar so innig, dass mein Herz sofort beginnt wie wild gegen meine Brust zu hämmern. Meine Arme schließen sich fest um ihren zierlichen Körper und ziehen sie noch enger an mich.

»Ich kann gar nicht sagen, wie viel du mir bedeutest«, wispere ich an ihren Lippen.

Sie lächelt. »Was hältst du davon, wenn wir uns zusammen einen neuen Wunsch ausdenken? Einen, der nur uns beiden gehört.«

Ich erwidere ihr Lächeln und stupse sie an der Nase an. »Das ist eine fantastische Idee.«

Sie bleibt auf meinem Schoß sitzen und wir überlegen beide, was wir auf den Zettel schreiben sollen. Mimi hatte recht. Es ist gar nicht so einfach wie es aussieht. Vor allem nicht, wenn man die letzten Jahre immer denselben Wunsch hatte und man sich jetzt so mir nichts, dir nichts einen Neuen ausdenken muss.

»Was hältst du davon?«, sage ich, weil ich plötzlich einen Blitzgedanken habe. »Wir wäre es, wenn wir uns wünschen, dass einfach alles so bleibt, wie es jetzt ist?«

Mimi lacht ungläubig auf. »Ist das nicht ein wenig unrealistisch? Ich meine, die Erde dreht sich schließlich weiter. Nichts bleibt so, wie es ist.«

»Na ja, ich dachte all die Jahre auch, mein Wunsch sei unrealistisch und schau, wo wir jetzt stehen«, wende ich schief grinsend ein. Schließlich gibt Mimi sich einen Ruck.

»Na schön.« Sie schreibt den Wunsch für uns beide auf den Zettel, faltet ihn zusammen und ich befestige ihn mit einem Band an die Rakete.

»Bist du bereit?«, frage ich, als ich das Feuerzeug an die Zündschnur halte. Mimi nickt aufgeregt und ich eile zu ihr, nachdem ich die Rakete angezündet habe. Wir warten, bis es so weit ist, dann schießt sie hinauf in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Farben explodieren im Dunkeln und sprühen über unsere Köpfe hinweg. Ich lege einen Arm um Mimis Taille und ziehe sie an mich, während sie leise beginnt ein Lied zu summen.

Stirnrunzelnd lege ich meine Wange an ihren Kopf. »Was ist das?«

»Was denn?«

»Das Lied, was du da summst.«

»Oh«, macht sie, als wäre ihr gar nicht bewusst gewesen, dass sie es getan hat. »Das, äh … ist Fireworks, von Katy Perry. Kam mir eben so in den Sinn.«

»Ah okay. Ja, das ist ein schönes Lied«, erwidere ich, während die Farben viel zu schnell am Himmel verglühen.

»Wollen wir reingehen?«, fragt Mimi mich und reibt sich über die Arme.

»Ist dir kalt?«

»Ein wenig.«

»Dann habe ich da eine super Idee, wie wir uns aufwärmen können«, grinse ich.
 

Wenig später liegen wir in meinem Bett, wie wir es schon so oft getan haben. Nur diesmal ist alles anders. Diesmal ist da nicht diese unüberwindbare, unsichtbare Grenze zwischen uns. Diesmal muss ich nicht aufpassen, den Abstand zu wahren. Nein, diesmal halte ich sie in meinen Armen und atme ihren Duft ein.

Ich habe ihr ein T-Shirt von mir geliehen, das ihr viel zu groß ist, aber in dem sie unglaublich sexy aussieht. Wir haben gar nicht darüber gesprochen, ob Mimi heute bei mir übernachten wird. Für mich ist es das Natürlichste der Welt, dass sie da ist. Und sie kann so lange bleiben, wie sie möchte.

»Kannst du bitte die Zeit anhalten?«, seufzt sie an meiner Brust, während ich ihr übers Haar streichle. Ich muss lachen.

»Würde ich zu gerne. Was hast du morgen vor?«

Wieder seufzt sie, doch diesmal klingt es frustriert. »Ich muss arbeiten.«

»Wie blöd. Ich habe morgen frei, wir hätten etwas unternehmen können.«

»Am Abend habe ich Zeit«, meint sie sofort, stützte sich mit den Händen ab und dreht sich zu mir um, damit sie mir in die Augen sehen kann. Ein sanftes Lächeln umspielt ihre Lippen, woraufhin ich mich gleich noch mehr in sie verliebe.

»Tai?«

»Ja?«

»Kannst du mir etwas versprechen?«

Ich schenke ihr ein ergebenes Lächeln. Ich würde alles für sie tun. »Natürlich.«

»Lass es uns langsam angehen, okay?«

Mein Grinsen wird noch breiter, während ich sie verständnislos ansehe. »Meinst du nicht, wir haben es in den letzten zehn Jahren langsam genug angehen lassen? Ich meine ja nur, …«

Prompt fängt sie an zu lachen.

Etwas verwirrt sehe ich sie an, bis ich es schnalle.

Hat sie mich gerade verarscht?

Sie kneift mich in die Seite. »Ich nehme dich doch nur auf den Arm.«

Ich grinse. »Ach, wirklich? Dann willst du es also nicht langsam angehen lassen?«

Mimi nickt glucksend.

Na, warte …

Noch, während sie lacht, packe ich ihre Handgelenke und drehe sie von mir runter auf den Rücken, wobei ihr ein lauter, kurzer Schrei entfährt. Ich liege nun über ihr, habe ihre Hände fest im Griff und schiebe mich zwischen ihre Beine. Ihr freches Lachen erstirbt im selben Moment.

»So, du willst also Sex?« Ich dränge mich ihr noch ein Stück weiter entgegen und sehe, wie sie scharf die Luft einzieht. Sie kann spüren, wie heiß sie mich macht und ich will, dass sie das ganz genau weiß. Dass sie für mich die absolut attraktivste Frau ist, die ich je in meinem Bett hatte.

Für mich reicht es aus, sie nur anzusehen, wie sie hier liegt, in meinem Shirt, das ihr gerade gefährlich hochgerutscht ist. Jetzt beißt sie sich auf die Unterlippe und ich werde augenblicklich noch härter.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Sex will.«

»Stimmt, hast du nicht«, gebe ich ihr recht und fange an, mich langsam an ihr zu reiben. Ich sehe genau, wie sie versucht, ein Stöhnen zu unterdrücken. Es ist süß, wie sie um Beherrschung ringt, wie sie versucht, sich zusammenzureißen.

Zufrieden lächle ich bei ihrem Anblick und lege dann eine Hand an ihre Wange.

»Kannst du mir vielleicht auch etwas versprechen?«

Sie nickt langsam.

»Bitte halt dich mir gegenüber nicht zurück, okay? Niemals. Ich will alles von dir sehen. Ich weiß, wer du bist, Mimi. Du musst dich vor mir nicht verstecken. Du kannst mir alles zeigen - jede Seite von dir.«

Mimi sieht mir in die Augen, lässt meine Worte einige Sekunden lang auf sich wirken, ehe sie mich an den Schultern packt und mit einem Ruck unerwartet auf die Seite rollt. Nun sitzt sie rittlings auf mir, genau auf meinem besten Stück. Ihr Hände ruhen auf meiner Brust.

»Wie du willst«, erwidert sie und sieht grinsend auf mich hinab, während sie ihre Hüften auf mir kreisen lässt und ich stöhnend die Augen schließe. Im nächsten Moment spüre ich ihre süßen Lippen auf mir und der sinnliche Geschmack von Orange breitet sich wieder in meinem Mund aus.

Gott, diese Frau macht mich süchtig!

Mimi

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Mimi

Als ich um 17.00 Uhr Feierabend habe, bestätigt sich dieses schlechte Gefühl, was ich heute Morgen hatte, denn als ich auf mein Handy sehe ist da … nichts.

Keine Nachricht von Tai.

Das ist merkwürdig. Ich dachte, er würde irgendwie noch mal schreiben, wegen unseres Dates, vor allem, weil er sagte, er habe heute frei. Aber okay, vielleicht reagiere ich auch einfach über. Am besten, ich fahre erst mal nach Hause, springe unter die Dusche und dann sehen wir weiter. Vielleicht ist er auch wieder ganz der Alte, wenn er nachher bei mir auftaucht.

Ich brauche ungefähr eine Stunde bis nach Hause und dann noch eine halbe Stunde, um mich zu duschen und umzuziehen. Ich weiß nicht, was wir machen wollen, also habe ich keine Ahnung, was ich anziehen soll. Als ich mich für eine normale Jeans mit Hoodie entscheide, werfe ich nebenbei einen Blick auf die Uhr. Es ist bereits zehn Minuten nach sieben.

Oh, man. Kein Grund zur Panik, Mimi. Er verspätet sich einfach nur, wäre ja nicht das erste Mal.

Mein Magen beginnt zu knurren und ich überlege, ob ich uns was zu essen bestellen soll. Tai hat sowieso immer Hunger, also entscheide ich mich für chinesisch. Um mich abzulenken, setze ich mich aufs Sofa und schalte den Fernseher an, aber anstatt mich auf die Serie zu konzentrieren, schaue ich immer wieder verstohlen auf mein Handy.

Halb acht.

Okay, ich frage wohl doch besser mal nach …
 

»Hey, Fremder. Hast du mich schon vergessen? Wir waren verabredet.«
 

Unnötig ihn darauf hinzuweisen, aber ich tue es trotzdem, denn die Zeit rennt und rennt und so langsam bin ich ein wenig beleidigt, weil er mich ohne eine Info auf sich warten lässt. Ist das so ein Männer-Ding? Mach das Mädel klar und dann lass sie erst mal zappeln, damit sie dir dann hinterher läuft?

Das kann ich mir bei Tai nicht vorstellen.

Als das Essen geliefert wird, ist es 20.15 Uhr und noch immer keine Spur von Tai. Ich werde sichtlich unruhig. Ob ihm was zugestoßen ist?

Da er auch auf meine Nachricht nicht geantwortet hat, rufe ich ihn kurzerhand an. Es tutet sogar, doch es geht nur die Mailbox ran. Nach dem dritten Versuch knicke ich ein und spreche drauf:

»Hey, ich bins. Stehst du noch unter der Dusche?« Ich lache nervös, doch eigentlich ist mir eher nach Heulen zumute. »Bitte melde dich bei mir, okay? Ich mache mir allmählich Sorgen. Gut, bis dann.«

Traurig lege ich auf. Das Essen steht duftend in der Küche, aber mir ist der Appetit vergangen. Auch auf meine Anrufe reagiert er nicht, auch nicht, als der Zeiger der Wanduhr langsam auf die Neun zusteuert.

Na gut, das reicht!

Es gefällt mir nicht, aber ich tue das Einzige, was mir noch einfällt.

Ich scrolle durch mein Handy und suche Matt's Namen. Es tutet nur ein Mal. Er hebt sofort ab.

»Mimi? Was ist los?«

»Scheiße, wieso ging das bei dir so schnell?«, beschwere ich mich prompt.

»Du klingst wütend«, stellt Matt nüchtern fest.

»Ich bin wütend!«, entgegne ich. »Hast du eine Ahnung, wo Tai steckt? Ich kann ihn nicht erreichen.«

»Oh … ach so«, kommt es lediglich von Matt, was mich stutzen lässt. Kurz darauf wird es für einige Sekunden still.

Mit klopfendem Herzen lausche ich. Ist das … ist das etwa Tai, den ich da im Hintergrund höre?

»Hey!«, rufe ich ins Telefon, woraufhin es raschelt.

»Mimi, hör mal, ich muss jetzt auflegen.«

Was? Matt will mich abwimmeln? Was ist das denn für eine miese Tour?

»Ist Tai bei dir?«, ignoriere ich seinen Kommentar und balle die Hand zur Faust. »Seid ihr etwa zu Hause?«

Wieder einige Sekunden lang Stille.

Das reicht! Ich komme mir total verarscht vor. Was, zum Teufel, ist denn hier nur los?

»Mimi, ich kann dir nicht …«, setzt Matt an, doch ich lasse ihn nicht ausreden.

»Gib mir sofort Tai«, fordere ich, was er natürlich nicht tut.

»Oh, man. Ich sollte mich da echt raushalten, ich will nicht …« Wieder ein Rascheln, dann tutet es. Fassungslos starre ich auf mein Handy. Hat er gerade aufgelegt? Hat TAI gerade aufgelegt?

Ich bin so sprachlos darüber, dass ich mehrere Sekunden lang einfach nur dastehe und mit geöffnetem Mund mein Telefon anstarre. Dann packt mich die blanke Wut.

Ich schnappe meine Schlüssel und stürme aus der Wohnung. Was, zur Hölle, ist in ihn gefahren? Er versetzt mich, ohne abzusagen und dann will er nicht einmal mit mir reden? Spinnt er? Das ist total erniedrigend. Und ich blöde Kuh habe mir auch noch Sorgen um ihn gemacht.

Na, warte, Tai Yagami.
 

Ich glaube, ich war noch nie so schnell bei Tais Wohnung, wie eben. Völlig außer Atem stemme ich die Hände auf den Knien ab, um mich kurz zu sammeln. Auf den Weg hierher hatte ich Gelegenheit, meine ganze Wut auf ihn zu bündeln und gerade ist sie kurz davor, aus mir auszubrechen, wie Lava aus einem Vulkan. Bevor ich auch nur die Möglichkeit habe, wieder runterzukochen, klingle ich.

Natürlich ist es Matt, der mir die Tür öffnet. Er wirkt ernsthaft überrascht, als er mein Gesicht sieht. Wen hat er denn erwartet? Den Weihnachtsmann?

»Mimi«, setzt er an und ein wenig Panik spiegelt sich in seinem Blick wieder, als ich auch schon versuche, mich an ihm vorbei zu drücken, doch er versperrt mir den Weg.

»Lass mich vorbei!«, fordere ich, aber er hält mich an den Schultern fest und drängt mich zurück.

»Mimi, das ist gerade kein sehr guter Zeitpunkt. Du solltest vielleicht besser morgen wiederkommen.«

»Ist okay«, unterbricht ihn eine Stimme von hinten und ich zucke zusammen. Tai steht hinter ihm im Flur. Unsere Blicke treffen sich.

Ich, unendlich wütend.

Er, unendlich traurig.

Was … was soll dieser Blick? Was ist hier los?

»Lass sie ruhig rein. Früher oder später erfährt sie es sowieso.«

Warum klingt seine Stimme so anders? So gar nicht wie er selbst. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken und setzt sich in meinem Nacken fest, genauso wie das ungute Gefühl, dass meinen Magen beinahe auffrisst.

Matt tritt zur Seite und lässt mich die Wohnung betreten. Er schließt die Tür hinter sich und geht dann an uns vorbei.

»Ich lasse euch mal alleine.«

Im Vorbeigehen legt er Tai tröstend eine Hand auf die Schulter, was mich nur noch mehr verwirrt. Was ist nur passiert? Ist jemand gestorben?

Bei dem Gedanken daran, verpufft meine Wut mit einem Mal. Gott, bin ich dämlich. Natürlich gab es offensichtlich einen Grund, warum er nicht bei mir erschienen ist und sich nicht gemeldet hat. Und dieser Grund muss äußerst schwer wiegen.

»Tai«, sage ich nun eine Spur sanfter als eben noch und mache einen Schritt auf ihn zu. Er hingegen steht wie versteinert vor mir und regt sich keinen Zentimeter. Sein Gesicht ist wie eingefroren, seine Miene ausdruckslos. So kenne ich ihn gar nicht. Es ist, als würde eine völlig andere Person vor mir stehen, als noch heute Morgen.

Das macht mir Angst. Ich schlucke schwer.

»Was ist los?«, frage ich leise. »Warum bist du nicht zu unserer Verabredung erschienen?«

Am liebsten würde ich ihn jetzt schon in den Arm nehmen, aber seine ganze Körperhaltung verrät mir, dass es das Letzte ist, was er gerade will, also lasse ich es.

»Es ist etwas dazwischen gekommen«, antwortet er tonlos, als würde das einfach alles erklären. Und als würde ich mich mit dieser Antwort zufrieden geben.

»Und was?«, hake ich nach, woraufhin er schwerfällig ausatmet. Die erste Reaktion, die er überhaupt zeigt.

»Mimi … lass uns ein Stück spazieren gehen, ja?«
 

Die Abend ist recht kühl, aber die Luft ist angenehm. Wir gehen nun schon seit einer halben Stunde durch einen nahegelegenen Park - schweigend. Tai hat immer noch kein Wort gesagt und während ich darauf warte, dass er sich mir endlich öffnet, beobachte ich ganz beiläufig verliebte Pärchen, die händchenhaltend an uns vorbei gehen. Ich dachte, wir wären jetzt auch so eines dieser kitschigen Paare. Aber da habe ich mich wohl getäuscht, denn der Abstand zwischen uns könnte gerade nicht größer sein. Zumindest fühlt es sich so an.

»Na gut«, seufzt Tai schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit auf, während er die Hände in den Hosentaschen vergraben hat und weiter stur geradeaus geht, ohne mich dabei anzusehen. »Ich finde einfach nicht die richtigen Worte dafür, um es dir schonend beizubringen, egal, wie lange ich überlege.«

Stutzend sehe ich zu ihm rüber. Jedes seiner Worte wiegt so schwer, dass sich dieses ungute Gefühl in meinem Magen nur noch weiter verstärkt. Ich ahne natürlich, dass es nichts Gutes sein wird, was er mir gleich verkündet. Am liebsten würde ich mich einfach selbst schützen, umdrehen und nach Hause gehen. Denn ich habe das Gefühl, dass er mir gleich das Herz brechen wird …

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich dir das sagen soll«, setzt er an und allein diese Worte reichen aus, damit mein Herz sich schmerzlich zusammenzieht.

»Ich weiß nicht, ob wir zusammen sein können, Mimi.«

Was?

Was sagt er da?

Wie …? Ich verstehe gar nichts mehr.

Vermutlich verrät mein Gesichtsausdruck meine offensichtliche Verwirrung, weshalb er frustriert aufstöhnt und sich übers Gesicht reibt.

»Ich weiß, das kommt etwas plötzlich, aber ich …«

»Plötzlich?«, falle ich ihm ins Wort. »Plötzlich? Tai!«, sage ich mit Nachdruck. »Gestern Abend hast du mir gesagt, du liebst mich und dass du immer mit mir zusammen sein willst. Heute Morgen sind wir zusammen in deinem Bett aufgewacht und alles war gut. Und jetzt ist es das nicht mehr?«

Abrupt bleibe ich stehen und starre ihn an. Tai dreht sich zu mir um und wirft mir einen Blick zu, der mir verrät, wie sehr er gerade mit sich und seinen Gedanken kämpft. Ich gehe auf ihn zu und greife nach seiner Hand.

»Tai«, sage ich und versuche dabei nicht total weinerlich zu klingen, obwohl mir dieses drückende Gefühl in meiner Brust gerade die Kehle zuschnürt. Was ist innerhalb der letzten Stunden geschehen, dass ihn dazu bewegt, so etwas zu sagen?

»Ich kann nicht fassen, dass du gerade wirklich vor mir stehst und mir sagst, dass wir nicht zusammen sein können.«

»Du verstehst das falsch«, widerspricht er mir tonlos. »Ich will mit dir zusammen sein. Mehr, als alles andere.«

Ein vorsichtiges Lächeln legt sich auf meine Lippen, wie ein winzig kleiner Hoffnungsschimmer.

»Und wo ist dann das Problem? Du kannst mit mir über alles reden.«

Tai entzieht mir seine Hand und fährt sich nervös damit durch die Haare, als könnte er es nicht mehr ertragen, wenn ich ihn so festhalte. Oder als hätte er es nicht verdient.

»Sie ist schwanger.«

Wie bitte? Wovon redet er da? Verwirrt sehe ich ihn an.

»Was?«, frage ich ungläubig. »Wer?«

Tai jedoch schüttelt nur den Kopf und vergräbt sein Gesicht dann in beide Hände.

Das genügt mir als Antwort.

Mein Herz krampft sich schmerzlich zusammen.

Nein. Bitte nicht …

Wie betäubt stehe ich da, als mir ihr Name wie ein verheißungsvoller Fluch über die Lippen kommt.

»Sora.«

Tai verkrampft sich und drückt seine Hände nur noch fester an sein Gesicht. Ein leises »Oh Gott« entfährt ihm, bevor er sie wie Blei sinken lässt und mich gequält ansieht.

»Sie hat es mir vorhin gesagt. Es tut mir leid.«

Es tut ihm leid? Was?

Ich höre mich selbst auflachen und schüttle den Kopf. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß nicht mal, an was ich gerade denken soll.

»Seid ihr …« Ich bringe die Worte kaum aus mir raus. » … Bist du wieder mit ihr zusammen?«

Ehe ich mich versehe, macht Tai einen Schritt auf mich zu und legt seine Hände an mein Gesicht.

»Nein«, haucht er, völlig entsetzt über meine Frage. »Wie kannst du das denken? Ich bin mir dir zusammen.«

Ich schlucke schwer. Die Tränen wollen sich bereits ihren Weg an die Oberfläche kämpfen, aber ich gestatte es mir nicht, jetzt zu weinen - noch nicht.

»Aber eben sagtest du, du bist dir nicht sicher, ob wir zusammen sein können.«

Geknickt lässt Tai seine Hände sinken und sieht zu Boden. »Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre nicht verwirrt. Diese Nachricht … das hat mich völlig umgehauen. Damit habe ich nicht gerechnet. Und ich weiß nicht, was es mit uns machen wird. Mit dir und mir. Ich weiß nur, dass ich dich liebe. Aber …« Er hebt den Kopf und sieht mich flehend an. »Ich muss wissen, wie du darüber denkst, Mimi.«

»Wie ich darüber denke?« Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, gefolgt von einem Schnauben. Was erwartet er gerade von mir?

»Wie ich darüber denke?«, wiederhole ich und schüttle erneut ungläubig den Kopf. »Ich denke, dass ihr ziemlich dumm gewesen seid.«

Seufzend stemmt Tai die Hände in die Hüfte und legt den Kopf in den Nacken, um zu dem wolkenverhangenen Nachthimmel aufzusehen.

»Denkst du, das weiß ich nicht selbst? Wir … wir haben immer verhütet.«

»Anscheinend nicht gut genug.« Ich verschränke die Arme vor der Brust, um die Wut zu unterdrücken, die sich allmählich vor die Traurigkeit schiebt. Ich will nicht wütend auf Tai sein. Ihm geht’s so schon schlecht genug.

»Aber falls du meinst, wie ich über uns denke, dann ja - ich liebe dich auch«, sage ich nun eine Spur sanfter, woraufhin Tai mich leicht hoffnungsvoll anlächelt.

»Es tut gut, dich das sagen zu hören.«

Ich nicke. Natürlich liebe ich ihn. Wie könnte ich nicht? Trotzdem muss ich komplett ehrlich zu ihm sein.

»Aber ich weiß nicht, wie ich mit dieser Nachricht umgehen soll.«

»Glaub mir, das weiß ich auch nicht«, gesteht Tai mir frustriert und lässt die Schultern hängen. »Denkst du, wir können noch zusammen sein?«

Ich schnaube und stelle mir augenblicklich diese ganzen, irrwitzigen Zukunftsszenarien vor, die es ab jetzt geben könnte:
 

Tai, wie er ins Krankenhaus fährt, wenn das Kind geboren wird und wie stolz er trotz allem sein wird.

Tai, ich, Sora und das Baby zusammen unterm Weihnachtsbaum.

Tai, der mir erzählt, wie sein Kind das erste Mal »Papa« zu ihm gesagt hat.

Tai und Sora, wie sie einen gemeinsamen Familienausflug in den Freizeitpark planen.

Sora, wie sie weiterhin hoffen wird, dass Tai nicht nur das Kind, sondern auch sie liebt.

Tai, der sich für dieses Kind aufopfern wird, weil er eben nun mal so ist.
 

Und dann sehe ich mich.

Mich, wie ich in all diesen Momenten daneben stehen werde.

Mich, wie mir das Herz zerspringt, jedes Mal, wenn Tai dieses Kind mit verliebten Augen anschaut und ich weiß, dass es ein ewiger Beweis dafür sein wird, dass da etwas zwischen ihm und Sora war.

Mich, wie das Kind nur Mimi zu mir sagen wird, wohingegen Tai und Sora, Papa und Mama sein werden.

Etliche Geburtstage, an denen ich auf Familienfotos lediglich im Hintergrund sein werde, die Randrolle übernehmen werde, während Tai und Sora einen auf happy Family machen.

Wäre das nicht völlig absurd?
 

Ich schüttle diese Gedanken schnell beiseite. Ich will jetzt nicht an so was denken.

»Ich will ehrlich zu dir sein, Tai. Ich weiß es nicht«, sage ich schließlich aufrichtig, um seine Frage zu beantworten. Tai nickt ergeben. Natürlich hat er schon mit so einer Antwort gerechnet.

Doch dann tut er etwas, das für mich völlig unerwartet kommt.

Er geht auf mich zu, zieht mich an sich und seine Lippen landen schwer auf meinen. Sie sind kalt, aber sie erhitzen sich schnell, je länger er mich küsst. Ich wehre mich nicht dagegen, denn ich brauche seine Nähe gerade genauso wie er meine. Mein Herz verzehrt sich nach ihm und ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen oder sie zumindest anhalten. Damit wir einfach für immer in diesem Moment verweilen könnten.

Als er sich von mir löst, sieht er mich aufrichtig an.

»Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich liebe dich, Mimi. Und ich will mit dir zusammen sein. Das heute hat mich aus der Bahn geworfen und ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll. Aber wenn ich an gestern Abend denke, als alles so perfekt zwischen uns war, weiß ich, dass wir es schaffen können. Dass wir es einfach schaffen müssen. Ich habe dich gerade erst für mich gewonnen, Mimi. Ich kann das unmöglich jetzt schon wieder aufgeben.«

Ich nicke langsam und nun rollt mir doch eine leise Träne über die Wange. Ich verstehe ihn, auch ich will das mit uns nicht aufgeben.

Meine Finger krallen sich in sein Shirt und ich drücke meine Stirn gegen seine Brust. Verzweiflung macht sich allmählich in mir breit. Ich möchte es so gerne - mit Tai zusammen sein. Ich möchte so gerne cool und locker mit dieser Situation umgehen. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht wie.

Sollte es eine Rolle spielen, wenn Tai mit einer anderen Frau ein Kind hat?

Sollte es keine spielen?

Ich weiß nun ganz sicher, wie Tai fühlt. Er hat es mir deutlich gesagt. Aber was ist mit mir? Wie soll ich in dieses ganze, irrsinnige Szenario reinpassen, ohne permanent zurück zu stecken?

Der Gedanke daran, Tai zukünftig mit Sora teilen zu müssen, auch wenn sie nicht zusammen sind, ist kein Gedanke, der mir gefällt.

»Ist es okay, wenn ich dich nach Hause bringe?«, fragt er schließlich, als ich nichts mehr sage. »Vielleicht sollten wir beide erst Mal eine Nacht darüber schlafen.«

Wieder nicke ich, weil mir die Worte fehlen. Ich würde Tai so gerne sagen, dass alles gut ist. Aber ich bin mir nicht sicher, ob diese heile Welt von gestern Abend, die wir uns wie in einem Traum erschaffen haben, noch existiert.

Tai

Ich gebe Mimi zwei Tage Zeit, dann halte ich es nicht mehr aus. Ich weiß, sie ist sicher noch immer verwirrt und versucht für sich einen Weg zu finden, mit der Situation fertig zu werden.

Aber ich kann nicht länger warten. Ich muss sie sehen.

Es ist nicht so, dass ich von ihr sofort eine Entscheidung erwarte. Das wäre zu viel verlangt. Aber ich muss sie einfach bei mir haben. Sie spüren und mich vergewissern, dass wir immer noch wir sind. Dass sich trotz allem nichts an ihren Gefühlen für mich geändert hat.

Deshalb warte ich gerade vor dem Café, um sie nach ihrer Schicht abzuholen. Es ist Nachmittag und das Wetter spielt mir in die Hände.

Durch die Scheibe kann ich sehen, wie sie gerade einen Kunden bedient. Sie bedankt sich freundlich und als sie den Kopf hebt und mich vor dem Fenster warten sieht, schleicht sich ein zaghaftes Lächeln auf ihre Lippen. Ich habe ihr geschrieben, dass ich sie heute abhole, weil ich sie sehen muss, aber sie wirkt dennoch nicht erfreut.

Ja, sie lächelt zwar, aber sie wirkt auch angespannt. Als würde sie bereits auf die nächste Hiobsbotschaft von mir warten.

Aber heute nicht. Heute möchte ich einfach nur mit ihr zusammen sein. Wir hatten noch keine Gelegenheit, unsere neue Liebe richtig auszukosten. Wie auch, wenn sich nicht einmal 24 Stunden später, nachdem wir zusammen gekommen sind, ein Unwetter über uns zusammenbraut?

Mimi nickt mir zu, deutet dann erst auf ihre Armbanduhr und hebt dann die Hand, um mir zu signalisieren, dass sie in fünf Minuten bei mir ist. Ich nicke, während sie nach hinten in den Personalbereich verschwindet, um sich umzuziehen.

Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Fensterscheibe und warte. Ich bin ein wenig nervös.

Mir ist durchaus bewusst, wie schwer das für sie ist. Wie schwer das für uns ist. Andere Paare genießen es, verliebt zu sein und der erste, große Konflikt schleicht sich erst nach Monaten in die Beziehung. Wir werden bereits jetzt auf eine harte Probe gestellt. Daher bin ich froh, dass Mimis und mein Band bereits dank unserer innigen Freundschaft so stark ist, dass uns nichts so schnell entzweien kann.

Zumindest hoffe ich das.

Als sie zu mir raus auf die Straße tritt, hat sie die eben noch offenen Haare zu einem geflochtenen Zopf nach hinten gebunden, der ihr nun locker über die Schultern fällt. Sie sieht müde und erschöpft aus und trotzdem schenkt sie mir das süßeste Lächeln, dass ich je gesehen habe.

Mein Herz beginnt zu schlagen.

Wenn sie so vor mir steht, habe ich das Gefühl, mich jedes Mal wieder ganz neu in sie zu verlieben.

»Hey Hübsche«, begrüße ich sie mit einem Grinsen im Gesicht, gehe auf sie zu und ziehe sie an mich, um ihr einen Kuss auf ihre weichen Lippen zu hauchen. Ihr Duft hüllt mich ein und ich frage mich gerade ernsthaft, wie ich es ausgehalten habe, sie zwei Tage nicht zu sehen.

Nach einem innigen Kuss, schaut Mimi mich überrascht, aber auch glücklich an.

»Was sollte das denn, Taichi Yagami? Ein Liebesbekenntnis auf offener Straße?«

Ich seufze, während ich sie immer noch festhalte. »Ich habe dich einfach nur vermisst.«

Sie lächelt. »Geht mir genauso.«

Ich bin froh, dass sie das sagt.

Plötzlich verändert sich ihre Miene wieder und sie wird ernst. »Bist du hergekommen, um zu reden?«

Ich schlucke schwer, da ich das Thema jetzt eigentlich noch nicht ansprechen wollte. Eigentlich hatte ich etwas ganz Anderes im Sinn, aber so wie es scheint, lässt es Mimi einfach keine Ruhe.

»Ich habe wirklich viel darüber nachgedacht, Tai. Und ich weiß immer noch nicht so ganz, wie ich mich damit fühlen soll«, redet sie drauf los, doch ich lege ihr schnell einen Finger an die Lippen, damit sie still ist. Verwundert sieht sie mich an.

»Ja, ich bin hergekommen, um mit dir darüber zu reden. Das müssen wir zwangsläufig, es lässt sich nicht vermeiden.«

Mimi nickt und sieht dabei so traurig aus, dass es mir fast das Herz zerreißt.

»Aber nicht jetzt. Wir können gerne später darüber reden und ich beantworte dir alle deine Fragen, insofern du welche hast. Ich will versuchen, dass mit dir gemeinsam zu schaffen. Aber für den Moment will ich einfach nur mit dir zusammen sein«, sage ich aufrichtig. »Wir haben uns zwei Tage nicht gesehen und es war eine richtige Qual, dich nicht in die Arme nehmen oder dich küssen zu können. Das will ich erst mal nachholen und ein bisschen Zeit mit dir alleine verbringen, ohne irgendwelche schwerwiegenden Gespräche, die in Tränen enden. Ist das okay für dich?«

Mimi legt den Kopf schief und denkt einen quälend, langen Moment darüber nach, was ich gesagt habe. Doch schließlich nickt sie und lächelt sogar zaghaft.

»Das ist okay für mich. Ich verstehe, was du meinst. Wir müssen darüber reden. Aber ich habe dich auch sehr vermisst und hätte nichts gegen ein paar schöne Stunden zu zweit einzuwenden.«

Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich ziehe sie in eine feste Umarmung.

»Danke! Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen. Und alles andere dann später.«

Mimi löst sich von mir und strahlt mich mit großen Augen an, woraufhin ich mich gleich noch mehr in sie verliebe.

»Mein Wagen parkt da hinten. Wollen wir?« Ich deute mit dem Finger in die Seitenstraße hinter mir. Mimi kichert irritiert.

»Was hast du denn vor?«

Ich lege einen Arm um sie und führe sie zum Auto, dass bereits mit einem Picknickkorb und einer Decke auf der Rückbank auf uns wartet. »Lass dich überraschen.«
 

Als wir auf dem Parkplatz ankommen, staunt Mimi nicht schlecht, als wir aus dem Wagen steigen und sich vor uns ein wunderschöner See erstreckt. Wir sind zum Senzoku Pond Park gefahren und werden uns gleich ein Tretboot mieten, das wie ein Schwan aussieht, so wie alle verliebten Pärchen es hier tun.

Ich hoffe, sie findet es nicht zu kitschig, doch schon, als wir bei den übergroßen Schwänen ankommen, hält sie sich die Hand vor den Mund, um sich das Kichern zu verkneifen.

Ich stöhne gequält auf. »Nur zu, tu dir keinen Zwang an.«

Wie auf Kommando lacht Mimi los. »Tai, du bist wirklich goldig.«

»Goldig?«, erwidere ich angeekelt und verziehe das Gesicht. »Das war aber nicht gerade ein Kompliment. Ich bin doch kein Hamster.«

»Tut mir leid«, sagt sie zwar, aber ihr Kichern verrät mir was anderes. Dann greift sie nach meiner Hand. »Ich finde die Idee schön, ehrlich. Nur kannte ich diese Seite bisher nicht an dir.«

Ich grinse überheblich. »Tja, ich schätze mal, du wirst noch so einiges an mir kennenlernen.«

»Das befürchte ich auch.«

Empört sehe ich sie an. »Was soll das nun wieder heißen?« Aber sie stupst mich nur von der Seite an und grinst frech. »Nichts, ich ziehe dich doch nur auf.«

Wir leihen uns dieses kitschige Schwanenboot und steigen ein. Ist auch für mich eine Premiere. Ich habe mich noch nie für eine Frau so ins Zeug gelegt.

Außer uns sind noch viele weitere Paare auf dem See unterwegs, was dem Ganzen wirklich eine etwas romantische Stimmung verleiht. Und natürlich Mimi. Die Anspannung, die ihr vorhin noch ins Gesicht geschrieben stand, ist verschwunden und einem zufriedenem, ja beinahe unbeschwertem Lächeln gewichen.

»Wie geht es deinem Dad?«, frage ich sie, da ich ihn nicht mehr gesehen habe, seit wir ihn aus dem Krankenhaus abgeholt haben.

Mimi nickt. »Ganz okay, würde ich sagen. Ich schaue ein Mal in der Woche nach ihm und ich sehe, wie viel Mühe er sich gibt, alles wieder auf die Reihe zu kriegen. Aber es fällt ihm schwer.«

»Kann ich verstehen. So ein Schritt ist nie einfach. Es ist gut, dass du für ihn da bist.«

Mimi streicht sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr und schenkt mir ein unsicheres Lächeln. »Ich gebe mein Bestes.«

»Und was ist mit deiner Berufswahl? Hast du dich schon entschieden, was du zukünftig machen willst?«

Ein schweres Seufzen kommt aus ihrer Richtung und ich weiß, es liegt nicht daran, dass das Treten im Boot so anstrengend ist.

»Es ist schwieriger als ich dachte. Ich weiß nicht so wirklich, was mir liegt.«

»Das ist leicht«, entgegne ich. »Du bist sehr freundlich im Umgang mit Menschen, du bist ein Organisationstalent, du bist ehrgeizig und auch etwas dickköpfig, wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast. Du bist selbstlos und kannst andere Menschen schnell um deinen Finger wickeln, weil du eine ziemlich bezaubernde Art an dir hast.«

Nach meinen Ausführungen muss Mimi kichern, obwohl ich das alles ernst gemeint habe.

»Danke, dass du alle meine Vorzüge aufzählst. Aber wie soll mir das bei meiner Berufswahl helfen?«

Grinsend zucke ich mit den Schultern. »Wahrscheinlich gar nicht. Ich wollte einfach nur mit dir flirten.«

»So? Ist dir ganz gut gelungen. Ich mag Komplimente.«

Sie beugt sich zu mir rüber und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Erst bin ich etwas überrascht, doch dann denke ich gar nicht weiter nach und drehe meinen Kopf in ihre Richtung, lege eine Hand an ihre Wange und beuge mich zu ihr, damit ich sie richtig küssen kann.

Mimi seufzt leise auf und auch ich fühle wieder, wie mein Herz sich weitet, wie immer, wenn ich ihr so nah bin. Wir küssen uns ziemlich lange, weil wir einfach nicht die Finger voneinander lassen können. Bis unser Boot einen Ruck macht und wir erschrocken auseinanderfahren.

»Hey! Passt doch auf!«, beschimpft mich ein Kerl, mit dessen Tretboot wir offensichtlich kollidiert sind.

»Oh, das tut uns leid«, entschuldige ich mich sofort, da wir alles um uns herum vergessen und gar nicht mehr auf die Richtung geachtet haben. Der Kerl wirft mir noch einen finsteren Blick zu und fährt dann weiter.

Genervt stöhne ich auf. »Man, der soll sich mal nicht so anstellen. Es ist doch gar nichts passiert.«

»Ich denke, er war nur neidisch«, meint Mimi zustimmend und ich lache.

»Kann gut sein.«

Wir fahren zurück ans Ufer und ich hole die Picknick Sachen aus dem Auto, die ich mitgenommen habe. Mimi sucht sich einen schattigen Platz unter einem Baum aus und ich breite die Decke für uns aus, während sie sich bereits über das Obst hermacht, dass ich eingepackt habe.

»Ich war heute etwas in Eile, deshalb hat es leider nicht für etwas Besseres gereicht«, entschuldige ich mich und lasse mich im Schneidersitz neben sie sinken.

»Keine Sorge, ich finde es perfekt«, grinst Mimi mich breit an und schiebt sich eine Erdbeere in den Mund.

»Gut zu wissen, dass du so einfach glücklich zu machen bist«, grinse ich zurück und sie streckt mir die Zunge raus. Dann lässt sie sich nach hinten auf die Decke fallen, schließt die Augen und seufzt zufrieden.

»Das ist wirklich ein schöner Tag. Danke, Tai.«

Ein kleines Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, weil ihr Anblick so süß ist. Sie wirkt gerade wirklich unbeschwert und das freut mich für sie. Sie hatte in letzter Zeit viel durchzustehen und die Probleme reißen nicht ab. Das ist das Mindeste, dass ich für sie tun kann.

Ich lege mich neben sie auf die Seite, stütze meinen Kopf mit meinem Arm ab und betrachte sie eingehend.

Ihre Mundwinkel zucken, obwohl sie die Augen immer noch geschlossen hat.

»Was ist?«

Statt einer Antwort fahre ich mit dem Finger an ihrer Hand entlang, ihren Arm hinauf, bis hoch zu ihrer Schulter und verweile schließlich an ihrem Hals, ehe meine Finger in ihren Nacken greifen, ich mich zu ihr hinab beuge und sie küsse. Sie öffnet ihre weichen Lippen für mich und unsere Zungen spielen miteinander, während ich mich leicht über sie lehne, um meine andere Hand an ihre Taille zu legen. Mimi schlingt beide Arme um mich und zieht mich noch näher zu sich.

Gott, diese Frau macht mich süchtig!

Ich spüre, wie sie an meinen Lippen lächelt und sich dann von mir löst. Mit einem vielsagenden Grinsen im Gesicht sieht sie mich an.

»Wenn wir weiter so machen, müssen wir wohl oder übel nach Hause fahren.«

Mein Blick wandert nach unten auf die Beule in meiner Hose, die sich dort deutlich abzeichnet und die auch Mimi nicht entgangen ist.

»Ich denke nicht, dass wir es bis nach Hause schaffen werden«, sage ich wahrheitsgemäß, weil ich mich schon jetzt zusammenreißen muss, ihr nicht in aller Öffentlichkeit die Klamotten vom Leib zu reißen.

Mimi lacht wieder, doch ich ersticke ihr Lachen schnell mit einem innigen Kuss, der keine Zweifel mehr daran lässt, dass ich sie will. Ob hier oder im Auto oder von mir aus auch in diesem wackligen Boot, das ist mir total egal. Ich will sie einfach nur spüren und das Erlebte von neulich Nacht wiederholen.

Inzwischen frage ich mich, warum ich sie überhaupt auf diesen Ausflug und nicht gleich in mein Bett geschleppt habe. So genüsslich, wie sie unter mir aufstöhnt, jedes Mal, wenn meine Lippen ihren Mund oder ihren Hals berühren, hätte sie sicher nichts dagegen gehabt.

Meine Hand fährt unter ihr Shirt und streicht über ihre weiche Haut, was mir ein erwartungsvolles Seufzen entlockt. Ich weiß, dass wir es hier nicht tun können. Zu viele Zuschauer. Aber ich will uns die Zeit trotzdem schon mal ein wenig versüßen. Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude.

Mimi kommt mir entgegen und presst ihren Körper weiter an mich, so dass ich nun fast komplett auf ihr liege. Ihre Küsse sind wild und unnachgiebig, als wäre es ihr völlig egal, ob uns jemand sieht. Ihre Finger fahren ebenfalls unter mein Shirt und berühren meinen Bauch, was meine Haut bereits jetzt vor Erregung kribbeln lässt. Doch als sie tiefer geht und ihre zarten Finger in den Ansatz meiner Hose gleiten, werde ich noch härter und kann ein tiefes Stöhnen kaum noch unterdrücken.

Ich lasse von ihren Lippen ab und sehe sie ernst an. »Fuck! Du solltest das lieber lassen.«

Ihr Grinsen verrät mir, dass sie das definitiv anders sieht und ihre Hand rutscht ebenfalls weiter nach unten. Ich ziehe die Luft scharf ein und beiße mir auf die Unterlippe, als sie beginnt, ihre Hand um meine Härte zu schließen.

Oh mein Gott!

Schnell küsse ich sie wieder und drücke mich ihr noch näher entgegen, damit der Blick von außen auf das, was da unten gerade abgeht, verdeckt ist.

Ich stöhne leise und mein Atem geht immer schneller, als sie anfängt, ihre Hand zu bewegen und mich allein damit völlig um den Verstand bringt.

Doch gerade, als ich bereit bin, alle Zweifel über Bord zu werfen und sie von mir aus im nächsten Gebüsch zu vögeln, klingelt mein Handy in der Hosentasche und wir beide fahren erschrocken hoch.

Ein genervtes Stöhnen entfährt mir und ich lasse den Kopf sinken, während Mimi ihre Hand bereits viel zu schnell zurückgezogen hat.

»So ein Mist!«, fluche ich und krame nach dem elenden Teil in meiner Tasche, um es an den nächsten Baum zu werfen.

Aber als ich kurz einen Blick auf den Display werfe, gerät mein Herz ins Stocken.

Scheiße! Ausgerechnet jetzt? Was will sie denn?

Ich überlege, sie wegzudrücken, weil ich gerade echt Anderes im Kopf habe … oder eher in der Hose, doch dann denke ich daran, dass eventuell etwas nicht stimmen könnte. Warum sonst sollte Sora mich anrufen?

Meine Augen wandern zu Mimi, die mich bereits fragend ansieht.

»Ist es wichtig?«, fragt sie und ich zucke mit den Schultern.

»Könnte sein …«

»Dann solltest du besser rangehen.«

Ich drehe das Handy in meiner Hand um, so dass sie auf das Display sehen kann, das immer noch hell aufleuchtet.

Sie schluckt.

Im nächsten Moment drückt sie mich von sich runter und richtet sich auf. Sie fährt mit den Fingern über ihr zerknittertes Shirt, um es zu glätten, ehe sie sagt: »Du solltest da wirklich rangehen, Tai.«

Ich seufze, dann nicke ich jedoch und hebe ab.

»Sora. Was gibt’s?« Keine besonders nette Begrüßung, aber das ist nun mal der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, in dem sie anruft.

»Hallo Tai. Bist du beschäftigt?«, fragt sie überschwänglich.

Hä?

Sie klingt nicht so, als würde sie in Schwierigkeiten stecken. Gestresst fahre ich mir durchs Haar, während sich in meiner Hose bereits die Flaute ankündigt.

»Kann man so sagen.«

»Okay, ich brauche auch nicht lange. Ich wollte dich nur was fragen.«

Ich unterdrücke ein Stöhnen. Seit ihrem Geständnis, hatten wir keinen Kontakt mehr, weil ich ihr gesagt habe, dass ich erst einmal ein paar Dinge klären muss. Zum Beispiel die Sache mit Mimi. Deshalb hatte ich eigentlich erwartet, dass sie mir etwas mehr Zeit gibt.

»Schieß los«, sage ich ungeduldig, da ich dieses Gespräch so schnell wie möglich wieder beenden möchte und das nicht nur, weil gerade meine Freundin neben mir sitzt und es mir furchtbar unangenehm ist.

»Also, morgen ist der erste Ultraschalltermin beim Arzt und ich wollte dich fragen, ob du mitkommen möchtest. Dann könntest du das Baby sehen und hören, wie das Herz schlägt.«

Oh.

Gott.

Ich schlucke hart. Mit so einer Einladung habe ich nicht gerechnet.

»Tai? Bist du noch dran?«, fragt sie, als ich nichts darauf antworte, weil ich einfach noch zu geschockt bin. Ich meine, ja, sie hat mir gesagt, dass sie schwanger ist. Aber ich habe es noch nicht mit eigenen Augen gesehen. Das ist gerade eine völlig neue Stufe.

»Ähm, einen Moment«, sage ich und stehe auf, um ein Stück von der Decke wegzugehen. Obwohl ich Mimis irritierten Blick spüre, der mir folgt und sich an mich heftet, brauche ich gerade etwas Abstand, um dieses Gespräch zu führen.

»Ist das dein Ernst? Du willst, dass ich mitkomme?«, hake ich nun etwas leiser nach, als ich in sicherer Entfernung stehe.

»Klar, du bist schließlich der Vater des Kindes. Wieso solltest du nicht mitkommen?«

Da ist was dran.

Aber …

Es fühlt sich einfach so befremdlich an.

»Okay«, schlucke ich, gebe mir jedoch einen Ruck. Ich bin absolut noch nicht in dieser neuen Rolle angekommen und habe noch keinen blassen Schimmer, wie viel Verantwortung auf mich zukommt. Aber vielleicht hilft es mir ja dabei zu realisieren, was gerade passiert. »Ich komme mit.«

»Sehr schön. Dann morgen um 14.00 Uhr. Ich schicke dir die Adresse.«

»Ist gut.« Ohne mich zu verabschieden, lege ich auf. Ich bin völlig durch den Wind und meine Gedanken kreisen bereits jetzt um dieses Ereignis morgen. Wie es sich wohl anfühlen wird?

Ich verweile einen Moment zu lange an meinem Platz und starre auf mein Handy, während ich total vergessen habe, dass Mimi mich immer noch erwartungsvoll mustert.

Mit einem Räuspern kehre ich zu ihr zurück und setze mich neben sie.

»Was wollte Sora von dir?«, fragt sie mich ohne Umschweife, aber mit einer gewissen Kälte in der Stimme.

Ich wage einen Blick in Mimis Richtung und sehe sofort: der Zauber des Moments ist hinüber.

Scheiße!

Plötzlich ist da diese Distanz zwischen uns, die ich noch aus der Zeit kenne, in der ich mit Sora zusammen war.

»Sie, ähm …« Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll, dabei ist es total bescheuert. Es gibt einfach keine schonende Umschreibung für all das hier. »Sie will, dass ich morgen mit zum Ultraschalltermin komme und mir das Baby anschaue.«

Das Wort »Baby« ist für Mimi offenbar ein rotes Tuch, denn ich sehe deutlich, wie sie sich neben mir versteift. Ihr ganzer Körper spannt sich an und von der Leichtigkeit von eben, ist nichts mehr übrig.

»Und du hast ja gesagt?«

Ich nicke. »Ja, natürlich.«

Ein Schnauben kommt von Mimis Seite aus, gefolgt von einem Lachen und einem Kopfschütteln.

»Ja, natürlich«, wiederholt sie und steht auf.

»Was …?«, setze ich verwirrt an und stehe ebenfalls auf. »Hast du erwartet, dass ich nein zu ihr sage?«

Mimi wirft frustriert den Kopf in den Nacken. »Selbstverständlich nicht, Tai. Ich dachte nur … ach, keine Ahnung, was ich dachte. Dass du vorher mit mir darüber sprichst, wie das hier alles in Zukunft ablaufen wird. Ich meine, ich … ich habe überhaupt keine Ahnung, worauf ich mich hier einlasse.« Sie redet sich total in Rage und wirkt mit einem Mal so wütend. Oder eher verzweifelt.

»Denkst du, mir geht es anders?«, entgegne ich aufgebracht. »Ich habe selbst keine Ahnung, was da auf mich zukommt. Ich weiß nur, dass ich Verantwortung übernehmen muss. Aber ich habe auch eine Verantwortung dir gegenüber. Wie soll ich das unter einen Hut kriegen, wenn du immer noch permanent eifersüchtig auf Sora bist?«

Sofort möchte ich die Worte wieder zurück nehmen, als ich Mimis Gesicht sehe, wie sie mich ansieht. Aber zu spät.

»Oh, tut mir leid, wenn ich eifersüchtig bin. Es fällt mir nun mal nicht gerade leicht, dass du mit deiner Ex Freundin ein Kind bekommst. Mal ehrlich, Tai: wird es ab jetzt immer so laufen?«

»Wie denn?«

»Dass sie dich anruft, wenn wir beide zusammen sind? Dass sie immer im Hintergrund stehen wird und dich zu sich bestellt, wenn sie dich grad mal braucht? Wird sie immer die dritte Person in unserer Beziehung sein?«

Fassungslos starre ich sie an. Was hat sie erwartet? Ich kann Sora doch nicht einfach hängen lassen. Natürlich werde ich zukünftig immer und zu jeder Zeit für sie und das Baby da sein. Was soll ich denn sonst tun?

»Ich meine …«, macht Mimi weiter und greift sich dabei erhitzt an die Stirn. » … ist das Kind überhaupt von dir?«

Fast wäre mir bei dieser Frage ein Lachen entwichen, aber ich kann mich gerade noch so zurückhalten.

»Wie kommst du darauf, dass es nicht so ist? Wir waren zusammen!«

»Ja, na und?«

»Was, na und?«

»Und wenn sie mit einem anderen Kerl geschlafen hat? Du sagtest, ihr habt immer verhütet.«

Kopfschüttelnd wende ich mich von ihr ab, weil ich es nicht fassen kann, dass sie das wirklich denkt. Ich muss ein paar schwere Atemzüge nehmen, um mich wieder zu sammeln und um nicht völlig die Fassung zu verlieren. Ich kenne Sora, das würde sie nicht tun.

»Mimi, hör mal«, sage ich dann und mache einen versöhnlichen Schritt auf sie zu, doch sie verschränkt nur die Arme vor der Brust und sieht mich mit wütenden Augen an. »Ich wollte das eigentlich alles später mit dir besprechen, in Ruhe. Nicht so und nicht jetzt und ich will mich auch nicht mit dir streiten deswegen. Ich weiß ja, dass das alles nicht einfach für dich ist …«

Ein verächtliches Zischen kommt von ihr, aber das ignoriere ich an der Stelle einfach mal. Ich verstehe ja, dass sie aufgebracht ist.

» … aber würde es dir sehr schwer fallen, ein wenig mehr Verständnis für meine Situation zu zeigen und dich etwas zurückzunehmen? Wenn Sora mich anruft, geht es schließlich nicht um dich. Und glaub mir, ich habe genauso Schwierigkeiten wie du, mich mit der Situation abzufinden, aber ich kann es eben auch nicht mehr ändern. Ich kann dir nur versprechen, dass du mich nicht verlieren wirst. Das wird trotz allem niemals passieren, weil ich dich liebe!«

Mehrere Sekunden lang starrt sie mich einfach nur an und schluckt die Worte hinunter, die ich ihr eben so deutlich an den Kopf geworfen habe. Aber wie soll das zukünftig sonst ablaufen? Wird sie immer eifersüchtig sein, sobald mein Telefon klingelt? Sobald ich mich wegen des Babys mit Sora treffen muss? So langsam muss sie doch wissen, was ich für sie empfinde. Dafür kennt sie mich lange genug, um zu wissen, dass sie mir vertrauen kann.

Aber anscheinend tut sie es dennoch nicht und meine Worte dringen gerade auch nicht zu ihr durch, denn sie dreht sich um, schnappt ihre Tasche und geht.

»Hey, warte«, rufe ich ihr hinterher. »Was machst du da?«

Will sie jetzt einfach abhauen? Ohne auch nur einen Ton dazu zu sagen?

»Na, was wohl? Ich nehme mich zurück«, ruft sie mir entgegen. »Das wolltest du doch, oder? Es geht ja schließlich nicht um mich.«

Stöhnend werfe ich den Kopf in den Nacken. Scheiße, so war das doch gar nicht gemeint!

Ich möchte schreien.

War ja klar, dass sie wieder nur das gehört hat. Mein »Ich liebe dich« ist offenbar spurlos an ihr vorbei gegangen, genauso wie mein Versprechen an sie, dass sie mich nicht verlieren wird.

Na, super. Das war ja ein tolles Date.

Was soll ich denn jetzt nur mit ihr machen?

Tai

Ich kann nicht fassen, dass sie meine Anrufe ignoriert.

Schon gestern auf der Autofahrt nach Hause hat sie kein Wort mehr mit mir geredet. Ich habe sie zu Hause abgesetzt, sie hat die Tür hinter sich zugeknallt und mich stehen lassen - mal wieder.

Herrgott, ich bin so ein dummer Idiot!

Ich würde mich so gerne bei ihr entschuldigen, für das, was ich gesagt habe. Ich weiß, das kam irgendwie falsch rüber. Ich wollte ihr lediglich klarmachen, dass sie sich keine Sorgen um uns machen muss. Dass ich ganz sicher beides kann - Verantwortung für mein Kind übernehmen und mit ihr zusammen sein.

Aber Mimi ist immer noch eifersüchtig auf Sora, was ich ihr nicht verdenken kann.

Unsere Situation ist ungewöhnlich. Und schwierig.

Ich hätte nicht so hart zu ihr sein dürfen. Manchmal rede ich einfach, ohne vorher nachzudenken. Ich war aufgebracht, genau wie sie. Aber ich hätte mir die Zeit nehmen sollen, in Ruhe mit ihr darüber zu sprechen. Stattdessen fahre ich sie an, sie soll sich zurück nehmen. Bin ich eigentlich komplett bescheuert?

Ich seufze und schicke ihr noch eine Nachricht.
 

»Mimi, es tut mir leid. Können wir bitte noch mal zurückspulen und in Ruhe über alles sprechen? Bitte ruf mich an!«

Ich überlege, beiße mir kurz auf die Unterlippe und schicke noch ein »Bitte! Ich liebe dich!« hinterher.

Merkt man eigentlich, dass ich verzweifelt bin?
 

»Tai, hallo? Jemand zu Hause?« Soras Stimme rüttelt mich unsanft wach. Ich hebe den Kopf und richte meinen Blick endlich auf sie, anstatt auf mein schweigendes Telefon.

»Hm?«, mache ich nur und sie seufzt.

»Der Arzt hat gesagt, wir können jetzt rein kommen«, verkündet sie mir.

Der Arzt war hier und hat mit uns gesprochen? Das habe ich völlig ausgeblendet.

»Du bist die ganze Zeit nur an deinem Handy. Hast du überhaupt Lust hier zu sein?«, fragt sie mich und ich höre sofort, wie sauer sie ist, weil ich sie bisher kaum beachtet und mir ihr geredet habe.

Ich sehe kurz auf die Uhr. Man, wir sitzen seit einer Stunde hier im Wartezimmer? Selbst die Zeit geht gerade spurlos an mir vorbei.

»Tut mir leid«, gestehe ich und stecke das Handy weg. »Ich war abgelenkt.«

»Das habe ich gemerkt.« Immer noch angefressen steht sie auf und geht vor, ins Behandlungszimmer. Wortlos folge ich ihr und setze mich auf den freien Stuhl für Gäste, während Sora auf einer Liege Platz nimmt. Der Arzt erklärt ihr noch einige Dinge und die beiden reden miteinander, aber ich höre nicht wirklich hin.

Meine Gedanken kreisen die ganze Zeit um Mimi.

Selbst, als die Untersuchung beginnt, bin ich nicht wirklich bei der Sache.

Ich kann mich kaum konzentrieren und während Sora immer wieder erstaunte Laute von sich gibt und total begeistert zu sein scheint, sitze ich schweigend wie ein Trottel daneben.

Ich weiß, das Ganze müsste mich mehr interessieren, aber tut es gerade nicht. Ich bin mit meinen Gedanken und meinem Herzen einfach gerade ganz woanders. Bis Sora plötzlich meine Hand ergreift.

»Tai, hör doch!«

Überrascht sehe ich auf, weil mir in dem Moment klar wird, was sie mir zeigen will.

Wir hören das Herz des Babys schlagen.

Ein Schauer durchfährt mich. Ich bin wie gebannt von diesem Geräusch und hätte nicht gedacht, dass es mich so umhauen würde. Auch wenn ich es mir nicht anmerken lasse.

Es ist einmalig und definitiv ein Wunder, was hier gerade passiert. Aber es ist auch beängstigend. Denn nun ist es sicher: es gibt kein Zurück mehr.

Ich kann nicht mehr als nicken und Sora ein zaghaftes Lächeln schenken. Selbst, wenn ich nicht gerade ständig an Mimi denken würde, wäre das alles etwas zu viel für mich.

Mimi …

Ob sie schon geantwortet oder versucht hat, mich anzurufen?

Unauffällig ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und werfe einen Blick darauf.

Kein Anruf. Keine Nachricht.

Verdammt.

Und als ich dann auch noch Soras prüfenden Blick auf mir spüre, stecke ich es schnell wieder weg. Sie entzieht mir ihre Hand und sieht mich vorwurfsvoll an. Dann wendet sie sich wieder dem Doktor zu und sie reden.

Wieder höre ich nicht hin.

Scheiße! Ich habe ehrlich keine Ahnung, was ich machen soll, wenn Mimi mir nicht vergibt. Wenn sie inzwischen beschlossen hat, sich diese Situation nicht weiter anzutun. So langsam beschleicht mich die Angst, dass sie mit mir Schluss machen könnte. Gott, das wäre das Schlimmste für mich. Das würde ich nicht ertragen.

»Entschuldigung?«

Ertappt sehe ich auf.

Sora und der Arzt sehen mich beide erwartungsvoll an.

»Äh, ja?«

»Ich wollte nur wissen, ob Sie noch irgendwelche Fragen haben?«

Ähm …

Schnell schüttle ich den Kopf. »Nein, keine weiteren Fragen.«

»Gut, dann wären wir hier fertig«, sagt der Arzt und wirkt nun ebenfalls etwas irritiert von meinem Verhalten.

Ich nicke schnell und verbeuge mich, um nicht komplett unhöflich rüber zu kommen. »Danke, für Ihre Zeit.«

Sora und ich verlassen das Behandlungszimmer und während Sora sich an der Anmeldung ihren nächsten Termin holen geht, warte ich vor der Tür und schaue erneut auf mein Handy.

Wieder nichts.

Ich werde noch wahnsinnig! Diese Ungewissheit bringt mich um.

»Hey, bist du fertig?«, höre ich Sora sagen, die plötzlich neben mir steht.

Ich nicke und begleite sie zu ihrem Wagen. Sie öffnet ihn und will schon einsteigen, als ich doch noch mal sage: »Äh danke, dass ich mitkommen durfte. Es war ziemlich aufregend.«

Sofort kommt ein Zischen von ihr und sie dreht sich zu mir um. »Ist das dein Ernst?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ja, natürlich.«

»Tai, ich bitte dich«, meint sie und zeigt vorwurfsvoll auf meine Hosentasche. »Du warst doch gar nicht richtig da. Du hast alle zwei Minuten wie ein Wahnsinniger auf dein Handy geschaut und mich dabei völlig ignoriert.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und das schlechte Gewissen überkommt mich, weil sie definitiv recht hat. Ich hätte wirklich etwas mehr Interesse zeigen können.

»Tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein«, erwidere ich, doch Sora verschränkt die Arme vor der Brust.

»Warst du aber. Ich verstehe nicht, warum du überhaupt mitgekommen bist. Du wärst ganz offensichtlich gerade viel lieber woanders gewesen.«

Auch das kann ich nicht leugnen und tue ich auch nicht. Um sie anzulügen oder ihr was vorzuspielen fehlt mir definitiv die Motivation.

Sora seufzt, als ich nichts darauf antworte. »Geht es um Mimi?«

Keine Ahnung, was ich darauf sagen soll, denn es geht sie eigentlich nichts an und ich will auf keinen Fall über meine Beziehungsprobleme mit ihr reden.

»Tai, mal ehrlich: wie stellst du dir das vor?«

Irritiert sehe ich sie an. »Wie stelle ich mir was vor?«

»Wie willst du das hinkriegen? Du willst doch für mich und das Kind da sein, oder habe ich da was falsch verstanden?«

Wie kommt sie denn jetzt darauf?

»Ja, das habe ich dir doch von Anfang an gesagt. Ich bin kein Typ, der einfach abhaut und dich sitzen lässt. Ich stehe zu meinen Fehlern.«

Als ich das Wort »Fehler« in den Mund nehme, zuckt Sora kurz zusammen und auch ich merke, dass das blöd formuliert war. Aber sie überspielt es gekonnt und lässt sich nichts weiter anmerken.

»Aber du willst auch mit Mimi zusammen sein«, stellt sie nüchtern fest.

Was soll diese Frage?

»Das will ich und das weißt du«, sage ich mit Nachdruck. Ich habe wirklich keine Lust darauf, dass sie sich wieder Hoffnungen macht, dass das mit uns noch mal was werden könnte. Das war ein Abenteuer, das längst vorbei war, bevor es richtig begonnen hatte. Mein Herz gehört Mimi.

Sora seufzt frustriert auf. »Das geht nicht.«

»Was geht nicht?«, hake ich nach. Warum redet sie nicht Klartext?

»Du kannst nicht beides haben.«

Schockiert sehe ich sie an. »Wie kommst du darauf? Was soll diese Aussage?«

»Bist du wirklich so naiv, Tai?«, meint Sora fast schon belustigt und ich werde sauer. Wie kommt sie dazu, mir so etwas zu sagen?

»Du kannst nicht mit Mimi zusammen sein und gleichzeitig den Daddy spielen, für das Kind, das du mit deiner Ex-Freundin hast«, stellt Sora nüchtern fest, als wäre es eine Tatsache. »Ich nehme an, ihr habt euch deswegen gestritten. Ich kann verstehen, wenn Mimi jetzt eifersüchtig ist. Wäre ich an ihrer Stelle auch.«

Ich presse meine Kiefer aufeinander, weil sie hier definitiv zu weit geht.

»Du bist aber nicht an ihrer Stelle.«

»Richtig«, nickt Sora, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt und sieht mich aus kühlen Augen heraus an. »Aber ich stehe auf der anderen Seite, Tai. Und ich sage dir hiermit klipp und klar, dass ich das nicht will. Ich kann und will so eine Situation nicht.«

Allmählich reißt mir der Geduldsfaden. »Was meinst du damit, Sora? Drück dich bitte etwas klarer aus.«

Sie macht einen Schritt auf mich zu. »Ich meine damit, dass ich keine Lust habe, die dritte Person in eurer Beziehung zu spielen, die nur am Rand steht und für die du gelegentlich mal Zeit hast, wenn du es einrichten kannst. Und für dein Kind will ich das auch nicht. Ich will einen Vater, der zu 100% für uns da ist und sich um uns kümmert. Ich kann es mir nicht leisten, mich mit halben Sachen zufrieden zu geben.«

Ihre Worte sind ziemlich hart und treffen genau meinen Nerv.

So hat sie sich das vorgestellt? Ist das ihr Ernst?

»Und was willst du jetzt von mir?«, frage ich und balle die Hände zu Fäusten, weil ich die Antwort bereits kenne.

Unnachgiebig sieht sie zu mir auf. »Ich will, dass du das mit Mimi beendest und stattdessen für uns da bist.«

»Vergiss es!«, kommt es mir, ohne darüber nachzudenken, doch Sora lässt nicht locker.

»Alles andere wird nicht funktionieren, Tai. Nicht auf Dauer und nicht für mich. Ich werde definitiv nicht nur die zweite Geige spielen und dein Kind auch nicht. Entweder du entscheidest dich für uns oder gegen uns.«

Fassungslos und wütend sehe ich sie an.

»Du denkst ernsthaft, du könntest das von mir verlangen?«

Sora zieht eine Augenbraue in die Höhe und zuckt mit den Schultern, als wäre es gar keine große Sache.

»Nein, kann ich nicht. Aber ich muss tun, was das Beste für mich und mein Kind ist.«

Ein schiefes Lachen entfährt mir und ich fahre mir durch die Haare.

»Das ist verrückt, Sora.«

Total verrückt! Ich glaube, die neuen Schwangerschaftshormone haben ihr den Verstand vernebelt. Wenn sie denkt, ich würde Mimi für sie verlassen, dann täuscht sie sich gewaltig in mir. Und dann zeigt das auch, dass sie mich bisher kein Stück gekannt hat. So etwas würde ich Mimi niemals antun.

»Ich werde Mimi nicht verlassen, auf keinen Fall«, sage ich mit fester Stimme. »Das ist mein Ernst. Du kannst mich nicht vor die Wahl stellen. Ich habe gesagt, ich wähle euch beide und ich kann für beides Verantwortung übernehmen. Mimi ist meine Zukunft und unser Kind ist es auch. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich mich für eins von beiden entscheide.«

Entschlossen sehe ich sie an. Meine Entscheidung steht. Mimi oder das Kind? Nein, nie im Leben. Das mache ich nicht mit.

Soras Blick ist so eisern wie meiner und ich kenne sie zu gut, um zu wissen, dass sie nicht nachgeben wird. Aber dieses Risiko muss ich eingehen.

»Na schön«, erwidert sie schließlich, jedoch deutlich unzufrieden. Dann wendet sie sich ab und öffnet die Tür ihres Wagens.

»Was soll das heißen, na schön?« Wie ein Idiot stehe ich da, während sie denkt, mich nach dieser Ansage einfach stehen lassen zu können.

Sie lehnt sich mit den Unterarmen auf die Innenseite ihrer Fahrertür und sieht mich an.

»Ich denke, ich hab mich deutlich ausgedrückt. Was du nun tust, ist deine Entscheidung, Taichi.« Mit diesen Worten steigt sie ein und startet den Motor, nur um in der nächsten Sekunde an mir vorbei zu fahren.

Auch ich mache mich auf den Weg zu meinem Auto - unfassbar sauer!

Was denkt sie sich nur dabei? Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nur eine Kurzschlussreaktion war, weil sie genauso eifersüchtig ist wie Mimi. Ich weiß sehr wohl, dass sie noch Gefühle für mich hat. Aber deshalb hat sie noch lange nicht das Recht, mir so ein Ultimatum zu stellen.

Allerdings … wenn ich daran denke, dass das ab jetzt immer so sein wird, wird mir ganz schlecht. Zwei eifersüchtige Frauen, die beide im Mittelpunkt meines Lebens stehen wollen? Großartig!

Aber ich weiß, mit der Zeit würde ich auch das irgendwie hinbekommen. Man wächst schließlich mit seinen Aufgaben. Ich will mein Kind nicht im Stich lassen, auf keinen Fall. Ich will es aufwachsen sehen, wie jeder andere Vater sein Kind aufwachsen sieht. Aber ich will trotzdem die Frau an meiner Seite haben, die ich auserwählt habe und für die mein Herz schlägt. Wie, um alles in der Welt, sollte ich mich für eins von beiden entscheiden, ohne dabei ein großes Stück von mir selbst aufzugeben?

Trotzdem stehe ich zu meinen Worten. Ich lasse mich nicht erpressen.

Mimi zu verlassen kommt nicht in Frage!

Mimi

Ich weiß, dass ich eigentlich noch nicht bereit bin, Tai wiederzusehen.

Nachdem unser letztes Treffen nicht sonderlich rosig ausgegangen ist, habe ich viel nachgedacht. Es hat mich einfach so verletzt, was er gesagt hat und ich denke, er weiß das auch. Sonst hätte er nicht in den letzten 24 Stunden mehrmals versucht, mich zu erreichen.

Vor ein paar Minuten kam wieder eine Nachricht von ihm:
 

»Egal, was gestern war. Wir MÜSSEN uns sehen!!!«
 

Das klang ziemlich ernst.

Und ja, mir ist klar, dass ich dieser Unterhaltung nicht ewig aus dem Weg gehen kann. Aber meine Wut und Enttäuschung sind noch nicht verpufft und ich habe Angst etwas zu sagen, dass ich später bereuen könnte. Trotzdem habe ich ihm geantwortet, dass ich zu Hause bin und er vorbei kommen kann.

Mir dreht sich der Magen um, bei dem Gedanken daran, was er mir zu sagen hat. Was ich ihm sagen möchte, weiß ich leider immer noch nicht. Ich weiß nur, dass mich diese Situation fertig macht - jetzt schon.

Das Baby ist noch nicht mal auf der Welt, aber wenn ich mir nur vorstelle, wie sehr es unsere Beziehung beeinflussen wird, würde ich am liebsten weinen. Außerdem bin ich mir mehr als sicher, dass Sora immer noch Gefühle für Tai hat, was es nicht einfacher macht.

Die beiden werden viel Zeit miteinander verbringen, sobald das Baby auf der Welt ist. Sie werden sich gemeinsam darum kümmern, wenn es krank ist oder nachts weint und nicht schlafen kann. Sie werden es gemeinsam lieben und sich immer gemeinsam Sorgen um es machen.

Keiner kann mir erzählen, dass so etwas nicht verbindet.

Aber wo bin ich in dieser ganzen Zeit? Was ist mit mir?

Liege ich nachts alleine in meinem Bett, weil Sora nächtelang Hilfe mit dem Baby braucht? Werde ich überhaupt mit einbezogen? Will ich das überhaupt oder würde es zu sehr schmerzen?

Ich weiß einfach keine Antwort auf all die Fragen und ich bin mir ziemlich sicher, dass Tai sie auch nicht weiß. Niemand kann so weit in die Zukunft blicken.

Die Frage ist nur: wollen wir es riskieren? Oder schieben wir damit das Unvermeidbare nur noch weiter auf?

Oh, man. Ich kann einfach nicht mehr klar denken.

Wie eine Verrückte gehe ich in meiner kleinen Wohnung auf und ab. Mein Herz beginnt wie wild zu rasen, als es an der Tür klingelt. Ich beiße mir auf den Finger, um mich wieder zu fangen, atme noch mal tief durch und gehe dann Tai die Tür öffnen.

Ich will ihn gerade begrüßen, da drängt er mich auch schon zurück in die Wohnung und schlägt die Tür hinter sich zu. Ich weiche automatisch ein paar Schritte zurück, doch er packt mich einfach nur und zieht mich an sich. So fest, dass ich kaum noch Luft bekomme.

»Tai«, krächze ich an seiner Brust. »Du erdrückst mich.«

Aber er lässt mich einfach nicht los. Stattdessen lockert er seine Umarmung etwas und vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge.

»Mimi«, haucht er. Das ist alles, was er sagt. Er sagt einfach nur meinen Namen und dennoch kann ich spüren, wie sehr es ihm leid tut.

Ich gebe mir einen Ruck und schlinge meine Arme um seinen Körper. Ich kann gar nicht sagen, wie gut mir seine Nähe tut, auch wenn es genau das ist, wovor ich solche Angst hatte. Aber immer, wenn er mir so nah ist, habe ich das Gefühl, dass doch noch alles gut werden könnte. Vielleicht, weil ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgeben will.

Leider verschwindet dieses Gefühl sofort wieder, als er den Kopf hebt und mich aus traurigen Augen ansieht.

»Was ist los?«, frage ich irritiert, weil ich die Vermutung habe, dass sein Zustand gerade nichts mit Gestern zu tun hat.

Augenblicklich verändert sich sein Gesicht und die Trauer verwandelt sich in Wut. Er lässt mich los und geht an mir vorbei ins Wohnzimmer.

Was ist denn nun los?

»Ich kann nicht fassen, dass sie das getan hat«, fängt er an zu schimpfen, während ich ihm folge und nur Bahnhof verstehe.

»Wer?«, frage ich irritiert.

»Sora!«

Ach, klar. Wer denn sonst?

»Was ist passiert?«

»Was passiert ist?«, meint Tai und beginnt rum zu wüten, weil er mit einem Mal völlig außer sich ist. »Sie hat mir ein Ultimatum gestellt.«

»Was für ein Ultimatum?« Ich versuche, auf ihn zuzugehen, aber Tai ist wie ein rastloser Tiger. Fahrig fährt er sich durch die eh schon wilden Haare und sieht mich verärgert an.

»Wir waren vorhin zusammen beim Arzt, um das Baby zu sehen.«

Mein Herz zieht sich zusammen. Ja, das habe ich nicht vergessen.

»Und naja, ich war … ich war etwas abgelenkt und nicht ganz bei der Sache. Plötzlich wirft sie mir vor, ich könnte niemals alles unter einen Hut bekommen. Dass das nicht funktionieren würde - sie, das Baby und du.«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe, halte aber vorerst meine Klappe. Ich kann nicht ganz abstreiten, dass mich solche Zweifel ebenfalls plagen.

»Sie hat gesagt, sie will das so nicht und dass ich mich entscheiden müsste. Du oder sie und das Kind.«

Okay.

WAS?

Ich reiße die Augen auf, um ihn fassungslos anzustarren. Das hat sie nicht wirklich gesagt.

»Ja, genauso habe ich auch geguckt«, meint Tai dann tonlos und scheint sich wieder etwas zu fangen, jetzt, nachdem es raus ist. Ich allerdings stehe immer noch unter Schock.

»Aber … aber …«, stammle ich. »Wie kommt sie dazu, dich vor so eine Entscheidung zu stellen?«

»Richtig. Sie kann mich nicht zu so einer Entscheidung zwingen. Wenn sie denkt, ich mache dieses Spielchen mit, dann irrt sie sich.«

Ich weiß ehrlich nicht, was ich dazu sagen soll, außer …

»Was hast du ihr geantwortet?« Das leise Gefühl der Angst schleicht sich in meinen Bauch. Ich bereue diese Frage jetzt schon.

»Was wohl?«, entgegnet Tai, als läge das doch auf der Hand. »Ich habe gesagt, dass ich mich auf keinen Fall von dir trennen werde.«

Ich beiße mir schmerzlich auf die Unterlippe. Das hat er gesagt?

Tai macht einige Schritte auf mich zu und packt mich an den Schultern. Ich sehe zu ihm auf.

»Niemals Mimi, hörst du? Ich habe dir gesagt, ich würde mich immer wieder für uns entscheiden und dazu stehe ich. Ich will dich nicht verlassen. Mal ganz davon abgesehen, dass ich es nicht könnte.«

Aber dein Kind im Stich lassen kannst du?

Nein, Tai. Ich kenne dich besser.

Ich wische seine Hände beiseite und gehe an ihm vorbei. Ich muss nachdenken …

»Ich meine es Ernst, Mimi«, sagt Tai immer noch deutlich aufgebracht. »Ich werde mich nicht erpressen lassen und wenn das eben bedeutet, dass ich … dass ich …«

»Siehst du«, werfe ich aufgebracht ein und wirble zu ihm herum. »Du bringst es ja nicht mal übers Herz es auszusprechen. Ich kenne dich, Tai. Und ich weiß, dass du dein Kind niemals allein aufwachsen lassen würdest. So bist du nun mal nicht.« Ich lege eine Hand an meine Brust, weil auch ich den Schmerz spüre, der gerade in ihm tobt. Ich sehe es in seinen Augen. Er sagt zwar, er würde mich niemals verlassen. Aber ich sehe genau, wie ihn dieser Zwiespalt innerlich zerreißt.

»Tai, du kannst nicht zulassen, dass Sora dich nicht in das Leben dieses Kindes lässt.« Ich lasse mich mit dem Rücken gegen die Wand sinken und setze mich mit angezogenen Beinen auf den Boden. Wie kann Tai das nicht sehen wollen?

»Tut mir leid, ich bin gerade ziemlich durcheinander«, gestehe ich seufzend. Das hier überfordert mich.

Ich höre Tai schnauben, wenige Sekunden später setzt er sich neben mich.

Wir schweigen beide eine ganze Weile, starren ins Leere. Ich schlinge die Arme um meine Beine, während die Stille zwischen uns so erdrückend ist, dass sich mein Herz zusammenkrampft.

Tai ist der Erste, der wieder das Wort ergreift.

»Was willst du mir damit sagen, Mimi?«

Die Angst schwingt in dieser Frage mit und auch meine Stimme zittert, als ich es ausspreche.

»Ich habe viel über uns nachgedacht«, sage ich leise. »Ich will damit sagen, dass ich Sora verstehen kann. Zumindest etwas.«

Sein Kopf fährt zu mir herum. »Was?«

Traurig sehe ich ihn an. »Ich finde es schrecklich, dass sie dich vor diese Entscheidung stellt und es ist alles andere als fair. Das hast du nicht verdient. Aber in einem Punkt hat sie recht: das wird nicht funktionieren.«

Bestürzt und sprachlos zugleich starrt er mich an, aber ich nehme die Worte nicht zurück.

»Und wenn du mal ehrlich zu dir selbst bist, weißt du das auch«, sage ich. Meine Augen werden feucht und ich kämpfe mit den Tränen, während Tai den Mund öffnet.

»Was redest du da?«, fragt er leise. »Wieso sollte es nicht funktionieren?«

Ein gequältes Lachen verlässt meine Kehle, die sich allmählich immer weiter zuschnürt.

»Du wirst es nicht allen recht machen können, Tai. Ich werde viel zurückstecken. Vermutlich mehr als ich ertragen kann. Sora hat immer noch Gefühle für dich und ich werde die ganze Zeit über Angst haben, dass dieses Kind euch wieder zusammenführt.«

Sofort greift Tai nach meiner Hand und drückt sie fest, doch ich entziehe sie ihm gleich wieder. Wenn er mich noch ein mal berührt, heule ich auf der Stelle los und dann bringe ich es nie fertig, die folgenden Sätze auszusprechen.

»Außerdem … « Ich schlucke schwer. » … Ich könnte niemals von dir erwarten, dass du dich für mich entscheidest, wenn auf der anderen Seite etwas so viel Wichtigeres steht. Du willst dich für mich und gegen dein Kind entscheiden? Wie soll ich damit leben? Das kannst du nicht von mir verlangen.«

Meine Augen brennen vor Schmerz, als ich Tais mutloses Gesicht sehe. Nun rollt mir doch eine Träne über die Wange. Er weiß, dass ich recht habe. Er will es nur nicht wahrhaben.

Schnell wische ich sie mit dem Handrücken weg, als Tai sich von mir abwendet.

»Warum glaubt eigentlich jeder über mein Leben bestimmen zu können?«, murmelt er vor sich hin.

»Was?«

»Du bist nicht besser als Sora«, sagt er und ballt die Hände zu Fäusten. »Sora denkt, sie kann mich vor die Wahl stellen. Mich zwingen, eine Entscheidung zu treffen. Und du denkst, du müsstest mir diese Entscheidung abnehmen. Ihr beide tut, als hätte ich in der ganzen Sache gar nichts zu melden.«

»Tai …«, wispere ich und will ihn berühren, doch er wendet sich von mir ab und steht auf.

»Was willst du mir damit sagen, Mimi? Sprich es endlich aus. Willst du Schluss machen? Ist es das, was du willst?«

»Ich will, dass du nicht die falsche Entscheidung triffst«, antworte ich verzweifelt. Wieso versteht er das denn nicht?

»Und wieso darf ich nicht selbst entscheiden, was das Richtige ist?« Tai schreit die Worte förmlich heraus und ich zucke zusammen. So wütend und verzweifelt habe ich ihn noch nie gesehen.

»Verdammt, ich will doch nur das Beste für dich«, antworte ich und stehe auf, während mir nun doch Tränen über die Wange laufen.

»Du warst das Beste für mich, Mimi.« Tai sagt diese Worte, als würden sie ihm körperliche Qualen bereiten. Er sieht mich nicht einmal an, als würde er meinen Anblick nicht mehr ertragen können.

Ich will gerade den Mund öffnen und etwas darauf erwidern.

Ihm sagen, dass er mir genauso viel bedeutet, aber dass er tun muss, was für sein Kind am besten ist.

Ich will ihm sagen, dass ich nur im Weg stehen würde. Dass er sich niemals für mich entscheiden könnte, ohne es früher oder später zu bereuen.

Ich will ihm sagen, dass ich ihn liebe.

Aber ich schließe meinen Mund wieder, ohne auch nur einen dieser Sätze auszusprechen.

Es würde alles nur noch schlimmer machen.

Tai hat immer noch die Hände zu Fäusten geballt, unfassbare Wut zeichnet sich in seinem Gesicht ab. Er ist enttäuscht von mir. Ich weiß, dass er es momentan noch nicht versteht. Aber das wird er. Spätestens wenn er sein Kind in den Armen hält, wird er einsehen, dass es so das Beste für uns alle ist. Auch wenn es unglaublich weh tut.

»Weißt du was?«, meint er dann plötzlich, als ich nichts mehr zu alledem sage. »Vergiss einfach alles, was ich gesagt habe. Wir machen es so, wie du willst.«

Dann dreht er sich um und geht, ohne mir auch nur einen letzten Blick zu schenken. Als die Tür ins Schloss fällt, sinke ich erneut zu Boden, während ich ein lautes Aufschluchzen nicht länger unterdrücken kann und meinen Schmerz nun endlich raus lasse. Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen, aber das hält die Tränen auch nicht mehr zurück.

Es tut so weh, ihm das Herz zu brechen, fast noch mehr, als meines zu brechen. Es ist das Schlimmste, was ich je getan habe. Was ich je tun musste.

Aber wie sagt man so schön: lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Ich hoffe nur, dass ich die richtige Entscheidung für uns beide getroffen habe. Und dass Tai mir das irgendwann vergeben kann …

Mimi

Ohne Tai an meiner Seite fühle ich mich einfach nur schrecklich. Am meisten schmerzt jedoch, dass es unsere Freundschaft so hart getroffen hat. Das, was ich nie wollte und vor dem ich immer Angst hatte. Es war auch das, was Tai am meisten gefürchtet hatte - dass wir unsere Freundschaft gefährden, wenn wir uns unsere Zuneigung gestehen. Aber nun ist es doch passiert.

Nun hat diese kurze Liebe, die wir füreinander empfanden, doch letztendlich dazu geführt, dass wir unsere Freundschaft aufgeben. Das ist das Schlimmste daran. Tai fehlt mir auf so vielen verschiedenen Ebenen, dass es an körperlichen Schmerz grenzt. Wie oft nehme ich mein Telefon und will ihn anrufen, weil wieder irgendetwas passiert ist, was ich ihm unbedingt erzählen muss, halte mich aber im letzten Moment zurück.

Dann weine ich - jedes Mal. Tai hat eine Leere in meinem Leben hinterlassen, von der ich nicht weiß, wie ich sie je wieder füllen soll.

Hätten wir das alles verhindern können, wenn wir uns unsere Gefühle nicht gestanden hätten? Wären wir dann immer noch Freunde?

Diese Frage quält mich am meisten.

Haben wir irgendetwas falsch gemacht? Oder sollte es einfach so sein?

Seit zwei Wochen vergrabe ich mich nun schon zu Hause und schirme mich völlig von der Außenwelt ab. Ich versank in einer Art Kurzzeit-Depression und durchlief zumindest die ersten beiden Phasen der Trauer - Verleugnung und Schmerz. Im Café habe ich mich krankgemeldet. Ich sagte ihnen, ich hätte einen Virus. Was ich wirklich habe, ist ein gebrochenes Herz. Nur kann ich diese Scharade nicht noch länger aufrecht erhalten. Mir ist sehr wohl bewusst, dass, je länger ich weglaufe, es umso schwieriger werden wird, in die Normalität zurückzufinden.

Also ziehe ich mich heute das aller erste Mal wieder richtig an und gehe zur Arbeit. Ein Kollege ist krank geworden und sie fragten mich, ob ich gesund genug sei, um einspringen zu können. Und das tue ich gerade - ich gehe zur Arbeit und lebe mein stinknormales Leben, wie vorher auch. Nur ohne Tai.

Vielleicht wird mich die Arbeit ja auch etwas von meinen Problemen ablenken.

Die ersten Stunden verlaufen gut und ohne besondere Vorkommnisse. Ich bin wie immer freundlich, den Kunden gegenüber und erledige einfach meinen Job. Bis ich den Kopf hebe, nachdem ich gerade einen der Tische abgewischt habe, aus dem Fenster sehe und unfreiwillig in zwei vertraute Augenpaare schaue.

»Oh, Mist«, entfährt es mir, ehe ich es verhindern kann.

Tai, Sora und ich sehen uns an, als wären wir drei gerade unwissend auf einen fremden Planeten gelandet. Und irgendwie fühlt es sich auch so an.

Sofort wirft Sora einen Blick zu Tai, der mich wie gebannt anstarrt, als wäre ich ein Geist. Ich kann es nicht fassen, dass er wirklich hier aufgetaucht ist - mit ihr! Er weiß doch ganz genau, dass ich hier arbeite. Was soll das?

Ich warte gar nicht erst auf eine Reaktion der Beiden, sondern wende mich stattdessen schnell ab, gehe zurück hinter den Tresen und hoffe inständig, dass sie nicht auch noch auf die Idee kommen, ihren Kaffee hier zu trinken.

Doch da habe ich mich natürlich zu früh gefreut, denn wenige Sekunden später betritt Tai den Laden - alleine.

Abrupt schnappe ich mir erneut den Wischlappen und gehe schnurstracks zu irgendeinen Tisch. Es gibt gerade nichts sauber zu machen, aber das ist mir egal, ich wische trotzdem wie eine irre gleich über mehrere Tische, nur, um nicht mit ihm reden zu müssen. Allerdings fällt es mir schwer, seine Anwesenheit zu ignorieren.

Tai verfolgt mich mit seinen Augen, was mir richtig unangenehm ist. Ich traue mich gar nicht, ihn anzusehen.

Trotzdem geht er mir hinterher, als ich fertig bin und stellt sich vor den Tresen.

»Hey«, sagt er etwas kleinlaut, doch ich ziehe nur eine Augenbraue in die Höhe, während ich versuche, keinen Blickkontakt aufzunehmen. Weder mit ihm, noch mit Sora, die immer noch wie ein Pudel vor der Scheibe steht und ihn bewacht. Als müsste sie aufpassen, dass er nicht gleich über mich herfällt.

»Ich dachte, du wärst krank«, sagt Tai tonlos.

Jetzt sehe ich doch zu ihm auf. Krank? Woher weiß er davon? Hat er sich nach mir erkundigt?

Ich rümpfe die Nase. »Ist mein erster Tag heute, bin für einen Kollegen eingesprungen.«

Mir entgeht nicht, wie Sora uns nervöse Blicke zuwirft, während sie eine Hand auf ihren Bauch legt. Mein Herz zieht sich schmerzvoll zusammen und ich schlucke hart.

»Was kann ich dir bringen?«, frage ich nun ganz professionell. Ich will einfach nur, dass die beiden so schnell wie möglich wieder gehen.

Tai bestellt zwei Kaffee, die ich in Windeseile fertig mache.

»Hier, bitte schön.« Lustlos schiebe ich ihm die Becher über den Tresen. »Und das nächste Mal wäre ich dir dankbar, wenn du deinen Kaffee woanders holen würdest. Es sei denn, du willst mich quälen.«

Unsere Blicke treffen aufeinander.

Meiner: wütend.

Seiner: irgendwas zwischen Verwunderung und Ratlosigkeit.

Warum bin ich so sauer?

Verleugnung und Schmerz kenne ich bereits. Die Wut ist neu.

In dem Augenblick, als ich die Worte ausspreche, kommt Sora doch allen Ernstes durch die Eingangstür und direkt auf uns zu.

Ich starre sie an. Die hat vielleicht Nerven.

Ich muss mir ernsthaft auf die Zunge beißen, um nicht irgendeinen fiesen Kommentar loszuwerden. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich Soras Meinung irgendwie verstehen kann, aber dass sie Tai mit dem Kind erpresst hat, war eine absolut linke Nummer. Und noch viel schlimmer ist, dass Tai sie mit hierher schleppt, als wären wir drei immer noch ganz normale Freunde. Was soll dieser Mist?

»Bist du hier fertig?«

Wie bitte? Darf ich jetzt noch nicht mal mehr mit Tai reden?

»Wenn es dir nicht passt, mich zu sehen, dann komm doch nicht hier her«, werfe ich spitz ein und mache mir gar nicht erst die Mühe, meine Feindseligkeit zu unterdrücken. Unfassbar, dass wir mal Freunde waren. Aber das ist nun vorbei. Daher muss ich mir auch keine Mühe geben, nett zu ihr zu sein oder irgendetwas vorzuheucheln. Auch nicht, wenn ich hier gerade bei der Arbeit bin.

Sora, die bis eben nur Tai angesehen hat, wendet nun den Kopf in meine Richtung und mustert mich mit argwöhnischem Blick. Ihre Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen. Sie öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich lasse sie gar nicht erst zu Wort kommen, sondern stütze mich stattdessen auf dem Tresen ab und lehne mich ihr entgegen.

»Was bildest du dir eigentlich ein, Sora?«, fahre ich sie an, weil mich plötzlich die Wut packt. Ich wollte mich eigentlich aus dieser Sache raushalten, aber jetzt, wo sie so feindselig vor mir steht, kann ich meine Klappe nicht halten. »Wie kannst du es wagen, Tai mit so einer Forderung zu erpressen? Meinst du ernsthaft, du bekommst ihn dadurch zurück? Das ist doch unter deiner Würde.«

Sora funkelt mich an, während sie meine Worte schluckt und ich ihrem Blick standhalte, auch wenn es mich alle Kraft kostet.

»Ach, komm schon, Mimi«, erwidert sie nun leicht gönnerhaft. »Sei doch froh, dass ich euch beide von dieser Last erlöst habe. Du hast die einzig richtige Entscheidung getroffen. Du wärst sowieso nicht mit der Situation klargekommen, wenn das Baby erst mal auf der Welt ist. Früher oder später hättet ihr euch ohnehin deswegen getrennt.« Wieder landet ihre Hand auf ihrem Bauch, um ihre Behauptung zu untermauern. Ich presse die Zähne aufeinander und überlege kurz, ihr meinen Wischlappen ins Gesicht zu schleudern. Wie kann sie es wagen, sich jetzt auch noch so überheblich aufzuführen? Was ist denn nur in sie gefahren?

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so durchtrieben bist«, sage ich viel zu laut, während meine Muskeln sich anspannen. »Du bist ein richtiges …«

»Na na na«, fährt Sora mir über den Mund und lässt ihren Blick hin und her schweifen. »Das solltest du lieber lassen. Es sei denn, du willst Mitarbeiterin des Monats werden.«

Ich drehe den Kopf und bemerke, dass mehrere Kollegen uns bereits von der Seite mustern.

»Ist mir egal«, zische ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich werde vor dir nicht …«

»Okay, das reicht!«, mischt Tai sich nun ein und geht zwischen uns. Er sieht sauer aus.

»Was, aber ich …«, setze ich erneut an, doch Tai fährt mir erneut über den Mund.

»Ich habe gesagt, das reicht!«

Ich werfe Tai einen giftigen Blick zu, doch dieser ignoriert mich inzwischen völlig. Stattdessen knallt er einfach das Geld auf den Tisch und sieht mich nicht einmal an.

»Ihr seid hier fertig. Wir gehen!«, sagt er, packt Sora am Arm und zieht sie mit sich nach draußen.

Ich starre ihm nach. Was soll das? Wieso bin ich jetzt die Blöde? Ich habe doch nur versucht, ihn zu verteidigen.

Blanker Zorn packt mich. Ich lasse alles stehen und liegen und stürme ihm hinterher.

»Hey«, rufe ich. »Können wir kurz reden?«

Irritiert schauen die beiden sich um. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe Tai erwartungsvoll an, damit er genau merkt, dass er gemeint ist, nicht sie. Sora stöhnt auf und hakt sich nun noch fester bei ihm unter. Doch zu meiner Überraschung schiebt er sie von sich.

»Schon okay. Ich rede kurz mit ihr. Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.«

Sie öffnet den Mund, um zu protestieren, schließt ihn dann jedoch wieder, als sie seinen eisigen Blick begegnet.

»Was soll das, Tai?«, frage ich frei heraus, als Sora geht und ich sicher bin, dass sie uns nicht mehr hören kann. »Wieso tauchst du einfach hier auf? War dir nicht klar, dass das eskalieren würde?«

Nun wird sein Blick etwas sanfter. »Ich bin nur hergekommen, um zu sehen, ob du wieder arbeitest. Ich war in den letzten Tagen immer mal wieder hier und sie sagten mir, dass du krank wärst.«

Ich schnaube verächtlich. »Ach, und da konntest du nicht einfach durch die Scheibe schauen und wieder gehen?«

»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

»Und Sora? Hat sie sich auch Sorgen um mich gemacht, oder warum bringst du sie mit?«

Ein frustriertes, tiefes Stöhnen verlässt seine Kehle und er fährt sich gestresst durch die Haare. Was? Ist er etwa genervt, weil ich ihm gerade eine Szene mache?

»Ich wollte sie doch gar nicht mitbringen«, sagt er aufgebracht. »Wir haben uns zufällig auf der Straße getroffen und sie meinte, wir müssten noch einiges besprechen. Dann ist sie mir einfach gefolgt. Ich habe sie nicht darum gebeten, mitzukommen. Man, Mimi, das ist doch gerade völlig egal.«

Ich beiße mir so schmerzvoll auf die Unterlippe, dass es weh tut, während ich ihn einfach nur ansehe. Er sieht immer noch genauso verzweifelt aus wie vor zwei Wochen, als wir uns getrennt haben. Es tut mir weh, ihn so zu sehen und am liebsten würde ich einknicken und alles zurücknehmen, was ich zu ihm gesagt habe. Aber das darf ich nicht. Soras Reaktion eben hat mir eindeutig gezeigt, dass es immer noch die beste Entscheidung war, die ich für uns treffen konnte. Wir drei und ein Baby? Das wäre niemals gut gegangen.

»Du fehlst mir, Mimi«, höre ich Tai plötzlich leise sagen. Er hebt den Kopf und sieht mich an, will einige Schritte auf mich zugehen, um … was? Mich in den Arm zu nehmen? Mich zu küssen? In der Hoffnung, alle Probleme würden sich dadurch lösen?

Ich weiche vor ihm zurück und er hält sofort inne.

»Nicht, Tai«, sage ich bittend. »Mach es uns nicht so schwer.«

Mutlos lässt Tai die Schultern sinken. Seine Hände ballen sich zu Fäusten und er wendet sich von mir ab.

»Wie du willst«, sagt er mit einer Mischung aus Verbitterung und Zorn. Als er anschließend geht, ohne sich zu verabschieden, seufze ich schwer.

Er hat unsere Trennung immer noch nicht akzeptiert.

Ich würde gerne sagen, dass es mir anders geht und ich besser damit fertig werde als er, aber das wäre gelogen. Die Wahrheit ist, dass es uns beide innerlich schmerzt, uns voneinander fernzuhalten. Sonst wäre er heute wohl kaum hier aufgekreuzt. Er hat es nicht mehr ausgehalten, mich nicht zu sehen. Und um ehrlich zu sein, bin ich dankbar dafür. Allein sein Gesicht zu sehen und seine Stimme zu hören, egal wie verzweifelt oder wütend sie klingt, fühlt sich erleichternd an. Es ist zwar nur wie ein Tropfen auf einem heißen Stein, aber wenn das alles ist, was wir in Zukunft voneinander haben werden - flüchtige, rein zufällige Treffen - dann nehme ich auch das. Und früher oder später werden wir uns an die Distanz gewöhnen. Hoffe ich zumindest.
 

Den Rest des Tages kann ich mich kaum noch konzentrieren. Mir unterlaufen so viele Fehler wie lange schon nicht mehr. Man könnte denken, ich wäre eine blutige Anfängerin, so oft, wie ich heute den Kaffee verschüttet, Salz statt Zucker genommen oder das falsche Getränk ausgeteilt habe. Meine Kollegen wollten mich schon nach Hause schicken, weil ich nach Tais plötzlichem Auftauchen einfach nicht mehr ich selbst war und ihnen nicht entgangen ist, dass ich neben mir stehe. Aber das wollte ich nicht. Zu Hause hätte ich nur wieder angefangen zu weinen und die Arbeit ist das Einzige, was mich noch aufrecht hält und mich ablenkt.

Ich bringe die Schicht hinter mich, so gut es geht und verlasse sogar als Letzte das Café. Als ich hinter mir abschließe und den Reißverschluss meiner Jacke hochziehe, klingelt mein Handy.

Ich krame es aus meiner Tasche und verfalle in eine Art Schockstarre, als ich die Nummer des Krankenhauses aufleuchten sehe. Erschrocken hebe ich ab.

»Hallo? Mimi Tachikawa hier. Was ist passiert?«

Ich ahne bereits, worum es geht, hoffe jedoch, dass ich Unrecht habe. Bis die Frau am Telefon mir das Gegenteil erzählt:

»Hallo, gut, dass wir Sie erreichen. Ihr Vater wurde vor ca. Zehn Minuten hier eingeliefert. Sie sind seine Tochter, richtig? Sie sind bei uns als Notfallkontaktperson hinterlegt.«

»Ich komme sofort«, entgegne ich schnell und lege auf, ohne sie ausreden zu lassen, denn ich weiß genau, was passiert ist … sie muss es mir nicht sagen.

Ich weiß, dass es um diese Uhrzeit schwer sein wird, ein Taxi zu bekommen und mit der U-Bahn dauert es zu lange. Also tue ich rein instinktiv das, was ich immer tue … ich wähle Tai's Nummer.

Mit klopfendem Herzen hebe ich das Handy an mein Ohr, fahre jedoch erschrocken zusammen, als mir mit einem Mal unsere Unterhaltung von vorhin wieder einfällt. Sofort lege ich auf.

Scheiße. Vor lauter Sorge um meinen Dad, hätte ich fast vergessen, dass Tai nun nicht mehr zu meinem Leben zählt. Mein ohnehin blutendes Herz schmerzt noch mehr, weil ich nicht gedacht habe, dass es so schnell zu einer Situation kommt, in der ich Tai so sehr brauchen würde.

»Verdammt noch mal«, fluche ich schwer atmend. Mir bleibt die Luft weg.

Was soll ich tun? Was soll ich tun? Was soll ich tun?

Mir schießt eine Erinnerung durch den Kopf und kurzerhand folge ich dem zweiten Instinkt, der mich durchfährt. Ich rufe Matt an.

Wieder einmal dauert es nicht lange, bis er abhebt. Hängt dieser Typ denn permanent nur am Handy?

»Ja?« Er klingt müde, als hätte er schon geschlafen. »Was gibt's denn Mimi? Weißt du, wie spät es ist?«

»Matt«, japse ich. Ich höre mich an, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Wo bist du? Was ist passiert?« Mit einem Mal klingt er hellwach.

»Ich stehe vor dem Café. Kannst du mich ins Krankenhaus fahren? Jetzt? Es geht um meinen Vater.«

»Bin schon auf dem Weg.« Er legt auf.

Ich versuche mich zu beruhigen, indem ich auf der Straße auf und ab gehe, doch es will mir nicht so richtig gelingen. Inzwischen hat es angefangen zu regnen, aber das ist mir egal. Ich spüre die Kälte gar nicht, die bereits durch meine Jacke dringt und mich durchnässt.

Tausend Emotionen strömen auf mich ein. Enttäuschung, weil er es wieder getan hat. Weil er wieder getrunken hat. Angst, ihn diesmal wirklich zu verlieren. Wut, weil er zu weit gegangen ist. Gewissensbisse, weil ich in letzter Zeit zu sehr mit mir selbst beschäftigt war, obwohl ich mich hätte mehr um ihn kümmern sollen.

Während ich mir den Kopf raufe und versuche, diese armseligen Gedanken loszuwerden, hält ein Motorrad neben mir und Matt klappt das Visier hoch. Es hat keine zehn Minuten gedauert.

»Hier, spring auf«, sagt er und hält mir einen Helm hin. Ich zögere keine Sekunde, setze ihn mir auf und schwinge mich hinter ihn. Ich muss alle Kraft aufwenden, um mich bei ihm festzuhalten, während er fährt, denn seine Lederjacke ist ebenfalls nass vom Regen und meine Finger glitschen ständig weg.

Kurze Zeit und ein paar rote Ampeln später kommen wir im Krankenhaus an. Ich warte gar nicht erst, bis Matt einen Parkplatz gefunden hat, sondern springe sofort ab und laufe ins Gebäude.

Die Schwester am Empfang sagt mir, dass mein Vater gerade noch operiert wird. Er wäre wohl volltrunken aus einer Bar gestolpert und vor ein Auto gelaufen.

Gott! WAS?

Mit klopfendem Herzen renne ich auf die Station, um vor dem OP Saal zu warten, bis er raus kommt. Doch als ich durch die Tür stürme, komme ich abrupt zum Stehen. Matt, der gerade noch rechtzeitig aufgetaucht ist, um mir zu folgen, stößt unsanft gegen mich, weil er nicht schnell genug abbremsen kann.

Ich starre geradeaus, meiner Mutter direkt ins Gesicht.

Was macht sie hier?

»Du«, fauche ich und setze mich wieder in Bewegung, um schnellen Schrittes auf sie zu zu marschieren. Instinktiv weicht sie einen Schritt vor mir zurück, als wäre ich völlig irre geworden. Denkt sie ernsthaft, ich würde auf sie losgehen?

»Was machst du hier?«

»Sie … sie haben mich angerufen«, antwortet sie irritiert, als läge das nicht auf der Hand. Dann mustert sie mich. »Mimi, meine Güte. Was ist denn mit dir passiert? Du bist ja völlig durchnässt.«

Erst jetzt bemerke auch ich, wie Regentropfen von meinen klitschnassen Haaren auf den Boden tropfen und meine Klamotten wie eine zweite, eiskalte Haut an mir kleben. Ich beginne zu zittern. Nicht vor Kälte, sondern vor Wut.

»Beantworte meine Frage! Was machst du hier? Warst du mit ihm zusammen?«

»Was?« Meine Mutter runzelt die Stirn. »Mit deinem Vater? Heute Abend? Nein, auf keinen Fall. Sie haben mich nur angerufen, weil ich immer noch als seine Ehefrau im System gespeichert war. Das ist alles.«

Natürlich. Und das soll ich dir glauben?

»Warum ist er hier? Was machen sie mit ihm? Wie geht es ihm? Ist er schwer verletzt? Wie konnte das nur passieren?« Die Fragen sprudeln nur so aus mir heraus.

»Mal langsam, sie operieren ihn gerade. Er ist angeblich sturzbetrunken vor ein Auto gelaufen und hat sich den Arm unglücklich gebrochen. Sie versuchen gerade, das wieder in Ordnung zu bringen. Nichts Ernstes also, er wird wieder ganz gesund werden.«

Ganz gesund? Von dem Wort »gesund« ist mein Dad offensichtlich meilenweit entfernt. Er hatte einen Rückfall. Es ist eine Frage der Zeit, bis etwas Schlimmeres passiert als das. Allerdings weiß ich, dass er sich die letzten Wochen über wirklich zusammengerissen und sogar eine ambulante Therapie begonnen hat. Aber anscheinend hat das alles nichts genutzt.

»Ich verstehe es nicht«, sage ich verzweifelt und fahre mir durch die nassen Haare. Nun spüre ich, wie Matt von hinten eine Hand auf meine Schulter legt, um mir zu signalisieren, dass er da ist. Immerhin ein kleiner Trost.

»Wieso hat er das gemacht? Ich dachte, es geht ihm besser.«

Nun senkt meine Mutter gequält den Blick. Ich hebe den Kopf.

Das kann nur eins bedeuten.

Wissend und mit einem unguten Gefühl im Magen sehe ich sie an.

»Mom«, sage ich mit fester Stimme. Sie reagiert nicht.

»Mom!«

»Schon gut«, fährt sie herum und schaut mich nun mitleidig an, ehe sie die Schultern hebt. »Vermutlich ist er durchgedreht, weil heute unsere Ehe offiziell geschieden wurde. Ab heute sind wir nicht mehr verheiratet.«

Mir entgleiten sämtliche Gesichtszüge. Schockiert starre ich sie an.

»Und ihr haltet es beide nicht für nötig, mich darüber in Kenntnis zu setzen? Verdammt, Mom«, schreie ich sie nun an, weil ich so unfassbar wütend bin. »Hätte ich das gewusst, wäre ich doch heute nicht zur Arbeit gegangen. Ich wäre für ihn da gewesen und hätte den ganzen Tag auf ihn aufgepasst.«

Die Mundwinkel meiner Mutter zucken und eine ihrer Augenbrauen hebt sich wie zum Scherz. »Was denn? Wie auf einen Hund?«

Ich presse die Kiefer aufeinander. Macht sie sich über mich lustig?

»Mimi, du hast immer noch nicht verstanden, dass dein Vater allein dafür verantwortlich ist, was mit ihm geschieht. Du bist das Kind und er ist der Erwachsene, nicht umgekehrt. Es ist nicht deine Aufgabe, dich um ihn zu kümmern.«

»Ach, aber einer muss es ja tun, nachdem du dich verpisst hast.« Ich schleudere ihr die Worte voller Hass entgegen, weil ich es in dem Moment wirklich tue. Ich hasse sie für das, was sie Dad angetan hat.

»Mimi«, dringt Matts leise Stimme von hinten an mein Ohr. »Lass gut sein, ja?«

Unsanft wische ich seine Hand von meiner Schulter.

»Nein, du verstehst das nicht, Matt.«

»Oh doch, ich verstehe das sehr gut«, erwidert er. »Und ich weiß genau, wie du dich fühlst und dass das hier nichts bringen wird. Diese Schuldzuweisungen führen doch nirgendwohin.«

»Was mischst du dich denn da ein? Was machst du überhaupt hier?«, fällt meine Mutter ihm ins Wort. »Ich kann nicht fassen, dass du ihn mit hierhergebracht hast, Mimi«, nuschelt meine Mutter, als würde Matt nicht genau neben mir stehen und alles hören. »Sag bitte nicht, dass ihr zusammen seid. Das geht nicht, er ist …«

»Ach, sei doch ruhig«, fahre ich ihr über den Mund. Ich war schon oft sauer auf meine Mutter, aber das heute, toppt wirklich alles. »Er ist wenigstens für mich da, wenn ich ihn brauche. Nicht so, wie du oder Dad.«

»Mimi«, entgegnet Mom empört, als ich Matt am Arm packe und wir uns zum Gehen umdrehen. »Mimi, bleib stehen. Wie kannst du so was nur sagen? Wir sind eine Familie.«

Ich sehe über die Schulter und werfe ihr einen giftigen Blick zu. »Ich habe keine Familie mehr.« Dann ziehe ich Matt mit mir und lasse meine Mutter stehen. Ich bin sicher, sie wird noch da sein, wenn mein Dad aus dem OP kommt. Ich gebe am Empfang Bescheid, dass sie mich telefonisch informieren sollen, sobald es Komplikationen gibt, ich aber jetzt leider weg muss.

Wutentbrannt stürme ich aus dem Krankenhaus. Es hat aufgehört zu regnen, aber es ist immer noch kalt. Auf dem Boden liegt eine alte Cola Dose. Ich hole aus und kicke sie weg, während ich »Ach, scheiße« schreie. Ein paar Leute schauen mich irritiert an, doch ich habe nur verächtliche Blicke für sie übrig. Sie haben keine Ahnung, was ich gerade durchgemacht habe.

»Komm mit!« Plötzlich packt Matt mich unsanft am Arm und schleift mich auf den Parkplatz des Krankenhauses.

»Hey, was soll das?«, beschwere ich mich, doch da bleibt er auch schon vor seinem Motorrad stehen und drückt mir seinen Helm in die Hand.

»Setz den auf.«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Dieser Befehlston kommt gerade gar nicht gut an.

»Schlechter Zeitpunkt, Matt«, sage ich, doch er fällt mir ins Wort.

»Ich habe gesagt, setz den auf. Und dann komm. Ich bring dich von hier weg.«

Okay, das ist definitiv ein gutes Angebot. Keine Sekunde länger will ich hier sein, sonst besteht womöglich noch die Gefahr, dass ich wieder reingehe und meiner Mutter all die fiesen Gedanken entgegen schleudere, die mir gerade durch den Kopf gehen.

Wortlos fahren wir durch die Nacht. Der kühle Wind brennt wie tausend Nadelstiche auf meiner immer noch nassen Haut und als wir zu Hause ankommen, bin ich komplett durchgefroren. Meine Glieder schmerzen, als ich absteige und mich verwundert umsehe.

»Das … das ist nicht mein zu Hause. Wir sind …«

»Bei mir. Richtig«, beendet Matt meinen Satz und stellt das Motorrad ab. Ich zittere am ganzen Körper und reibe mir mit den Händen über beide Arme, was natürlich rein gar nichts bringt.

»Matt, ich kann nicht mit zu dir. Auf keinen Fall, das geht nicht«, protestiere ich mit klappernden Zähnen.

Gott, ist mir kalt.

»Und ich kann dich nicht alleine lassen. Nicht jetzt«, erwidert Matt, kommt einen Schritt auf mich zu und greift nach meinem Arm. »Du musst dir keine Sorgen machen«, flüstert er. »Tai ist nicht da.«

Ich atme bebend aus. Dann nicke ich.

Wir gehen nach oben und steuern beide direkt das Badezimmer an. Matt fragt gar nicht erst, sondern lässt sofort heißes Wasser in die Badewanne, bevor er mir ein großes Handtuch und was zum Anziehen bringt.

Verwirrt stehe ich da und sehe ihm dabei zu, während das heiße Bad immer verlockender aussieht.

»Willst du nicht zuerst? Du bist schließlich auch nass«, frage ich ihn höflich und wende den Blick ab, als er mit der Hand die Wassertemperatur prüft.

»Ich kann warten.« Er kommt auf mich zu und reibt mir beruhigend über die Arme. »Wärm dich erst mal ein wenig auf.«

Ich nicke dankend und er lässt mich alleine.

Das warme Wasser tut gut und bringt das Leben in meine gefrorenen Glieder zurück. Allmählich entspanne ich mich, was nicht heißt, dass ich nicht ununterbrochen an Mom und Dad denken muss. Irgendwie fühle ich mich schlecht, trotz allem. Ich hätte das nicht zu ihr sagen dürfen. Wieder einmal habe ich viel zu kindisch und impulsiv reagiert. Ein häufiges Problem von mir, doch im Nachhinein tut es mir immer leid.

Ich komme mir wie der dümmste Mensch auf der Welt vor. Ich bin schließlich kein kleines Kind mehr und sollte besser mit all den Problemen umgehen, die meine Familie betreffen. Aber die Wahrheit ist, dass es mich allmählich auffrisst. Es saugt mir die Lebensenergie aus und das seit Jahren. Ich dachte ernsthaft, jetzt, wo Dad die Therapie begonnen hat, würde es endlich bergauf gehen - tut es aber nicht. Es geht nur noch weiter bergab, steil und geradewegs in den Abgrund. Die Frage ist nur, wer von uns als erstes unten aufschlägt.

Nach dem Bad ziehe ich mir Matts Sachen an, die er mir gebracht hat. Sein großes Shirt reicht mir zum Glück bis unter den Po und als ich es anziehe, wird mir bewusst, dass wir gar nicht darüber gesprochen haben, ob ich heute hier schlafen soll. Aber anscheinend geht Matt davon aus und ehrlich gesagt, ist es mehr als okay für mich. Ich möchte heute Nacht nicht alleine sein.

Als ich das Bad verlasse, geht Matt hinein, um sich ebenfalls die Kälte abzuwaschen und sich aufzuwärmen. Das Wohnzimmer ist dunkel und die Macht der Gewohnheit führt mich direkt zu Tais Zimmer. Fast schrecke ich auf, als ich plötzlich davor stehe und mir wieder einfällt, dass es nur ein paar Stunden her ist, dass wir uns wie Fremde gegenüberstanden.

Wo er jetzt wohl gerade ist?

Ich will es gar nicht wissen.

Der Schmerz durchfährt mich so schnell und unerwartet, dass ich mich am Türrahmen festhalten muss, um nicht zusammen zu brechen.

Tais Zimmer ist verlassen, kalt und dunkel. Ein Spiegel meiner Seele. Ich bin traurig, dass er nicht da ist. Nichts würde ich lieber tun, als mich jetzt in seine Arme zu werfen, zu weinen und mich von ihm trösten zu lassen. Mit Tai an meiner Seite hatte ich immer das Gefühl, dass alles irgendwann gut werden wird. Er hat mir immer Trost gespendet, war für mich da, hat mich aufgefangen, wenn ich gefallen bin. Jetzt gehört das alles der Vergangenheit an. Tai hat eine weitere Lücke in meinem Leben hinterlassen und ich weiß nicht, wie ich sie je wieder füllen soll.

Während ich da so stehe, wie betäubt, merke ich gar nicht, wie Matt aus dem Bad kommt.

»Mimi?«

Ich fahre herum. »Oh, tut mir leid. Ich habe dich gar nicht bemerkt«, sage ich und wische mir eilig eine aufkommende Träne aus dem Augenwinkel. »Ich würde gerne auf dem Sofa schlafen … wenn das für dich okay ist.«

Erst jetzt bemerke ich, dass er nur eine Jogginghose trägt, oberkörperfrei und mit nassen Haaren vor mir steht. Verdammt, sieh woanders hin, Mimi. Doch da springt mir sein neues Tattoo ins Auge. Auf der linken Brust. Es zieht sich quer über sein Schlüsselbein und endet an seiner Schulter. Eine große, schwarze Feder, aus der sich mehrere schwarze Raben lösen und davonfliegen. Was hat es wohl zu bedeuten? Freiheit? Dunkelheit? Einsamkeit?

Ich räuspere mich, weil mir die Situation unangenehm ist, als er auf mich zu kommt und dicht vor mir stehen bleibt.

»Nein, ist es nicht.«

»Was?« Verdutzt sehe ich zu ihm auf, doch da nimmt er mich auch schon bei der Hand und führt mich in sein Schlafzimmer. Verwirrt bleibe ich mitten im Raum stehen, wie ein kleines Schulkind, das am Bahnhof nicht weiß, in welchen Zug es steigen soll.

Man … ich war noch nie in seinem Zimmer. Das sind Matt’s persönliche vier Wände und dass er mich hierher mitgenommen hat, hat irgendwie was Intimes.

»Komm her«, fordert Matt mich auf und schlägt die Bettdecke für mich zurück. Völlig überfordert mit der Situation starre ich ihn an. Dann grinst er.

»Du musst nicht wie eine Statue da stehen, Mimi. Ich schlafe auf dem Fußboden. Ich möchte nur, dass du dich etwas ausruhst. Und ich dachte, es wäre dir lieber, wenn Tai und du morgen früh nicht aufeinander treffen, wenn er nach Hause kommt und du im Wohnzimmer auf dem Sofa liegst.«

Ich schlucke schwer. Gutes Argument.

Wortlos komme ich seiner Einladung nach und lege mich in sein Bett, was erstaunlich bequem ist. Ich kuschle mich in eines seiner Kissen und atme den Duft ein. Es riecht nach ihm und ich muss gestehen … es gefällt mir.

Gerade, als Matt einige Kissen auf den Fußboden wirft und es sich bequem machen will, greife ich nach seinem Handgelenk. Fragend sieht er zu mir hinab, während ich nicht einmal weiß, was ich hier tue. Ich weiß nur eins: ich will und kann jetzt nicht allein sein.

»Kannst du … ich meine, k-kannst du vielleicht …«, stottere ich herum, als er auch schon lächelt.

»Klar.«

Ich rutsche ein Stück zur Seite und er kriecht unter meine Bettdecke. Dann hebt er den Arm, so dass ich mich an ihn kuscheln kann. Erleichtert atme ich aus. Er ist so warm und es fühlt sich gut an, von ihm gehalten zu werden.

»Tut mir leid«, wispere ich nach einer Weile in die Dunkelheit.

»Was denn?«, fragt Matt mit müder Stimme. Wahrscheinlich schläft er schon fast.

»Dass ich dir zur Last falle, jetzt, wo Tai nicht mehr für mich da sein kann.«

Seine Brust bebt vor Lachen, doch dann seufzt er.

»Tust du nicht. Bist nicht die schlechteste Gesellschaft.«

Schnaubend grinse ich und lege eine Hand auf seine Brust. »Du auch nicht.«

Dann, urplötzlich, übermannt es mich und die Tränen beginnen unaufhaltsam zu fließen. Jeder einzelne, schlimme Moment des Tages flutet meine Gedanken und lässt mein Herz bluten.

Ich fühle mich ohnmächtig, hilflos dieser Situation ausgeliefert.

Tai ist weg und ich kann nichts dagegen machen.

Meine Mom sieht nicht, wer oder was ich wirklich bin und ich kann nichts dagegen machen.

Meine Eltern haben sich scheiden lassen und ich kann nichts dagegen machen.

Mein Dad liegt im Krankenhaus und ich kann nichts dagegen machen.

Ich bin machtlos.

Ich habe das Gefühl, dass es nichts mehr auf der Welt gibt, was ich überhaupt noch beeinflussen kann und dieses Gefühl zerreißt mich.

Matt sagt keinen Ton, während ich an seiner Brust schluchze. Er hält mich einfach nur fest und streicht ab und zu behutsam über mein Haar.

Ich wünschte, ich könnte damit aufhören, zu weinen. Aber ich kann es nicht.

Ich liege in Matts Armen und die Tränen wollen nicht aufhören, zu fließen.

Auch, wenn ich gerade nicht allein bin, worüber ich sehr dankbar bin, habe ich mich noch nie so einsam gefühlt wie jetzt.

Mimi

Irgendwann habe ich es anscheinend doch geschafft einzuschlafen. Zumindest schlussfolgere ich das, als ich am Morgen in Matts Zimmer aufwache und es bereits hell ist. Ein wenig Tageslicht dringt durch die Vorhänge an seinem Fenster, während Matt noch selig neben mir grunzt. Offenbar hat er mich nicht die ganze Nacht lang im Arm gehalten, denn er hat mir den Rücken zugedreht. Gott sei Dank. Die Situation ist mir eh schon unangenehm genug. Ich habe noch nie vor ihm geweint und erst recht nicht in seinen Armen. In seinem Bett. So nah standen wir uns nie - jedenfalls bisher.

Eigentlich ist mein Plan, aus dem Bett zu schleichen und mich anzuziehen, doch in dem Moment, als ich die Decke zurückschlagen will, dreht Matt sich mit einem leisen Seufzer auf den Rücken.

Ich sehe ihn an, wie er da liegt und schläft und wie ihm seine blonden Haarsträhnen wild ins Gesicht fallen.

Ich lege den Kopf schief und betrachte ihn noch etwas länger. Er ist wirklich schön.

Meine Finger verselbstständigen sich und ehe ich mich versehe, streiche ich ihm eine dieser Strähnen zur Seite. Es war unfassbar nett von ihm, mich gestern bei sich aufzunehmen und bei mir zu bleiben, während ich meinen Schmerz ganz offen vor ihm gezeigt habe. Es fällt mir nicht leicht, dass er mich so emotional nackt gesehen hat, aber auf der anderen Seite, bin ich auch sehr dankbar dafür. Ich hätte nicht gewusst, was ich getan hätte, wäre ich gestern Abend mutterseelenallein in meine Wohnung zurückgekehrt.

»Guten Morgen, Schönheit«, höre ich Matt plötzlich säuseln, was mich zurück zucken lässt. »Macht es dir Spaß, mir beim Schlafen zuzusehen?«

Mist, er hat mich erwischt, wie ich ihn angegafft habe. Sein schiefes Grinsen ist nicht zu übersehen.

»Nicht so sehr, wie du denkst.« Ich schmeiße die Decke zurück, so dass sie über Matts Kopf fliegt und springe aus dem Bett.

»Was hast du vor?«, fragt Matt gähnend und streckt dabei seine müden Glieder.

»Was wohl?«, lache ich auf. »Ich gehe nach Hause.« Schnell ziehe ich mir meine inzwischen trockene Jeans über und drehe mich zu ihm um. Mit verschränkten Armen hinter dem Kopf liegt er da und sieht mir dabei zu.

»Das verstehe ich«, sagt Matt. »Ist mir gerade auch ein bisschen zu viel Nähe. Normalerweise gehen die Frauen eher und bleiben nicht über Nacht. Aber normalerweise haben wir vorher auch Sex.«

Ich schenke ihm ein wissendes Lächeln und krieche zurück zu ihm aufs Bett.

»Hör mal«, sage ich sanft und lege eine Hand auf seine Brust. Er folgt der Bewegung mit den Augen, als wüsste er nicht, was das jetzt soll. »Ich danke dir für gestern Abend. Das war nicht zu viel Nähe, sondern genau richtig. Zumindest für mich. Es war genau das, was ich gebraucht habe. Und ich weiß, du hättest das nicht für mich tun müssen, daher … danke.«

Als unsere Blicke sich treffen, heben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln.

»Hab ich gern gemacht, Mimi.«

Ich lächle dankend, verabschiede mich und gehe zur Zimmertür. Ich habe Matt’s Gastfreundschaft lange genug strapaziert.

Gerade, als ich sie öffnen will, höre ich, wie jemand die Wohnung betritt. Schritte und Gerede sind zu hören.

Wie auf Kommando springt Matt aus seinem Bett und ist mit einem Satz bei mir. Er hält die Tür zu, damit ich sie nicht weiter öffne und legt einen Finger an die Lippen.

Verblüfft sehe ich ihn an.

Verdammt. Das ist Tai. Ich erkenne seine Stimme.

»Was macht er hier?«, frage ich flüsternd.

»Warum bist du so geschockt?«, entgegnet Matt ebenfalls flüsternd, damit Tai uns nicht reden hört. »Er wohnt schließlich hier.«

Äh, ja. Richtig.

Trotzdem … ein paar Sekunden später und er hätte gesehen, wie ich in Matts T-Shirt gekleidet aus seinem Zimmer komme. Was er dann über uns gedacht hätte, muss ich wohl nicht extra erwähnen.

Wir warten darauf, dass Tai in sein Zimmer verschwindet, doch plötzlich hören wir noch eine Stimme.
 

»Hast du alles?«

»Ja, ich habe das Buch gefunden. Wir können gleich gehen.«
 

Oh, mein Gott. Er hat Sora mit hierher gebracht. Das fehlte mir noch. Sofort verkrampft sich mein Herz so sehr, dass ich tief durchatmen muss, um mich zu beruhigen.

Wir hören sie noch eine ganze Weile reden. Sie sprechen darüber, was Tai alles mitnehmen wird. So, wie es sich anhört, wird er einige Tage bei ihr bleiben. Natürlich. Was auch sonst. Trotzdem tut es unfassbar weh.

Als sie, nach einer gefühlten Ewigkeit, die Wohnung wieder verlassen, breche ich beinahe zusammen. Ich gehe zurück zu Matts Bett und lasse mich wie ein nasser Sack auf die Bettkante sinken. Matt kommt zu mir und geht vor mir auf die Knie.

»Hey, alles in Ordnung?«

Ich falte die Hände im Schoß und starre zu Boden.

»Ja, ich denke schon. Es ist nur … es ist nur … es tut weh.« Mehr muss ich nicht sagen, Matt versteht es. Er nickt und legt eine Hand auf mein Knie. Kurz schweigen wir, doch bevor ich mich dem Schmerz erneut hingeben und in Tränen ausbrechen kann, ergreift Matt das Wort.

»Ich habe eine Idee.«

Mit hochgezogener Augenbraue sehe ich ihn an. »Welche Idee?«

»Musst du heute arbeiten?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich bin gestern nur für einen Kollegen eingesprungen, offiziell muss ich erst morgen wieder ins Café.«

»Gut«, meint Matt und ein schiefes Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab.

Skeptisch lehne ich mich zurück und sehe ihn an. »Was hast du vor?«

»Wirst du schon sehen«, verkündet er, springt auf und geht zu seinem Kleiderschrank, um sich anzuziehen. »Los, zieh dir was an. Wir machen einen Ausflug.«
 

Eine halbe Stunde später finde ich mich auf seinem Motorrad wieder, während wir über die Landstraßen heizen. Ich hatte nicht mal die Gelegenheit zur protestieren und irgendwie wollte ich es auch nicht. Matt war eine willkommene Ablenkung und seine Idee, ein bisschen durch die Gegend zu fahren und den Kopf frei zu bekommen, kam genau richtig. Es war allemal besser als alleine zu Hause zu sitzen und wegen Tai zu heulen. Denn genau das hätte ich getan.

Auf einem leeren Parkplatz hält Matt schließlich an. Wir steigen ab und ich schüttle mein Haar, als ich den Helm abnehme.

»Puh, das tat gut. Machen wir eine Pause?«

»Nicht so richtig«, antwortet er, tritt einen Schritt zurück und zeigt auf den Vordersitz der Maschine. »Du bist dran.«

Für einen Moment stehe ich regungslos da und starre ihn an. Dann klappt mir der Mund auf.

»Oh, nein! Du willst nicht ernsthaft, dass ich auf dieses Ding steige und es fahre? Nein, nie im Leben, Matt!«

»Auf dieses Ding bist du jetzt schon ein paar Mal gestiegen. Also, stell dich nicht so an.«

Stell dich nicht so an?

Na, der hat ja leicht reden.

»Ich habe gar keinen Führerschein dafür.«

»Na, und? Hab ich auch nicht.«

Wie bitte?

Den Sarkasmus in seiner Stimme und das amüsierte Lachen überhöre ich direkt, denn ich bin viel zu beschäftigt damit, ihn abzuwimmeln.

»Ich werde das nicht tun, Matt«, beharre ich und verschränke die Arme vor der Brust. Er tut es mir gleich und sieht mich siegessicher an.

»Gut, von mir aus. Aber dann stecken wir hier fest, denn ich werde dich nicht zurück in die Stadt fahren. Ich hoffe, du weißt, wie man ein Lagerfeuer macht. In ein paar Stunden wird es nämlich dunkel werden.«

Was? Er weigert sich allen Ernstes, mich zurück zu fahren? Dieser kleine, miese …

»Ich hasse dich«, grummle ich und schiebe ihn unsanft zur Seite, damit ich aufsteigen kann.

»Touché.«

Ich schwinge mich auf das Motorrad und wäre beinahe mit dem ganzen Teil umgekippt, hätte Matt mich nicht festgehalten. Gott, wie viel Kraft muss er haben, um dieses Monstrum aufrecht zu halten. Ehe ich mich versehe, setzt er sich hinter mich und rutscht dich an mich heran. Er umgreift meine Hände, die beide am Lenkrad liegen und gibt mir so Stabilität.

»Keine Sorge, dir wird nichts passieren«, sagt er.

Ich schnalze mit der Zunge. »Sag das den Sanitätern, die uns nachher von der Straße kratzen werden.«

Ich höre Matt hinter mir auflachen. Seine Brust vibriert an meinem Rücken und macht mir nur allzu deutlich bewusst, wie nah er mir körperlich ist. Diese Situation kommt mir beinahe inniger vor, als die von letzter Nacht, als er mich in den Armen gehalten hat.

»Pass auf, du musst langsam die Kupplung loslassen und dabei Gas geben. Im Prinzip wie beim Auto, nur, dass du es mit den Händen machst.«

Er führt meine Hände so geschickt, dass die Maschine wie von alleine losfährt, ich aber das Gefühl habe, als hätte ich das alleine vollbracht. Wir bewegen uns langsam nach vorne und fahren einige Runden über den Parkplatz, bis ich ein Gefühl dafür entwickelt habe. Matt hilft mir und gibt mir Tipps, wie ich mich richtig in die Kurve lege, wann ich Gas geben und wann ich bremsen muss. Es macht mehr Spaß, als ich zugeben würde.

»Du bist ein Naturtalent, Mimi«, verkündet Matt stolz.

Ich schmunzle. »Du bist ein guter Lehrer.«

»Bist du bereit für die Straße?«

»Eher nicht«, sage ich zweifelnd. »Was, wenn wir erwischt werden?«

»Dann darfst du dich eben nicht erwischen lassen.«

Ich kann sein freches Grinsen förmlich spüren. Er will mich herausfordern. Er will, dass ich aus meiner Komfortzone trete und etwas tue, wovor ich mich normalerweise fürchte. Matt weiß genau, wie schwer es mir fällt, über meinen Schatten zu springen.

»Ich hab ein bisschen Angst«, gebe ich offen zu. Sein Griff um meine Hand verfestigt sich noch einmal, ehe er sie ganz los lässt und beide Hände um meine Taille schlingt.

»Ich bin bei dir.«

Ich atme tief durch. Warum tue ich das?

Noch bevor ich mir diese Frage beantworten kann, steuere ich vom Parkplatz auf die Straße und gebe Gas.

Im ersten Moment kribbelt es in meinem Bauch und Adrenalin schießt durch meine Adern, während wir immer schneller werden.

Ich weiß, warum ich das tue. Weil ich mich besser fühlen will. Weil ich irgendetwas brauche, das mich auf den Beinen hält. Und weil Adrenalin besser ist als Schmerz. Die Geschwindigkeit fühlt sich unbeschreiblich an. Es ist ganz anders, als nur auf dem Rücksitz zu sitzen. Ich konzentriere mich voll und ganz auf die Straße und lasse die malerische Landschaft an uns vorbei rauschen.

Es fühlt sich toll an. Wie Freiheit. Es fühlt sich nach Vergessen an. Als könnte ich vor etwas davon fahren …
 

Natürlich brauchen wir für den Weg zurück in die Stadt länger, als Matt gebraucht hat, aber ich bin trotzdem super stolz auf mich, als wir auf den Parkplatz eines Schnellrestaurants ankommen und absteigen.

»Das war unglaublich«, schwärme ich sofort, während Matt triumphierend lächelt.

»Schön, dass es dir gefallen hat. Hast du Hunger?«

Ich nicke begeistert. »Aber so was von!« Nach dem ganzen Adrenalin brauche ich dringend etwas im Bauch. Matt besorgt uns zwei Burger mit Pommes. Wir setzen uns auf eine der Bänke draußen und lassen es uns schmecken. Genüsslich stöhne ich auf, als der erste Bissen meinen Magen erreicht.

»Gott, tut das gut«, sage ich und beiße gleich noch mal ab.

Matt sieht mir amüsiert dabei zu. »Du hast ja einen Bärenhunger.«

»Das ist noch untertrieben«, nuschle ich mit vollem Mund und er muss lachen, bevor auch er beginnt seinen Burger zu vertilgen.

»Hat dir die kleine Spritztour gefallen?«, fragt Matt, als wir beide aufgegessen haben und ich mich über meine Cola hermache.

»Es war der Wahnsinn«, lache ich auf, immer noch beflügelt von dem Rausch der Geschwindigkeit. »Ich wünschte, meine Mom hätte das gesehen. Sie wäre in Ohnmacht gefallen.«

Absurd, dass ich über die Vorstellung lachen muss, aber momentan gefällt es mir einfach, das Gegenteil von dem zu tun, was sie von mir erwartet.

Matt sieht mich mit einem Ausdruck im Gesicht an, der halb amüsiert, halb mitleidig wirkt.

»Du und deine Mom … ihr steht euch nicht besonders nah, oder?«

Oh, ganz schlechtes Thema.

Ich zucke mit den Schultern.

»Stehst du denn deiner Mom nahe?«

»Antworte nicht auf eine Frage mit einer Gegenfrage«, weist Matt mich zurecht und lässt mir somit keinen Fluchtweg mehr. Ich seufze.

»Sie war immer sehr streng und pingelig, bei allem, was ich getan habe. Ich weiß, sie meint es irgendwie nur gut und will, dass ich was aus meinem Leben mache, aber … sie hat mich nie so gut verstanden, wie mein Dad. Wir beide standen uns immer schon näher.«

Matt nickt. »Deswegen fühlst du dich auch für ihn verantwortlich. Du versuchst, ihm was zurückzugeben.«

Ich runzle die Stirn und werfe ihm einen misstrauischen Blick zu. »Versuchst du gerade, mich zu therapieren?«

Beschwichtigend hebt Matt die Hände. »Ich bin nur ein stiller Beobachter.«

Allerdings. Gestern im Krankenhaus hat er mehr von unserem Familiendrama mitbekommen, als mir lieb ist.

Mein Handy klingelt. Dankbar für die Unterbrechung ziehe ich es aus der Tasche, stecke es jedoch sofort wieder weg, als ich sehe, wer anruft.

»Wer ist das?«, will Matt wissen, während ich die Augen verdrehe.

»Mein Dad.«

»Was?«, entfährt es ihm und er sieht mich entsetzt an. »Warum bist du nicht rangegangen? Willst du nicht wissen, wie es ihm geht?«

»Nicht jetzt«, sage ich ehrlich, als das Klingeln in meiner Tasche endlich aufhört. »Ich bin immer noch wütend darüber, dass er mich nicht um Hilfe gebeten hat, als er sie anscheinend gebraucht hat. Und du hast doch meine Mom gehört. Ein gebrochener Arm oder so … halb so wild.«

Ich nehme den Strohhalm meiner Cola in den Mund und kaue wütend darauf rum. Auch wenn ich es mir nicht anmerken lassen will, hat mich dieser Anruf aus der Fassung gebracht. Es war schwer dem Impuls zu widerstehen, sofort aufzuspringen und zu ihm ans Krankenbett zu eilen.

Matt legt den Kopf schief und beobachtet mich dabei, wie ich unruhig auf meinem Platz hin und her rutsche.

»Weißt du, Mimi, ich mag deine Mutter nicht besonders«, offenbart er mir.

Beinahe hätte ich aufgelacht.

»Oh, glaub mir, das beruht auf Gegenseitigkeit.«

»Aber irgendwie hat sie recht. Du bist nicht für das verantwortlich, was dein Vater tut. Er ist erwachsen und sollte es besser wissen.«

»Toll«, stöhne ich frustriert auf. »Jetzt fängst du auch noch damit an.«

»Ich meine ja nur, dass du Dinge, die er für sich selbst entscheidet, nun mal nicht ändern kannst. Du kannst ihn vielleicht unterstützen, aber du wirst ihn nicht verändern können. Das kann nur er allein. Du solltest damit aufhören, dich wie ein Babysitter um ihn zu kümmern.«

Ich schlucke hart, während mein Innerstes zu toben beginnt. Hätte er nicht noch klarere Worte finden können?

»Ich weiß selbst, dass ich gerade nicht die richtige Rolle einnehme, aber was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Abwarten, bis der nächste Absturz ihn umbringt?«

Matt schüttelt lachend den Kopf.

Was ist so lustig? Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu.

»Du müsstest dich mal reden hören«, sagt er. »Du bist genau wie Tai. Ihr seid beide solche Weltverbesserer und denkt immer, dass alle Probleme der Erde auf euren Schultern lasten. Aber ich gebe dir einen gutgemeinten Rat: man kann Menschen nicht vor sich selbst retten, wenn sie nicht gerettet werden wollen.«

Dann steht er auf, schnappt sich unsere Abfälle und bringt sie zum Mülleimer, um sie hineinzuwerfen, während ich ihm mit offenem Mund hinterher sehe. Als er sich wieder mir gegenüber setzt und mich dann auch noch frech angrinst, funkle ich ihn finster an.

»Bist du immer so direkt?«

»Natürlich«, antwortet Matt beinahe entsetzt, als wäre ich diejenige, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. »Deshalb habe ich Tai auch gesagt, dass er nicht für Sora verantwortlich ist, nur, weil sie von ihm schwanger ist.«

Ich schlucke meine Fassungslosigkeit über diese Aussage hinunter und starre ihn an.

»Das hast du zu ihm gesagt?«

»Jap.« Matt zuckt mit den Achseln. »Aber er sieht das leider anders. Er würde sich eher ein Bein abhacken, als sie allein zu lassen.«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. »Und was ist so falsch daran?« Es ist kein Geheimnis, dass ich Tais Mut und seine Stärke, für andere da zu sein, immer bewundert habe. Das macht ihn eben aus.

»Nun ja, sieh es doch mal so«, erläutert Matt und sieht mich mit einem durchdringenden Blick an. »Würde er nicht bei Sora sein, würde es im Grunde nichts ändern. Es wäre immer noch sein Kind. Er wäre immer noch der Vater. Niemand sonst. Niemand kann an dieser Tatsache etwas ändern. Er kann sehr wohl das eine, ohne das andere haben. Sora ist zwar an das Kind gekettet, weil sie die Mutter ist, aber Tai ist nicht an Sora gekettet. Er kann immer noch das tun, was er will. Aber ihr Dickköpfe seht das ja anders.«

Ich wende meinen Blick ab und beiße mir auf die Unterlippe. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Natürlich hatte ich im ersten Moment den Impuls, ihn anzuflehen, bei mir zu bleiben. Aber ich fand, das wäre unfair gewesen. Unfair seinem ungeborenem Kind gegenüber. Unfair ihm gegenüber. Außerdem bin letztendlich ich Diejenige, die diese Entscheidung für uns getroffen hat, lange, bevor Tai auch nur realisiert hat, dass es für uns so keine Zukunft geben kann.

»Okay, genug der Grübelei. Dein Gesicht gefällt mir gar nicht«, sagt Matt bester Laune und erhebt sich von seinem Platz, während ich ihn finster anschaue.

»Tut mir leid, dass dir mein Gesicht nicht gefällt.«

Er grinst, geht um den Tisch herum und greift nach meiner Hand.

»Hey, was soll das werden?«, werfe ich ein, als er mich auf die Beine zieht.

»Der Tag ist noch nicht vorbei und anscheinend habe ich echt versagt, weil du immer noch so traurig wie heute Morgen aussiehst.«

»Du hast doch mit dem Tai-Thema angefangen«, grummle ich in mich rein, doch das interessiert ihn gar nicht. Er zerrt mich zu seinem Motorrad und drückt mir den Helm in die Hand.

»Und was machen wir jetzt?«, frage ich desinteressiert, weil meine Laune gerade echt im Keller ist, aber davon lässt Matt sich gar nicht beirren. Stattdessen schwingt er sich voller Elan auf die Maschine und deutet hinter sich.

»Am besten, du lässt dich überraschen.«

Mimi

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Tai

Als ich am Morgen vor meiner eigenen Wohnung stehe, würde ich am liebsten meinen Kopf gegen die Wand schlagen.

Die letzten Tage mit Sora zu verbringen, waren anstrengend. Immer, wenn ich sage, dass ich auch mal wieder in der WG vorbei schauen muss, geht es ihr plötzlich nicht gut und ich bleibe stattdessen bei ihr.

Ich weiß genau, sie sagt es aus Furcht und ich mache ihr deswegen auch keinen Vorwurf. Sie denkt, wenn ich ihre Wohnung verlasse, komme ich vielleicht nicht mehr zurück.

Ganz ehrlich … die Versuchung ist groß.

Ich habe das alles nie gewollt. Und manchmal würde ich wirklich am liebsten davonlaufen, wie so ein Feigling.

Aber das würde ich niemals tun.

Gestern musste ich dann endlich mal ein paar Sachen aus unserer Wohnung holen, weil Sora gerne möchte, dass ich in den nächsten Tagen bei ihr bleibe, um sie bei den anstehenden Arztterminen zu begleiten. Damit habe ich kein Problem. Wirklich nicht.

Ich habe nur ein Problem damit, dass sie wie eine Klette an mir klebt. Fehlt nur noch, dass sie mir eine Fußfessel umschnallt, so sehr sorgt sie sich, ich könnte sie und das Baby sitzen lassen. Schwachsinn. So kenne ich sie gar nicht. Früher war sie locker, liebenswert, lustig. Seit unserer kurzen, aber intensiven Beziehung hat sie sich irgendwie verändert. Aber vermutlich passiert das mit Frauen, die von ihrem Freund verlassen werden und dann feststellen, dass sie schwanger sind. Im Grunde versuche ich dafür so viel Verständnis wie nur möglich aufzubringen. Aber manchmal macht sie es mir wirklich nicht leicht.

Vorhin habe ich vorgeschoben, dass ich leider doch noch ein paar Dinge vergessen habe und noch mal in die WG muss.

Ich musste einfach mal raus. Raus aus diesem ganzen Chaos, das jetzt mein Leben ist und atmen. Einfach nur atmen.

Bevor ich die Tür aufschließe, checke ich mein Handy.
 

Keine Nachricht.
 

Sie hat sich nicht gemeldet.

Aber warum sollte sie auch?

Sie hat mir wahrscheinlich nichts mehr zu sagen.

Mimi … vermutlich ist sie der Grund, warum Sora solche Ängste entwickelt hat. Inzwischen dürfte ihr klar sein, wie groß meine Gefühle für meine beste Freundin doch sind und das verunsichert sie.

Wir wissen beide, dass uns nur wegen diese unerwartete Schwangerschaft bei ihr bin.

Sora war sehr deutlich.

Sie möchte das Kind gerne behalten und sie möchte, dass ich ein Teil von ihrem Leben bin. Und ich möchte das auch. Auch wenn mich das alles immer noch überfordert. Der Gedanke, Vater zu werden, jagt mir eine Heidenangst ein. Aber es ist lange nicht so schlimm, wie der Gedanke, vielleicht keine Rolle in dem Leben des Babys zu spielen. So etwas will ich nicht. Ich sehe an Matt, was entzweite Eltern aus einem Kind machen können. Er war noch so klein, als seine Eltern sich getrennt haben und es hat ein Loch in sein Herz gerissen, welches nie ganz verheilt ist. Noch heute hat er ein Problem damit, Menschen sein Vertrauen zu schenken, aus Angst davor, von ihnen enttäuscht zu werden. Er ist verkorkst … irgendwie.

Ich möchte gerne, dass mein Kind die Möglichkeit hat, wie ich, behütet und geliebt aufzuwachsen. Und … vielleicht schaffe ich es ja irgendwann, in Sora nicht mehr den Menschen zu sehen, der mir mein eigenes Glück nicht gegönnt hat. Vielleicht kann ich diesen Gedanken und die Wut dahinter irgendwann zur Seite schieben. Vielleicht komme ich irgendwann über Mimi hinweg.

Ich beiße mir schmerzhaft auf die Unterlippe und stecke das Handy weg. Matt schläft wahrscheinlich noch, aber das ist okay. Ich brauche einfach nur mal ein bisschen Ruhe, um einen klaren Kopf zu bekommen, also stecke ich den Schlüssel ins Türschloss und betrete die Wohnung …

Mimi

Als ich am nächsten Morgen in Matt’s Bett aufwache, brummt mir der Schädel. Stöhnend greife ich mir an die Stirn und wage es nicht, mich aufzusetzen. Scheiße, man. Alles dreht sich.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehe ich mich auf den Rücken. Matt liegt neben mir auf dem Bauch und schläft so friedlich wie ein kleines Kind.

Ich schnippe ihm gegen die Stirn.

Er wird wach. »Aua«, beschwert er sich brummend und kehrt mir den Rücken zu.

Ich schlage ihm gegen den Oberarm.

»Verdammt, lass das«, knurrt er und wendet sich mir nun doch mit verschlafenen Augen zu. »Was ist denn?«

»Mir platzt gleich der Schädel«, seufze ich und verdrehe die Augen. »Hast du Aspirin im Haus?«

Matt nickt. »In der Küche. Erste Schublade auf der rechten Seite.«

Ich hole tief Luft, als müsste ich gleich einen Marathon laufen, dabei schlage ich nur die Decke zurück und stehe auf.

»Mimi?«, höre ich Matt hinter mir sagen und drehe mich um, obwohl ich schon fast an der Tür bin. Seine Augen mustern mich und irgendetwas Anzügliches liegt in seinem Blick, was ich nicht richtig deuten kann. Wieso sieht er mich so an?

»Was?«, frage ich verschlafen. Seine Mundwinkel zucken, als er sich zur Seite rollt und sich nach unten bückt, um sein T-Shirt vom Boden aufzuheben. Er wirft es mir zu. »Hier, zieh das an. Nur zur Sicherheit.«

Erst jetzt sehe ich ebenfalls an mir hinab und erstarre. Ich bin komplett nackt.

Oh Gott …

Schnell ziehe ich mir sein Shirt über den Kopf, was mir glücklicherweise bis unter den Po reicht, während mir die Hitze in den Kopf steigt.

»Du musst nicht gleich rot werden«, meint Matt lachend und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.

»Richtig«, erwidere ich bemüht tonlos. »Nichts, was du nicht schon gesehen hättest.«

Dann verlasse ich sein Zimmer und atme durch.

Er macht mich nervös. Was wir getan haben, macht mich nervös.

Dabei ist Matt sicher der letzte Mann auf diesem Planeten, vor dem mir ein One-Night-Stand peinlich sein müsste. Er hatte schließlich schon genug Frauen. Trotzdem wünsche ich mir gerade, ich hätte einen Blackout.

Gott, Mimi. Was ist nur mit dir los?

Ich reibe mir mit den Händen übers Gesicht. Dann durchsuche ich die Schublade in der Küche nach dem Aspirin und schmeiße mir gleich zwei Tabletten ein. Als ich wieder zurück in Matt’s Zimmer gehe, liegt er auf dem Rücken und tippt eine Nachricht in sein Handy ein. Ich schlüpfe wieder unter die Decke und er legt das Handy weg, um sich auf die Seite zu drehen und mich anzusehen.

»War ja klar, dass du einen Kater hast. Du bist nichts gewöhnt, Mimi.«

Ich stöhne auf und lege eine Hand an die Stirn. Ist das wirklich der richtige Zeitpunkt, um mich aufzuziehen?

»Zumindest bin ich es nicht gewöhnt, splitterfasernackt in deinem Bett aufzuwachen.«

In dem Moment, als ich es ausspreche, bereue ich es auch schon.

»Ähm, ich meine … ich bin es nicht gewöhnt, überhaupt nackt in irgendeinem anderen Bett aufzuwachen. Ich mache so was eigentlich nicht.« Ich drehe mich auf die Seite, so dass wir uns ins Gesicht schauen können und sehe, dass er belustigt grinst.

»Was ist?«, frage ich fast schon beleidigt.

»Na ja«, beginnt er und runzelt die Stirn. »Wir hatten Sex, was so ziemlich alle Regeln einer gesunden Freundschaft bricht. Und du machst dir Gedanken darüber, dass du nackt bist?«

Okay, so gesehen …

»Stimmt«, erwidere ich gequält und schlage beide Hände vors Gesicht, damit ich ihn nicht mehr ansehen muss. Ich bin so was von am Arsch.

»Was haben wir nur getan?«

»Wir hatten Sex«, wiederholt Matt völlig gleichgültig. Kann er bitte aufhören, das ständig zu sagen? Ich fühle mich auch so schon mies genug, ohne, dass er es mir ständig unter die Nase reibt.

»Ja, das sagtest du schon.« Wütend nehme ich die Hände vom Gesicht und funkle ihn an. Dann schlage ich ihm gegen den Oberarm.

»Aua! Hey, was soll das?«

»Wieso hast du mich nicht davon abgehalten?«

»Dich abgehalten? Wovon? Mit mir zu schlafen?« Matt wirkt amüsiert. Ich finde das gar nicht lustig.

»Ja!«, tadle ich ihn.

»Ich habe doch versucht, dich davon abzuhalten.«

Ich gebe ein Zischen von mir. »Nicht sehr erfolgreich. Ist dir die schwere unseres Vergehens nicht bewusst?«

»Gott, Mimi«, meint Matt, schlägt die Decke zurück und steht auf. Warum hat er eine Unterhose an und ich nicht?

»Dazu gehören immer noch zwei. Und jetzt hör auf so zu tun, als hätten wir eine Straftat begangen. Es war nur Sex. Nichts weiter.«

Er geht zur Kommode und zieht ein frisches Shirt heraus, welches er sich überstreift. Ich beobachte ihn und beiße mir auf die Unterlippe.

»Und … und was ist mit Tai?«

Ich sehe, wie Matt für einen Moment in seiner Bewegung inne hält. Dann macht er unbeirrt weiter.

»Was soll mit ihm sein?«

Seine Stimme klingt fest. Hat er denn kein Gewissen?

»Er ist dein bester Freund und wir … wir …« Ja, wir sind nicht mehr zusammen. Aber … wir empfinden etwas füreinander.

Matt schiebt die Schublade seiner Kommode mit einem lauten Knall zu, der mich zusammenfahren lässt, ehe er sich zu mir umdreht.

»Tai muss es nicht erfahren.«

Als ich zaghaft nicke, weil ich weiß, dass es das einzig Kluge ist, was wir jetzt noch tun können. Wir verheimlichen unsere Nacht. Und werden es nie wiederholen. Es ist schon so gut wie vergessen.

Vielleicht wird es ja wahr, wenn ich es mir einrede …

Ja, na klar, Mimi. Du bräuchtest schon einen Schlag auf den Kopf und eine ausgeprägte Amnesie, um diese Nacht zu vergessen.

Matt legt sich wieder ins Bett und wirft einen Blick auf seine Handyuhr.

»Ich werde noch eine Runde schlafen. Wir haben heute Abend einen Auftritt und wollen uns nachher noch zu den Proben treffen, da muss ich fit sein. Wenn du willst, kannst du dich auch gerne noch mal umdrehen«, schlägt Matt mir vor und ich blinzle verwirrt. Was für ein krasser Themenwechsel. Lässt ihn das alles so eiskalt?

»Ich kann nicht«, antworte ich gähnend, weil ich wirklich, wirklich müde bin, aber steige trotzdem aus dem Bett und fange an, meine Klamotten einzusammeln und anzuziehen. »Meine Schicht beginnt bald.«

»Okay«, zuckt Matt mit den Schultern und dreht sich um. Als ich mir die Schuhe anziehe, höre ich, wie seine Atmung bereits langsamer wird. Er scheint wohl schon eingeschlafen zu sein.

Ich trete neben das Bett, lege den Kopf schief und betrachte ihn noch für einen kurzen Moment. Mein Blick fällt auf das Tattoo an seinem Handgelenk, was er sich gestern Abend hat stechen lassen. Das halbe Herz.

Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, welche Gefühle Matt hat oder was in ihm vorgeht. Für mich war er immer nur ein Freund, weil er Tais bester Freund ist. Aber ich habe mich nie gefragt, wer er wirklich ist. So langsam beginnt das Bild, was ich bisher von ihm hatte, zu bröckeln. Ich kann förmlich spüren, wie ich immer mehr das Bedürfnis habe, hinter die Fassade zu blicken. Ich glaube, da ist mehr - viel mehr, als er andere Menschen von sich sehen lässt.

Als er sich im Schlaf auf den Bauch dreht, schüttle ich schnell den Kopf. Dann ziehe ich mich leise zurück und lasse ihn schlafen. Ich schließe die Tür zu seinem Zimmer und erstarre im selben Moment, weil ich ein Geräusch wahrnehme. Das Geräusch eines Schlüssels, der sich in das Schloss der Wohnungstür schiebt.

Ach, du heilige Scheiße.

Das kann nur Tai sein.

Mein Herz beginnt wie wild zu rasen, während ich mich panisch umsehe. Verdammt, was mache ich jetzt? Mich verstecken? Aber wo?

Sei nicht albern, Mimi. Einen Notausgang gibt es schon mal nicht, das ist klar, also tue ich das Einzige, was mir einfällt und grabsche nach dem ersten Gegenstand, der mir ins Auge springt.

Just in diesem Augenblick öffnet sich die Wohnungstür und Tai steht im Flur. Er hebt den Kopf und sieht mich so überrascht an, dass man meinen könnte, er stünde einem Geist gegenüber. Ich bin zur Salzsäule erstarrt, presse dabei den Gegenstand an meine Brust und zwinge mich dazu die Hand zum Gruß zu heben. Am liebsten würde ich mein Herz genauso fest umklammern, wie das Teil in meiner Hand, damit es endlich aufhört fast aus meiner Brust zu springen.

»H-h-hi«, stottere ich mit bebender Stimme.

»Mimi?«, kommt es irritiert aus seinem Mund und er mustert mich. »Was machst du hier?«

Ja.

Was mache ich hier?

Gute Frage.

Ich hatte Sex mit deinem besten Freund - schießt es mir durch den Kopf und ich beiße mir schnell auf die Zunge, ehe ich diesen Gedanken laut aussprechen kann. Stattdessen sage ich: »Ich … ich wollte mir nur das hier ausleihen.«

Tai runzelt die Stirn. »Matt's Handyladekabel? Wieso?«

Ich sehe auf das Kabel in meiner Hand und hätte mir am liebsten gegen den Kopf geschlagen.

»Ähm ja, also, meins ist kaputt.« Bevor es völlig unglaubwürdig werden kann, schiebe ich das Teil in meine Tasche. »Er hat gesagt, es ist okay, wenn ich mir seins ausborge, bis ich mir heute nach der Arbeit ein Neues kaufen kann. Mein Akku ist komplett leer und ich schaffe es vor der Schicht nicht, mir ein Neues zu organisieren.«

»Ach so«, entgegnet Tai tonlos, weshalb ich auch keine Ahnung habe, ob er mir die Lüge abkauft. Neuerdings ist er so anders, wenn wir uns begegnen. Als müsste er vor mir jegliche Emotion verbergen. Ob das eine Art Schutzmechanismus ist?

Tai schließt die Tür hinter sich und kommt ins Wohnzimmer. Immer näher. Eigentlich will ich zurückweichen, aber da ich in die entgegengesetzte Richtung muss, gebe ich mir einen Ruck und setze mich ebenfalls in Bewegung. Als ich an ihm vorbei gehe, streifen sich unsere Arme und mein Kopf schnellt zu ihm herum. Genauso wie seiner. Unsere Blicke treffen sich und halten einander fest. In seinen Augen liegt Unausgesprochenes, doch noch, bevor ich ihn durchdringen kann, wendet er sich wieder ab. Seine Miene erkaltet.

Ich könnte jetzt gehen. Tue ich aber nicht. Stattdessen stehe ich da und sehe zu ihm auf, während ich leicht den Kopf schief lege und mein Blick ganz weich wird.

Es tut mir in der Seele weh, ihn so zu sehen.

»Schau mich nicht so an, Mimi.« Seine Worte sind nicht mehr als ein Flüstern.

Ich schlucke. »Wie denn?«

Nun verengen sich seine Augen zu zwei Schlitzen und er sieht mich von der Seite her an. »So, als würde ich dir leidtun. Das ertrage ich jetzt echt nicht.«

Die Luft, die ich angehalten habe, atme ich aus. Sie verwandelt sich in ein Knistern, das den ganzen Raum erfüllt. Ich kann förmlich spüren, wie sich alles in mir zu ihm hingezogen fühlt und ihn am liebsten umarmen möchte.

Er fehlt mir so sehr. Er hat ja keine Ahnung, wie sehr. Aber ich will ihn nicht noch weiter quälen. Das alles scheint ihm schwer genug zu fallen.

Tai sieht mich nicht mehr an, aber er geht auch nicht weg. Er steht immer noch neben mir, als wäre er unentschlossen, was er nun tun soll. Ich sehe nach unten auf unsere Hände, die viel zu nah beieinander sind, um sich nicht zu berühren. Mein Zeigefinger verselbstständigt sich und will sich um seine Hand schließen, doch im letzten Moment halte ich inne. Meine Haut berührt seine Haut nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch es reicht aus, um zu erkennen, dass es falsch ist. Ich kann ihn nicht mehr berühren, nicht auf diese Weise.

Also lasse ich meine Hand schweren Herzens sinken.

»Es tut mir leid«, wispere ich mehr zu mir selbst als zu ihm. Dann ergreife ich die Flucht, bevor ich schwach werden kann.

Erst, als die Tür hinter mir zuschlägt, nehme ich wahr, wie hoch mein Puls ist. Dass mir das Blut in den Ohren rauscht, als wäre ich eben einen Marathon gelaufen. Tränen schießen mir in die Augen, doch ich halte sie zurück.

Ich darf jetzt nicht weinen.

Ich will jetzt nicht weinen.

Nicht wegen Tai, nicht wegen unserer Freundschaft und auch nicht wegen unserer verlorenen Liebe.

Ein paar tiefe Atemzüge und mein Innerstes beruhigt sich soweit, dass ich endlich dieses Haus verlassen kann.

Ich darf nicht ständig wegen ihm zusammenbrechen, das bringt mich kein Stück weiter. Ich muss stark sein - um meiner selbst willen. Aber auch für Tai. Damit er nicht noch mehr leidet, als er es ohnehin schon tut.

Mimi

Die letzten zwei Wochen habe ich wie in einer Art Trance erlebt.

Ich war gar nicht richtig da.

Ich bin aufgestanden, zur Arbeit gegangen, bin wieder nach Hause gegangen und habe geschlafen. Das Essen habe ich meist ausfallen lassen, weil mir eh nicht danach war. Und auch so hat sich die letzte Zeit wie ein Traum angefühlt - wie ein Albtraum. Nichts, was einmal wichtig war, ist noch von Bedeutung. Als wäre da plötzlich ein Loch, das nicht gefüllt werden kann.

Nein, das ist so nicht ganz richtig.

Ich hatte es geschafft, dieses Loch zu füllen, und war es auch nur für einen kurzen Augenblick. Das war der Abend, an dem ich mit Matt zusammen war. Sein Körper, der sich an meinen geschmiegt hat und diese Nähe, die sich so sehr nach Wärme angefühlt hat, hat dieses Loch für eine kurze Zeit verschwinden lassen. Doch als ich dann Tai über den Weg gelaufen bin, war es sofort wieder da. Und mit ihm der ganze, verdammte Schmerz.

Ich kann nicht sagen, wie ich es geschafft habe, mich nicht wieder Tagelang in meiner Wohnung einzuschließen und zu weinen. Vermutlich, weil ich es diesmal einfach nicht zugelassen habe. Ich habe mich so mit Arbeit überschüttet und jede Schicht geschoben, die ich kriegen konnte, dass ich fast darin erstickt wäre.

Viel Arbeit - keine Zeit für Herzschmerz. Wenn das die Lösung ist, sollte ich wahrscheinlich zum Workaholic werden.

Heute ist der erste Tag, an dem ich nach zehn Tagen Arbeit frei habe und ich fühle mich super elend. Nicht nur, weil ich total übermüdet bin und ein Blick in den Spiegel mir das Ausmaß meiner ungesunden Arbeitsmoral verdeutlicht, sondern auch, weil mich die Ruhe zu Hause erschlägt.

Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck stehe ich vor dem Spiegel und versuche, die dunklen Schatten mit eiskalten Teelöffeln aus dem Kühlschrank wegzuzaubern, aber so recht will es mir nicht gelingen.

Ich lege die Dinger weg und betrachte mich seufzend.

Ich sollte wirklich etwas mehr schlafen. Länger als fünf Stunden zumindest.

Aber ich will nicht.

Ich will nicht träumen, weil ich ständig von Tai träume.

Ich will nicht einschlafen, danach aufwachen, auf mein Handy gucken und mich dazu zwingen, Tai nicht anzurufen. Das tut verdammt weh. Wahrscheinlich ist es einfach die Angewohnheit. Wir hatten immer sehr viel Kontakt und mit einem Mal gar nicht mehr. Das ist echt scheiße. Tai hat sich auch nicht bei mir gemeldet - aber warum sollte er auch?

Auch Matt meldet sich nicht mehr, was ich äußerst verdächtig finde. Ich habe ihm mehrere Nachrichten geschickt, aber er hat auf keine davon reagiert.

Super. Ich werde nicht nur von meiner großen Liebe ignoriert, sondern auch noch von dem Kerl geghostet, mit dem ich einen One-Night-Stand hatte. Ich würde sagen, ein neuer Tiefpunkt ist erreicht. War ich wirklich so mies im Bett?

Ach, egal. Wer braucht die schon?

Zumindest rede ich mir das ein, um nicht völlig den Verstand zu verlieren.

Eigentlich sollte ich auf direkten Wege ins Bett gehen, aber ich entscheide mich anders und ziehe stattdessen meine Schuhe an. Ich brauche dringend Ablenkung. Und Dad hat schon lange nichts mehr von mir gehört.
 

Kurze Zeit später komme bei meinem alten Familienhaus an. Als ich in der Einfahrt stehe, erdrückt mich sofort diese Aura, die seit der Trennung meiner Eltern einfach alles hier umgibt. Es ist, als würde ein Fluch auf dem Grundstück liegen. Ich sehe mich im Vorgarten um, sehe die verdorrten und verwelkten Blumen. Früher hatte Mom den Garten gehegt und gepflegt, als wäre es ihr zweites Kind. Er erstrahlte in einem Glanz, der einem immer, wenn man nach Hause kam, sofort gute Laune bereitet hat. Alles war bunt und freundlich und duftete nach Rosen.

Heute ist er nur noch grau und kalt und wie das Haus, ein Schatten seiner selbst.

Ich möchte nicht hier sein. Zu viele Erinnerungen an früher kommen hoch und machen mich traurig. Aber ich will wirklich wissen, wie es meinem Vater geht. Seit er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, habe ich ihn nur ein Mal besucht, um ihn zum Arzt zu begleiten, als sein Verband abkam. Ich habe ihm was zu essen gekocht und ein wenig das Haus aufgeräumt - das, was ich immer tue. Danach brauchte ich ein wenig Abstand. Er erzählte mir, dass er keine Ahnung hätte, wie es nun weiter gehen soll, aber so, wie es im Moment aussieht, würde er wohl bald das Haus verlieren. Ein weiteres Stück seines Lebens, dass einfach so verschwinden würde. Dabei wollte ich nicht zusehen. Ich weiß, was es aus ihm macht.

Trotzdem, er ist und bleibt mein Vater und ich fühle mich für ihn verantwortlich. Schweren Herzens stecke ich den Schlüssel ins Schloss und betrete den Flur.

Mein Herz rutscht in den Keller und für einen Moment stehe ich einfach nur regungslos da, während ich den Anblick der vielen gestapelten Kartons auf mich wirken lasse.

Es stimmt also tatsächlich.

Dad wird das Haus verlieren. Er wird ausziehen müssen.

Ich schlucke den dicken Kloß hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hat und versuche, stark zu sein und jetzt nicht los zu heulen.

»Mimi?«, höre ich Dad’s Rufen aus dem Wohnzimmer. Er muss wohl gehört haben, dass ich gekommen bin und da ich die Einzige bin, die einen Schlüssel hat …

»Ja, ich bin's«, antworte ich, streife mir die Schuhe ab und gehe zu ihm. Er sitzt gerade auf dem Sofa und studiert die Zeitung. Seine Lesebrille sitzt tief auf der Nase, als er sich zu mir umdreht und mich zu sich winkt.

»Hallo, Liebes. Komm, setz dich.«

Ich öffne den Reißverschluss meiner Jacke, mache mir aber nicht die Mühe, sie auszuziehen. In diesem Haus ist es eiskalt. Geht die Heizung etwa schon wieder nicht? Oder haben sie sie ihm abgestellt?

Dad scheint das jedoch nicht zu kümmern, er liest weiter eifrig die Anzeigen durch und markiert hin und wieder eine Stelle.

»Was tust du da?«, frage ich, als ich mich neben ihm setze und über seine Schulter schaue.

»Ich suche nach einem Job, wie immer. Du glaubst gar nicht, wie schwer es ist, heutzutage einen zu finden.«

Ich ziehe andächtig eine Augenbraue in die Höhe. »Dad, es gibt da etwas, das nennt sich Internet. Kein Mensch liest heute noch Zeitung. Bis du dich auf eine Jobanzeige in der Zeitung beworben hast, haben sich schon längst zwanzig andere Menschen per Mail beworben - und zwar fünf Tage früher.«

Dad zuckt nur mit den Schultern. Meine Weisheiten scheinen ihn ziemlich kalt zu lassen. »Würde kein Mensch mehr Zeitung lesen, würden diese Jobs ja nicht hier drin stehen, oder?« Er markiert eine weitere Anzeige und ich schaue noch irritierter drein. Eine Stellenausschreibung als Pizzalieferant? So was machen doch sonst nur Studenten.

»Dad, das willst du machen?«

»Es ist besser als nichts, oder?«

Ich nicke widerwillig. »Mmh, damit hast du nicht unrecht.«

»Das ist eine doppelte Verneinung, Mimi«, sagt Dad tonlos und rückt seine Brille zurecht. »Besser ist, du sagst: du hast recht.«

Ich schnaufe und schlage ihm gegen die Schulter. »Siehst du. Du bist viel zu intelligent, um Pizza und Pasta auszuliefern.«

Aus Gewohnheit stehe ich nun doch auf und beginne, im Wohnzimmer Ordnung zu schaffen. Außerdem muss ich mich bewegen, weil mir kalt ist.

»Ich bin vor allem ein Alkoholiker, der sein Leben nicht mehr im Griff hat.«

Er bringt diese Worte so selbstverständlich über die Lippen, dass ich in meiner Bewegung erstarre. Er sieht nicht einmal dabei auf.

»Du, sag mal …«, beginne ich deshalb zaghaft, während ich Plastiktüten mit Essensresten einsammle. » … wo willst du eigentlich hin, wenn du … na ja, hier ausziehen musst?«

»Keine Ahnung«, sagt er und blättert zur nächsten Seite um. Als wäre es ihm total egal. »Ich habe ja immerhin noch drei Wochen Zeit, mir das zu überlegen.«

Hmpf! Das ist nicht die Antwort, die ich mir erhofft habe.

»Und was ist mit deiner Therapie? Machst du die noch?«

»Hmm?«, macht Dad, als würde er mir gar nicht richtig zuhören. Dann sieht er kurz zu mir auf und winkt ab. »Ja, ja natürlich.«

Warum habe ich nur das Gefühl, dass das nicht stimmt?

Ich lege die Tüten ab und gehe vor ihm auf die Knie. Er lässt die Zeitung sinken und sieht mich fragend an. Ein besorgtes, aber aufrichtiges Lächeln legt sich auf meine Lippen.

»Dad, ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Willst du nicht für eine Weile zu mir kommen? Du könntest auf dem Sofa schlafen und ich auf einer Luftmatratze. Dann müsstest du hier nicht frieren.«

Dieser sanftmütige Blick legt sich auf sein Gesicht, den ich noch von früher kenne. Hinter diesen gütigen Augen, die so müde und erschöpft sind, erkenne ich immer noch meinen alten Dad. Und manchmal lässt er noch etwas von seiner alten Stärke durchblicken, so wie jetzt.

»Ach, Mimi«, sagt er und streicht mir liebevoll über die Wange. »Mein Schatz, ich weiß, du würdest alles für die Menschen tun, die du liebst, auch wenn das bedeuten würde, deine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst und ich schätze es, dass du dich um mich kümmerst. Aber damit muss Schluss sein, hörst du? Du kannst dich nicht noch mehr für mich aufopfern, als du es eh schon getan hast. Ich bin so dankbar und stolz, dass du meine Tochter bist und genau das sollst du auch immer bleiben - meine Tochter, mein Kind. Lass mich nicht noch armseliger dastehen, als ich es eh schon tue. Ich bin dein Vater und du bist mein Kind, nicht umgekehrt.«

Ich bemerke erst, dass ich weine, als er mir mit dem Daumen die Träne von der Wange wischt. Schnell reibe ich mir mit dem Ärmel über die Augen.

»Tut mir leid.«

Dad lächelt mich an. »Du bist mir viel zu ähnlich«, sagt er. »Nie willst du Schwäche zeigen, nicht einmal vor dir selbst. Aber, wenn mich das Leben eins gelehrt hat, dann, dass man durchaus auch mal schwach sein darf. Dass man sich verloren fühlen darf. Wichtig ist nur, dass man wieder zu sich selbst zurück findet. Du bist stark, Mimi. Wahrscheinlich bist du stärker als ich es je sein werde.«

Ich schniefe und wische mir weitere Tränen aus dem Gesicht. Wieso kann ich nicht aufhören zu weinen?

»Ich kann stark für uns beide sein.«

Dad schüttelt den Kopf. »Das musst du aber nicht«, flüstert er und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann steht er auf und geht hinüber zum Regal in der Ecke. Er greift nach einem Brief und gibt ihn mir. Ich setze mich wieder aufs Sofa und er sich daneben, während ich den Brief lese. Meine Augen weiten sich.

»Du hast einen Platz in einem stationären Therapiezentrum.« Ich lese die Sätze immer und immer wieder, weil ich es nicht glauben kann. Dann sehe ich ihn an.

»Willst du das wirklich machen?«

Dad zuckt mit den Schultern und schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln. »Habe ich eine andere Wahl, wenn ich meine Tochter irgendwann wieder haben will?«

Ich lege eine Hand auf sein Bein. »Aber du hast mich doch. Ich werde immer für dich da sein.«

Seine Hand ergreift meine und drückt sie ganz fest. »Ich weiß. Aber ich habe auch gemerkt, wie sehr es dich kaputt macht, mich so zu sehen. Ich weiß gar nicht, wann du das letzte Mal gelacht hast. Früher warst du immer so fröhlich und heute … heute scheint es, als würden alle Probleme nur auf deinen Schultern lasten. Und ich weiß, dass das mit ein Grund ist, warum du nicht mehr glücklich sein kannst. Ich vermisse die alte Mimi.«

Ich sehe zu Boden.

Ja … ich vermisse die alte Mimi auch.

»Aber ich weiß, dass das nicht alles ist«, fügt er noch hinzu, was mich aufsehen lässt. Mein Dad wirft mir einen wissenden Blick zu und mir ist sofort klar, dass es keinen Sinn macht, es abzustreiten.

»Geht es um Tai?«, fragt Dad mich frei heraus und ich zucke kaum merklich zusammen. »Ist er der Grund dafür, dass du nicht mehr lächelst?«

Ich schlucke die Bitterkeit hinunter, die in mir aufsteigt, als ich an ihn und Sora denke. »Woher weißt du davon?«

»Nun …«,meint Dad legt einen Finger ans Kinn, während er sich zurück in die Sofakissen sinken lässt. »Deine Mutter hat mir gegenüber erwähnt, dass dich so ein Kerl auf einem Motorrad vor dem Krankenhaus abgeholt hat und dass er auch da war, als du nach dem Unfall zu mir wolltest.«

Ein spöttisches Lachen dringt aus meiner Kehle. »Was? Sie hat dir von Matt erzählt?«

Wow, er scheint ihr ja echt ein Dorn im Auge zu sein. Wie wunderbar!

Dad schnippt mit dem Finger, als hätte er eine Erleuchtung gehabt. »Ah, ja, richtig. Matt war sein Name. Na jedenfalls, als sie mir das erzählt hat, habe ich mir nur eine Frage gestellt: wo war Tai?«

Überrascht sehe ich ihn an. Seit wann kombiniert er so schlau?

Dad legt einen fragenden Blick auf. »Wo war Tai, als du ihn gebraucht hättest? Normalerweise seid ihr beide doch unzertrennlich. Er war immer an deiner Seite, wenn es nötig war, war immer für dich da. Es kam mir unwahrscheinlich vor, dass er dich nicht ins Krankenhaus fahren würde, wenn dein Vater einen Unfall hatte. Stattdessen fährst du auf einem Motorrad durch den strömenden Regen. Wieso solltest du das tun, wenn ihr euch nicht gestritten habt?«

Mit weitaufgerissenen Augen haftet mein Blick an ihm, während mir der Mund aufklappt.

»Nicht schlecht, Sherlock«, sage ich anerkennend und Dad grinst.

»Ja, oder?«

»Ich sage ja, als Pizzalieferant wärst du wirklich überqualifiziert.«

»Lenk nicht vom Thema ab«, antwortet Dad.

Ich seufze und falte die Hände im Schoß, weil es mir unangenehm ist, mit ihm darüber zu reden. Wobei …

»Du hast recht«, gebe ich leise zu. »Wir haben uns gestritten. Ziemlich schlimm sogar. Aber eigentlich … es war kein richtiger Streit, es ist nur … es ist kompliziert.«

Gott, wie soll ich ihm das erklären? Wie soll ich das JEMALS JEMANDEN erklären? Das glaubt mir doch kein Mensch. Mein Leben gleicht einem absolut schlechten, kitschigen Liebesfilm, der nicht mal ein Happy End hat.

»Magst du ihn noch?«, fragt Dad.

Ich muss nicht lange überlegen und nicke. »Ja, sehr.«

»Und mag er dich auch noch?«

»Das hoffe ich«, entgegne ich traurig, weil ich ehrlich keine Ahnung habe, was wirklich in Tai vorgeht. Unser Ende kam so abrupt, so unerwartet, dass ich nicht mehr weiß, woran ich überhaupt noch glauben soll.

»Und … magst du diesen Matt?«, will Dad plötzlich wissen, was mich stirnrunzelnd aufsehen lässt.

»Wir sind nur Freunde.«

Dad zieht eine Augenbraue in die Höhe und betrachtet mich mit einem andächtigen Blick, was mir verrät, dass das eben genau die falsche Reaktion war.

»Das war nicht meine Frage.«

Ich stöhne auf. »Natürlich mag ich ihn. Er ist ein guter Freund.«

»Das mit dem Freunde-Ding sagst du ein bisschen zu oft. Mich musst du nicht davon überzeugen.«

Ich funkle ihn böse an. Was soll dieses Verhör? Ich komme mir vor, wie in einer Gerichtsverhandlung. Vielleicht, weil ich mich verdammt schuldig fühle, denn ich habe mit Matt geschlafen, obwohl er vermutlich der einzige Mann auf diesem Planeten ist, der tabu für mich sein sollte.

»Was ich damit sagen will«, setzt Dad seine kleine Rede fort. »Es spielt überhaupt keine Rolle, für wen du welche Gefühle hast. Wichtig ist nur, dass sie echt sind. Wenn sie echt sind, wirst du wissen, was zu tun ist.«

Ein unsicheres, schiefes Grinsen legt sich auf meine Lippen.

»Toll. Das hilft mir jetzt so gar nicht weiter.«

Dad lacht. »Keine Sorge, irgendwann wirst du es verstehen.«

»Äh, danke, für deine Weisheiten, Dad.«

»Nicht dafür.«

Er klopft mir auf die Schulter, wie einem guten Kumpel. Dann erhebt er sich, um in die Küche zu gehen, während ich ihm verwirrt hinterher starre. Ich bin keinen Deut schlauer als vorher.
 

Da ich heute den ganzen Tag frei habe, bleibe ich noch ein wenig länger bei Dad und putze das Haus. Auch, wenn er eh bald ausziehen wird. Ich möchte, dass er es trotzdem so schön hat, wie es nur geht. Danach gehe ich noch einkaufen und koche Pasta für uns. Dad schaufelt sich das Essen rein, als wäre er komplett ausgehungert, weshalb ich ihm sogar noch den Rest von meiner Portion gebe, die ich eh nicht schaffe. Wenigstens das darf ich noch für ihn tun.

Ich bin wirklich stolz auf ihn, dass er jetzt endlich diesen Schritt gehen wird. Es ist das einzig Richtige, die einzige Lösung, wenn er irgendwann sein Leben wieder haben will.

Als wir uns verabschieden, verspreche ich, in der nächsten Woche nach ihm zu sehen und ihm beim Packen zu helfen. Er sagt, seine ganzen Sachen werden erst einmal eingelagert, bis er eine neue Unterkunft hat. Aber bis zum Start der Therapie sind es noch sechs Wochen. Darauf zu hoffen, dass sich schon irgendwas ergeben wird, genügt mir nicht. Ich weiß, ich sollte das nicht tun … alle haben es mir gesagt … Tai, Matt, meine Mom, sogar Dad sagt ich soll aufhören, mich so sehr um ihn zu kümmern, aber … eine allerletzte Sache kann und muss ich noch für ihn tun.

Ich mache mich zu Fuß auf den Weg in die Stadt, während ich mein Handy aus der Tasche hole und die Nummer meiner Mutter wähle. Es dauert nicht lange, bis sie abhebt.

»Mimi, hallo? Wie schön, dass du anrufst«, begrüßt sie mich überschwänglich, weil wir uns seit unserem Streit im Krankenhaus nicht mehr gesehen haben. Ich brauchte definitiv Abstand von ihr - mal wieder.

Aber jetzt brauche ich ihre Hilfe.

»Hi Mom, kannst du gleich ins Blue Bottle Café kommen? Ich bin gleich da und warte dort auf dich«, komme ich direkt zur Sache.

»Oh, ähm …«, überlegt sie. Mir ist klar, dass ich sie gerade ziemlich überfalle.

»Ich denke, wir müssen reden, Mom«, füge ich hinzu, weil ich nicht will, dass sie absagt. Wenn sie wüsste, warum ich sie wirklich sehen will, hätte sie ganz sicher keine Zeit.

»Okay, Liebling, ich komme. Gib mir eine halbe Stunde.«

»Ist gut, bis gleich.«

Ich lege auf und seufze. Auch wenn ich sie nicht sehen möchte, um mit ihr zu reden, wäre es vermutlich keine schlechte Idee. Zwischen uns kriselt es gewaltig und ich habe ein wenig Sorge, dass sich unser schlechtes Verhältnis auf die Beziehung zu meinem kleinen Bruder auswirken wird. Das möchte ich auf keinen Fall. Vielleicht sollte ich ihr geben was sie will, dann ist sie sicher auch bereit, mir zu helfen.

Tai

Ich bin aufgeregt.

Ich war zwar schon bei Soras letztem Arztbesuch dabei, aber heute können wir eventuell das Geschlecht erfahren und das ist ziemlich spannend. Auch wenn ich immer noch hin und hergerissen bin. Auf der einen Seite möchte ich natürlich hier sein, sehen, wie mein Baby wächst und wie sein Herz schlägt. Auf der anderen Seite möchte ich am liebsten schreiend davonlaufen. Viel zu oft wünsche ich mir immer noch, das alles wäre nur ein Albtraum, aus dem ich bald erwachen würde.

Ich habe es immer noch nicht meinen Eltern gesagt, aber sie sind zur Zeit eh auf Reisen, weshalb ich auch ab und zu zu Hause vorbei schauen muss, um nach Kari zu sehen. Obwohl sie inzwischen alt genug ist, aber Mama will es so. Wahrscheinlich ist das einfach so bei Müttern - sie machen sich immer Sorgen um ihre Kinder, egal, wie alt sie sind. Deshalb halte ich auch gerade Soras Hand, während der Arzt mit dem Ultraschallgerät über ihren Bauch fährt. Sie macht sich ständig Sorgen, ob mit dem Baby alles in Ordnung ist. Bei mir ist es nicht ganz so schlimm, aber ich kann sie trotzdem verstehen. Sora war immer schon eine etwas ängstliche Person. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum sie immer noch zu Hause bei ihrer Mutter wohnt. Sie sagt zwar, das Haus ist groß genug, dass sie sich aus den Weg gehen können, wenn sie wollen, aber in Wahrheit hat sie einfach nur Angst, auf eigenen Beinen zu stehen. Was macht dann erst der Gedanke, bald für einen anderen Menschen verantwortlich zu sein, mit ihr?

»Das sieht alles bestens aus«, verkündet der Arzt und ich höre, wie Sora erleichtert aufatmet. Ich lasse ihre Hand los, als würde sie mich jetzt nicht mehr brauchen und mir entgeht nicht der kurze, aber eindeutige Blick, den sie mir zuwirft. Ich hingegen konzentriere mich ganz auf das Ultraschallbild und auf das, was der Arzt sagt. Er zeigt uns Arme, Beine und Kopf und wir sehen, wie kräftig das Herz schlägt. Das Geschlecht kann der Arzt leider noch nicht erkennen. Trotzdem finde ich es faszinierend - das Wunder des Lebens. Jedes Mal, wenn ich das Baby sehe, denke ich: es kann doch nicht sein, dass etwas so Wunderschönes aus einem so riesigen Fehler entsteht.

Sora ist sichtlich gerührt und ich teile ihre Freude, wenn auch nur bedingt.

Nachdem wir das Arztzimmer wieder verlassen, meint Sora, sie müsse noch mal zur Toilette. Ich halte ihre Jacke und warte auf dem Flur, bis sie fertig ist. Unterdessen verlässt ihr behandelnder Arzt das Zimmer und geht wortlos an mir vorbei. Ich lehne mit dem Rücken an der Wand, schaue ihm nach und ehe ich mich versehe …

»Doktor?«

Fragend dreht er sich zu mir um.

Scheiße. Was mache ich hier? Ist das wirklich dein Ernst, Tai?

Zögernd gehe ich auf ihn zu und werfe dabei einen prüfenden Blick über die Schulter, in Richtung der Toiletten.

»Kann ich Ihnen noch irgendwie weiterhelfen, Herr Yagami?« Der Arzt legt nun prüfend den Kopf schief und ich weiß, dass er eigentlich keine Zeit hat, weil er zum nächsten Patienten muss. Aber das hier ist vermutlich die einzige Chance, die ich habe.

»Nun ich …«, beginne ich unsicher. » … um ehrlich zu sein, ja, vielleicht können Sie mir weiterhelfen.«

»Ach ja?« Sein Interesse ist geweckt. Ich atme tief durch.

»Wissen Sie, es gibt da eine Sache, die mir schon die ganze Zeit nicht aus dem Kopf geht und ich frage mich einfach … wie kann es sein, dass Sora schwanger geworden ist, obwohl wir immer verhütet haben?«

Jetzt zieht er andächtig eine Augenbraue in die Höhe und sieht mich an, wie einen kleinen Jungen, mit dem er jetzt ein Aufklärungsgespräch führen muss.

»Herr Yagami«, beginnt er beinahe belustigt und tritt von einem Bein auf das andere. »Ich muss Ihnen ja wohl nicht erklären, dass es trotz einer scheinbar sicheren Verhütungsmethode zu einer Schwangerschaft kommen kann. Es gibt immer Schlupflöcher.«

Gestresst fahre ich mir über die Stirn. »Nein, das müssen Sie nicht. Ich weiß, dass das passieren kann. Aber die Wahrscheinlichkeit ist doch sehr gering, oder? Ich meine, wenn ich ganz offen reden darf, wir haben immer ein Kondom benutzt und es ist meiner Meinung nach nie etwas schief gelaufen.«

Der Blick des Arztes verändert sich, als er versteht, worauf ich hinaus will. Das hatte er offenbar nicht kommen sehen.

»Sie denken, Sie sind nicht der Vater.« Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine Feststellung, mit der er absolut recht hat. Nur ein Gedanke, der mich einfach nicht ganz loslässt, auch wenn ich Sora gerne bedingungslos vertrauen möchte.

Betreten sehe ich zu Boden und weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich denken soll. Ich habe gegoogelt, viel zu viel über dieses Thema gelesen und letztendlich doch keine eindeutige Aussage gefunden, außer: alles ist möglich. Das hilft mir jedoch nicht weiter, die Zweifel aus meinem Kopf zu vertreiben.

»Hmm, ich verstehe Ihre Lage«, unterbricht der Doktor mein Gedankenkarussell und ich sehe leicht hoffnungsvoll zu ihm auf.

»Allerdings sind mir, was das angeht, die Hände gebunden. Die einzige Möglichkeit, die Sie haben ist, mit der Mutter zu sprechen, ob sie sich einer Fruchtwasseruntersuchung unterziehen würde. Das wäre der einzige Weg, um eine Vaterschaft schon vor der Geburt zu bestätigen. Allerdings ist so eine Untersuchung immer auch mit Risiken verbunden, wenn auch nicht mit vielen. Aber dennoch … wenn sie diese Untersuchung ausschlägt, bleibt Ihnen nur, die Geburt abzuwarten. Sobald das Baby auf der Welt ist, können Sie einen Vaterschaftstest durchführen.«

Ich schnaufe, in Anbetracht meiner wenigen Optionen. Ich weiß, Sora würde dieser Untersuchung vermutlich niemals zustimmen, was für mich weitere Monate der Ungewissheit bedeuten würde.

Ich öffne den Mund, um etwas zu antworten, doch in dem Moment höre ich die Toilettentür hinter mir. Der Arzt versteht sofort, nickt mir zu und beendet unser Gespräch, indem er sich wortlos umdreht und geht.

»Wow, meine Blase hat so gedrückt, ich habe gefühlt fünf Liter ausgepinkelt«, sagt Sora, als sie neben mich tritt. Ich versuche, ihr ein Lächeln zu schenken und helfe ihr in die Jacke.

Das Gespräch mit dem Arzt war äußerst unbefriedigend, weshalb ich ein paar Minuten später auch unruhig mit den Fingern aufs Lenkrad trommle, während ich Sora nach Hause fahre.

Ich spüre ihren Blick auf mir ruhen.

»Du wirkst angespannt«, stellt sie nüchtern fest, doch ich sehe sie nicht an. »War irgendwas nicht in Ordnung? Die Untersuchung ist doch gut gelaufen.«

»Ja, das ist sie«, brumme ich vor mich hin. Eine ganze Weile schweigt sie, was mir wirklich mehr als recht ist. Mir gehen einfach zu viele Dinge durch den Kopf. Doch nach einiger Zeit der Stille, ergreift Sora schließlich das Wort.

»Was habt ihr vorhin noch besprochen?«

Kurz erstarre ich in meiner Bewegung, als ich den Blinker setzen will. Dann tue ich es und biege ab. »Du hast das mitbekommen?«

Ich sehe zu ihr rüber. Sie nickt. Dann wirft sie mir einen gequälten Blick zu.

»Was ist los, Tai? Du bist irgendwie ganz anders als sonst.«

Mag vielleicht daran liegen, dass mir das alles ein wenig über den Kopf wächst und ich nicht weiß, ob du mich anlügst?

Ich schlucke schwer, bevor ich antworte.

»Würdest du einer Fruchtwasseruntersuchung zustimmen?«

Sora runzelt die Stirn. »Wieso sollte ich das tun?«

»Weil ich wissen möchte, ob ich wirklich der Vater deines Kindes bin.«

Ich spüre, wie Sora neben mir zur Salzsäule erstarrt. Ihre Finger krallen sich in ihren Anschnallgurt. Damit hat sie wohl nicht gerechnet.

»Was soll das, Tai? Es gab keinen anderen. Ich war mit dir zusammen. Was sollen plötzlich diese Zweifel?«

Ich reibe mir mit der Hand übers Gesicht und puste dabei die Luft aus. Meint sie das Ernst?

»Du weißt genauso gut wie ich, dass wir immer verhütet haben.«

Sora stößt ein missbilligendes Lachen aus. »Mach dich nicht lächerlich.« Sie schaut aus dem Fenster. »Ich denke, du weißt, dass Kondome auch nicht unfehlbar sind.«

»Ja, das weiß ich«, antworte ich nun eine Spur härter, weil es mir so vorkommt, als würde sie denken, ich wäre ein Idiot.

»Warum machst du dann plötzlich so ein Fass auf?«, will sie wissen und sieht mich verständnislos an. »Ich verstehe nicht, was das soll. Wir bekommen ein Baby, Tai und du … du wirfst mir so etwas an den Kopf. Ich weiß überhaupt nicht, was ich davon halten soll. Hat Mimi dir diesen Quatsch eingeredet?«

Wie auf Kommando schnellt mein Kopf bei ihrem Namen in Soras Richtung. Sie zuckt zusammen, während ich sie anfunkle.

»Lass Mimi da raus, sie hat damit rein gar nichts zu tun.«

Stumm sieht Sora mich an, bis ein Zischen über ihre Lippen kommt. »So war das doch gar nicht gemeint. Aber du musst auch mich verstehen, Tai. Du machst mit mir Schluss, einfach so, um dann kurz darauf mit Mimi zusammenzukommen. Was soll ich davon halten? Ich weiß, dass sie bisher eine große Rolle in deinem Leben gespielt hat …«

Ja, bisher. Nun leider nicht mehr.

Ich halte an einer roten Ampel und Sora greift nach meiner Hand, um sie auf ihren Bauch zu legen. »Aber das hier … das ist viel größer als alles, was vorher war, findest du nicht? Und egal, was vorher zwischen uns passiert ist oder was da mit Mimi gelaufen ist … dieses Kind ist von dir. Und ich will dich nicht verlieren.«

Ihre Worte klingen echt. Aufrichtig. Fast schon schäme ich mich dafür, dass ich ihr so etwas unterstellt habe.

Allerdings …

»Ich weiß, dass du mich nicht verlieren willst«, wiederhole ich leise. »Aber würdest du mich deshalb anlügen?« Noch während ich diese Frage ausspreche, sehe ich ihr direkt in die Augen. Ich versuche, irgendetwas darin zu erkennen. Die Wahrheit. Die Lüge. Irgendwas. Aber da ist nichts. Nichts, was ich aus ihrem Gesicht lesen könnte. Da ist nur das sanfte Lächeln, dass ihre Lippen umspielt und mir Vertrauen schenken soll.

»Nein«, sagt sie mit fester Stimme. »Bitte vertrau mir, Tai.«

Ich zögere, was Sora nicht aus der Fassung bringt. Erwartungsvoll sieht sie mich mit großen Augen an, als ich schließlich nicke. »Schön. Lassen wir das Thema vorerst ruhen.« Dieses Gespräch macht so keinen Sinn.

Sie seufzt erleichtert auf. »Ich bin froh, dass du das sagst.«

Wir fahren weiter, während ich immer noch meinen Gedanken nachhänge.

Das ist sinnlos.

Es bringt nichts, weiter darüber nachzudenken. Sora hat mir eine eindeutige Antwort gegeben und nun liegt es an mir, ihr diese zu glauben. Ich will mich anstrengen, es zumindest versuchen. Ich kenne sie schon so lange und kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie mich belügen würde. Nicht in dieser Sache. Dazu wäre sie nicht fähig.

Ändert das etwas an meinen Gefühlen?

Nein, vermutlich nicht. Aber was soll ich tun?

Ich hatte nie vorgehabt, so früh Vater zu werden. Und schon gar nicht wollte ich mit einer Frau ein Kind bekommen, die ich nicht liebe. Das war alles nicht so vorgesehen. Aber das Leben hat eben oft andere Pläne. Und manchmal ist es das Beste für alle, wenn man sich diesen Plänen einfach fügt …
 

Ich fahre Sora nach Hause und danach in die WG. Ich brauche dringend ein paar Tage Abstand. Sora fand das natürlich nicht gut, aber diesmal hat sie nichts weiter dazu gesagt. Während ich mit der einen Hand aufschließe, schaue ich mit der anderen auf mein Handy. Seufzend öffne ich die Tür zur Wohnung, weil ich natürlich keine Nachricht von Mimi drauf habe.

Was auch sonst? Was hatte ich erwartet?

Es ist so komisch, einfach nichts mehr von ihr zu hören, sie zu sehen oder einfach nur ihre Stimme zu hören. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. An diese Lücke, die sie in meinem Leben hinterlassen hat. Aber ich weiß, dass es so besser ist. Ich muss sie auf Abstand halten, wenn ich das mit Sora irgendwie durchhalten will. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war es schwer genug für mich, ihr nicht um den Hals zu fallen oder sie zu küssen oder sie anzuflehen, alles rückgängig zu machen. Ich werde immer so schwach in ihrer Nähe. Daher ist es wirklich das Beste, sie einfach gar nicht zu sehen. Es würde uns beiden nur weh tun.

Als ich ins Wohnzimmer trete, trifft mich der Schlag.

»MATT!«, platzt es aus mir heraus. Mein bester Freund ist wie von der Tarantel gestochen und rennt von einer Ecke zur Nächsten. Alle Schubladen sind offen und durchgewühlt, alles liegt auf dem Boden verstreut und es sieht aus, als hätte hier jemand eingebrochen und alles durchwühlt.

Gott, wie lange war ich noch mal weg? Was treibt der Mistkerl da schon wieder?

»Matt, was zur Hölle, tust du da? Scheiße man, dich kann man nicht mal ein paar Tage alleine lassen.«

Erst jetzt hebt Matt den Kopf, als hätte er mich eben erst wahrgenommen. »Oh, Tai. Hallo.« Dann steckt er den Kopf wieder in den Schrank, der im Wohnzimmer steht. Einige CD Hüllen fliegen hinter ihm raus.

»Ich suche was«, erklärt er mir dann endlich, während ich über mehrere Bücher, die kreuz und quer auf dem Fußboden liegen drüber steige, um nicht auf den Einband zu treten.

»Geht es dabei um Leben und Tod?«

»Kann man so sagen.«

Ich verziehe das Gesicht. »Was suchst du denn?«

»Mein Ladekabel. Hast du es gesehen?«

Stutzig ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. »Das für dein Handy?«

»Nein, das für meine elektrische Zahnbürste. Natürlich das für mein Handy!«

Okay, er klingt eindeutig gereizt. Wie lange sucht er schon nach dem Ding? Aber das hat er doch sowieso … Spinnt er jetzt völlig?

»Hast du das nicht Mimi ausgeliehen?«

Matt hört auf zu räumen und sein Gesicht erscheint hinter der Schranktür. Fragend sieht er mich an.

»Hab ich?«

»Äh, ja?«, entgegne ich. Verwirrung legt sich auf sein Gesicht. »Weißt du das nicht mehr?«

Matts Augen wandern in Richtung Decke, als würde er ernsthaft darüber nachdenken, ob an dieser Tatsache was dran sein könnte. Was ist los mit ihm? Leidet er unter Alzheimer? Dann sieht er mich ausdruckslos an.

»Na, wenn das so ist.« Plötzlich steht er auf, steigt über dieses ganze Chaos hinweg und geht in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen.

»Hey«, beschwere ich mich. »Willst du das nicht wieder aufräumen?«

Matt hebt eine Schulter und legt den Kopf schief. »Das kann doch Mimi machen, sie ist ja auch irgendwie daran schuld. Sie hätte es mir wiederbringen können. Warte, ich rufe sie gleich mal an und beschwere mich bei ihr. Ach nein, geht ja nicht. Mein Handy ist ja seit Tagen abgeschaltet.«

Wow! Er klingt ziemlich wütend.

»Seit wann bist du so zynisch?«, entgegne ich vorsichtig. »Du hättest dir einfach ein Neues kaufen können. Oder bei ihr vorbei fahren können und es dir abholen. Sie meinte, sie bringt es dir nach der Arbeit zurück.« Warum hat sie das nicht gemacht?

»Ich hatte weder für das eine, noch für das andere Zeit. Die Tage haben so schon zu wenig Stunden.« Er füllt sich den Kaffee in eine Tasse und stellt die Kanne lauter zurück auf den Tresen, als es hätte sein müssen. Was ist los mit ihm? Irgendetwas stimmt doch nicht, das spüre ich sofort.

Unaufgefordert setze ich mich an den Tresen und greife ebenfalls nach einer Tasse und der Kanne, um mir etwas Kaffee einzuschenken. Matt weicht meinem Blick aus.

»Du siehst gestresst aus«, stelle ich fest, woraufhin er schnauft.

»Das kannst du laut sagen. Das mit der Band wächst mir langsam über den Kopf.«

Erstaunt hebe ich die Brauen. Was? Es ist die Band, die ihn so austicken lässt?

»Deshalb drehst du hier so am Rad? Also, das hätte ich jetzt nicht erwartet.«

»Nein, natürlich ist es nicht nur das«, entgegnet Matt spitz und sieht mich schief an. »Du hast dich ja auch so gut wie gar nicht mehr hier blicken lassen. Schon klar, dass du da einiges nicht mitbekommen hast.«

Ich schlucke hart und umklammere den Henkel meiner Tasse. Er hat recht. Ich habe mich nicht wirklich gut um mein Privatleben gekümmert, seit das mit Sora passiert ist, geschweige denn um meine Freunde. Matt habe ich kaum gesehen, obwohl wir zusammen wohnen. Man, das war echt scheiße von mir.

Ich stütze mich mit den Unterarmen auf dem Tresen ab und sehe ihn versöhnlich an. »Was ist passiert?«

»Nichts«, sagt Matt und fährt sich dennoch gestresst durch die blonden Haare.

Wissend ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. »Geht es um Misaki?«

»Wie kommst du denn darauf?«, antwortet er zwar gelangweilt, aber sein tiefes Seufzen, was gleich darauf folgt, verrät ihn.

»Hat sie sich endlich von ihrem Mann getrennt?«, frage ich, woraufhin Matt sich beinahe an seinem Kaffee verschluckt. Nicht aus Entrüstung, sondern weil er lachen muss.

»Du weißt genauso gut wie ich, dass sie das nicht tun wird. Also, was soll diese Frage?«

Demonstrativ rolle ich mit den Augen. »Okay, tut mir leid.« Er hat ja recht. Misaki ist 34 und seit zehn Jahren verheiratet. Das mit Matt hat ungefähr vor einem Jahr angefangen und seitdem haben die beiden eine Affäre. Das Problem an der Sache ist, dass Matt in der Zeit offensichtlich Gefühle für sie entwickelt hat, sie aber nicht. Sie lässt ihn manchmal so sehr an der langen Leine verhungern, dass ich Angst habe, dass diese unscheinbare Affäre sich doch noch zu einer toxischen Beziehung entwickeln könnte - zumindest für meinen besten Freund.

»Ich habe sie seit einer Woche nicht gesehen«, erzählt Matt nun doch, was ich nicht erwartet habe. »Sie sagt, sie hat viel um die Ohren und ich habe auch alle Hände voll zu tun.«

»Oh …«, mache ich, weil ich ihm ganz genau ansehe, wie sehr ihn das wurmt. Er will es nur nicht zugeben. Das will er nie.

Die Beiden haben sich auf einen von Matt’s Auftritten kennengelernt und es wurde ziemlich schnell sehr intensiv zwischen ihnen.

Ich habe Misaki ein paar Mal gesehen, wenn er sie am Abend mit nach Hause gebracht hat oder wenn sie am Morgen wieder unsere Wohnung verlassen hat. Ansonsten halten die beiden sich bedeckt, zeigen sich nicht zusammen in der Öffentlichkeit. Misaki hat zu viel Angst, dass ihr Ehemann von der Affäre erfahren könnte und Matt macht dieses Spiel mit, obwohl es ihn innerlich zerreißt. Ich weiß, dass er ein einziges Mal einen Versuch gestartet und sie gefragt hat, ob sie sich vorstellen könnte, dass das mit den Beiden etwas Ernstes wird. Daraufhin hat sie gelacht und gemeint: »Sei nicht albern, Matt.«

Sie dachte wohl, das wäre ein Scherz und dass Matt zu jung wäre, um das ernst zu meinen. Zugegeben, er ist nicht der Typ für eine feste Beziehung, zumindest bis jetzt nicht. Aber er hat es auch noch nie wirklich versucht. Er war noch nie richtig verliebt. Und dann kommt diese Misaki daher und verdreht ihm völlig den Kopf. Und ausgerechnet bei ihr hat er keine Chance, wo er doch sonst jede Frau mit Leichtigkeit erobert. Nur mit dem Unterschied, dass andere Frauen ihm nichts bedeuten. Was für eine Ironie.

»Ich habe dir schon oft gesagt, du sollst die Reißleine ziehen, bevor es zu spät ist«, ermahne ich ihn, als wäre ich sein großer Bruder, aber in Wahrheit mache ich mir nur Sorgen. Für ihn wäre es wirklich das Beste, wenn er einfach mit Misaki Schluss machen würde. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer so was sein kann.

Matt zischt verächtlich. »Dafür ist es doch sowieso schon zu spät.« Er trinkt seinen Kaffee in einem Zug leer und gießt sich danach gleich noch mal ein. Man, er sieht echt fertig aus. Die dunklen Ringe unter seinen Augen verraten mir, dass er mal wieder nicht viel geschlafen hat.

»Und wieso wächst dir die Band über den Kopf?«, hake ich weiter nach. Zum einen, weil es mich wirklich interessiert und zum anderen, weil ich das Thema »Misaki« nicht noch weiter vertiefen möchte.

»Ja, das ist gleich die nächste große Baustelle«, antwortet Matt seufzend. »Es ist nur … ich kümmere mich einfach um ALLES. Ich plane die Auftritte, handle die Gage mit den Veranstaltern aus, überarbeite die Verträge, kümmere mich um die Einnahmen und die Steuern. Ich organisiere und plane die ganze Zeit, mein Mail Fach platzt fast aus allen Nähten. Und zwischendurch kümmere ich mich auch noch um die Belange der Jungs, die ständig irgendwas haben. Wie soll ich es da noch schaffen, nebenbei Songtexte zu schreiben und zu komponieren? Das funktioniert nicht, wenn der Tag keine 48 Stunden hat.«

Ich senke den Blick. »Oh.« Jetzt verstehe ich. Das ist hart. Ich wusste immer, dass es viel Arbeit ist, die Band zu managen. Quasi ein schlecht bezahlter Full-Time Job.

»Wir spielen seit über einem Jahr dieselben Songs, wenn wir auftreten und so langsam wird es langweilig. Auch für die Zuschauer. In einigen Clubs brauche ich schon gar nicht mehr anfragen, weil sie mir sehr deutlich gemacht haben, solange wir nichts Neues bringen, wären wir nicht kompatibel. Man, du glaubst gar nicht, wie sehr mich das frustriert.«

Doch, glaube ich. Für einen kreativen Freigeist wie Matt muss es die Hölle sein, nicht das tun zu können, wofür er geschaffen wurde.

»Weißt du«, redet er ununterbrochen weiter und dreht dabei seine Tasse in der Hand. »Ich wollte immer einfach nur Musik machen. Nur das. Wie viel ich dabei verdiene, war mir egal. Ich wollte Songs schreiben und produzieren und mit den Jungs zusammen auf der Bühne stehen. Jetzt mache ich alles andere, nur das nicht. Wir haben zwar heute Abend einen Auftritt, aber … es fühlt sich nicht mehr gut an. Es fühlt sich an, als würde ich in der ganzen Arbeit ersticken. Als wäre ich in einer Spirale gefangen. Die Leichtigkeit, wenn ich auf der Bühne stehe und spiele und singe … sie ist einfach weg. Weil ich die ganze Zeit nur im Kopf habe, ob ich auch ja alle Mails beantwortet habe. Ob es noch Verträge auszuarbeiten gibt. Ob auch alle für den Auftritt unterschrieben haben. Oder ob die Versicherung bald ausläuft. Das ist doch Bullshit!«

Die letzten Worte schreit er fast heraus, aber ich weiß, er schreit nicht mich an. Er schreit sich den Frust von der Seele und das ist okay. Ich war in letzter Zeit so wenig für ihn da, dass ich sofort ein schlechtes Gewissen bekomme.

»Das tut mir leid«, sage ich betreten.

Matt winkt ab. »Du kannst ja nichts dafür.«

Ich lege den Kopf schief und denke nach. »Nein, aber … vielleicht kann ich dir helfen.«

Halb belustigt, halb ungläubig sieht Matt mich an. »Und wie willst du das anstellen? Nichts für ungut, Tai, aber du hast momentan sicher selbst genug Probleme am Hals.«

Autsch. Ja okay, das stimmt.

»Oh, nein, so war das nicht gemeint«, rudert Matt sofort zurück, doch ich schüttle nur den Kopf.

»Schon gut. Aber ich denke wirklich, dass ich dir helfen kann. Zumindest hätte ich eine Idee, wie du dir diese ganze lästige Arbeit vom Hals halten kannst. Du brauchst eine Assistentin.«

Kurz ist es still. Dann beginnt Matt zu lachen.

»Machst du Witze? Und wer soll die bezahlen?«

»Du sagst doch selbst, dass du keine Zeit mehr hast, um neue Songs zu schreiben und ihr daher weniger Auftritte habt. Wenn du wieder mehr Zeit hast, kannst du neue Songs schreiben, also hättet ihr auch wieder mehr Auftritte. Ergo: du hättest mehr Geld zur Verfügung.«

Jetzt legt Matt den Finger ans Kinn, um ernsthaft über meinen Vorschlag nachzudenken. »Das klingt nach ziemlich viel Risiko. Was ist, wenn es nicht gut läuft und ich sie oder ihn nicht bezahlen kann?«

Ich zucke mit den Schultern. »Dann fragst du eben erst mal einen Freund, ob er dir für ein, zwei Monate aushelfen würde und bezahlst ihn, sobald du das Geld hast.«

Matt’s Augen weiten sich, bei dieser Idee und er sieht mich hoffnungsvoll an, als er den Mund öffnet.

»Oh nein, nicht mich, Idiot!«, werfe ich gleich dazwischen, bevor er überhaupt nur daran denkt, mich zu fragen. »Ich habe echt keine Zeit, um dir zu helfen. Auch, wenn ich es liebend gerne tun würde. Ich dachte da an jemand anderen. Ich dachte an Mimi.«

Matt nippt an seinem Kaffee, nur, um ihn danach wieder in die Tasse zurück zu spucken.

»Mimi? Ist das dein Ernst?«

»Wieso nicht?«, entgegne ich. »Sie ist klug, leidenschaftlich, motiviert und auf der Suche, nach einer neuen Aufgabe. Soweit ich weiß, hat sie die bis jetzt noch nicht gefunden. Die Stelle im Café hat sie sowieso nur aus der Not heraus angenommen, aber Spaß macht es ihr nicht. Sie wäre perfekt dafür.«

Andächtig zieht Matt eine Augenbraue in die Höhe. »Ich weiß ja nicht. Sie hat nicht wirklich viel Ahnung vom Musikbussiness. Andererseits hat sie uns neulich schon aus der Patsche geholfen und uns Instrumente besorgt, das war ziemlich pfiffig von ihr. Und sie hat sich von dem Typen im Musikgeschäft nicht übers Ohr hauen lassen und einen guten Preis für uns rausgeschlagen.«

Keine Ahnung, was er mit 'aus der Patsche geholfen' meint, aber ich frage auch nicht weiter nach. Ich würde mich für Mimi freuen, wenn sie endlich einen Job hätte, der ihr das Gefühl gibt, gebraucht zu werden. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihr sogar ziemlich viel Spaß machen würde. Schon damals in der Schule war sie ein Organisationstalent. Und dieses Talent ist in diesem Café eindeutig verschwendet.

»Okay, ich frage sie«, meint Matt zu meiner Überraschung ganz kurzentschlossen und will nach seinem Handy greifen. Dann verzieht er das Gesicht. »Mist, Akku leer.«

Ich verdrehe die Augen, gehe in mein Schlafzimmer und komme mit einem Ladekabel wieder, welches ich ihm in die Hand drücke.

»Du willst mich verarschen«, sagt Matt.

»Welcher Mensch hat nur ein Ladekabel zu Hause und welcher Mensch kommt nicht auf die Idee, bei seinem Mitbewohner im Zimmer nachzusehen, ob der noch eins hat? Wir haben dasselbe Handy, du Idiot.«

»Ich wollte nur deine Privatsphäre nicht verletzen«, meint Matt daraufhin grummelnd, nimmt das Ladekabel jedoch trotzdem dankend an. Er steckt es an sein Handy an und ich zeige mit dem Finger darauf.

»Ruf sie an. Sie wird ganz sicher ja sagen.«

Matt nickt und ich gehe in mein Zimmer, um mich etwas auszuruhen. Blitzartig ist meine Laune um ein Vielfaches gestiegen. Wie merkwürdig. Ich brauche anscheinend nur an Mimi denken und schon geht es mir wieder gut. Und wenn ich ihr jetzt noch helfen kann, einen neuen Job, vielleicht sogar eine neue Herzensaufgabe zu finden, dann war der Tag zumindest nicht komplett umsonst.

Mimi

Ich sitze im Blue Bottle Café und rühre gedankenverloren in meinem Latte Macchiato rum. Draußen ziehen dichte Wolken vorbei und ich denke, es wird bald Regen geben, mal wieder. Das Wetter spiegelt in letzter Zeit meinen Gemütszustand sehr gut wieder. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Bereits fünf Minuten zu spät. Das werde ich meiner perfektionistischen Mutter so was von aufs Brot schmieren.

Oder … lieber doch nicht. Schließlich will ich etwas von ihr und das ist nicht gerade wenig. Ich sollte mich wenigstens ein bisschen zusammenreißen.

Als hinter mir die Tür zum Café aufgeht und ich Stöckelschuhe höre, die in meine Richtung kommen, weiß ich sofort, dass sie es ist. Ich sehe nicht zuerst in ihr Gesicht, als sie an meinem Tisch stehen bleibt, sondern runter auf ihre Schuhe.

»Nur du trägst hochschwanger noch High Heels, Mom.«

»Sei nicht albern«, antwortet sie und setzt sich mir gegenüber. »Ich bin nicht hochschwanger. Das dauert noch einige Monate. Zum Glück.«

Ich grinse, weil sie keinen Hehl daraus macht, dass sie zu den wenigen Frauen gehört, die nicht gerne schwanger sind. Man wird nur dick und unbeweglich, hatte sie neulich beim Arzt zu mir gesagt. Typisch für sie.

»Danke, dass du gekommen bist«, beginne ich das Gespräch so förmlich, als wäre es ein Bewerbungsgespräch. Aber meistens fühlen sich die Gespräche mit meiner Mom auch genauso an.

»Ich bin froh, dass du angerufen hast«, sagt sie und greift über den Tisch nach meiner Hand, die ich ihr sofort wieder entziehe. Auch sie zieht ihre Hand wieder zurück und setzt sich stattdessen noch etwas aufrechter hin, während ich verlegen aus dem Fenster sehe.

»Ich habe dich wegen Dad angerufen«, erkläre ich und höre auch schon ihr Stöhnen.

»Oh Mimi, bitte nicht …«

»Jetzt hör mir doch erst mal zu«, entgegne ich forsch, senke aber gleich wieder die Stimme, weil die Kellnerin an unseren Tisch kommt. Mom bestellt sich einen Tee, dann rede ich weiter.

»Ich finde, du könntest etwas offener für seine Belange sein, nachdem, was du ihm angetan hast.«

»Oh Gott«, entgegnet Mom, als wär ich nicht ganz dicht und streicht sich eine Ponysträhne aus dem Gesicht. »Ich dachte, du willst über dich reden, über uns, über deine Zukunft.«

»Das bin ich leid«, gebe ich offen zu, weil es die blanke Wahrheit ist. »Wir wissen doch inzwischen beide, dass du nicht mit meinem Leben einverstanden bist, so, wie ich es führe.«

»Und du?«, wirft sie fragend ein. »Willst du mir etwa sagen, du bist damit zufrieden, so wie es läuft?«

Die Kellnerin bringt ihren Tee und wir beide sehen sie an, wissend, dass sie genau das meint. Mein Leben als eine Angestellte, eine Bedienstete.

»Das habe ich nie behauptet. Aber du gibst mir auch keine Möglichkeit, um es herauszufinden. Egal …« Ich winke ab. »Deshalb bin ich wirklich nicht hier und wenn du mir jetzt eine Moralpredigt über meinen Job oder meinen Freund halten willst …« Ich sehe, wie sie bei dem Gedanken an Matt hart schluckt. Mir egal, nur zu gern lasse ich sie in dem Glauben, dass Matt und ich ein Paar wären. » … dann gehe ich besser gleich wieder. Deine Entscheidung.«

Mom verdreht die Augen. Das kann sie mindestens genauso gut wie ich. Immerhin eine Gemeinsamkeit. Dann lehnt sie sich in ihrem Stuhl zurück, die Arme vor der Brust verschränkt und die Brauen herausfordernd gehoben.

»Schön. Dann reden wir eben über deinen Dad. Was willst du wissen?«

»Wusstest du, dass er aus dem Haus ausziehen muss?« Ich frage sie ganz direkt. Sie verzieht keine Miene.

»Ja, das wusste ich.«

»Und, ist dir das egal?« Vorwurf schwingt in meiner Stimme mit. Ich weiß genau, dass sie ihn nach wie vor im Stich lässt.

»Was erwartest du von mir, Mimi?«, antwortet Mom lediglich. Wut steigt in mir auf. Ja, was erwarte ich eigentlich noch von ihr?

»Ich kann dir sagen, was ich von dir erwarte«, sage ich und lehne mich weit nach vorne über den Tisch. Jetzt wird es interessant. »Ich will von dir, dass du ihm eine neue Wohnung beschaffst. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Bezahlbar, natürlich.«

Ihr klappt der Mund auf und sie sieht mich empört an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Du machst Witze, Mimi. Bist du betrunken?«

»Nein und es kommt noch besser.« Ein fast schon teuflisches Grinsen legt sich auf meine Lippen und ich muss aufpassen, dass ich es nicht zu weit treibe mit meiner Überheblichkeit. »Du wirst ihm die Wohnung bezahlen, bis er seine Therapie abgeschlossen hat und sich einen neuen Job gesucht hat.«

Sie lässt die Arme sinken, während sie fassungslos die Augen aufreißt.

»Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?«, entgegnet sie vorwurfsvoll. »Wieso sollte ich das tun?«

Entspannt lehne ich mich zurück und nehme einen Schluck von meinem Getränk. »Du brauchst einen Grund? Ich gebe dir einen Grund«, sage ich und lasse sie dabei nicht aus den Augen - wie eine Schlange ihre Beute. Keine Ahnung, woher ich den Mut nehme, so mit ihr zu reden. Aber es ist längst überfällig.

»Grund Nummer eins …« Ich halte einen Finger in die Höhe. » … du hast dich Dad gegenüber echt mies benommen und das nicht nur ein mal. Das hat er nicht verdient und deshalb wirst du zumindest versuchen, das wieder gut zu machen. Sieh es als eine gute Gelegenheit, um dein Karma aufzubessern. Nummer zwei …«

Mom ist so von den Socken, dass sie gar nicht weiß, wie ihr geschieht, aber ich sehe, wie ihre Halsschlagader pulsiert. Innerlich tobt sie. Wären wir nicht in einem Café, hätte sie mir schon längst eine Szene gemacht. Aber sie lässt mich ausreden.

» … du wirst es für mich tun. Für deine Tochter, die du über alles liebst, das hoffe ich zumindest. Du wirst dich mit dieser Geste dafür bedanken, dass ich für ihn da war, als er dir völlig egal wurde. Du wirst dich dafür entschuldigen, dass du ausgezogen und mich allein gelassen hast, mit diesem ganzen Scherbenhaufen hinter dir. Und Grund Nummer drei …« Ich sehe sie gleichgültig an und zucke mit den Schultern. » … du hast genügend Geld. Es sollte dich also nicht kratzen.«

Kurz entgleisen meiner Mutter die Gesichtszüge, nachdem ich meine kurze Rede beendet habe. Doch dann fängt sie sich wieder, typisch. Sie räuspert sich, während sie ein paar Mal blinzelt. Dann sieht sie mich mit ihrem strengen Mom-Blick an.

»Du bist dreist, Mimi. Richtig unverfroren.«

»Danke, das habe ich von dir.« Meine Mundwinkel zucken und ich weiß, dass ich sie fast habe.

»Du verlangst ziemlich viel«, sagt sie, greift nach ihrem heißen Tee und nippt daran.

»Nur so viel, wie du geben kannst. Und ich weiß, dass du es kannst. Möchtest du nicht dein Gewissen rein waschen?«

Sie sieht lächelnd an die Decke. »Das würde voraussetzen, dass ich ein schlechtes Gewissen hätte.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und beginne unruhig mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln.

»Gut, Mimi«, entgegnet Mom und lehnt sich ebenfalls geschäftig nach vorne. »Wir können einen Deal machen.«

Interessiert sehe ich auf. »Welchen Deal?«

Ein Grinsen schleicht sich auf ihre Lippen. Hätte mir ja klar sein müssen, dass sie nicht einfach so einwilligt.

»Ich tue, was du verlangst«, schlägt sie vor und legt den Kopf schief. »Ich suche eine Wohnung für deinen Dad, bezahle die Kaution und die Miete, bis er wieder auf eigenen Beinen steht. Weißt du was? Ich komme sogar für die Umzugskosten auf. Wenn es sein muss, fahre ich ihn auch höchstpersönlich zu seiner Therapie.«

Meine Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen und ich sehe sie misstrauisch an.

»Wo ist der Haken?«

Sie grinst noch breiter. »Dafür machst du mit deinem Freund Schluss!«

Ich falle fast vom Stuhl - vor Lachen!

»Was, mit Matt?«

Sie nickt. Und der Ausdruck auf ihrem Gesicht wirkt siegessicher.

»Man«, erwidere ich und schüttle den Kopf. »Er muss dir echt ein Dorn im Auge sein, wenn du sogar so weit gehst.«

Mom zuckt nur belanglos mit den Schultern. »Das ist eben mein Angebot. Was du tust, liegt bei dir. So oder so, ich kann nur gewinnen.«

Richtig. Das habe ich bereits erkannt. Entweder ich werde Matt für sie los, damit ihre Tochter nicht mit einem Musiker verkehren muss oder sie wird meinem Dad nicht helfen. Beide Enden gehen zu ihren Gunsten aus.

Herzlich Willkommen im Kopf meiner Mutter.

Was für ein durchtriebenes Miststück sie doch sein kann.

»Fein«, sage ich und leere mein Getränk in einem Zug. »Ich tue es.«

Kurz wirkt sie überrascht. »Wirklich? Du machst mit ihm Schluss?«

»Jepp!«

»Einfach so?«

Erstaunt sieht sie mich an, während ich nur in mich rein grinsen kann. Sie hat keine Ahnung, dass Matt gar nicht mein fester Freund ist, sondern dass ich nur mit ihm geschlafen habe. Und das auch nur ein mal. Sie denkt sie gewinnt. Ich lasse sie nur zu gern in dem Glauben, wenn ich Dad damit helfen kann.

»Das hätte ich offen gestanden nicht erwartet«, gesteht sie mir, als ich mein Geld aus der Tasche krame.

»Tja, was soll ich sagen?«, antworte ich triumphierend. »Blut ist eben dicker als Wasser. Dachtest du, ich stelle irgendeinen Typen über das Wohl meines Vaters? Ich bin nicht …«

Nicht wie du. Das wollte ich sagen, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken. Ich will nicht, dass sie es sich noch mal anders überlegt. In dem Moment klingelt mein Handy und ich bin mehr als dankbar für die Unterbrechung.

Ich schaue aufs Display.

Es ist Matt.

Ausgerechnet jetzt.

Ich hebe ab.

»Hey, Matt«, begrüße ich ihn absichtlich mit Namen, woraufhin meine Mom wie erwartet aufsieht. »Warum hast du keine meiner Nachrichten beantwortet?«

»Hey, tut mir leid«, sagt Matt. »Ich habe anscheinend mein Ladekabel verloren. Es muss wohl Beine bekommen haben und weggelaufen sein. Mein Handy war die letzten Tage aus.«

Oh, shit! Daran habe ich ja gar nicht mehr gedacht. Als Tai mich in der Wohnung überrascht hat, habe ich schnell nach Matts Ladekabel gegriffen und es eingesteckt - und nie zurück gebracht. Ich war mit den Gedanken ganz woanders.

»Egal, der Grund, warum ich anrufe ist …«, redet Matt einfach weiter und lädt mich daraufhin zu seinem Konzert heute Abend ein. Ich werfe meiner Mom einen Blick zu, die auf irgendwas zu warten scheint. Denkt sie, ich mache hier und jetzt am Telefon Schluss? Erwartungsvoll sieht sie mich an und ich stöhne.

Oh Gott, erlöse mich von dem Bösen.

»Matt, hör mal«, sage ich und rutsche dabei unruhig auf meinem Stuhl hin und her, um ihr den Eindruck zu vermitteln, dass mir das gar nicht so leicht fällt. »Ich denke nicht, dass ich heute zu deinem Konzert kommen kann und um noch deutlicher zu werden: ich denke auch nicht, dass wir zusammenpassen.«

»Okaaay?« Matt klingt eindeutig verwirrt, was mich aber nicht aus dem Text bringt.

»Jaah, mir tut es auch leid. Ich weiß, du wirst ganz sicher eine andere finden. Eine Bessere.«

Vorwurfsvoll und mit verschränkten Armen wirft mir meine Mutter einen eindeutigen Blick zu.

Oh, schon klar.

»Ich meine natürlich … ich bin nicht eines deiner billigen Flittchen. ICH werde etwas Besseres finden. Ich mache mit dir Schluss, verstanden?«, sage ich eine Spur arroganter.

»Mimi, gehts dir nicht gut?«, fragt Matt jedoch nur irritiert, woraufhin ich theatralisch aufseufze.

»Verstehst du nicht? Wir können uns nicht mehr treffen. Ich weiß, das fällt dir nicht leicht, aber: es ist vorbei. Versteh das doch. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben. Mach's gut, Matt.«

Dann lege ich auf. Kurz und schmerzlos.

Gott, der Arme. Seit wann bin ich so mies zu Männern?

»Das hast du gut gemacht, Kind. Ich bin stolz auf dich«, sagt meine Mutter und tätschelt mir die Hand, als wäre ich ein kleines Kind, dass eine Eins in Mathe geschrieben hat. »So ist es das Beste. Er war nicht der Richtige für dich. Er ist unter deiner Würde.«

»Wie recht du doch hast, Mom.« Ich stehe auf und ziehe meine Jacke an. »Also, da ich mein Versprechen bereits eingelöst habe, bist du nun an der Reihe. Und kein Wort zu Dad. Er würde dein Geld niemals annehmen, dafür ist er viel zu stolz. Wir können es als die Wohnung eines Kollegen von mir verkaufen, der mir noch einen Gefallen schuldet. In Ordnung?«

»Du kannst dich darauf verlassen«, entgegnet Mom zustimmend und ich verabschiede mich.

Gleich, nachdem ich das Café verlassen habe, schreibe ich Matt eine Nachricht, dass ich gerne zu seinem Konzert komme. Er antwortet nicht, aber das erwarte ich nach der Nummer auch gar nicht.

Ich habe bekommen, was ich wollte.
 

Als ich drei Stunden später im Club auftauche, wo Matt und seine Band heute Abend auftritt, ist es bereits dunkel. Er hat mir nicht einmal die Adresse geschickt, die musste ich über Google raussuchen. Habe ich ihn wirklich so verschreckt? Ein wenig peinlich ist es mir ja schon, aber … was sollte ich machen? Ich hatte schließlich keine andere Wahl. Und der Zweck heiligt schließlich die Mittel. Zumindest in diesem Fall.

Der Club ist schon gut gefüllt und die Stimmung ausgelassen. Perfekt! Genau das, was ich brauche, um heute meinen Sieg zu feiern. Ich suche den Clubbesitzer, einen ziemlich kleinen, rundlichen Mann und überzeuge ihn, dass ich eine Freundin von Matt bin, aber erst, als er sich bei den Jungs rückversichert hat, lässt er mich nach hinten gehen.

Auf dem Flur kommt mir Tatsuya entgegen.

»Ach, hey Mimi, du bist es«, begrüßt er mich lachend und ich runzle die Stirn.

»Ja, wen hast du erwartet?«

»Na ja, der Typ vom Club meinte, dass da eine hübsche Brünette draußen steht, die zu uns will. Ich hatte keine Ahnung, dass du es bist, aber hübsch und brünett wollte ich mir nicht entgehen lassen.«

Ich lache und schlage ihn gegen den Oberarm. »Du bist blöd. Ist Matt da? Ich wollte zu ihm.«

»Ja, klar willst du das. Wieso wollen alle hübschen Mädchen immer nur zu ihm?«

Ich lege den Kopf schief und schenke ihm einen fragenden Blick, woraufhin er gespielt verletzt aufseufzt.

»Er ist dort hinten, letzte Tür rechts.« Er deutet mit dem Finger hinter sich, bevor ich mich bei ihm bedanke und nach hinten gehe.

Kurz vorher geht die Tür zu seinem Zimmer auf und ich sehe, wie eine junge, hübsche Frau raus kommt. Ich halte inne und mustere sie, als sie die Tür hinter sich schließt. Sie ist sicher Mitte 30 und extrem attraktiv. Eine schlanke Figur, lange, schwarze Haare, helle Haut und lange Beine, die durch ihr kurzes, schwarzes Kleid und den High Heels sehr gut zur Geltung kommen. Sie sieht super elegant aus und wirkt in diesem Club irgendwie fehlplatziert.

Als sie sich zu mir umdreht und mich erblickt, stutzt sie für einen Moment. Dann kommt sie direkt auf mich zu und nun bin ich es, die sich wundert.

»Du musst Mimi sein.«

Überrascht sehe ich sie an. Woher kennt sie meinen Namen?

Sie legt den Kopf schief und ein hübsches Lächeln umspielt ihr makelloses Gesicht. »Matt hat mir erzählt, dass du kommst.«

»Du kennst Matt?«, frage ich frei heraus, weil es mir ein wenig abwegig vorkommt, dass die beiden befreundet sind. Aber eine seiner Liebschaften kann es auch nicht sein, denn sie passt so gar nicht in sein Beuteschema. Oder genauer gesagt: er wird vermutlich nicht in ihres passen. Sie wirkt so reif, erwachsen und vornehm.

»Nur flüchtig«, antwortet sie lächelnd und streicht sich eine ihrer langen, schwarzen Haarsträhnen hinters Ohr. »War schön, dich mal kennenzulernen.« Sie geht an mir vorbei, während ich nur verdutzt nicke und ihr hinterher starre. Selbst ihr Gang ist elfengleich.

Selbst ermahnend schüttle ich den Kopf. Nein, definitiv zu schick für Matt.

Ich löse mich aus meiner Starre und klopfe an die Tür. Von innen ertönt Matts Stimme.

»Herein.«

Vorsichtig öffne ich die Tür und schlüpfe hinein ins Zimmer. Matt sitzt auf einem Stuhl vor einem Schminktisch und stimmt gerade seine Gitarre. Als er mich bemerkt, sieht er mich durch den Spiegel hindurch an.

»Ach, sieh einer an. Die Verrückte ist gekommen. Und das, obwohl wir doch vorhin Schluss gemacht haben.«

Ein amüsiertes Grinsen ziert seine Lippen, woraufhin ich demonstrativ die Augen verdrehe.

»Wer war diese Frau eben?«, frage ich direkt anstatt einer Begrüßung, weil ich doch neugierig bin.

Ich sehe, wie Matt’s Spiegelbild eine Augenbraue in die Höhe hebt, als hätte er nicht mit dieser Frage gerechnet.

»Sie ist nur die Frau des Besitzers und wollte wissen, ob alles in Ordnung ist.«

Nun bin ich es, die andächtig eine Augenbraue in die Höhe zieht, weil es mir doch recht absurd vorkommt, wenn ich an den kleinen, dicklichen Mann von eben denke. Aber gut, wo die Liebe hinfällt.

»Erzähl mir lieber, was das vorhin für eine komische Aktion war?«, fragt Matt, während er sich wieder seiner Gitarre widmet. »Bist du schizophren geworden? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir je zusammen waren. Ergo können wir auch nicht Schluss machen.«

Ich gehe auf ihn zu. »Ja, vielleicht. Vielleicht habe ich meinen Verstand verloren. Vielleicht habe ich eine gespaltene Persönlichkeit. Die eine Hälfte von mir möchte überhaupt nichts mit dir zu tun haben, aber die andere ist wie besessen von dir.«

Matt hebt den Kopf, sieht mich durch den Spiegel hindurch an und stellt dann die Gitarre zur Seite. Er steht auf und kommt auf mich zu.

»Wenn du mich fragst, ist das gar nicht so weit hergeholt.«

Ich lache auf, nur, um im nächsten Moment abrupt zu stoppen, weil er mir plötzlich viel zu nah kommt. Er beugt sich zu mir runter und haucht mir einen Kuss auf die Wange, bevor er in mein Ohr flüstert: »Und welche Mimi steht gerade vor mir?«

Ich räuspere mich, versuche, die Hitze zu unterdrücken, die sich bereits jetzt einen Weg durch meinen Bauch an die Oberfläche bahnen will. Nach wie vor hat er diese Wirkung auf mich. Seltsam. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass der Zauber verfliegt, sobald ich ihn ein Mal gehabt habe. Aber eigentlich hat es das nur noch schlimmer gemacht. Um mich nicht zu verraten, trete ich schnell einen Schritt zurück und ziehe stattdessen das Ladekabel aus der Tasche, um es ihm vor die Nase zu halten.

»Definitiv Mimi Nummer eins«, sage ich. Matt schenkt mir ein Grinsen, tritt dann jedoch ebenfalls zurück und greift nach dem Kabel.

»Du bist eine gemeine Diebin, ich hoffe, du weißt das.«

»Tut mir leid«, entgegne ich und falte die Hände vor meinem Gesicht. »Ich hatte keine andere Wahl. Tai tauchte neulich auf, als wir … ich meine, nachdem wir … du weißt schon. Und da musste ich mir schnell eine Ausrede einfallen lassen.«

Fragend zieht Matt eine Braue hoch. »Tai war an dem Morgen da? Das habe ich gar nicht mitbekommen.«

»Nein, du hast ja auch geschlafen. Er hat mich ziemlich überrumpelt, aber ich denke, er hat nichts gemerkt.«

Gott bewahre. Allein bei dem Gedanken daran wird mir ganz schlecht. Allerdings habe ich Tai seitdem nicht mehr gesehen, also … wer weiß überhaupt noch, was Tai denkt?

»Keine Sorge, er hat nichts gemerkt. Sonst hätte er heute was gesagt, als er nach Hause gekommen ist«, sagt Matt und klingt dabei völlig beiläufig.

Ich schlucke. »Tai ist zu Hause?«

»Ja, ich denke, er braucht etwas Abstand von Sora. Ich will gerade ehrlich nicht in seiner Haut stecken.«

Tzz, wer will das schon?

Ich puste die Luft aus, während Matt das Kabel einpackt.

»Tja, meine Aufgabe wäre hiermit erledigt«, sage ich, ohne weiter auf das Thema einzugehen. »Ich denke, ich sehe mir noch euer Konzert an und werde dann wieder nach Hause gehen.« Ich will mich umdrehen und gehen, doch Matt hält mich zurück.

»Warte mal, ich hätte da noch eine Bitte an dich.«

Fragend sehe ich ihn an. »Eine Bitte?«

»Also, eigentlich ist es eher ein Vorschlag. Und ich hoffe, du sagst ja.«

»Das klingt ziemlich geheimnisvoll«, sage ich unsicher lächelnd und streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr, während Matt sich auf das Sofa setzt, das mitten im Raum steht und auf den Platz neben sich klopft.

»Komm, setz dich.«

Ich zögere einen Moment, weil ich keine Ahnung habe, was er von mir will, doch dann siegt natürlich meine Neugier und ich setze mich doch.

»Also«, beginnt er, dreht sich in meine Richtung und legt einen Arm hinter mir auf die Lehne. »Was hältst du davon, unsere Managerin zu werden?«

Verblüffung springt mir aus dem Gesicht. »Du willst … was? Managerin? Aber ich …«

»Bleib locker, Mimi. Das ist keine große Sache«, lacht Matt auf und legt eine Hand auf meine. Kurz sehe ich auf unsere Hände und spüre die Wärme, die von ihm ausgeht, ehe ich ihm wieder ins Gesicht sehe.

»Es ist nur so, dass ich einfach keine Zeit mehr habe, Songs zu schreiben und zu komponieren. Die Band verkommt allmählich. Wir bringen keine neuen Lieder mehr, sondern covern meistens nur noch. Das ist nicht das, was die Leute hören wollen, das ist nicht unser Anspruch. Die anderen aus der Band sind keine Singer und Songwriter, sie können das nicht übernehmen. Wir bekommen immer weniger Aufträge und immer schlechtere Gagen, weil wir immer den alten Käse spielen. Wenn das so weiter geht, geht die Band vor die Hunde.«

»Okay«, nicke ich. »Ich verstehe das Problem. Aber was hat das mit mir zu tun? Wie kommst du ausgerechnet auf mich?«

»Die Arbeit neben der Band frisst mich auf, Mimi«, sagt Matt und sieht ernsthaft gestresst aus. Erst jetzt fallen mir die dunklen Schatten unter seinen Augen auf. Er muss wenig geschlafen haben.

»Ich habe nur noch mit Rechnungen und Verträgen und Versicherungen zu tun. Ständig wollen die Leute irgendwas von mir, weil ich der erste Ansprechpartner für sie bin. Die Jungs haben alle noch Nebenjobs oder ihr Studium und keine Zeit, um mir die Arbeit abzunehmen. Zudem haben sie kein Händchen für Geschäftspartner. Der Auftritt auf der Bühne und das Proben nimmt nicht mal 50 Prozent des Geschäftes ein. Ich brauche dringend Entlastung, um wieder an neuen Songs arbeiten zu können. Ich brauche so was wie eine Assistentin. Oder eben Managerin, wenn man es so nennen will. Und da kommst du ins Spiel.« Er sieht mich erwartungsvoll an und lächelt begeistert, während ich noch versuche, seinen Gedankengängen zu folgen.

»Ich weiß, dass du den Job im Café nicht sonderlich magst. Und wie du uns neulich geholfen hast, mit den Instrumenten und so … du hast genau das richtige Gespür für so was und du kannst gut mit Menschen. Tai meinte, dass du wirklich Talent für solche Dinge hast und ich denke auch, dass du …«

»Moment«, unterbreche ich ihn. »Tai hat diesen Vorschlag gemacht?«

»Ja«, antwortet Matt und wirkt ein wenig irritiert. »Ist das ein Problem?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Nein.« Dann stehe ich auf. »Tut mir leid, aber ich denke nicht, dass ich die Richtige für den Job bin. Ich habe überhaupt keine Ahnung von dem Business und du findest sicher jemanden, der besser geeignet ist.«

»Hey, warte mal«, meint Matt und hält meine Hand fest. »Ich weiß, du wärst perfekt dafür und Tai sieht das nun mal auch so. Du hast es dir noch gar nicht richtig durch den Kopf gehen lassen. «

Nein, aber das brauche ich auch nicht. »Tut mir leid, Matt. Die Antwort lautet nein.« Angespannt halte ich die Luft an, während es in mir zu brodeln beginnt. Ich entziehe ihm meine Hand und verlasse ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Vor der Tür atme ich durch.

Tai.

Wie kommt er dazu, Matt diesen Vorschlag zu machen? Als würde er mich geradewegs in seine Arme treiben wollen. Und Matt? Er hinterfragt es gar nicht, weil Tai sein Freund ist. Oder stecken die beiden unter einer Decke und Matt will tatsächlich mehr von mir, als er mich glauben lässt? Soll mich dieser Vorschlag von Tai über meinen Verlust hinweg trösten? Wenn ja, wäre das ein ziemlich schwacher Versuch. Was hat er nur vor?

Jetzt sei nicht albern, Mimi. Du führst dich auf wie eine Verrückte.

Am besten, ich vergesse das Gespräch ganz schnell wieder, genauso wie Tai, der sich dank Matt wieder in meine Gedanken geschlichen hat.
 

Obwohl ich wegen des Gesprächs mit Matt sauer bin, sehe ich mir noch das Konzert an, sogar bis zum Schluss, obwohl es tatsächlich haargenau dieselben Songs sind, wie bei dem letzten Konzert, dass ich gesehen habe. Das Publikum ist zwar ganz angetan, aber die Begeisterung, das Feeling, fehlt. Dieses Gefühl, wenn dich ein Song, den du zum ersten Mal hörst, sofort abholt und du ihn in dir aufsaugst als hättest du nie etwas Schöneres gehört.

Matt ist gut. Die Band ist gut. Aber sie könnten so viel besser sein. Sie haben alle ein unfassbares Talent und sie nutzen es nicht. Das stimmt mich am Ende des Konzerts, als ich die Bar verlasse, ein wenig traurig, aber auch nachdenklich. Trotzdem kann und will ich nicht auf Matts Vorschlag eingehen. Weil es nicht seiner war, sondern der von Tai. Und der hat lang genug einen Großteil meines Lebens bestimmt. Jedes Mal, bevor ich irgendeine Entscheidung getroffen habe, habe ich zuvor Tai davon erzählt und mir seine Meinung dazu angehört. Erst dann habe ich entschieden. Selbst, wenn ich Matt verstehen kann. Ich werde ihm, was das angeht, nicht helfen. Ich möchte Tai keine Entscheidungen mehr für mich treffen lassen. Oder sonst irgendjemanden. Ich will meine eigenen Entscheidungen treffen und nicht ständig nur das tun, was andere von mir erwarten.

Weder meine Mutter, noch Tai werden darüber entscheiden, wo und mit wem ich arbeite. Es wird Zeit, dass ich mir mein Leben zurückerobere.

Ich will aus dem Club in die frische Nachtluft treten und stolpere über eine Stufe. Doch zwei Arme fangen mich auf.

»Hey Mimi, mach mal langsam«, höre ich eine vertraute Stimme lachen. Ich blicke auf und sehe direkt in dieselben blauen Augen, die auch Matt hat.

»T.K.?« Ich löse mich aus seinen Armen und richte mich wieder auf. »Was machst du denn hier?«

T.K. runzelt amüsiert die Stirn und stemmt die Hände in die Hüfte. »Mein großer Bruder hatte hier einen Auftritt. Wieso sollte ich nicht hier sein?«

Oh, stimmt.

Gott, diese Tai-Matt-Sache hat mir schon völlig das Hirn vernebelt. Kann ich überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen?

»Warst du schon die ganze Zeit hier?«, fragt T.K. und legt den Kopf leicht schief.

»Ähm ja, ich …«, sage ich und deute hinter mich. » … Ich habe mir den Auftritt angesehen.«

»Warum das?« Ein Ausdruck von Verwunderung tritt auf sein Gesicht. »Du hast dich doch früher nie für die Musik meines Bruders interessiert. Wieso jetzt? Bist du allein hier?«

Ich weiß genau, dass meine Augen gerade gen Himmel rollen, aber ich überlege wirklich, welche Ausrede ich ihm auftischen könnte. Ich - allein - bei Matts Konzert. Nein, das kann man drehen und wenden wie man will, es passt einfach nicht zu mir.

Mir fällt nichts Gutes ein.

»Ich habe mir was von ihm ausgeliehen und es ihm vor dem Auftritt zurückgebracht. Dann bin ich einfach geblieben, weil ich nichts Besseres zu tun hatte.« Immerhin ist das irgendwie die Wahrheit.

»Bist du allein gekommen? Wo ist Kari?« Ganz automatisch lehne ich mich zur Seite, um an T.K. vorbei zu blicken. Als würde Kari sich hinter seinem Rücken verstecken und gleich »Booh!« rufen.

»Sie ist nicht hier.« T.K. fährt sich mit der Hand durch seine wilden, blonden Haare und sieht durch diese Geste nur noch mehr aus wie sein Bruder. Überhaupt werden die beiden sich, zumindest äußerlich, immer ähnlicher. Das Einzige, was sie unterscheidet, ist ihr Kleidungsstil.

Ich lache. »Wie kommt das denn? Ihr seid doch sonst unzertrennlich.«

»Ja, ich weiß«, antwortet T.K. und setzt sich plötzlich in Bewegung. »Muss wieder rein, wir sehen uns, Mimi.«

Und dann lässt er mich stehen.

Verwirrt sehe ich ihm hinterher.

Was war das denn?

Ich glaube, heute sind alle einfach nur verrückt - mich mit eingeschlossen. Das sind meine letzten Gedanken, als ich mich endlich auf den Weg nach Hause mache.

Mimi

Heute habe ich mich mit Kari verabredet.

Ich habe sie eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich glaube, das letzte Mal, auf Tais Geburtstag, als Sora und Tai … nein, allein bei der Vorstellung wird mir ganz anders. Daran will ich jetzt nicht denken. Ich freue mich auf das Treffen mit Kari, denn wir haben früher zwangsläufig viel Zeit zusammen verbracht, weil ich regelmäßig bei den Yagamis ein und aus gegangen bin, als Tai noch bei seinen Eltern gewohnt hat.

Das waren wirklich schöne Zeiten. Tai und mich hat es nie genervt, wenn Kari sich mit zu unseren DVD Abenden gesellt oder sie mit uns zusammen gegessen hat. Wir beide haben immer viel gequatscht und Tai aufgezogen. Leider ist das alles in letzter Zeit viel zu kurz gekommen. Ich sehe Kari nicht mehr so häufig, seit Tai ausgezogen ist. Sie hat sich schon ein paar Mal bei mir gemeldet und gefragt, wie es mir geht, doch ich habe mir nie wirklich Zeit genommen, um mit ihr zu reden. Ich denke, ich hatte einfach zu viel Angst davor, dass das Thema auf Tai, Sora und das Baby fallen könnte. Und das hätte ich nur schwer ertragen.

Aber heute wollen wir shoppen gehen. Und das ist genau das, was ich gerade brauche. Mädchen, Mädchengespräche, Mädchenkram, Mädchenquatsch - Hauptsache ich muss nicht eine Sekunde an Tai denken. Oder an Matt. Oder an sonst irgendwen. Heute geht es nur um Kari und mich.

»Mimi«, fällt sie mir auch schon in die Arme, als ich beim Shopping Center ankomme. Wir schenken uns gegenseitig eine innige Umarmung und ich seufze an ihrer Schulter.

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe dich echt vermisst.«

»Geht mir genauso. Es tut gut, dich zu sehen, Mimi.« Kari lächelt mich an und wir gehen rein.

Als erstes steuern wir ein Schuhgeschäft an, wo ich natürlich auch gleich fündig werde. Meine Wahl fällt auf ein paar coole, schwarze Boots, die meine Beine gut zur Geltung bringen. Es folgen noch ein Dutzend weitere Geschäfte, denn wir schlendern durch so ziemlich jeden Laden, den es gibt.

Kari erzählt mir, dass sie vorhat, nach ihrem Abschluss ein Jahr ins Ausland zu gehen - wahrscheinlich Deutschland - und ich finde, das ist eine großartige Idee.

»Du bist plötzlich richtig erwachsen geworden«, stelle ich verblüfft fest, während wir einige Kleiderständer durchwühlen. »Wann ist das passiert?«

Kari, die mir gegenübersteht und ihren Blick fest auf eine blaue Bluse gerichtet hat, schnaubt plötzlich.

»Da müsstest du mal Tai fragen, der sieht das nämlich ganz anders.«

Im selben Moment, wo sie den Satz beendet, sieht sie mit geweiteten Augen zu mir auf. Auch ich habe den Mund geöffnet, weiß jedoch nicht, was ich sagen soll.

»Es tut mir leid«, schießt es sofort aus ihr heraus. »Ich wollte nicht von ihm anfangen, das war wirklich keine Absicht.«

Ich schenke ihr ein gequältes Lächeln. »Schon gut. Wieso denkt er, dass du nicht erwachsen bist?« Trotz allem stelle ich diese Frage, weil es Kari ganz offensichtlich zu belasten scheint. Was wäre ich für eine Freundin, wenn ich denken würde, ihre Probleme wären weniger erwähnenswert als meine?

Sie zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder den Klamotten auf der Stange zu. »Offenbar hat er ein Problem damit, dass ich jetzt bald meinen Abschluss mache und ab und zu spät nach Hause komme. Nichts Dramatisches. Aber du kennst ja Tai. Er macht sich bei allem immer gleich Sorgen und meckert mich jedes Mal an, wenn ich abends ausgehe.«

Ich runzle die Stirn. Was? So ein Spießer ist Tai nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so überreagiert, auch wenn sie seine kleine Schwester ist.

»Na, wie auch immer. Reden wir nicht mehr von ihm«, grinst Kari plötzlich breit und irgendwie wirkt es aufgesetzt. Ich habe ein ungutes Gefühl, sage jedoch nichts mehr, weil ich glaube, dass sie das Thema selbst nicht gern weiter vertiefen möchte.

»Ich könnte noch ein Geschenk für mein Geschwisterchen gebrauchen«, überlege ich, als wir den Laden mit leeren Händen verlassen, weil wir dann doch nichts gefunden haben. »Meine Mom und ich treffen uns nächste Woche kurz nach ihrem Ultraschalltermin.«

Karis Augen beginnen zu leuchten. Kein Wunder, sie hat Kinder schon immer geliebt. »Weißt du denn schon, was es wird?«

Ich nicke. »Es wird ein Junge. Ich werde wirklich noch mal eine große Schwester«, verkünde ich nun doch ein wenig stolz. »Wer hätte das gedacht? Anfangs war ich wirklich nicht besonders angetan von dieser Neuigkeit. Außerdem wollte ich früher nie einen Bruder oder eine Schwester haben - nichts für ungut.« Kari winkt ab. »Aber ich war wirklich gerne ein kleines, verwöhntes Einzelkind. Inzwischen verwöhnt mich niemand mehr und jetzt freue ich mich darauf, meinen kleinen Bruder nach Strich und Faden zu verwöhnen.«

Ein breites Grinsen legt sich auf mein Gesicht, weil ich mich immer sehr glücklich fühle, wenn ich daran denke, dass ich schon bald mit ihm spielen kann. Ehrlichgesagt hatte ich nie was für kleine Kinder übrig. Und schon gar nicht für den neuen Typen meiner Mom. Oder das, was es alles mit sich gebracht hat, die Scheidung und so weiter. Aber auf diese eine Sache freue ich mich. Es ist wie ein kleines Licht in der Dunkelheit. Ein kleiner Mensch, der mit all dem Drama hier nichts zu tun hat und der völlig unschuldig auf die Welt kommt. Ein Mensch, der die Möglichkeit hat, ein fantastisches Leben zu führen. Er fängt ganz von vorn an und ich möchte unbedingt Teil davon werden.

»Du wirst sicher eine fantastische große Schwester werden«, sagt Kari lächelnd und stupst mich von der Seite an.

»Ja, das hoffe ich.«

Wir steuern ein Babygeschäft an, wo es allen möglichen Kram gibt, was man für Babys so braucht. Vielleicht kaufe ich ihm schon mal eine Rassel oder so was in der Art. Brauchen Babys so was überhaupt? Ich habe echt keine Ahnung von der Materie, aber irgendwas Schönes werde ich schon finden.

Doch kurz nachdem wir das Geschäft betreten haben, bleibe ich abrupt stehen.

Alle Tische und Regale sind vollgestopft mit Babyspielzeug, Kleidung und kleinen Schühchen. Alles in rosa und himmelblau. Babykram, egal, wo man hinsieht. Und Schwangere mit dicken Bäuchen, die zusammen mit ihren Freundinnen oder Männern am Shoppen sind.

Ich spüre, wie das Blut aus meinem Gesicht verschwindet und meine Glieder sich versteifen. Ich kann mich keinen Zentimeter mehr rühren.

»Mimi?« Kari, die schon ein paar Schritte weiter gegangen ist, dreht sich verwundert zu mir um, weil ich ihr nicht mehr folge. »Was ist los? Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Ich schlucke hart. Aber der dicke Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, will einfach nicht verschwinden.

Natürlich ist hier alles bis unter die Decke mit Babysachen vollgestopft - was hatte ich erwartet? Wenn ich es geschafft hatte, bis jetzt nicht viel an Tai und Sora denken zu müssen, dann ist dies jetzt vorbei. Bilder, wie die beiden hier vielleicht schon gemeinsam einkaufen waren, schießen in meinen Kopf. Wie sie sich alle Sachen angeschaut, rumgestöbert haben und am Ende mit einer riesen Einkaufstüte voller Babyklamotten und Spielzeug rausgegangen sind.

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, flüstere ich mehr zu mir selbst, als zu Kari, denn mein Blick geht ins Leere.

Dass Sora von Tai schwanger ist, war für mich bis jetzt ein absolut rotes Tuch. Es war nicht wirklich greifbar, denn ich sehe weder Sora, noch Tai. Ich weiß nicht, in welcher Woche sie ist oder ob es ein Mädchen oder ein Junge wird. Ich weiß nicht, welchen Namen sie sich vielleicht schon ausgesucht haben. All das habe ich so gut es ging verdrängt. Ich wollte mich nicht damit beschäftigen. Und wenn man etwas nicht sieht oder nicht mitbekommt, kann man sich schnell einreden, dass das alles gar nicht da ist. Es war bis jetzt einfach noch zu weit weg.

Aber jetzt, wo ich hier stehe, und das alles sehe und mir klar wird, dass es tatsächlich passieren wird … dass Tai und Sora wirklich ein Baby zusammen bekommen werden … weiß ich plötzlich, dass es unumstößlich ist. Die beiden werden auf jeden Fall ein Kind bekommen und nichts und niemand kann etwas daran ändern. Sie werden für immer verbunden sein. Für immer.

Und was verbindet Tai und mich noch?

Gar nichts?

Die Wucht dieser Erkenntnis trifft mich so hart und unerwartet, dass ich am liebsten auf der Stelle zusammenbrechen würde.

»Mimi«, sagt Kari noch einmal, nun deutlich beunruhigter als zuvor. Ich hebe den Blick und schaue in ihr besorgtes Gesicht.

»Tut mir leid, ich kann das nicht«, kommt es mir nur schwer über die Lippen, ehe ich mich umdrehe und aus dem Laden stürme. Schnellen Schrittes verlasse ich das Einkaufscenter, während Kari mir folgt. Draußen angekommen, schnappe ich wie eine Ertrinkende nach Luft.

Was ist nur los mit mir? Ich dachte, ich schaffe es, das alles rund um Tai und Sora auszublenden, zumindest so weit, dass es mir einigermaßen gut geht. Und dann drehe ich wegen ein paar Babyklamotten komplett durch? Was für eine Scheiße!

Mich auf meinen Knien abstützend, spüre ich, wie schnell meine Atmung geht. Ich schlucke die Übelkeit hinunter, die in meiner Kehle hochkriecht. Ich kenne so was aus dem Fernsehen … ist das so was wie eine Panikattacke?

»Ist alles in Ordnung?« Kari tritt neben mich und legt mir eine Hand auf den Rücken. Ich atme noch mal tief durch und richte mich langsam auf, aber das Zittern meiner Hände, kann ich nicht unterdrücken.

»Ja … geht schon wieder.« Schön wäre es.

»Komm, setzen wir uns. Ich hole uns was zu Trinken.« Kari führt mich zu einer leeren Bank, die gegenüber von einem Springbrunnen steht und ich lasse mich dankend darauf sinken. Als sie mit zwei Dosen Cola in der Hand wiederkommt und mir eine davon reicht, mustert sie mich mit einem besorgten Blick, während sie sich neben mich setzt. Sie beobachtet genau, wie ich ein paar Schlucke von der süßen Flüssigkeit nehme und mich langsam wieder entspanne.

»Geht's dir besser?«, fragt sie nach einer Weile und ich nicke.

»Ja, danke. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Das tut mir leid.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich kann mir vorstellen, was passiert ist.«

»So?« Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu. Kari schnaubt und ihre Mundwinkel verziehen sich tatsächlich zu einem sehr traurigen Grinsen.

»Natürlich, Mimi. Wahrscheinlich wäre es mir an deiner Stelle nicht anders gegangen. Ich ärgere mich, dass ich dich nicht davon abgehalten habe, dieses Geschäft zu betreten.«

Energisch schüttle ich den Kopf. »Du kannst überhaupt nichts dafür, Kari. Es war doch meine Idee.«

»Trotzdem«, entgegnet Kari geknickt und öffnet nun ebenfalls ihre Dose mit einem Klicken, um einen Schluck davon zu nehmen. »Ich hätte es besser wissen müssen.«

Verwirrt sehe ich sie an. Ich schlucke schwer. »Was genau hat Tai dir eigentlich alles erzählt?« Kennt sie die ganze dramatische Geschichte?

Kari legt einen gequälten Gesichtsausdruck auf und sieht dabei aus, als würde sie erst mal ganz genau überlegen müssen, ob und wie sie mir auf diese Frage antwortet. Und ich kann sie verstehen. Allein diese Frage grenzt an Folter. Aber ich will es trotzdem wissen. Ich will wissen, was Tai denkt.

»Ich weiß zumindest, dass das alles nie Tais Absicht war«, antwortet Kari schließlich ausweichend, was mir jedoch nur ein verächtliches Schnauben entlockt.

»Was war denn nicht seine Absicht? Mir seine Liebe zu gestehen, nur um mir dann nicht einmal 24 Stunden später das Herz zu brechen? Oder Sora zu schwängern? Ha, nein, warte. DAS war ganz sicher nicht seine Absicht.«

Die Verbitterung in meiner Stimme lässt sich nicht verbergen, woraufhin Kari schwerfällig seufzt.

»Ach, Mimi«, entgegnet sie traurig. »Weißt du eigentlich, wie sehr mein Bruder dich liebt?«

Bei diesen Worten setzt mein Herz einen Schlag aus, nur um kurz darauf umso heftiger weiterzuschlagen. Meine Finger schließen sich fester um die Coladose, während mein Blick zu Boden gerichtet ist.

»Nichts für ungut, Kari, aber ich denke, das macht es leider auch nicht besser. Es ist wie es ist. Liebe oder Freundschaft reichen manchmal einfach nicht aus.«

»Ich verstehe«, ist alles, was Kari daraufhin erwidert. Sie versucht auch nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen und dafür bin ich sehr dankbar. Denn das würde mein armes, liebeskrankes Herz nicht ertragen.

Während ich meine Cola in einem Zug leere, unterdrücke ich krampfhaft die Tränen, die sich mal wieder einen Weg an die Oberfläche bahnen wollen. Aber ich habe mir geschworen, nicht mehr wegen ihm zu weinen. Ich kann es nicht mehr. Ich will es nicht mehr. Dieser kleine Beinahe-Zusammenbruch, den ich eben in diesem Geschäft hatte, wird der Letzte dieser Art gewesen sein - zumindest nehme ich mir das fest vor.

»Hey«, stoße ich plötzlich aus, stehe auf und strecke mich. »Hast du heute Abend schon was vor?«

Kari schüttelt den Kopf. »Nein, was hast du vor?«

Ich sehe sie an und grinse.
 

Ein paar Stunden später sitzen wir in einer Karaoke Bar und trinken unser erstes Bier. Das war zwar nicht ganz mein Plan, aber es ist genau das, was ich jetzt brauche. Nach unserer mehr oder weniger erfolgreichen Shopping Tour, sind wir zu mir nach Hause gegangen und haben uns rausgeputzt. Nicht zu viel - wir wollen ja schließlich niemanden abschleppen. Aber schick genug für einen Mädelsabend zu zweit.

Kari hat sich eine Bluse und einen Jeans Rock von mir geliehen. Immerhin konnte ich sie dazu überreden, wenigstens eine Strumpfhose drunter zu ziehen, damit es nicht ganz so freizügig ist.

Ich trage eine schwarze Lederjacke und darunter ein schlichtes, rotes Cocktailkleid, was mir bis über die Knie reicht.

»Für heute lass ich's gut sein!«, proste ich mir selbst zu und gönne mir einen großen Schluck, während Kari mich irritiert ansieht.

»Was willst du gut sein lassen?«

»Ach, nichts«, grinse ich breit. »Ich habe nur laut gedacht.«

Wir sitzen an einem kleinen Tisch und die Bar ist brechend voll. Auf der Bühne singen irgendwelche halb betrunkenen Jugendlichen ein Lied von den Backstreet Boys … ob die überhaupt wissen, wer das ist?

Erst jetzt, als ich meinen Blick durch die Karaoke Bar schweifen lasse, fällt mir auf, dass viele Leute hier jünger sind als ich, sogar jünger als Kari.

»Sag mal, kommst du oft hierher?«, frage ich mit hochgezogener Augenbraue, weil es Kari war, die den Vorschlag gemacht hat, hierhin zu gehen.

Sie nickt. »Ja, viele meiner Freunde sind jedes Wochenende hier.«

»Verstehe«, sage ich und fühle mich ein wenig alt, was völliger Blödsinn ist, aber … na ja, aufreißen werde ich hier definitiv niemanden.

»Außerdem ist das die einzige Karaokebar in der Gegend, die es am Einlass nicht so genau nimmt mit dem Alter. Hast du ja vorhin gesehen - man sagt einfach, man ist 20 und man darf rein. Die wollen nie einen Ausweis sehen oder so«, erzählt Kari weiter und ich nicke. Ich dachte eigentlich, wir gehen ins Kino, doch Kari wollte unbedingt hierher kommen und für mich ist das in Ordnung. Ich bin ja schließlich nicht ihre Nanny und auch nicht ihre große Schwester. Von mir aus kann sie machen, was sie will, sie ist immerhin 18 und ziemlich vernünftig. Trotzdem weiß ich, dass Tai mich einen Kopf kürzer machen würde, wenn er wüsste, dass ich mit seiner kleinen Schwester in einer Bar sitze und Bier trinke.

Wir unterhalten uns eine ganze Weile und lachen über die Kids, die auf der Bühne stehen und ihr Gegröle zum Besten geben. Es ist wirklich unterhaltsamer als ich zuerst dachte und das Wichtigste: es lenkt mich ab.

»Ich hole uns noch was zu trinken«, sage ich und gehe mit unseren leeren Gläsern zur Bar. Ich bestelle noch zwei Biere und warte mit dem Rücken gegen die Theke gelehnt darauf. Plötzlich tritt jemand in mein Sichtfeld, obwohl ich gerade dabei war, den Leuten auf der Bühne zuzusehen.

Ich lehne mich zur Seite, um an demjenigen vorbeizusehen, doch dann sagt der Fremde: »Hi.«

Ich sehe auf und, obwohl der Typ größer ist als ich, sieht man ihm doch sein Alter nur allzu deutlich an - 16, höchstens 17 würde ich schätzen. Er grinst mich schief an. »Ich hab dich hier noch nie gesehen.«

»Weil du zum ersten Mal hier bist?«, entgegne ich deutlich desinteressiert, aber der Kerl lässt nicht locker.

»Nein«, grinst er anzüglich. »Ich bin jedes Wochenende hier und du wärst mir ganz sicher aufgefallen.«

Würg.

Sein Blick gleitet über meinen Körper, was absolut schräg auf mich wirkt, aber irgendwie wundert es mich auch nicht. Heutzutage stehen die Kids anscheinend auf ältere Frauen.

»Hör mal«, räuspere ich mich und richte mich etwas auf. »Wenn das ein Anmachspruch werden sollte, dann solltest du den definitiv noch mal üben. Außerdem will ich morgen früh keinen Ärger mit deiner Mami bekommen, wenn ich heute mit dir nach Hause gehe und sie uns morgen früh in deinem Kinderzimmer erwischt, wenn sie dir gerade dein Toast mit abgeschnittener Rinde nebens Bett stellen will. Also spar dir lieber die Luft für Mädchen in deinem Alter auf.«

Kurz wirkt der Typ ernsthaft perplex über meine freche Antwort, aber er fängt sich schnell wieder und bricht in Gelächter aus.

»Was denkst du, wie alt ich bin?«

»Hoffentlich alt genug, um zu wissen, dass man nicht lügen darf?«

»Ich bin schon 20«, lacht der Typ und ich nicke anerkennend. Okay, doch älter als ich dachte.

»Dann musst du also nicht um 22 Uhr zu Hause sein. Wie schön für dich. Nimm's mir nicht übel, aber ich muss weiter«, sage ich, weil mir der Barkeeper in dem Moment zwei Bier auf die Theke stellt.

»Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«, bedrängt mich der Typ weiter. Ich stöhne und will ihn gerade zur Seite schieben, als sich eine Hand auf seine Schulter legt und das für mich erledigt.

»Hey Alex, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht irgendwelche fremden Frauen belästigen.«

Oh, die Stimme kenne ich.

»Und schon gar nicht sie. Mit Mimi könntest du ohnehin nicht mithalten.«

Und das Gesicht auch.

»T.K.?« Fragend lege ich den Kopf schief, während er hinter diesem Alex auftaucht und mich breit anlächelt.

»Hi, Mimi.«

T.K.'s Freund schaut verwirrt zwischen uns beiden hin und her. »Ihr kennt euch?«

»Ja, und das ziemlich gut sogar«, entgegnet T.K. mit einem eindeutigen Blick, der keine Zweifel mehr zulässt. Ich sehe, wie Alex schluckt und in sich zusammensackt.

»Ähm … sorry, das wusste ich nicht. Tut mir echt leid, ich wollte nicht …« Warum wird er plötzlich so nervös? »Ich geh dann mal. Bis später, Takeru.«

Verwirrt schaue ich ihm hinterher, nun doch etwas verwundert, dass er so schnell das Weite gesucht hat, wo er doch vorher so selbstbewusst wirkte. Doch als T.K. ihm ebenfalls hinterher sieht und auflacht, dämmert es mir.

»Denkt er etwa, wir beide haben was miteinander?« Ich deute mit dem Finger auf T.K. und auf mich, während T.K. sich lässig neben mir an die Bar lehnt.

»Tut er, aber das ist nicht schlimm. Anders wärst du ihn sicher nicht losgeworden. Was hat er dir erzählt, wie alt er ist?«

»20.«

T.K. sieht mich an. »Das war gelogen. Er ist erst 16. Aber er sieht ein bisschen älter aus, was ihm schon einige Dates mit älteres Mädchen verschafft hat.«

Ha, wusste ich's doch!

Empört schüttle ich den Kopf. »Und er dachte wirklich, er könnte bei mir landen? Das ist lustig und traurig zugleich. Er sollte sich ein Mädchen in seinem Alter suchen.«

»Ja, das sollte er wohl«, lacht T.K. auf und bestellt sich ebenfalls ein Bier. Dann fällt sein Blick auf meine beiden Getränke.

»Mit wem bist du hier?«

»Oh«, mache ich und deute hinter mich. »Nur mit …«

»Mimi, wo bleibst du?«, höre ich Karis Stimme hinter mir.

T.K. und ich drehen uns gleichzeitig um.

»Du bist nicht wieder gekommen, deshalb wollte ich mal sehen, wo du … oh.« Verblüfft sieht sie in T.K.'s Gesicht, weil sie ihn offensichtlich erst jetzt registriert hat. Sofort verändert sich etwas in ihrem Blick, aber ich kann nicht genau sagen, was es ist. Überraschung? Oder ist sie schockiert? Und wenn ja, warum?

»Hallo, Kari. Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist«, begrüßt T.K. sie und schenkt ihr ein warmes Lächeln. Andere Menschen, die die beiden nicht kennen, würden denken, dass alles in Ordnung wäre. Eine normale, freundliche Begrüßung unter zwei Freunden. Aber ich sehe sofort, dass etwas nicht stimmt, denn Kari ist quasi zur Salzsäule erstarrt. Völlig verkrampft steht sie da und weiß nicht, wohin mit sich. Sie hat ein viel zu gezwungenes Lächeln aufgelegt und es verlangt ihr viel zu viel ab, T.K. überhaupt in die Augen zu sehen. Ihrem eigentlich besten Freund.

Was ist nur passiert?

»Okay, ich muss dann mal wieder zu meinen Freunden«, meint T.K., als sein bestelltes Bier über den Tresen geschoben wird. Er deutet in eine Richtung, wo eine kleine Gruppe von Leuten steht, die ich nicht kenne.

»Viel Spaß euch beiden noch. Man sieht sich.« Mit einem Lächeln auf den Lippen verschwindet er in der Menge. Endlich löst Kari sich aus ihrer Starre und kommt zu mir rüber. Gestresst lässt sie sich mit dem Rücken gegen die Theke fallen und seufzt.

»Was … war … das?«, frage ich betont langsam, während ich T.K. immer noch ungläubig hinterher starre. »Das war total strange. Es wirkte, als wärt ihr … keine Ahnung, entfernte Bekannte oder so. Nachbarn sind freundlicher zueinander als ihr beide.«

Ich wage einen Blick in Karis Richtung, aber sie verzieht nur das Gesicht.

»Ist eine lange Geschichte.«

»Wie gut, dass ich Zeit habe.«

»Es ist kompliziert«, ist das Einzige, was sie mir offenbart, bevor sie sich umdreht, sich ihr Bier schnappt und in einem Zug leert. Mit großen Augen starre ich sie an, bis sie die leere Flasche absetzt und sich über den Mund wischt.

»Ich will nicht darüber reden.«

»Okay«, erwidere ich nur, während sie sich gleich das Nächste bestellt.

Sorgenvoll sehe ich sie an. Warum wirkt sie plötzlich fix und fertig? Und was hat T.K., ihr bester Freund, damit zu tun?

Egal, was es ist, sie tut gerade das, was viele in ihrer Situation tun würden - sie versucht, es mit Alkohol zu betäuben.

»Mach mal langsam«, sage ich deshalb, als sie schon das nächste Bier runter schüttet, als wäre es Wasser. Für diesen Kommentar fange ich mir einen tadelnden Blick ein.

»Willst du mich jetzt auch bevormunden, wie mein Bruder?«

»Nein, aber …«

»Gut«, entgegnet Kari und bestellt sich noch eins.

Was ist los mit ihr? So habe ich sie noch nie erlebt. Kari hat anscheinend gerade soeben beschlossen, sich komplett abzuschießen und …

Oh Gott. Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.
 

Es kam wie es kommen musste.

Eine Stunde später ist Kari nicht wiederzuerkennen, denn sie ist stockbesoffen. Ich habe in dem Moment aufgehört zu trinken, als sie angefangen hat, ein Bier nach dem anderen in sich reinzukippen. Ich dachte mir schon, dass der Abend nicht gut endet, aber ich konnte sie auch nicht davon abhalten.

T.K. hat sie mit keiner Silbe mehr erwähnt. Stattdessen hat sie den ganzen Abend gelacht und Witze gerissen, als wäre alles in bester Ordnung. Aber das ist es ganz und gar nicht und nur ein Blinder wäre auf diese Scharade reingefallen.

»Wir müssen dich nach Hause bringen«, sage ich, als wir die Bar verlassen. Ich stütze Kari, weil sie nicht mehr allein geradeaus laufen kann, doch in dem Moment, wo ich das sage, lässt sie sich fallen, wie ein nasser Sack.

»Oh«, stöhne ich erschrocken auf, als sie mir aus den Fingern gleitet und zu Boden sackt. Wie ein kleines, bockiges Kind bleibt sie auf dem Asphalt sitzen.

»Ich will nicht nach Hause.«

Au Backe, auch das noch. Innerlich seufze ich und verfluche mich für diese Idee, heute Abend auszugehen. Aber wer konnte das schon ahnen?

Ich gehe vor ihr in die Hocke und schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln.

»Aber es ist wirklich schon spät und du hast zu viel getrunken. Du musst ins Bett.«

Kari hebt den Kopf und sieht mich mit verklärtem Blick an, während ihr die Haarsträhnen ins Gesicht fallen.

»Genau das ist es ja«, beginnt sie zu jammern wie ein Hund. Ich zucke zurück. Diese plötzlichen Wesensveränderungen von Betrunkenen haben mich schon immer irritiert. »Tai ist zwar gerade bei Sora, aber er kommt morgen früh vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Und wenn er mich so sieht, dann …«

Meine Mundwinkel zucken belustigt. »Was, dann? Versohlt er dir dann den Hintern oder petzt es Mama und Papa?« Ich grinse, doch Kari sieht mich mit einem so ernsten Blick an, dass ich schnell still bin. Sie findet die Vorstellung anscheinend gar nicht lustig. Wobei ich es wirklich gut finden würde, wenn jemand wie Tai mit auf sie aufpassen könnte. Kurz überlege ich, ihn anzurufen.

»Nicht«, sagt Kari und legt schnell eine Hand auf meine, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Wenn Tai mich so sieht, rastet er aus, das weiß ich. Tu mir das nicht an, Mimi. Ich habe so schon genug Ärger.«

In dem Moment, als sie das sagt, übergibt sie sich. Ich springe zur Seite und schnappe mir schnell ihre Haare, um sie zu halten. Hätte ich sie danach nicht aufrecht gehalten, wäre sie geradewegs mit ihrem Gesicht in ihr Erbrochenes gefallen.

Verdammt, das waren definitiv mindestens 5 Bier zu viel.

So kann ich sie unmöglich alleine lassen. Und so kann ich sie auch nicht nach Hause bringen. Allerdings traue ich mir auch nicht zu, sie mit zu mir zu nehmen. Außerdem ist meine Wohnung viel zu weit weg. Wie soll ich sie bis dahin schleppen? Ich bin ja selbst angetrunken.

So ein verfluchter …

Mir fällt mal wieder nur ein Ort ein, an dem ich sie definitiv hinbringen kann.

Ich fummle in Karis Handtasche und reiche ihr ein Taschentuch, damit sie sich den Mund abwischen kann. Dann nehme ich ihr Handy und öffne den Chatverlauf mit Tai. Ich schreibe:

»Übernachte bei einer Freundin. Bin morgen Nachmittag wieder zu Hause, falls du vorbei kommen willst. Bis dann.«

Senden.

Gut, das wäre erledigt.

Jetzt muss ich sie nur noch irgendwie von hier weg kriegen.

Mimi

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Mimi

Ich habe nichts mehr von Kari gehört, seit ich sie gestern nach Hause gebracht habe. Ich weiß nicht, ob Tai inzwischen nach ihr gesehen hat und ob ihm was aufgefallen ist oder ob sie was gesagt hat, aber irgendwie mache ich mir ernsthafte Sorgen. Ich konnte Matt nicht entlocken, welches Problem Kari mit T.K. hat, aber es scheint sie zu beschäftigen. Oder zu verändern. Sicher könnte man es auch dem Umstand zuschreiben, dass sie allmählich erwachsen wird. Immerhin will sie nächstes Jahr in Deutschland studieren. Sie hat für ihr Alter ziemlich reife, verantwortungsbewusste Pläne für ihr Leben. Dass sie zur Zeit so derart ausklinkt, passt einfach nicht zu ihr. So ist sie nicht.

Weil ich mir viel zu viele Sorgen mache, was ich eigentlich nicht tun sollte, schreibe ich ihr eine Nachricht, während ich am Abend in einem kleinen Restaurant sitze und meine Ramen schlürfe. Ich tippe mit einer Hand und frage nach, ob alles gut ist und wie es ihr geht, mit der anderen halte ich die Stäbchen und ziehe genüsslich ein paar Nudeln in den Mund.

Es dauert nur wenige Sekunden, bis Kari antwortet. Nicht mit einer Textnachricht, sondern mit einem Video. Stirnrunzelnd öffne ich es und mich trifft beinahe der Schlag. Ich beginne zu husten, weil ich mich an meinen Ramen verschlucke, als mir aus dem Video laute Musik entgegen knallt.

»Heeey«, grölt Kari in die Kamera, während sie das Handy vor ihr Gesicht hält. Anstatt die Musik im Hintergrund etwas leiser zu drehen, schreit sie stattdessen ins Telefon. »Ich habe beschlossen, heute eine Party zu machen. Komm doch auch, wenn du Lust hast. Wo wir wohnen, weißt du ja noch.« Sie verabschiedet sich mit einem Zwinkern von mir und das Video endet, aber ich habe eindeutig gesehen, dass sie zu Hause ist. Und ich habe die leeren Flaschen im Hintergrund gesehen.

Nein, bitte nicht schon wieder.

Ohne aufzuessen, springe ich von meinem Platz auf und laufe raus auf die Straße und Richtung U-Bahn. Kurz bin ich versucht, Tai eine Nachricht zu schicken, kann mich aber dann doch noch davon abhalten. Ich weiß nicht, ob das richtig ist, was ich tue. Aber was ich auf jeden Fall machen muss, ist zu Kari zu fahren und nach dem rechten zu sehen. In dem Video war sie eindeutig betrunken, oder zumindest angetrunken, das habe ich sofort gesehen. Beim letzten Mal konnte ich sie nicht vor Schlimmeren bewahren. Ich habe sie machen lassen. Und mich danach um sie gekümmert. Heute bin ich schlauer. Ich will mich vorher um sie kümmern, bevor sie schon wieder völlig übers Ziel hinausschießt.
 

Es dauert eine halbe Stunde, dann bin ich am Haus der Yagamis angekommen. Schon von der Einfahrt aus höre ich, wie Musik aus dem Inneren des Hauses dröhnt.

Oh, Gott. Ich ahne bereits, was mich erwartet.

Zunächst ein mal, macht mir keiner auf, auch nicht, nachdem ich mehrmals geklingelt habe. Das war mir irgendwie klar. Es ist viel zu laut, um die Klingel überhaupt zu hören. Hat sich denn noch kein Nachbar über diesen Lärm beschwert?

Zum Glück weiß ich, wo der Ersatzschlüssel der Familie Yagami liegt. Ich bücke mich und hole ihn unter einem Blumentopf hervor, bevor ich aufschließe.

Die Musik vibriert in meinen Ohren, als ich eintrete und die Tür schnell wieder hinter mir schließe. Entgegen meiner Erwartung ist die Wohnung wie leer gefegt. Wo sind die Gäste? Ich hatte erwartet, dass Kari mindestens ihre halbe Klasse eingeladen hat. Aber hier ist niemand.

Als ich das Wohnzimmer betrete, komme ich mir jedoch vor, wie in einem super schlechten Teenie-Film.

Kari springt wie eine Verrückte auf dem Sofa herum, während die Musik bis zum Anschlag aufgedreht ist. Das Licht ist gedämmt und auf dem Tisch stehen etliche Flaschen. Sogar ziemlich hartes Zeug ist dabei, aber zum Glück ist keine davon ausgetrunken - noch nicht.

»Kari«, rufe ich, aber sie hört mich nicht. Sie springt weiter umher, wie auf einer Hüpfburg und wirkt total weggetreten.

»Hey, Kari«, rufe ich noch ein mal lauter und diesmal hört sie auf zu springen. Verwundert sieht sie sich im Raum um, auf der Suche nach der unbekannten Stimme. Dann entdeckt sie mich.

»Mimi!« Ein Ausdruck von Freude legt sich auf ihr Gesicht und sie hüpft in einer eleganten Bewegung vom Sofa. Dann stolpert sie direkt in meine Arme.

»Oh, sorry«, sagt sie, nachdem ich sie wieder aufgerichtet habe. Ich gehe zur Stereoanlage und drehe die Musik ein wenig runter.

»Was ist hier los?«

Sie legt den Kopf schief und breitet die Arme aus. »Das siehst du doch. Wer würde es in meiner Situation nicht ausnutzen, dass meine Eltern nicht zu Hause sind?«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und mein Blick wandert zu den vielen Flaschen auf dem Tisch.

»Hast du das alles getrunken? Wo hast du das überhaupt her?«

Sie kommt auf mich zugetanzt. »Hab ich aus Daddys Geheimversteck, aber psst! Er darf das nicht wissen«, flüstert sie so leise, als könnte man uns belauschen. Dabei ist gar niemand hier.

»Wo sind all die Leute? Ich dachte, du wolltest eine Party feiern.«

»Oh, wie gut, dass du mich daran erinnerst«, erwidert sie plötzlich, als wäre ihr gerade wieder etwas ganz Wichtiges eingefallen. Sie zieht ihr Handy aus ihrer Hosentasche und tippt wie wild darauf herum. »Du bist ein bisschen früh dran, Mimi. Eine richtige Party steigt niemals vor 22 Uhr. Ich wollte gerade eine Einladung via Facebook rausschicken. An die … ganze … Schule.«

Was?

Ich ziehe ihr das Ding aus der Hand, noch ehe sie auf Senden drücken kann.

»Hey, was soll das?«, beschwert sie sich prompt und schnappt nach dem Teil, aber sie verfehlt es um mindestens 30 Zentimeter. Sie ist wirklich schon ziemlich angetrunken.

»Ach, Kari«, sage ich und lege das Handy auf eine Kommode. »Warum betrinkst du dich denn alleine?« Sorgenvoll sehe ich sie an, aber sie verschränkt nur die Arme vor der Brust, wie ein bockiges Kind.

»Ich wäre ja nicht alleine, wenn du mir mein Handy zurück geben würdest. Ich dachte, du hättest auch Lust zu feiern. Es war so lustig mit dir und plötzlich bist du die totale Spaßbremse. Das ist echt ätzend. Ich dachte, du wärst lockerer.«

Sie zieht einen Schmollmund und ist anscheinend wirklich enttäuscht von mir. Aber das macht mir im Moment nicht das Geringste aus. Ich weiß, dass ich mich gerade wie ihre große Schwester aufspiele, obwohl ich es nicht bin. Aber irgendjemand muss sie vor sich selbst schützen.

»Ich will nur nicht, dass es dir wieder so schlecht geht. Ich habe dich vor Tai gedeckt, weil ich nicht wollte, dass du Ärger mit ihm hast. Aber inzwischen weiß ich nicht mehr, ob das so eine gute Idee war.«

Völlig entrüstet schnellt ihr Kopf in meine Richtung. »Was? Ist das dein Ernst? Du willst es meinem Bruder petzen?«

Ratlos zucke ich mit den Schultern. »Nein, will ich nicht, aber was bleibt mir denn anderes übrig? Du hast neulich auf die Straße vor einer Bar gekotzt. Willst du euer Haus nun komplett verwüsten?«

»Oh mein Gott«, stöhnt Kari genervt auf und wirft den Kopf in den Nacken. Wieso komme ich mir gerade nicht vor wie ihre Freundin, sondern wie eine Mutter, die ihrem dickköpfigen Kind auf die Nerven geht?

»Du übertreibst total. Wir wollen einfach nur ein bisschen Spaß haben. Kannst du das nicht verstehen?«

»Doch, ich verstehe das sogar sehr gut«, sage ich nun etwas lauter und mit mehr Nachdruck in der Stimme. »Aber wenn Tai das hier sieht, dann …«

»Wird er nicht«, winkt Kari zischend ab. »Er hat gesagt, er kommt heute nicht vorbei.«

Gerade, als sie die Worte ausspricht, hören wir das Knacken eines Türschlosses. Unsere Köpfe rasen in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist und ich bete zu Gott, dass wir es uns nur eingebildet haben. Da Karis Eltern vereist sind, gibt es nur noch eine Person in der ganzen Stadt, die einen Schlüssel für das Haus besitzt.

Mein Herz rutscht in den Keller, während Kari sich in Bewegung setzt und über ihre eigenen Füße stolpert. Sie versucht zu retten, was zu retten ist und fängt an, sämtliche Flaschen vom Tisch zu verstecken - unter dem Tisch. Als würde das was bringen. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie es gut sein lassen soll, weil das keinen Sinn macht, aber da steht auch schon Tai in der Tür.

Mist!

»Was zum …«, sagt er und ich sehe genau, wie er in seinem Kopf in Windeseile eins und eins zusammenzählt. Sein Blick verändert sich von der einen auf die andere Sekunde, von Verwirrung, zu Überraschung, zu Verärgerung. Er sieht seine Schwester an, die neben dem Tisch vor den halbleeren Flaschen kniet und dann mich.

»Was, zur Hölle, ist hier los?«, fragt er in den Raum, sieht jedoch mich dabei an. Ich würde am liebsten im Erdboden versinken, doch dann lenkt er seinen Blick und seine Wut auf Kari.

»Kari!«, donnert er los und wir zucken gleich beide zusammen.

Wow. Allein, wie er ihren Namen ausspricht … das habe ich so noch nicht erlebt.

»Was denkst du, was du da tust?«

»Ich … äh … räume gerade auf?«

Schwache Lüge. Außerdem verrät sie ihr unsicheres Grinsen. Sie sieht mich an, als würde ich ihr irgendwie helfen können, aber ich schüttle nur den Kopf. Am besten ist, wir halten einfach beide die Klappe. Tai ist nicht bescheuert und alles, was wir jetzt sagen, kann und wird er gegen uns verwenden.

Leider kann Kari keine Gedanken lesen und sie ist viel zu angetrunken, um noch klar denken zu können. Und dann, knickt sie auch schon ein. Wie ein kleines Kind.

»Es sollte nur eine kleine Party werden, mehr nicht.« Sie zieht die Schultern hoch und schaut ehrfürchtig zu Tai auf, der inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt hat und sie mit seinen Blicken durchbohrt.

Man, ich wusste ja gar nicht, wie dominant Tai sein kann. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich ihn selten so wütend erlebt habe. Aber als seine beste Freundin sehe ich natürlich, wie es in ihm kocht und wie er all seine Selbstbeherrschung zusammennehmen muss, um Kari nicht den Hals umzudrehen.

»Eine Party? Hast du mit Mama und Papa darüber gesprochen?«

Oh, bitte, sag einfach ja.

»Nein.«

Sie ist verloren. So was von verloren.

Aus Tais Kehle dringt ein tiefes Brummen. »Und meinst du, sie finden es gut, wenn du irgendwelche fremden Leute zu uns nach Hause einlädst und ihr Papas ganzen Whiskey Vorrat leer trinkt?«

Eine Fangfrage, definitiv eine Fangfrage.

»Wieso fremd?«, entgegnet Kari ernsthaft verblüfft und zeigt mit dem Finger auf mich. »Seit wann ist Mimi eine Fremde für dich?«

Tais Blick trifft mich hart und ich zucke erneut zusammen.

Super. Genauso würde eine Komplizin sich verhalten.

Meine Hände beginnen zu schwitzen und ich werde nervös. Wie soll ich ihm das erklären?

»Äh … ich habe damit nichts zu tun, ich schwöre«, sage ich und hebe beschwichtigend die Hände in die Höhe. Doch Tais Blick nach zu urteilen, glaubt er mir kein Wort. Und Karis nächster Satz untermauert seinen Verdacht auch noch.

»Wegen Mimi musst du dir keine Sorgen machen. Sie hat sich neulich echt gut um mich gekümmert, als wir in der Bar waren. Sie hat mir sogar die Haare beim Kotzen gehalten.«

Nun sehen wir sie beide an und so, wie sie schaut, hat sie absolut keinen Schimmer, was sie gerade getan hat.

»Du hast was?« Tai kommt schnellen Schrittes auf mich zu und ich weiche ein paar Zentimeter vor ihm zurück. In seinen Augen spiegeln sich Enttäuschung und Ärger wider, als hätte ich ihn verraten. Als wäre ich ihm in den Rücken gefallen.

»Ihr wart zusammen in einer Bar?«

»Tai, jetzt mach keine große Sache draus«, versucht Kari das Ganze runter zu spielen, doch Tai fährt ihr über den Mund. »Halt du dich da raus!«

Sie verstummt sofort und richtet sich langsam auf.

Ich stemme die Hände in die Hüfte. »Warum bist du so sauer? Kari ist kein Baby mehr! Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie du in ihrem Alter warst. Und oh, Überraschung - das ist gar nicht so lange her?«

»Das war was anderes.«

»Ach ja?«

»Ja!«

»Wieso?«

»Ich kannte meine Grenzen. Sie nicht!«

Ich schnaube. »Und wie soll sie wissen, wo ihre Grenzen sind, wenn du sie ständig daran hinderst, es herauszufinden?«

Tai baut sich vor mir auf, doch diesmal weiche ich nicht zurück. Ich weiß selbst, dass es nicht ganz okay war, was Kari getan hat, aber … er übertreibt maßlos.

»Es ist jedenfalls besser als sie zum Trinken zu animieren. Woher kommt das, Mimi? Reicht es nicht, dass dein Vater ein Alkoholproblem hat? Musst du jetzt auch noch Kari mit da rein ziehen?«

Seine Worte treffen mich so hart und unvorbereitet, dass ich getroffen einen Schritt zurück mache. Das war hart. Viel zu hart. Aber Tais Blick sagt etwas anderes. Als würde er mir noch viel mehr an den Kopf werfen wollen.

»Wow, Tai … das war echt fies«, merkt Kari an und sieht ihren großen Bruder fassungslos an.

»Halt dich da raus, Kari«, platzt es erneut aus Tai raus, bevor er den Arm ausstreckt und mit dem Finger zur Treppe deutet. »Geh in dein Zimmer. Wir reden nachher weiter.«

Kari sieht unsicher zu mir rüber, so als würde sie mir viel lieber Beistand leisten wollen, weil ich gerade ihren Kampf ausfechte, den sie angezettelt hat. Aber dann wirft sie mir einen entschuldigenden Blick zu und tut, was Tai gesagt hat.

Dieser steht immer noch vor mir, so eiskalt wie ein Felsbrocken, der erneut droht, mich zu vernichten.

Ich versuche, tief durchzuatmen, um nicht vor ihm in Tränen auszubrechen. Das macht mich fertig. Erst sehe ich ihn wochenlang nicht, obwohl er meine große Liebe, mein bester Freund ist … und dann treffen wir so aufeinander? Voller Wut?

»Ich weiß, dass du momentan nicht besonders gut drauf bist, Tai«, sage ich mit ruhiger Stimme und klopfendem Herzen, als Kari außer Hörweite ist. Tai schnaubt verächtlich, als hätte ich keine Ahnung, wovon ich da rede.

»Aber das war selbst für deine Verhältnisse unter der Gürtellinie.«

Er verschränkt die Arme vor der Brust und weicht meinem Blick aus.

»Was, zum Henker, erwartest du von mir?«, erwidert er immer noch aufgebracht. Dann geht er rüber zu dem Chaos auf dem Tisch und beginnt in Windeseile, die halbleeren Flaschen einzusammeln.

»Du kannst sie nicht immer wie ein kleines Kind behandeln«, rede ich weiter auf ihn ein, weil mich sein Verhalten so aufwühlt. »Ich verstehe, dass du dich sorgst. Aber du machst alles nur noch schlimmer.«

Unbeirrt sammelt Tai weiter die Flaschen ein, klemmt sie sich alle unter den Arm und geht an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Ich denke nicht, dass ich dich in der Angelegenheit um Rat fragen sollte«, sagt er tonlos und verschwindet in der Küche.

Für den Bruchteil einer Sekunde klappt mir die Kinnlade nach unten. Dann gehe ich ihm hinterher.

»Was soll das bitteschön wieder heißen?«

Tai gibt mir keine Antwort. Er ignoriert mich, während er mit dem Rücken zu mir steht und sämtliche Flaschen ganz hinten in den Schränken verstaut.

»Tai!«, rufe ich aufgebracht, damit er sich endlich zu mir umdreht.

Er seufzt laut auf und wirbelt zu mir herum. Sein Blick trifft mich ziemlich hart und versetzt mir einen Stich.

»Du willst wissen, was das bedeutet?«

Er kommt zu mir rüber und deutet mit dem Kopf in meine Richtung. »Was ist das?«

Stirnrunzelnd sehe ich zu ihm auf, weil ich zunächst nicht weiß, was er meint. Doch als ich seinen Augen folge, die auf meinem Dekolleté haften, verstehe ich, was er meint.

Ich sehe nach unten, auf die Stelle, wo mein Sternen Tattoo hinter meinem Top zur Hälfte rausschaut. Ich habe nicht mal bemerkt, dass es ihm aufgefallen ist. Irritiert lege ich meine Finger auf mein Schlüsselbein.

»Ein Tattoo, Mimi? Ernsthaft?« Er sieht mich an, als wäre ich diejenige, die den Verstand verloren hat.

»Was ist daran so schlimm?«

»Wer hat dich zu diesem Quatsch überredet?«, meint Tai wissend. Innerlich zucke ich zusammen, versuche jedoch, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Wieso macht ihn dieses Tattoo so wütend?

»Das war ganz allein meine Entscheidung«, entgegne ich. »Es … es war eher eine spontane Idee, als ich neulich mit Matt unterwegs war. Es ist also nur aus einer Laune heraus entstanden, nichts weiter.«

Tai schüttelt den Kopf und drückt sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Matt. Na klar. Hätte ich mir denken können.«

Okay. Das reicht. Was soll dieses Getue?

»Was ist dein Problem, Tai?«, werde ich nun laut und sehe ihn herausfordernd an. Ich habe langsam genug von seiner Art. Er gibt mir das Gefühl, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Dabei geht es ihn nichts an, was ich tue. Nicht mehr.

»Was mein Problem ist?«, erwidert Tai fassungslos und deutet mit dem Finger in die Richtung, wo Kari eben verschwunden ist. »Du hast offenbar einen schlechten Einfluss auf meine Schwester.«

Ich falle aus allen Wolken.

»Was? Ich?«

»Oh, willst du etwa behaupten, das Gegenteil ist der Fall?«, entgegnet er ernst, während ich noch versuche, zu verdauen, was er gesagt hat. »Du gehst mit ihr in eine Bar, wo sie offenbar ziemlich viel getrunken hat. Dann finde ich euch beide hier bei uns zu Hause und wieder ist sie betrunken. Und das Schlimmste von allem ist: du hältst es nicht mal für nötig, mir das zu sagen.«

Noch ein Schlag in mein Gesicht. Übelkeit, gepaart mit Schuld kriecht meiner Kehle hinauf und ich lasse meine Hand sinken.

»Du hast ja keine Ahnung, wie Kari in letzter Zeit drauf ist«, wirft Tai mir vor. »Hast du eine Ahnung, wie viele Sorgen ich mir um sie mache?«

Nein, das habe ich nicht. Weil du mich nicht mehr an deinem Leben teilhaben lässt.

Aber das sage ich nicht. Stattdessen schlucke ich die Worte hinunter, wie eine bittere Pille.

»Du hättest mich anrufen sollen oder mir zumindest schreiben sollen, was vorgefallen ist. Das hättest du sonst auch getan. Keine Ahnung, was mit dir los ist«, meint Tai und der Vorwurf, der in seiner Stimme mit schwingt, ist kaum zu überhören. Seine Augen gleiten kurz hinab auf mein Tattoo, dann sieht er mir wieder fest in die Augen, während ich unter seinem Blick zu zerbrechen drohe. »Ich weiß auch nicht, ob Matt gerade einen schlechten Einfluss auf dich hat. Aber was ich auf keinen Fall will, ist, dass sich dieser Einfluss auf Kari überträgt. Also … tu was du willst, Mimi. Aber tu es mit jemand anderen.«

Ich schlucke hart.

»Keine Sorge«, erwidere ich und versuche krampfhaft, das Zittern meiner Stimme zu verbergen. »Ich werde dir nicht mehr im Weg stehen. Das hier …« Ich mustere ihn mit einem bedauernden und zugleich enttäuschten Blick. » … muss ich mir nicht geben.«

Dann drehe ich mich um und gehe, weil ich es nicht mehr ertragen kann. Ich knalle die Tür hinter mir zu und kehre Tai und diesem Haus den Rücken.

Mimi

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Tai

Als ich Soras Haus betrete, habe ich ein komisches Gefühl.

Schon auf dem Weg hierher ist es mir aufgefallen, aber es verstärkt sich gerade so sehr, dass ich am liebsten auf dem Absatz kehrt machen würde.

Was das Schlimme daran ist - was mich selbst am meisten wundert - ich habe kein schlechtes Gewissen Sora gegenüber. Ich weiß, wir sind nicht zusammen, aber sollte ich nicht trotzdem so etwas wie Scham oder Reue verspüren, wenn ich gerade mit Mimi geschlafen habe und nun zu ihr nach Hause gehe, um den liebevollen Vater zu spielen?

Vermutlich schon.

Ich fühle nichts von alledem. Ich habe keinen Gedanken an Sora oder das Baby verschwendet, während ich bei Mimi war. Ein wenig schockierend, wie leicht es mir offensichtlich fiel das alles auszublenden.

Stattdessen hängen meine Gedanken weiter an Mimi, genauso wie mein Herz, was immer noch neben ihr im Bett liegt.

Wann bin ich zu dieser Person geworden?

Eine Person, die zuerst an sich denkt und so egoistisch handelt, dass es ihr egal ist, ob es andere Menschen verletzen könnte?

Die Wahrheit ist, mir waren die Konsequenzen völlig egal, als ich bei Mimi war.

Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Warum habe ich das getan? Warum bin ich noch mal zu Mimi gegangen? Warum konnte ich es nicht gut sein lassen?

Ich kenne die Antwort auf all diese Fragen nur zu gut. Denn ich war schwer damit beschäftigt, all das zu verdrängen. Aber heute ging es nicht mehr, denn jede Faser meines Körpers fühlt sich nach wie vor zu Mimi hingezogen. Das war mir in dem Moment klar, als sie so plötzlich in unserem Haus mit Kari vor mir stand.

Ich habe versucht, sie auf Abstand zu halten. Dabei war ich selbst mein größter Gegner. Ich war schwach. Ich habe mich hinreißen lassen. Und verdammt, ich würde es wieder tun. Gerade würde ich alles tun, um wieder bei Mimi zu sein.

Aber ich bin es nicht. Jetzt bin ich hier, bei Sora. Da, wo ich sein muss. Ist doch so, oder?

Ich kann es nicht leugnen, die Zweifel nagen nach wie vor an mir. Im Moment sehne ich mich so sehr zu Mimi zurück, dass ich alles stehen und liegen lassen würde, wenn sie freiwillig zu mir zurückkehren würde.

Ich kann nicht fassen, dass ich so denke. Und ich will das auch gar nicht. Meine oberste Priorität sollten Sora und das Baby sein. Welche Rolle spielen da schon meine Gefühle? Ich wünschte, ich könnte sie einfach abschalten.

Seufzend betrete ich Sora’s Zimmer und sehe sofort, dass sie auf ihrem Bett eingeschlafen ist, während der Fernseher läuft. Hat sie etwa auf mich gewartet?

Ich gehe zu ihr und decke sie zu, während mein Blick eine Sekunde zu lang an ihrem Bauch haften bleibt.

Der Anblick versetzt mir einen Stich. Ich wäre gerne der starke, aufrichtige Vater, den dieses Baby verdient hat. Stattdessen habe ich das Gefühl alles falsch zu machen. Hier zu sein, obwohl ich es nicht will, fühlt sich falsch an. Bei einer Frau zu sein, die ich nicht liebe, fühlt sich falsch an. Aber es nicht zu sein, fühlt sich auch falsch an.

Das Einfachste wäre es, Sora zu lieben. Das würde so ziemlich alle Probleme lösen.

Aber ich tue es nicht.

Ich dachte, ich könnte es, zumindest irgendwann einmal.

Das war Wunschdenken, das wird mir jetzt mehr denn je bewusst.

Das, was ich eben mit Mimi gefühlt habe … das könnte ich niemals für Sora empfinden. Das ist absolut nicht möglich.

Hat Sora das verdient? Hat unser Kind das verdient? Verdient es nicht einen Vater, der seine Mutter über alles liebt?

Ich wünschte, ich wüsste, was der richtige Weg ist. Aber ich bin schon so lange vom richtigen Weg abgekommen, dass ich nicht mehr weiß, wie ich noch zurück kann.

Normalerweise würde Mimi mir den Weg weisen. Sie war immer für mich da, stand mir immer zur Seite. Sie sah die Welt schon immer mit anderen Augen als ich und das hat mir oft geholfen.

Aber wie soll ich sie fragen, was ich tun soll, wenn die Konsequenz daraus wäre, dass definitiv einer von uns verletzt wird? Denn genau das ist es, was gerade passiert: egal, was wir tun. Einer wird verletzt. Entweder Mimi oder Sora oder ich oder wir alle drei. Und am Ende würde nur unser ungeborenes Kind darunter leiden.

Ich weiß immer noch nicht, ob ich wirklich der Vater dieses Kindes bin. Aber Sora hat mir versichert, es wäre so. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ihr glauben? Ihr misstrauen? Ich weiß einfach gar nicht mehr, was noch falsch oder richtig ist und das frisst mich innerlich auf.

Seufzend richte ich mich auf und fasse nach der Fernbedienung, die neben Sora auf dem Bett liegt, um den Fernseher abzuschalten. Doch in dem Moment greift sie nach meiner Hand und öffnet die Augen. Kurz erschrecke ich mich.

»Du bist wach«, stelle ich fest.

Sie sieht mich mit festem Blick an, als wäre sie plötzlich hellwach. »Ich wollte gleich noch was essen. Möchtest du auch noch was?«, frage ich.

»Du warst bei ihr, stimmt’s?«, konfrontiert sie mich sofort.

Mein Blick verfinstert sich. Ich lasse die Fernbedienung los und befreie mich aus ihrem Griff, um mich aufzurichten.

»Ich war bei Kari, das weißt du doch.« Ich entziehe mich ihrem Blick, indem ich meine Jacke ausziehe und über einen Stuhl hänge.

»Sie meine ich nicht«, entgegnet Sora mit fester Stimme.

Aber woher weiß sie das? Offenbar erkennt sie die Verwirrung in meinem Blick.

»Ich habe Kari vorhin angerufen und sie sagte mir, du seist schon längst gegangen. Also, Tai … wo warst du?«

Ich stehe mit dem Rücken zu ihr und schließe langsam die Augen. Scheiße.

»Du warst doch bei Mimi, richtig?«

Ihren bohrenden Blick kann ich nur allzu deutlich in meinem Rücken spüren. Gleich wird sie mich am liebsten erdolchen wollen, wenn ich ihr die Wahrheit sage. Aber ich habe absolut keine Lust sie anzulügen.

»Ja, war ich«, offenbare ich ihr deshalb und drehe mich zu Sora um. Ihre Reaktion lässt nicht lange auf sich warten, denn sie schlägt die Decke zurück und springt vom Bett auf.

»Wusste ich's doch! Tai!« Sie ruft meinen Namen, als würde sie mich gleich für eine schlechte Schulnote tadeln wollen. »Darüber hatten wir doch bereits gesprochen«, will sie mir ins Gedächtnis rufen. »Wir waren uns doch einig, dass es das Beste ist, wenn du sie nicht mehr siehst.«

Sora wirkt aufgebracht. Aber das bin ich auch.

»Falsch. Du wolltest das so, nicht ich!«

Sie zuckt zurück und sieht mich so empört an, als hätte ich ihr eben eine Ohrfeige verpasst. Als wäre das nicht die Wahrheit.

»Was?«, entgegne ich sprachlos. »Jetzt tu nicht so überrascht. Ich habe nie gesagt, dass ich Mimi nicht mehr sehen möchte. Ich habe das nur dir zuliebe getan, weil du krankhaft eifersüchtig auf sie bist.«

Ihretwegen hat Mimi sich von mir getrennt, hat sie das schon vergessen? Sie braucht überhaupt nicht so zu tun, als wäre das hier alles eine einvernehmliche Sache.

Ein verächtliches Zischen dringt aus ihrer Kehle. »Ist das so wunderlich für dich, Tai? Wie sollte ich nicht eifersüchtig auf sie sein? Du hast ihretwegen mit mir Schluss gemacht. Erinnerst du dich?«

»Wieder falsch. Ich habe mit dir Schluss gemacht, weil ich deine Gefühle nicht erwidern konnte.«

»Ach, und ihre kannst du erwidern?«

Diese Worte schmeißt sie mir wie Dreck ins Gesicht. Als wären meine Gefühle für Mimi etwas Schlechtes, etwas Verabscheuungswürdiges. Und das macht mich unfassbar wütend.

»Was willst du eigentlich noch, Sora?«, erwidere ich aufgebracht. »Als du mir von deiner Schwangerschaft erzählt hast und mich vor die Wahl gestellt hast, hat Mimi sich sofort von mir getrennt - deinetwegen. Und für unser Baby. Und für mich, damit ich nicht für immer zwischen euch dreien stehe.«

»Oh ja, Mimi ist eine Heilige«, kontert Sora nicht weniger wütend. »Wie selbstlos von ihr. Als ob sie dabei nicht auch an sich gedacht hätte. Ihr ist sehr wohl bewusst, dass ein Baby für dich immer an erster Stelle stehen wird. Und damit kommt sie nicht klar. Ich würde sagen, sie ist eifersüchtig, nicht ich.«

»Oh Gott, Sora! Hörst du dich eigentlich reden?« Ich mache einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. »Ich bin bei dir, reicht dir das nicht? Ist dir das noch nicht genug? Musst du immer weiter in der Wunde bohren?«

Sie weicht vor mir zurück. Wir haben uns bisher nie wirklich gestritten und ich bin mir sicher, dass sie diese Seite noch nicht von mir kennt. Der Anflug von Panik spiegelt sich auf ihrem Gesicht wider.

»Du kannst alles von mir haben, Sora. Wirklich, alles. Ich bin bereit, dir alles zu geben, was ich habe. Aber meine Gefühle für Mimi überlasse ich dir nicht, nur, damit du sie in den Dreck ziehst. Ich kann nichts dafür, dass ich so empfinde. Und ich bin bereit diese Gefühle für dich und für unser Baby hinten an zu stellen. Aber ich werde sie für dich auch nicht leugnen. Das werde ich niemals tun. Ich werde Mimi niemals verleugnen.«

Das hat gesessen.

Ich habe Sora noch nie so sprachlos gesehen.

Sie sieht aus, als hätte ich ihr eine verpasst. Ihr Gesicht ist mit einem Mal schmerzverzerrt. Was hat sie? Überrascht sie es so sehr, dass ich immer noch Gefühle für Mimi habe, oder …

»Was ist mit dir?«, stoße ich hervor und bin mit einem Satz bei ihr, um sie aufzufangen, als sie urplötzlich vor meinen Augen zusammen bricht. Sie hält sich den Bauch.

»Ich …«, stöhnt sie auf. »Es tut so weh.«

Oh, nein.

Bitte nicht.

In mir schrillen alle Warnsignale auf einmal los. Ich greife ihr unter die Arme und stütze sie, um sie wieder auf die Beine zu bekommen.

»Scheiße, soll ich einen Krankenwagen rufen?«

»N-nein«, stammelt sie schwer atmend. Irgendetwas stimmt hier nicht. »Aber fahr mich bitte zu einem Arzt.«

Ich nicke, schleppe sie zur Tür. Doch, weil das alles zu lange dauert und sich Sora kaum bewegen kann, hebe ich sie kurzerhand hoch und trage sie auf meinen Armen die Treppe runter. Als ich sie in mein Auto setze, wirft sie mir einen mitleidigen Blick zu.

»Tut mir leid, ich wollte nicht mit dir streiten«, stöhnt sie, ehe sie erneut das Gesicht vor Schmerzen verzieht.

»Nein, nicht«, sage ich. Angst schwingt in meiner Stimme mit. »Konzentrier dich auf das Baby.«

Ich renne um das Auto herum und steige ein, nur, um mit quietschenden Reifen loszuheizen. Sora atmet schwer, als würde sie keine Luft bekommen und ich spüre, wie die Hilflosigkeit von mir Besitz ergreift. Ich kann überhaupt nichts für sie tun.

Beim Krankenhaus angekommen, hole ich schnell einen Rollstuhl und bringe sie zur Gynäkologie. Sie wollen Sora zunächst allein untersuchen, was mir so gar nicht passt, aber widerstrebend nicke ich.

Mit zitternden Händen lasse ich mich auf den Stuhl im Wartezimmer sinken und versuche, mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen.

Gott, hoffentlich ist alles in Ordnung mit dem Baby.

Die ganze Zeit über habe ich mir insgeheim gewünscht, dass das alles nie passiert wäre. Dass wir besser aufgepasst hätten. Dass ich die Zeit zurück drehen und mein Leben wieder gerade biegen könnte.

Jetzt habe ich das erste Mal Angst, dass sich dieser Wunsch erfüllt.

Völlig verwirrt und durcheinander hole ich mein Handy aus meiner Hosentasche und scrolle durch meine Kontakte, bis ich zu Mimis Nummer gelange.

Mein Finger schwebt über den Anruf Button, doch ich zögere.

Das ist immer mein erster Impuls - ich muss Mimi anrufen! Sie muss kommen und mir beistehen!

Aber wenn ich es vorher nicht mehr tun konnte, so kann ich es jetzt erst recht nicht mehr.

Ich habe kein Recht sie um Hilfe oder gar Mitgefühl zu bitten. Das wäre zu viel verlangt.

Ich drücke das Handy in meiner Hand und presse die Stirn an meine Faust.

»Verdammt. Du bist so ein Idiot, Tai.«

»Taichi Yagami?«

Die Stimme des Arztes lässt mich aufschrecken.

»Ja?«

»Wollen Sie jetzt reinkommen?« Er sieht mich fragend an. Ich nicke schnell und folge ihm in den Behandlungsraum. Sora sitzt auf einer Liege, während der Arzt zu ihr geht. Anscheinend ist die Untersuchung schon abgeschlossen. Sie wirkt zumindest entspannter als vorhin. Aber irgendetwas in ihrem Blick bereitet mir Sorgen.

»Ich habe Ihre Freundin gründlich untersucht«, beginnt der Arzt. »Mit dem Baby ist soweit alles in Ordnung, aber ich habe ihr krampflösende Mittel gegeben, wodurch sich die Schmerzen schnell beruhigt haben. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass sie wiederkommen. Wenn man diese Signale ignoriert, kann es sehr schnell zu verfrühten Wehen kommen. Meist ist diese Reaktion des Körpers auf Stress zurück zu führen. Diesen sollten sie dringend vermeiden, er ist Gift für Mutter und Kind.«

Ich folge den Worten des Arztes, doch alles, was ich höre, ist, dass ich Schuld bin. Es ist meine Schuld, dass es Sora und dem Baby schlecht ging. Ich habe sie schrecklich aufgewühlt mit den Worten, die ich ihr an den Kopf geknallt habe.

»Bitte achten Sie beide in den nächsten Wochen darauf, dass Sie nichts tun, was Mutter und Kind aufregen oder stressen könnte. Ich verordne Ihnen eine Woche Bettruhe. Danach machen sie bitte langsam …« Der Arzt wendet sich an Sora und stellt ihr noch irgendein Rezept aus, aber ich höre nicht mehr richtig zu. Wieder einmal nagt sie Schuld an mir und frisst sich wie eine Made durch mein Gewissen.

Als wir das Krankenhaus verlassen und zurück zum Auto gehen, würde ich mir am liebsten selbst auf die Füße spucken.

»Es ist alles in Ordnung, Tai«, meint Sora etwas kleinlaut, weil meine Stimmung kaum zu übersehen ist. »Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Wie soll ich mir keine Sorgen machen?«, erwidere ich härter als ich es wollte. »Ich hätte dir das mit Mimi nicht so unter die Nase reiben dürfen. Es war klar, dass es dich aufregen würde. Ich wusste nur nicht, dass es solche Auswirkungen haben könnte.«

Unvermittelt bleibe ich stehen. Sora sieht fragend zu mir auf.

»Es tut mir Leid, Sora. Ich werde mich zukünftig zurück nehmen, um dich und das Baby nicht zu gefährden.«

Mein Blick ist hart und entschlossen, doch Sora legt nur den Kopf schief, als würde sie nicht ganz verstehen, was ich meine. Dabei weiß sie es genau. Es ist zwar nicht nötig, aber ich spreche es trotzdem aus.

»Ich werde mich in Zukunft von Mimi fernhalten. Endgültig. Ich will nicht, dass das noch mal passiert.«

Es reißt ein riesen Loch in mein Herz, diese Worte auszusprechen. Aber mir ist schon lange mehr als bewusst, dass es Sora ein Dorn im Auge ist, dass ich Gefühle für Mimi habe. Diese Gefühle werden nicht verschwinden, das ist mir klar und Sora weiß das auch. Aber ich kann versuchen, mich ihnen nicht mehr hinzugeben. Ich muss es versuchen. Für die Gesundheit unseres Babys. Vielleicht kann Sora so Frieden finden und dem Baby passiert nichts.

Sora nickt zustimmend. »Ist gut. Mir tut es auch leid, was ich gesagt habe. Das war fies.«

Ich schüttle nur den Kopf, weil ich diese Entschuldigung jetzt nicht hören will. »Lass gut sein.«

Wir steigen ins Auto und fahren zu Sora nach Hause.

Während der gesamten Autofahrt frage ich mich, wie ich es schaffen soll, Mimi zu vergessen …

Mimi

Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, jetzt zu Kari zu gehen. Wo ich doch gestern bei ihr zu Hause auf ihren Bruder getroffen bin und das Unheil seinen Lauf nahm …

Nein, es ist ganz sicher keine gute Idee, ausgerechnet jetzt zu ihr zu gehen. Aber sie scheint mich zu brauchen, zumindest hat sie mir das vor einer halben Stunde geschrieben. Und ich bin zu sehr Freundin, als dass ich ihr diese Bitte abschlagen würde. Kari ist wie eine kleine Schwester für mich und sie scheint Probleme zu haben. Ich möchte einfach für sie da sein. Vielleicht lenkt es mich ja wenigstens von meinen eigenen Sorgen ab.

Die Sache mit Tai gestern Abend war für mich ein weiterer Rückschlag. Ich hatte nicht erwartet, dass es mir so schwer fallen würde, ihn erneut gehen zu lassen. Dabei war mir das von Anfang an klar und ihm vermutlich auch, aber wir wollten nicht daran denken. Am liebsten würde ich diese gemeinsame Nacht so schnell wie möglich wieder vergessen, um nicht noch mehr leiden zu müssen. Aber ich habe so das Gefühl, dass das nichts wird. Tai sitzt zu tief - in meinem Kopf, in meinem Herz, einfach überall.

Ich dachte, ich tue ihm und mir mit der Trennung auf lange Sicht einen Gefallen. Dass es das Beste für uns beide ist. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass die gestrige Nacht meine Entscheidung nicht ins Wanken gebracht hätte. Außerdem bereitet es mir Sorgen, was das mit Tai macht. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass er durch diesen Kompromiss - wenn man es überhaupt so nennen kann - zu viel von sich selbst aufgibt. Ich weiß einfach nicht mehr, was richtig und was falsch ist.

Als ich bei Kari's Haus ankomme, höre ich, wie sie hinter der Tür lautstark gegen etwas protestiert. Sie scheint sich mit irgendjemanden zu streiten. Oh Gott, hoffentlich sind ihre Eltern nicht schon nach Hause gekommen.

Mein Finger schwebt über der Türklingel, unsicher, ob ich jetzt wirklich stören soll. Doch dann fasse ich mir ein Herz. Es dauert keine fünf Sekunden, bis Kari die Tür öffnet und mich ohne eine Begrüßung ins Haus zieht.

»Komm mit!«, ordert sie und zerrt mich am Ärmel meiner Jacke hinter sich her ins Wohnzimmer.

»Dir auch einen schönen Guten Morgen«, sage ich, nur, um kurz darauf wieder zu verstummen, als Kari abrupt stehen bleibt und ich beinahe gegen ihren Rücken knalle.

Tai steht im Wohnzimmer. Deutlich aufgebracht. Mit wütendem Blick sieht er erst Kari und dann mich an.

»Was?«, zischt er fassungslos und deutet auf mich, als wäre ich nicht anwesend, während sein wütender Blick auf Kari trifft. »Du rufst SIE an?«

»Halt den Mund, Taichi«, faucht Kari zurück. Erschrocken schnellt mein Kopf in ihre Richtung, noch bevor ich über Tais Kommentar sauer werden kann. Auch Tai sieht seine Schwester entsetzt an. Herr Gott. So hat sie noch nie mit ihm gesprochen. Was, zum Teufel, ist hier los?

»Mimi ist wenigstens für mich da, ganz im Gegensatz zu dir. Du bist ja nur noch bei Sora oder in der Uni. Und wenn du mal nach Hause kommst, nörgelst du nur an mir herum. Ich hab's echt satt.«

Wow. So habe ich Kari noch nie erlebt. In ihrer Stimme schwingt so viel Wut mit, so viel Enttäuschung. Aber vor allem Verzweiflung.

»Deshalb werde ich eine Weile zu Mimi ziehen.«

»WAS?«, kommt es Tai und mir wie aus einem Mund.

»Du hast mich verstanden.« Kari strafft die Schultern, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht ihren großen Bruder herausfordernd an. Dieser ballt die Hände zu Fäusten. Sein Blick richtet sich auf mich.

»Das habt ihr hinter meinem Rücken abgesprochen?«

»Äh, ich … davon weiß ich nichts«, gestehe ich und bin sichtlich verwirrt. Kari dreht sich zu mir und greift nach meinen Händen, ehe sie mich flehend ansieht.

»Bitte, Mimi. Ich kann auf keinen Fall mit Sora und ihm unter einem Dach leben. Das halte ich nicht aus.«

Was?

Wieso mit Sora und ihm?

Irritiert sehe ich zu Tai, der sich gerade gestresst durchs Haar fährt.

»Gott, Kari. Du und deine Schnapsideen.«

Karis Kopf schnellt in seine Richtung. »Du willst doch, dass ich, solange Mama und Papa weg sind, nicht mehr alleine wohne. Du willst, dass ich unter Aufsicht bin.«

Tai stößt ein genervtes Stöhnen aus. »Ja, unter meiner Aufsicht! Nicht unter Mimi's. Sie ist nicht für dich verantwortlich.«

»Das bist du auch nicht«, kontert Kari. »Ich bin für mich selbst verantwortlich, auch wenn dir das noch neu ist. Deshalb kann ich auch entscheiden, wo ich wohne.« Okay, sie wirkt ziemlich entschlossen. Leider bin ich das gar nicht. Wie kommt sie auf den Gedanken …?

»Was denkst du dir, Kari? Dass du plötzlich erwachsen bist?« Tai schreit die Worte förmlich heraus, als ich dazwischen gehe.

»Zumindest bin ich nicht das kleine Kind, für das du mich hältst. Ich habe keine Lust mehr, mich von dir wie eins behandeln zu lassen.«

»Okay, ich denke, wir sollten uns zunächst erst mal beruhigen. Lasst uns in Ruhe darüber reden«, sage ich beschwichtigend, doch als ich in die Gesichter der Beiden blicke, wird mir klar, dass das vergeudete Hoffnung ist. Kari wird keinen Zentimeter zurückweichen und auch Tai ist entschlossen, seinen Vorschlag durchzusetzen. Die Situation scheint festgefahren.

»Ach, vergiss es einfach«, platzt es aus Kari raus. »Ich gehe meine Sachen packen und dann gehe ich mit zu Mimi.«

»Oh nein! Das wirst du ganz sicher nicht«, entgegnet Tai drohend und will Kari hinterher jagen, die gerade wutentbrannt die Treppe hinauf stürmt, doch ich halte ihn am Arm fest.

Sofort entzieht er sich meinem Griff. »Lass mich!«

Ich weiche vor ihm zurück, als sein Blick mich hart trifft.

»Warum bist du überhaupt hier?«, schleudert er mir entgegen, was mir eindeutig einen Stich versetzt.

Ich schlucke diesen Kommentar herunter und versuche, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Seine Wut richtet sich nicht gegen mich.

»Kannst du Kari nicht ein bisschen verstehen?«

Tai zischt und weicht meinem Blick aus. »Anscheinend nicht, sonst hätte sie dich ja wohl kaum herbestellt. Sie scheint sich in deiner Gegenwart wohler zu fühlen als in meiner.«

Er verschränkt die Arme vor der Brust und beginnt durch den Raum zu tigern. So, wie er aussieht, würde er wahrscheinlich am liebsten irgendetwas kaputt schlagen. So habe ich ihn selten erlebt.

»Du kannst nicht von ihr verlangen, dass sie sich mit bei Sora und dir einnistet. Wie kommst du überhaupt auf so eine Idee? Das ist doch absurd.«

»Warum mischst du dich da ein?«, entgegnet Tai jedoch nur, anstatt auf meine Frage zu antworten. »Du hast doch gesehen, dass sie momentan nicht auf sich selbst aufpassen kann.«

»Ja, aber sie rund um die Uhr zu beaufsichtigen, ist auch nicht die Lösung.«

Abrupt bleibt Tai stehen und schenkt mir einen herausfordernden Blick.

»Okay, Mimi. Bitte. Erleuchte mich. Hast du einen besseren Vorschlag, da du und meine Schwester euch ja so gut verstehen?« Seine Worte klingen verbittert, aber es liegt auch die selbe Verzweiflung darin, wie in Karis Stimme. Daher versuche ich nachsichtig mit ihm zu sein, auch wenn er gerade wieder eine Seite von sich zeigt, die mir gar nicht gefällt.

»Ich …«

Ich zögere und werfe einen Blick nach oben, wo Kari eben verschwunden ist. »Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn sie eine Weile bei mir wohnt.«

Fassungslos lässt Tai die Arme sinken, während ich selbst kaum glauben kann, was ich eben gesagt habe.

»Bitte? Habt ihr nun beide den Verstand verloren?«

»Wieso nicht?«, erwidere ich schulterzuckend, als wäre es keine große Sache. Dabei wird mir bei der Idee selbst ein bisschen mulmig zumute. Allerdings möchte ich Kari gerne helfen und ich weiß nicht, wie ich das sonst anstellen soll. Ich kann sehr gut verstehen, dass sie nicht mit zu Tai und Sora möchte. Aber allein bleiben, während ihre Eltern noch einige Wochen weg sind, ist auch nicht ideal - wie man gesehen hat.

»Kari braucht lediglich jemanden, der ein Auge auf sie hat, damit sie keine Dummheiten anstellt und sich nicht wieder hemmungslos betrinkt.«

»Ha, ja … und da bist du genau die Richtige für.« Tais Sarkasmus ist kaum zu überhören, aber wieder ignoriere ich seine Gemeinheiten mir gegenüber, auch wenn es mich alle Anstrengung kostet, die ich aufbringen kann.

»Ich kann auf sie aufpassen, Tai«, sage ich mit Nachdruck, aber Tai entfährt nur ein Zischen. »Kannst du mir nicht einfach vertrauen, dass ich … ?«

»Warum tust du das?«, unterbricht er mich schulterzuckend und sieht mich unwissend an. »Warum fällst du mir in den Rücken, Mimi? Bist du irgendwie sauer wegen gestern Abend?«

Mir klappt der Mund auf. Entsetzt starre ich ihn an, weil ich nicht fassen kann, dass diese Worte gerade wirklich aus seinem Mund gekommen sind. Dann presse ich die Lippen aufeinander, während Mein Herz wie verrückt gegen meine Brust hämmert. Wie kann er nur?

»Ich verstehe, dass du aufgebracht bist«, sage ich mit betont ruhiger Stimme, auch wenn es mich alle Kraft kostet. »Aber wie kommst du darauf, dass ich dir in den Rücken fallen will? Ich versuche lediglich euch zu helfen - euch beiden.«

Ich wende mich ab und will nach oben zu Kari gehen, um ihr beim Packen zu helfen, doch schon als ich den Fuß auf die erste Stufe setze, spüre ich, wie Tais Finger sich um mein Handgelenk schließen.

»Warte«, sagt er und ich sehe ihn an. »Das war nicht so gemeint. Ich wollte dich nicht verletzen.«

Seine Worte klingen ruhig und aufrichtig, aber das macht es nicht wieder gut. Mein Blick wandert zu seiner Hand, die mein Handgelenk umschließt. Diese kleine Berührung fühlt sich wie tausend Nadelstiche auf meiner Haut an und trotzdem entziehe ich sie ihm nicht. Nein, ich ertrage den Schmerz einfach. So wie ich es immer tue.

»Wird das von jetzt an immer so laufen, Tai?«, frage ich ihn. »Du knallst mir die schlimmsten Sachen an den Kopf, nur, um dich kurz darauf bei mir zu entschuldigen?«

Tai weicht meinem Blick aus. Er wirkt beschämt.

»Tut mir leid, was gestern Abend passiert ist. Das war so nicht geplant«, sagt er leise und ich verdrehe die Augen.

»Warum sagst du das jetzt, Tai? Was war nicht geplant?«

»Na, dass wir miteinander schlafen«, erwidert Tai im Flüsterton. »Ich weiß selbst, dass wir das nicht hätten tun sollen. Es war ein schwacher Moment und der wird sich nicht wiederholen, das verspreche ich dir, Mimi.«

Ich zucke vor seinen Worten zurück. Aber warum …?

Kopfschüttelnd senke ich den Blick. Meine freie Hand wandert zu meiner Stirn, während der Puls unter meiner Haut rast und ich am liebsten aufschreien würde. Nun bin ich Diejenige, die verzweifelt ist.

»Du denkst, dass das ein Fehler war?«, frage ich leise, denn ich weiß, dass er das gestern Abend noch anders gesehen hat.

Irritiert sieht er zu mir auf. »Du etwa nicht?«

Ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich dachte, ich wäre diejenige, die ihn nun auf Abstand halten müsste, damit er sich nicht wieder allzu große Hoffnungen macht. Hat er nicht gestern Abend noch gesagt, dass er mich liebt? Wieso wirkt es dann plötzlich so, als würde er es zutiefst bereuen, mit mir geschlafen zu haben? Als dürfte er mir keine weiteren Hoffnungen machen? Was ist in den letzten Stunden passiert, dass er plötzlich ganz anders denkt?

»Ich … ich will dich einfach nicht noch mehr verletzen«, sagt Tai, als ich nichts auf seine Frage antworte.

Ein tiefes Seufzen dringt aus meiner Kehle. Ich verstehe gerade gar nichts mehr. Gestern sagte er, er würde es nicht bereuen und nun …?

»Du denkst, du könntest mir mein Herz noch mal brechen? Du kannst nichts zerstören, was längst kaputt ist, Tai. Also mach dir um mich keine Sorgen. Ich brauche wirklich kein Mitleid von dir«, sage ich ein wenig zu kühl und endlich sehe ich eine Reaktion in seinem Blick.

Auch wenn sie noch so winzig ist, sie ist da. Ein Zucken geht durch seine Augen. Eine winzig kleine Regung, die niemand wahrgenommen hätte, der Tai nicht gut kennt. Aber ich kenne ihn, sehr gut sogar. Und ich weiß, dass ihn diese Worte getroffen haben. Auch wenn er nichts dazu sagt.

Stattdessen lässt er wortlos mein Handgelenk los, als Kari die Treppe nach unten kommt.

»So, ich bin soweit«, verkündet sie, als wäre alles bereits beschlossene Sache.

Tai wendet den Blick nicht von mir ab. Er hält ihn fest, wie meine Hand eben, als würde er ihn nicht loslassen wollen. Als hätte er noch was zu sagen. Aber er tut es nicht.

»Hallo?«, meint Kari und sieht uns fragend an.

Ich räuspere mich. »Schon gut. Dein Bruder und ich … ich meine, Tai und ich haben darüber gesprochen und wir denken, es ist keine gute Idee, wenn du …«

» … Wenn du mit zu mir und Sora gehst«, beendet Tai meinen Satz. Überrascht sehe ich ihn an. Was tut er da? Eben wollte ich Kari sagen, dass sie nicht mit zu mir gehen kann. Ich möchte Tai nicht in den Rücken fallen, er hat seine Meinung sehr deutlich gemacht. Daher erstaunt es mich umso mehr, dass er nun doch zurück rudert.

»Du hast recht, Kari. Ich sollte dir mehr vertrauen und bei Mimi bist du erst mal gut aufgehoben, bis Mama und Papa wieder kommen.«

Kari wirkt wie vor den Kopf gestoßen. »Äh … echt?« Sie sieht ihren Bruder an, als hätte er den Verstand verloren, dabei war es doch ihre Idee. Schnell stoße ich sie mit dem Ellenbogen in die Seite. Wenn sie sich nicht beeilt, überlegt er es sich noch anders.

»Ähm, okay. Danke, Tai«, wirft Kari schnell ein, aber Tai winkt nur ab.

»Schon gut. Es wäre trotzdem schön, wenn du dich jeden Tag kurz bei mir melden würdest, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«

»G-gut, mache ich«, stammelt Kari, während Tai sich von uns abwendet und geht. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Kari und ich stehen da wie festgewachsen und trauen uns nicht mal zu atmen, so angespannt sind wir beide.

Schließlich stößt Kari die Luft aus. »Puh. Was, zum Teufel, war das?«

Schulterzuckend blicke ich ins Leere. »Keine Ahnung.«

»In letzter Zeit wirkt er echt unheimlich auf mich«, stellt Kari nüchtern fest, ehe wir das Haus ebenfalls verlassen.

»Tja, wem sagst du das …?«
 

Eine halbe Stunde später kommen wir bei mir zu Hause an und das erste Mal mache ich mir wirklich Gedanken darüber, wie das funktionieren soll?

»Ähm, ich kann dir leider nur das Sofa anbieten. Oder eine Luftmatratze.« Verlegen kratze ich mich am Hinterkopf, während Kari ihre Reisetasche bereits aufs Sofa wirft.

»Das hier ist völlig okay für mich. Danke, dass ich bei dir unterkommen darf.«

Na ja, du hast mir ja nicht wirklich eine Wahl gelassen - denke ich, spreche es jedoch nicht aus. Stattdessen gehe ich in die Küche und setze heißes Wasser auf, um uns einen Tee zu machen.

»Ich meine, stell dir mal vor, ich müsste mit Tai und Sora unter einem Dach wohnen. Das würde ich keine 24 Stunden aushalten«, redet Kari unterdessen weiter.

Fragend runzle ich die Stirn, während ich den Tee abfülle. »Warum wolltest du nicht mit zu Tai und Sora gehen? Ich meine, ich weiß, warum ich nicht dort hingehen würde. Aber du hast doch kein Problem mit ihr.«

Kari wirft sich aufs Sofa und testet einige Kissen auf ihre Bequemlichkeit, indem sie sie mit ihren Händen durchknetet.

»Aus den gleichen Gründen wie du.«

Ich komme mit zwei Tassen Tee ins Wohnzimmer zurück und gebe ihr eine davon.

»Das verstehe ich nicht«, sage ich ganz offen und setze mich neben sie.

Kari schnaubt belustigt. »Mimi!«

»Was?«, schaue ich sie immer noch verwirrt an, doch Kari sieht mich nur mit einem Blick an, als wäre ich schwer von Begriff.

»Sie hat dir meinen Bruder ausgespannt. Und das auf eine ziemlich miese Tour. Falls dir das noch nicht klar sein sollte, ich bin im Team Mimi.«

Kari sagt das so bestimmt, als würde es hier um eine todernste Sache gehen, was mich grinsen lässt.

»Nun, danke für deine Loyalität. Aber Sora ist schließlich schwanger von Tai. Das ist nun mal so.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, wirft Kari schulterzuckend ein und nippt an ihrem Tee.

Meine Stirn legt sich in Falten. »Was meinst du damit?«

»Ich denke nicht, dass Tai wirklich der Vater ist«, offenbart sie mir ganz trocken, aber ich reiße entgeistert die Augen auf. »Vielleicht ist Tai so naiv und gutgläubig und glaubt ihr, dass sie nichts mit einem anderen hatte. Aber ich glaube das einfach nicht.«

Ohje.

»Oder du willst es einfach nicht glauben«, meine ich seufzend. »So ging es mir am Anfang auch. Ich habe auch gezweifelt, daher verstehe ich das.«

»Nein, du verstehst nicht«, entgegnet Kari todernst, stellt ihre Teetasse auf den Tisch vor uns und dreht sich dann zu mir um. »T.K. hat sie gesehen.«

Okaaay.

»T.K. hat wen gesehen?«

Kari stöhnt. »Sora, Herr Gott. Wen denn sonst, Mimi?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ja, und?«

»Er hat sie gesehen, als Tai und sie getrennt waren. Kurz nachdem er mit ihr Schluss gemacht hat.«

Ich erinnere mich. Zu der Zeit hatten Tai und ich uns nicht gesehen, weil er sich über seine Gefühle klar werden wollte.

»T.K. hat Sora in einer Bar gesehen. Mit einem anderen Typen.«

»Was macht T.K. in einer Bar? Sag mal, läuft das immer so bei euch, dass ihr euch in dem Alter in irgendwelchen Bars rum treibt?« Irritiert ziehe ich eine Augenbraue hoch, doch Kari winkt nur hektisch ab.

»Ist doch völlig egal, aber er hat sie dort gesehen. Mit einem anderen Typen. Und sie wirkten ziemlich vertraut.«

»Okay, Kari«, sage ich beschwichtigend. Es klingt, als würde sich Kari da gewaltig in irgendwas verrennen. »Aber das hat noch lange nichts zu bedeuten. Das ist nichts Besonderes. Das kann alles Mögliche bedeuten. Ich war neulich auch mit Matt in einer Bar was trinken.«

Und habe danach mit ihm geschlafen …

Okay.

Zugegeben, vielleicht ist an der Geschichte doch was dran. Aber … selbst wenn. Sora wäre niemals so dreist und würde Tai derart betrügen und hinters Licht führen. So ist sie nicht. Oder?

Kari runzelt die Stirn. »Du gehst mit Matt aus?«

Nun bin ich es, die eilig abwinkt. »Nein, wir gehen nicht miteinander aus. Wir sind nur Freunde.« Was ja nicht gelogen ist. »Ich denke, du interpretierst da was rein, weil du Tai schützen willst.«

»Aber T.K. hat gesagt, …«

»Kari, bitte«, unterbreche ich sie. Ich weiß, sie meint es nur gut, aber ich kann es nicht ertragen. Allein der Gedanke, es könnte alles anders sein, zerreißt mich innerlich. Ich habe schon lange jegliche Hoffnung aus meinem Herzen verbannt, dass es für Tai und mich noch irgendeine Zukunft geben könnte. Spätestens nach gestern Abend ist mir das mehr als bewusst. Sich an scheinheiligen Tatsachen zu klammern, bringt keinem etwas. Es tut nur weh.

»Bitte, lass es gut sein«, flehe ich sie an und versuche, die aufkommenden Gefühle, die tief in mir toben, wieder wegzusperren, in die Tiefen meiner verletzten Seele - da, wo sie hingehören. »Ich hätte es auch lieber, wenn Tai nicht der Vater wäre. Aber in so einen Gedanken kann man sich schnell verrennen und Tai scheint ihr zu glauben oder meinst du, er wäre noch bei ihr, wenn er auch nur den geringsten Zweifel daran hätte, dass das Kind nicht von ihm ist?«

Kari blinzelt verwirrt und sieht dann beschämt zu Boden, als ihr klar wird, dass sie etwas zu weit gegangen ist.

»Du hast wahrscheinlich recht. Es tut mir Leid. Es ist nur so schwer, mit anzusehen, wie ihr euch verändert habt. Früher wart ihr unzertrennlich und jetzt schafft ihr es kaum, euch in die Augen zu sehen.«

Ja, das ist wohl wahr. Jeder Blick von Tai schmerzt so sehr, als würde man mir ein Messer direkt in die Brust rammen. Aber das muss ich wohl ertragen.

»Ich bin froh, dass du mir erlaubst, eine Weile bei dir zu bleiben«, wechselt Kari das Thema und schenkt mir ein dankbares Lächeln.

»Ehrensache«, sage ich und klopfe ihr auf den Oberschenkel. »Aber denk nicht, dass du dich hier ausruhen kannst. Die Hausarbeit teilen wir uns und wenn ich Spätschicht habe, übernimmst du das Essen kochen.«

Ich zwinkere ihr zu, aber Kari grinst nur. »Geht klar.«

Ich nicke und stehe auf. Kari sieht verwundert zu mir auf.

»Musst du zur Arbeit?«

»Ähm, ja leider«, antworte ich, während ich mir meine Jacke überziehe. »Fühl dich wie zu Hause. Und falls du danach suchst - ich habe keinen Alkohol zu Hause.« Die letzte Flasche Wein habe ich ja gestern Abend geleert, zum Glück.

Kari lacht und schnappt sich die Fernbedienung, um es sich auf dem Sofa bequem zu machen. »Du stellst mich hin, als wäre ich alkoholabhängig.«

»Nein, ich habe nur keine Lust, dass dein Bruder mir für diese Idee doch noch den Kopf abreißt.« Ich winke Kari zu und verlasse die Wohnung. Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, atme ich tief durch. Meine Hand wandert an die Stelle, wo mein Herz in meiner Brust schlägt. Viel zu schnell.

Das Gespräch über Tai und Sora hat mich mehr mitgenommen als ich es mir eingestehen möchte. Ihn heute zu sehen und all das, was er zu mir gesagt hat … es fühlt sich an, als würde jedes einzelne Wort mir die Kehle zu schnüren. Er nimmt mir die Luft zum Atmen. Mal wieder. Und ich muss atmen, um überleben zu können. Um irgendwie mit all dem Klar zu kommen. Ich hoffe, ich finde ein wenig Ablenkung in den nächsten Stunden, ansonsten drehe ich wahrscheinlich durch.

Mimi

Gott, wie ich diesen Job hasse.

Heute ist es besonders schlimm. Es ist Hochbetrieb und gefühlt jeder, der draußen auf der Straße ist, kommt rein, um sich einen Kaffee oder etwas zu Essen zu holen. Bereits nach zwei Stunden bin ich so erschöpft, dass ich keine Ahnung habe, wie ich diese Schicht überstehen soll. Ein Kollege hat spontan gekündigt und der fehlt uns jetzt im Service, was uns an solchen Tagen echt das Genick bricht.

Ich reinige gerade die Espresso Maschine, als mir jemand auf die Schulter tippt und ich mich umdrehe. Vor mir steht mein Vorgesetzter und lächelt mich aufmunternd an.

»Ich habe Verstärkung für euch mitgebracht«, verkündet er mir und zwei anderen Kollegen, die in unmittelbarer Nähe stehen. Zunächst stutze ich, wen er meint, doch dann taucht eine weitere Person hinter ihm auf. Ein junger Typ, wahrscheinlich Mitte zwanzig. Blonde, wilde Haare, bärensteinbraune Augen, durchaus gutaussehend. Ein breites Lächeln ziert sein hübsches Gesicht, als er seine Brille zurechtschiebt und sich vorstellt.

»Hi, ich heiße Yoshi Okumura und arbeite ab jetzt hier.«

Noch ehe ich darauf reagieren und mich ebenfalls vorstellen kann, richtet mein Vorgesetzter das Wort an mich. »Mimi, wärst du so freundlich und würdest Yoshi heute einarbeiten? Er hat schon etwas Erfahrung im Bereich Service, deshalb wird es sicher nicht all zu lange dauern.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, klopft er dem Neuling ermutigend auf die Schulter und verabschiedet sich dann. »Du machst das schon. Wir sehen uns später.«

Entnervt schaue ich ihm hinterher, als er wieder nach hinten in sein Büro verschwindet. Ist ja nett von ihm, dass er so schnell einen Ersatz gefunden hat, aber eine Einarbeitung ausgerechnet an so einem Tag, wo der Laden förmlich aus allen Nähten platzt? Danke, genau das konnte ich jetzt noch gebrauchen.

»Du bist also Mimi?«, erhebt Yoshi nun die Stimme und muss dabei ziemlich laut werden, um das viele Gerede der Gäste zu übertönen. Ich sehe ihn an und nicke. Er sagt es, als würden wir uns bereits kennen, dabei sehen wir uns heute zum aller ersten Mal.

»Ja, hi«, erwidere ich jedoch nur und zeige dann auf die vielen Kunden hinter uns. »Du hast dir wirklich den perfekten Tag ausgesucht. Heute ist die Hölle los.«

Yoshi zuckt nur mit den Schultern, als würde ihn das kein bisschen stören. »Das macht mir nichts aus, ich bin ziemlich belastbar.«

Okay, Freund. Wir sprechen uns in vier Stunden wieder.

»Gut, dann fangen wir mal an. Du hast also schon im Service gearbeitet?«

Er nickt. »Ja, ich habe vor meinem Studium zwei Jahre lang in einem Restaurant gearbeitet.«

»Du studierst? Wie alt bist du?«, hake ich interessiert nach.

»25. Aber ich habe mein Studium gerade beendet und will das hier nur so lange machen, bis ich eine Festeinstellung gefunden habe.«

»Kann ich verstehen«, sage ich und drücke ihm nebenbei eine Schürze in die Hand, die er sich umhängen soll. »Ist nicht gerade ein Traumjob, aber vorübergehend ist es okay.« So ähnlich war ursprünglich auch mein Plan gewesen, als ich hier angefangen habe. »Siehst du die Tische 3, 5 und 9?« Ich deute auf einige Tische hinter ihm. Yoshi folgt meinem Blick.

»Die müssen noch bedient werden und Tisch 1 und 2 muss abkassiert werden. Meinst du, du kriegst das hin?«

Yoshi lächelt mich freundlich an und wirkt voller Tatendrang. »Ich denke schon.«

»Gut, dann wird das deine erste Aufgabe für heute. Wenn es nachher etwas ruhiger geworden ist, erkläre ich dir die Maschinen und zeige dir, wie du den besten Latte Macchiato der Stadt zubereitest.«

»Geht klar«, erwidert er lachend und macht sich an die Arbeit.

Und hallo? Der Typ macht sich gar nicht so schlecht. In den kommenden zwei Stunden beobachte ich ihn und er ist viel schneller als sein Vorgänger, der gekündigt hat. Und zudem auch noch freundlicher.

»Wow, du hast jetzt schon mehr Trinkgeld verdient als ich«, sage ich anerkennend, als das Café sich allmählich leert und Yoshi sich hinter die Theke neben mich stellt.

»Nicht schlecht, oder? Tja, ihr habt eben den Besten bekommen«, meint er breit grinsend und obwohl er ziemlich mit seiner Erfahrung als Kellner angibt, kann ich nicht anders, als ihn irgendwie sympathisch zu finden.

»Hey, wenn du so weiter machst, machst du uns allen Konkurrenz und lässt uns in einem schlechten Licht dastehen«, witzle ich und stupse ihm gegen den Oberarm. Yoshi lacht verlegen auf und irgendwie kaufe ich ihm diese leicht scheue, aber aufrichtig freundliche Art ab. Dann höre ich ein Räuspern hinter uns.

»Entschuldigt, ich will euch ja nicht stören«, sagt die Stimme vor der Theke, die ich sofort erkenne. »Aber kann man hier auch was bestellen?«

Als ich mich umdrehe, schaue ich in Matt’s Gesicht, der mich frech angrinst und sich so lässig auf den Tresen lehnt, als wäre er hier zu Hause. Wie lange steht er da schon? Ich rümpfe die Nase.

»Nette Gäste dürfen hier gerne bestellen«, antworte ich.

»Soll das etwa heißen, ich bin nicht nett?«

»Geht so. An deiner Begrüßung könntest du noch arbeiten.«

Sofort spüre ich Yoshi’s entsetzten Blick auf mir, dessen Kopf bei dieser Bemerkung sofort in meine Richtung geschnellt ist. »Mimi …«, haucht er fassungslos. »So redet man doch nicht mit einem Gast.«

»Genau Mimi, so redet man nicht mit einem Gast«, wiederholt Matt triumphierend, bevor wir beide in Gelächter ausbrechen.

Mein neuer Kollege ist sichtlich verwirrt, da er natürlich nicht weiß, dass Matt und ich uns kennen. Aber spätestens jetzt scheint er es zu verstehen, denn er grinst verlegen.

»Okay, kapiert. Ihr kennt euch also.«

»Jap, ziemlich gut sogar.« Matt wackelt anzüglich mit den Augenbrauen, weshalb er sich direkt einen warnenden Blick von mir einfängt.

»Sehr schön. Mimi arbeitet mich heute ein, das hier ist mein erster Tag. Was kann ich dir bringen?«

Ich werfe Yoshi einen fragenden Blick zu. »Traust du dich schon an die Maschinen ran?«

»Ich habe ein abgeschlossenes Studium, Mimi. Ich denke, das kriege ich gerade noch so hin. Und außerdem bist du eine gute Mentorin.«

Matt bestellt einen doppelten Espresso, was tatsächlich kein Problem für Yoshi darstellen sollte und während er sich daran macht, das Getränk zuzubereiten, lehnt Matt sich leicht über die Theke.

»Mentorin also, hört hört. Wenn du so weiter machst, wirst du noch Mitarbeiterin des Monats. Wobei eine Karriere in meiner Band natürlich viel erstrebenswerter wäre.««

»Schon klar. Du musst nicht so dumm grinsen«, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Hast du schlecht geschlafen? Du siehst ziemlich fertig aus.« Natürlich sind mir seine verschlafenen Augen und seine blasse Haut aufgefallen. Und der doppelte Espresso erklärt sein übriges.

»Nur etwas überarbeitet«, meint Matt lediglich. Mal wieder spielt er seine Gefühle runter und stellt seine eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund. Wieso kann er nicht zugeben, dass er völlig erschöpft ist? Man sieht es ihm doch an.

»Du solltest dich wirklich mal etwas ausruhen«, sage ich freundschaftlich, woraufhin Matt jedoch nur wieder schief grinst.

»Meinst du? Magst du mir dabei helfen? Ich könnte etwas Gesellschaft gut vertragen. Die letzten Tage waren sehr einsam.«

Ich rollte demonstrativ mit den Augen. Ist ja typisch.

Außerdem weiß ich nicht, ob das gerade ernst gemeint war oder ob er nur von sich und seinen Problemen ablenken wollte.

»Hier ist dein doppelter Espresso«, sagt Yoshi und stellt Matt sein Getränk hin, was mir eine Antwort auf diese Frage erspart.

»Danke. Dann bis bald.« Matt bezahlt eilig und verschwindet genauso schnell wie er gekommen ist. Ich schaue ihm noch eine Weile hinterher und frage mich, was wohl schon wieder in ihm vorgeht. Ist es nur die Band, die ihn so aufsaugt oder ist da noch was anderes? Etwas, dass er vielleicht niemanden sagt?

»War das … dein Freund Taichi?«

Bei dem Namen schnellt mein Kopf in Yoshi’s Richtung. Verdutzt sehe ich ihn an.

»Du kennst Tai?«, hake ich irritiert nach.

Blödsinn! Würde er Tai kennen, hätte er eben nicht gefragt, ob Matt Tai ist. Er kennt ihn also nicht. Aber woher weiß er dann …?

Offensichtlich sieht Yoshi sofort die Verwirrung in meinem Gesicht und beginnt verlegen zu grinsen. »Tut mir leid, es geht mich überhaupt nichts an. Aber ich habe vorhin ein Gespräch von deinen Kollegen aufgeschnappt und da fiel der Name Taichi, als sie über dich sprachen.«

Meine Kollegen reden hinter meinem Rücken über mich? Na, toll.

Wobei ich ihnen eigentlich nie wirklich erzählt habe, was zwischen mir und meinem besten Freund vorgefallen ist. Sie haben lediglich diese eine Szene mitbekommen, als Tai mit Sora hier war und ich sichtlich aufgewühlt deswegen gewesen bin.

»Oh, okay«, sage ich deshalb nur und schüttle den Kopf, weil ich es irgendwie merkwürdig finde. »Nein, das war nicht Tai. Das war ein Freund von … ähm, von mir und Tai. Aber ist auch egal.« Ich winke schnell ab, während Yoshi sich am Hinterkopf kratzt und irgendwie verunsichert wirkt.

»Wie gesagt, geht mich nichts an. Ich mach dann mal weiter.« Er wendet sich wieder irgendwelchen anderen Arbeiten zu und ich tue dies ebenfalls.

Er weiß leider nicht, welche Wunde er eben wieder aufgerissen hat, als er Tais Namen erwähnt hat. Nicht, dass ich ihn je vergessen könnte, aber ich hatte ihn zumindest dank der Arbeit für ein paar Stunden aus meinem Kopf verbannt. Jetzt ist er wieder da - voll und ganz. Und nimmt mehr Raum ein als ich zulassen wollte …
 

Die letzten paar Stunden bei der Arbeit waren pure Folter. Nach dem Ansturm am Nachmittag war so gut wie nichts mehr los, so dass wir sogar noch Zeit zum Däumchen drehen hatten. Für mich wirklich schrecklich.

Yoshi konnte das nicht wissen, aber … musste er ausgerechnet Tai erwähnen? Verfolgt mich das bis auf ewig? Ich meine, Yoshi kennt die Geschichte von Tai und mir nicht mal. Und trotzdem bringt mich ein völlig Fremder dazu, mich wieder an Tai zu erinnern und daran, was wir neulich getan haben - und wie wir danach auseinandergegangen sind.

Ich hasse das. Ich hasse es, wie ich mich fühle, wenn ich an Tai denke. Hilflos.

Liebeskummer ist schrecklich.

Anscheinend kann ich nichts gegen meine Gefühle tun, das sollte ich aufgeben. Aber verdammt noch mal, ich muss lernen, damit umzugehen. Ich kann ihm nicht mein Leben lang hinterher trauern.

Gott, diese quälenden Gedanken bringen mich noch um.

Kein Wunder also, dass ich gerade ausgerechnet vor seinem Haus stehe …

Ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt zu Hause ist und wenn ja, ob er alleine ist. Aber das ist mir gerade total egal. Auf dem ganzen Weg hierher, haben mich meine Gedanken beinahe aufgefressen. Der Abend gestern und der heutige Morgen haben mich wieder aus der Bahn geworfen, gerade, als ich dachte, endlich die Spur gefunden zu haben.

Jetzt tue ich das Einzige, was mir einfällt und was trotzdem falsch ist. Das Einzige, was mich alles vergessen lässt. Zumindest für eine kurze Zeit.

Als ich nur noch wenige Meter von Matt’s Wohnkomplex entfernt bin, sehe ich, wie die Tür aufgeht und eine Frau raus kommt. Ich erkenne sie nicht sofort, habe einfach nur das Gefühl, sie schon irgendwo mal gesehen zu haben.

Sie ruft sich ein Taxi und wendet dabei kurz den Kopf in meine Richtung, so dass ich ihr Gesicht sehen kann. Jetzt erkenne ich sie. Das ist die Frau von neulich aus dem Club. Die angebliche Frau des Clubbesitzers, die mich hinter der Bühne angesprochen hat, als ich zu Matt wollte. Auch dort kam sie schon aus seinem Zimmer und ich habe mich gefragt, was sie bei Matt wollte, habe mir letztendlich jedoch keine Gedanken mehr darüber gemacht. Aber jetzt? Sie kommt eindeutig aus Matt’s Wohnhaus und wie wahrscheinlich ist es, dass sie auch hier wohnt? Ich bleibe in sicherer Entfernung stehen und mustere sie eingehend, als sie gerade dabei ist, in ein Taxi zu steigen. Wie schon beim letzten Mal wirkt sie äußerst elegant - ein knielanges, enges, schwarzes Kleid, High Heels, eine absurd teure Handtasche über der Schulter und ihre Haare liegen ihr wie schwarze Seide auf dem Rücken. Sie sieht aus, als würde sie viel Geld besitzen.

Nein, sie wohnt ganz sicher nicht hier. Eine Frau wie sie wohnt in irgendeiner reichen Gegend.

Die schöne Frau verschwindet im Taxi und ich ziehe andächtig eine Augenbraue in die Höhe, als es losfährt und um die nächste Ecke biegt.

Es kommt mir total irrsinnig vor, aber … kann es sein, dass Matt und die Frau eine Affäre haben? Ich meine, sie spielt ganz offensichtlich nicht in seiner Liga. Allein ihr Auftreten und der offensichtliche Altersunterschied. Aber wäre es wirklich so abwegig?

Ich schüttle schnell den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Das alles geht mich rein gar nichts an. Und selbst wenn da was läuft, hält es mich nicht davon ab, das zu tun, was ich vorhabe. Ich bin schließlich nicht hergekommen, um Matt auszuspionieren, sondern, weil die Sache mit Tai mich derart aufgewühlt hat, dass ich seit gestern Abend keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Und da jetzt auch noch Kari bei mir eingezogen ist, kann ich es mir nicht gestatten, wieder in mein altes Muster zurückzufallen und heute Abend heulend auf der Couch zu liegen, badend in Selbstmitleid.

Ich muss mich irgendwie ablenken!

Oben angekommen klingle ich gleich mehrmals an Matt’s Tür. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er mir aufmacht, aber es wundert mich nicht, dass er zu Hause ist.

Sichtlich verwirrt steht er im Türrahmen und sieht mich an.

»Mimi? Was machst du …?«

Ich lasse ihn nicht ausreden. Stattdessen mache ich einen großen Schritt auf ihn zu, umfasse sein Gesicht mit beiden Händen und drücke meine Lippen auf seine.

Matt stolpert einige Schritte zurück, weil ich meinen ganzen Körper gegen seinen presse und ihn somit zurück in die Wohnung dränge. Plötzlich verliert er das Gleichgewicht und fällt rücklings nach hinten, doch das hält mich nicht auf. Ohne auch nur einen Blick in die Wohnung zu werfen und mich zu vergewissern, ob wir alleine sind, setze ich mich auf ihn, beuge mich zu ihm nach unten und küsse ihn erneut.

»Mi-Mimi«, presst er unter meinen Küssen hervor und schiebt mich sanft von sich. »Was soll das werden?«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe, während meine Hände auf seiner Brust ruhen.

»Siehst du das nicht?« Ich will ihn wieder küssen, aber Matt drückt mich weiterhin von sich.

»Warte mal«, meint er stockend und sieht sich unsicher um. »Du weißt schon, dass das auch Tais Wohnung ist und wir gerade mitten im Flur liegen? Er könnte jederzeit nach Hause kommen.«

Ja, das könnte er. Und vielleicht wäre es DIE Erlösung. Würde er das herausfinden, wäre es endgültig vorbei. Keine sehnsuchtsvollen Blicke mehr, kein hinterher Trauern, keine Reue, kein Bedauern, keine Schuldgefühle, weil er mit mir geschlafen hat. Kein »Es tut mir Leid« mehr. Das will ich nicht mehr von ihm hören. Nie wieder.

»Ich bin frei und kann tun und lassen, was ich will, oder? Das hast du doch gesagt«, antworte ich entschlossen, beuge mich zu Matt hinunter und lege fordernd meine Lippen auf seine, nur, um gleich darauf mit der Hand unter sein Shirt zu fahren. Meine Hände treffen auf seine kühle Haut und entlocken ihm schon jetzt ein Seufzen.

Er versucht nicht mal mehr, mich aufzuhalten. Stattdessen stöhnt er in den Kuss hinein und packt mich an den Hüften, um mich noch enger an sich zu ziehen.

Unser Kuss fühlt sich an, als würde in mir ein Meer toben. Ich spüre die bereits vertraute Welle, die in mir aufbricht, ihre Fluten schlägt und die schmerzenden Gefühle rund um Tai mit sich hinweg spült …
 

»Ich hätte nicht gedacht, dass du mich je überraschen kannst.« Matt rollt sich neben mich auf die Seite und grinst mich anzüglich an.

»Was soll das denn heißen? Bin ich so langweilig?« Ich klinge bissiger als beabsichtigt. Liegt wahrscheinlich daran, dass mein Puls immer noch Achterbahn fährt.

»Nein«, lacht Matt auf. »Mich hat nur noch nie eine Frau in meiner eigenen Wohnung überfallen.«

Ich grinse und will mich aufrappeln, aber Matt hält mich fest und zieht mich zurück in die Laken. Der Fußboden wurde uns schnell zu unbequem, weshalb er mich nach einigen hitzigen Küssen doch noch in sein Bett getragen hat.

Noch bevor ich mich beschweren kann, stützt er sich neben meinem Kopf ab und beugt sich über mich.

»Warum bist du hergekommen?«

»Kannst du dir das nicht denken?« Ich verdrehe die Augen und will ihn wegdrücken. Keine Chance.

»Was hat er wieder angestellt?«

Die Frage kommt so plötzlich und direkt, dass ich ins Stocken gerate. Blinzelnd sehe ich ihn an.

»Ähm … n-nichts«, lüge ich und das nicht mal besonders gut. Matt's Grinsen verrät mir, dass er mir natürlich kein Wort glaubt.

»Du bist eine schlechte Lügnerin.«

Ich öffne den Mund und sehe ihn herausfordernd an. »Und du? Bist du ein schlechter Lügner?«

Matt’s Augenbraue wandert in die Höhe und die Frage steht ihm bereits ins Gesicht geschrieben. »Was meinst du?«

Eigentlich wollte ich ihn nicht darauf ansprechen, aber noch weniger will ich jetzt über Tai reden.

»Ich habe diese Frau vorhin aus deinem Haus kommen sehen.«

»Welche Frau?«

Matt’s Gesichtsausdruck wirkt unbeeindruckt, aber das überzeugt mich noch lange nicht. Es wird Zeit ein wenig hinter die Fassade zu blicken.

»Diese Frau«, grinse ich schief. »Etwas älter als du, lange, schwarze Haare, ziemlich attraktiv … klingelt da was?«

»Überhaupt nicht«, sagt er zwar, aber sein Grinsen, dass er sich offensichtlich nicht verkneifen kann, verrät was anderes.

Ich hatte also doch recht!

»Woher kennst du sie? Wie heißt sie?«, hake ich deshalb weiter nach. Matt weiß, dass es aussichtslos ist, es weiter abzustreiten. Aber das heißt noch lange nicht, dass er sich mir öffnen wird. Stöhnend verdreht er die Augen.

»Sie heißt Misaki und ich will nicht über sie reden.«

Klar.

»Matt …«, sage ich sanft und fahre mit den Fingern durch seine blonden Haare, die in den letzten Wochen definitiv gewachsen sind. » … ich bin nicht eifersüchtig, falls du das denkst.«

»Aber definitiv zu neugierig«, lächelt er amüsiert und ich schnaube.

»Nun ja, sie ist ziemlich attraktiv. Und definitiv älter als du. Und sie spielt nicht in deiner Liga.«

Matt runzelt die Stirn und sieht beinahe frustriert aus. »Danke, dass du mich daran erinnerst. Das weiß ich selbst.«

Überrascht lege ich den Kopf schief. Trifft ihn diese Tatsache etwa?

»Sag mir lieber, was mit dir und Tai schon wieder los war. Oder willst du mir etwa erzählen, dass du grundlos heute Abend zu mir gekommen bist? Dafür kenne ich dich inzwischen zu gut, Mimi.«

Ich wünschte, ich könnte dasselbe von dir behaupten …

Ich drehe den Kopf zur Seite.

Es ist so frustrierend. Ich bin zu ihm gekommen, damit ich vergessen kann und gerade, als mir dies gelungen ist, erinnert er mich wieder daran. Hört das denn nie auf?

»Müssen wir darüber reden?«, frage ich genervt.

»Nein«, antwortet Matt tonlos und im nächsten Moment spüre ich auch schon seine Finger zwischen meinen Beinen. Ich keuche vor Überraschung auf.

»Du musst mit mir nicht reden, das weißt du«, flüstert Matt und beginnt an meinem Ohr zu knabbern, was mir eine Gänsehaut beschert. Mein Becken reckt sich ganz automatisch seinen Bewegungen entgegen, während er mit der anderen Hand nach meinem Handgelenk greift und es neben meinem Kopf ins Kissen drückt.

»Ich kann nicht bleiben«, keuche ich, als er sich mit Küssen einen Weg über meinen Hals bahnt. Anscheinend hat er von der schnellen Nummer von eben noch nicht genug. »Kari wartet zu Hause auf mich.«

Vor lauter Erregung bringe ich die Worte nur seufzend hervor, aber Matt hört sie trotzdem, lässt von mir ab und sieht mich fragend an.

»Kari ist bei dir zu Hause?«

Ich nicke. Allerdings scheint diese Information Matt nicht von seinem Vorhaben abzuhalten, denn er übersät meinen Hals und meine Lippen weiterhin mit Küssen, während seine Finger mich zeitgleich in den Wahnsinn treiben und jegliches Denken viel zu schwer machen.

»Was macht sie bei dir?«, bohrt er dennoch weiter. Ich versuche, meine Gedanken zu sammeln. Ich bringe die Worte nur stockend hervor.

»Sie wohnt für ein paar … Tage bei mir.«

Wieder ein fragender Blick.

»Aber warum?«

Lieber Gott! Ist das sein Ernst?

Ich stöhne laut auf, aber diesmal, weil ich genervt bin. Kurzerhand packe ich ihn an den Schultern und drehe mich mit ihm um, so dass ich jetzt rittlings auf ihm sitze.

»Ich dachte, wir wollten nicht reden.«

Matt's Augen funkeln auf und seine Mundwinkel beginnen amüsiert zu zucken.

»Du hast recht«, meint er, richtet sich auf und zieht mich an sich, um da weiter zu machen, wo er aufgehört hat. Seine Hand gleitet in mein zerzaustes Haar und zieht mich an sich, während ich meine Finger in seinen Rücken kralle und er gleich mehrere Küsse auf mein Schlüsselbein haucht.

»Eine Sache noch …«, sage ich nach Luft schnappend. »Du weißt, warum Kari und T.K. sich gestritten haben, oder?«, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Die Frage verlässt so schnell meinen Mund, dass ich sie nicht mal richtig durchdenken kann. Warum frage ich ihn jetzt danach? Er wird es mir ohnehin nicht sagen.

»Wer sagt, dass sie sich gestritten haben?«, lautet jedoch Matt's Antwort zu meiner eigenen Überraschung. »Sie hatten eine Meinungsverschiedenheit, das ist alles.«

Eine was?

»Tut mir Leid, aber das kann nicht sein.«

Matt stoppt mitten in der Bewegung und hebt nun doch den Kopf, um mich anzusehen.

»Willst du jetzt doch Konversation betreiben?«

Ich schüttle den Kopf. »Aber ich mache mir wirklich Sorgen um sie. Sie verhält sich eigenartig und ich werde das Gefühl nicht los, dass es was mit deinem kleinen Bruder zu tun hat.«

Matt hält erneut inne und wirft den Kopf in den Nacken.

»Okay. Na, schön. Wenn du es unbedingt wissen musst. Sie hatten Sex, okay?«

»Was?« Augenblicklich springe ich auf und schaue auf Matt hinab. »Sex? So … so wie wir beide? Im Ernst?«

Matt, der sich nun mit den Händen hinter seinem Rücken abstützt und dabei die Augen verdreht, sieht zu mir auf.

»Ja, was ist daran so schlimm?«

Ich runzle die Stirn. Moment.

Das ist alles?

Mehr nicht?

»Allein deshalb würde Kari nicht so durchdrehen«, stelle ich nüchtern fest, woraufhin Matt schnaubend den Kopf kreisen lässt, so dass sein Nacken knackt. Anscheinend war nicht nur mir der Fußboden zu hart.

»T.K. will nichts von ihr. Jedenfalls nichts ernsthaftes und damit kommt sie anscheinend nicht klar.«

Matt kommt dieser Satz so selbstverständlich über die Lippen, dass es mich schaudert.

»Warte mal …«, sage ich skeptisch, da sich das Puzzle nach und nach für mich zusammensetzt. » … heißt das etwa, sie hatten nur einen One Night Stand? Und dann?« Für so etwas ist Kari eindeutig nicht der Typ. Ich denke, wenn sie mit jemanden ins Bett geht, dann meint sie es ziemlich ernst - zumindest schätze ich sie so ein. Aber was ist mit T.K.? Offensichtlich sieht er das ganz anders.

Matt öffnet leicht den Mund und sieht zu mir auf, mit einem Blick, als müsste ich ganz genau wissen, was das bedeutet.

»Oh Gott«, stoße ich aus und schlage die Hand vor den Mund. »Echt jetzt?« Ich verpasse Matt einen Hieb gegen den Oberarm, ehe ich anfange, mich in Windeseile anzuziehen.

»Hey, was soll das?«, beschwert er sich bei mir und reibt sich die schmerzende Stelle. Doch dann steht auch er auf und streift sich zumindest seine Boxershorts wieder über. »Wieso hören wir jetzt auf? Was hat das mit uns zu tun?«

Haltlos beginne ich zu fluchen, weil er mich gerade echt mit seiner unbekümmerten Art in den Wahnsinn treibt.

»Gott, Matt! Du verstehst es einfach nicht.«

Fassungslos sehe ich ihn an, warte auf irgendeine Art von Einsicht seinerseits, aber alles, was ich bekomme, ist ein ahnungsloses Schulterzucken.

»Was ist dein Problem?«

»Ich habe kein Problem«, fahre ich ihn an, während ich inzwischen voll bekleidet und er immer noch in Unterhose vor mir steht. »Du hast ein Problem. Nein, IHR habt ein Problem!«

»Wer ist ihr?«

»Na, T.K. und du natürlich!«

»Was?«

Matt sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren, während ich mich immer mehr in Rage rede. Wenn ich daran denke, was er mit Kari gemacht hat, wird mir ganz schlecht.

»Matt, ernsthaft«, beginne ich betont langsam, damit auch er es endlich versteht. »T.K. hat Kari benutzt und mit ihr geschlafen. Danach hat er sie fallen lassen. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«

»Allerdings«, entgegnet Matt und wirkt dabei fast schon belustigt. »So machen es Millionen von Typen, jeden Tag, auf der ganzen Welt. Und Frauen übrigens auch.«

Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Kann oder will er es nicht begreifen?

»Du machst mich echt wahnsinnig, hörst du?«, entgegne ich deutlich gereizt und mache eine Geste mit meinen Händen, dass ich ihn am liebsten erwürgen würde. »Du bist daran Schuld, dass er das getan hat.«

»Wie bitte?« Jetzt beginnt er wirklich zu lachen und zeigt ungläubig auf sich. »Wie kann ich daran Schuld sein, wenn T.K. kein Interesse an Kari hat und nur mal mit ihr ins Bett wollte?«

Nur mal mit ihr ins Bett wollte?

Verdammt. Dieser Kerl hat wirklich keinen Anstand. Und mir naives Ding fällt das erst jetzt auf? Ich bin so blöd.

»Weil er genau so ist wie du!«, platzt es aus mir heraus, weil ich es nicht länger zurückhalten kann. »Du bist sein großer Bruder. Du bist so was wie ein Vorbild für T.K. Er hat immer schon zu dir aufgeschaut, das weißt du.«

»Mimi, das ist lächerlich«, antwortet Matt verständnislos. »T.K. und ich sind grundverschieden, das waren wir schon immer. Für mich klingt das eher so, als würdest du deine eigenen Probleme auf Kari und T.K. projizieren.«

Ich ignoriere diesen Kommentar. Denn er hat nichts hiermit zu tun. Gar nichts.

»Trotzdem eifert er dir nach«, sage ich gereizt. »Eure Eltern sind schon lange getrennt und ihm fehlt die Vaterfigur. Ihr verbringt viel Zeit miteinander und seine Art mit Frauen umzugehen, hat er sich eindeutig bei dir abgeguckt. Oder willst du das etwa abstreiten? Wie viele Frauen waren in den letzten Monaten wohl in deinem Bett, die du danach nie wieder gesehen hast?«

Nun wirkt Matt ernsthaft getroffen und ein Schatten huscht über sein Gesicht, ehe er die Arme vor der Brust verschränkt und mich aus schmalen Augen heraus anstarrt.

»Tu nicht so, als würdest du mich kennen, nur, weil wir ab und zu miteinander vögeln. Du hast absolut keine Ahnung, was bei mir so abgeht.«

So.

Das reicht.

»Nein, habe ich nicht! Weil du niemanden an dich ran lässt. Ach, weißt du was? Vergiss es!« Wütend schnappe ich mir meine Jacke, verzichte jedoch darauf, sie anzuziehen und knalle die Tür hinter mir zu. Ich muss echt weg hier. Wie konnte ich nur so dumm sein und mich auf jemanden wie Matt einlassen? Ich blöde Kuh!

Mimi

Und wieder knalle ich die Tür hinter mir zu, aber diesmal ist es meine eigene.

»Ich projiziere überhaupt nichts! Was bildet er sich ein? Er hat sie doch nicht mehr alle«, rufe ich wütend, streife mir die Schuhe von den Füßen und schleudere sie in die Nächste Ecke.

»Mimi?«, dringt Karis Stimme aus dem Wohnzimmer und ich zucke zusammen, als sie ihren Kopf um die Ecke steckt. »Ist alles okay? Hast du dich mit jemanden gestritten?«

Au Backe. Jetzt habe ich vor lauter Wut über Matt doch glatt vergessen, dass ich nicht mehr alleine zu Hause bin. Wie blöd von mir.

»Äh, nein«, räuspere ich mich und versuche zeitgleich, mich runterzufahren. Kari darf auf keinen Fall irgendwas merken. »Der Nachbar hat sich nur bei mir beschwert, weil ich den Müll nicht richtig getrennt habe.« Ich kratze mich am Hinterkopf, weil es mir unangenehm ist, Kari anzulügen, aber was soll ich machen?

»Willst du etwas essen?«, frage ich, um schnell das Thema zu wechseln.

Kari nickt und folgt mir in die Küche. »Gern.«

Da ich nicht mehr viel zu Hause habe, läuft es auf eine Tiefkühlpizza hinaus.

»Tut mir Leid, ich muss morgen unbedingt einkaufen gehen.«

Kari winkt schnell ab. »Kein Problem. Wäre ich jetzt zu Hause, hätte ich wahrscheinlich nur Chips und Schokolade in mich reingestopft.«

»Typisch Teenager, was?«, entgegne ich grinsend. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, als Tai in deinem Alter war. Er hat Fast Food quasi inhaliert.« Ich verstumme, sobald ich den Satz ausgesprochen habe und mein Grinsen verblasst.

Zum Glück legt Kari nur die Stirn in Falten und schenkt mir ein mattes Lächeln, anstatt auf das Gesagte einzugehen. Ich streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr und frage mich, ob das von nun an immer so sein wird? Dass all die schönen Erinnerungen mit und an Tai mit dieser Bitterkeit einhergehen. Mit diesem faden Beigeschmack, dass es nie wieder so sein wird.

»Kann ich dich was fragen, Kari?«, wechsle ich das Thema. Kari stemmt sich mit den Händen auf der Arbeitsplatte ab und sieht mich neugierig an.

»Natürlich, alles.«

»Okay.« Ich wende mich ihr ganz zu. »Ist zwischen dir und T.K. irgendwas gelaufen?«

Karis Miene verfinstert sich und wird eiskalt. »Wie kommst du darauf?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ist so ein Gefühl. Außerdem hat Matt so was erwähnt.« Keine Ahnung, ob es eine gute Idee ist, ihn da mit reinzuziehen, aber eigentlich ist mir das jetzt auch egal. Er kann mich mal.

»Na toll«, nuschelt Kari in sich rein und beißt sich auf die Unterlippe. »Jetzt weiß er auch schon Bescheid darüber.«

Fragend sehe ich sie an. »Was soll das bedeuten?«

Kari seufzt. »Eigentlich wollte ich darüber nie wieder reden. Oder auch nur einen Gedanken daran verschwenden. Aber das schaffe ich eh nicht, also …« Sie geht zum Kühlschrank und öffnet ihn, um sich dann ein Glas Orangensaft einzuschenken. » … ja, es stimmt. Wir hatten was miteinander. Und seitdem verhält er sich wie ein Arschloch.«

Ich bin wie vor den Kopf gestoßen.

Meine Kinnlade fällt nach unten. Dann hat Matt also nicht übertrieben.

»Ich … ich kann mir vorstellen, was du meinst.«

»Ach ja?«, schnaubt Kari lachend.

»Ja, ich …« Ich nehme die Pizza aus dem Ofen und schneide sie in acht Teile. » … also, ich hatte neulich auch was mit einem Kerl, der es danach bereut hat.« Um genau zu sein gestern. Mit deinem Bruder. Aber das sage ich natürlich nicht. Ich hoffe lediglich, dass Kari sich mir etwas mehr öffnet, wenn ich ihr auch etwas von mir anvertraue. »Ist kein schönes Gefühl.«

»Nein, ist es nicht. Seitdem ist es wirklich komisch zwischen uns. Ich kann ihm kaum noch in die Augen schauen. Aber für ihn scheint es irgendwie keine große Sache gewesen zu sein. Es ist nach seiner Geburtstagsfeier passiert. Und nein, wir waren nicht sonderlich betrunken, darauf kann man es also nicht schieben. Ich weiß auch nicht … plötzlich war da diese Anziehung zwischen uns und … es war total schön. Bis es das nicht mehr war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell er danach wieder angezogen war. Seitdem hat er das Thema nicht mehr erwähnt. Das hat mich echt verletzt. Er ist mein bester Freund und ich habe das nicht ohne Grund getan. Tja, er anscheinend schon. Offensichtlich brauchen Jungs keinen Grund dafür, um mit ihrer besten Freundin zu schlafen«, sagt Kari und wirkt dabei so geknickt, wie ich sie selten gesehen habe. Noch ein Puzzleteil, welches sich gerade zusammensetzt.

»Hast du Gefühle für ihn?«

»Ist das wichtig?«, seufzt Kari und folgt mir zum Sofa, wo wir uns hinsetzen und jeder von uns ein Stück Pizza nimmt. »Ganz offensichtlich will er nichts von mir. Also ist es egal.«

Innerlich seufze ich auf. Wenn es doch nur so einfach wäre …

»Ich wünschte, ich könnte dir irgendetwas Positives sagen«, meine ich und knabbere unzufrieden an meinem Stück Pizza rum. Mir ist der Appetit vergangen. »Aber manchmal tun Menschen etwas, dass sie später bereuen.«

»Allerdings«, antwortet Kari und legt ebenfalls ihre Pizza zurück. »Ich bereue es, dass ich ihm meine Jungfräulichkeit geschenkt habe.«

Perplex sehe ich sie an, woraufhin Kari matt lächelnd mit den Schultern zuckt. »Was ist? Hast du gedacht, ich mache so was öfters? Das war mein erstes und einziges Mal, Mimi.«

Hitze steigt mir in die Wangen. Oh Gott. Das ändert die Lage, sehr sogar. Wie konnte er nur? Dieser kleine, hinterhältige …

»Ich bin wirklich wütend auf Matt«, platzt es aus mir heraus. Gleich darauf merke ich meinen Fehler, doch da löchert mich Kari bereits mit fragwürdigen Blicken.

»Wieso auf Matt? Was hat er damit zu tun?«

»Äh, nichts«, entgegne ich eilig und hebe die Hände in die Höhe. »Ich meinte natürlich T.K. Es ist wirklich unmöglich, wie er sich dir gegenüber verhalten hat.«

»Jaah, das stimmt«, meint Kari gedehnt und wirkt immer noch leicht misstrauisch, aber dann entspannt sich ihr Gesichtsausdruck glücklicherweise wieder. »Aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen, richtig? Also ist es das Beste, einfach nicht mehr daran zu denken.«

Sie schnappt sich ihr Stück Pizza wieder und beißt beherzt hinein, als wäre nun alles wieder gut. Aber ich weiß, dass es das nicht ist. T.K. hat ihr wehgetan und ich weiß, wie sich das anfühlt. Wie es dich innerlich auffrisst, bis von deinem Herzen nur noch Fetzen übrig sind. Kari ist zu jung für so viel Liebeskummer und ich würde ihr so gerne da raus helfen.

Leider bin ich in dieser Situation die schlechteste Ansprechpartnerin, die man sich vorstellen kann. Denn ich weiß es ja selbst nicht besser.
 

Kari schläft noch, als ich am nächsten Morgen die Wohnung ganz früh verlasse. Ich hinterlasse ihr einen Zettel, mit der Nachricht, dass ich meinen Vater besuchen gehe. Ich bin mit Dad zum Frühstück verabredet. In seiner neuen Wohnung. Ich kann es kaum erwarten!

Vor einer Woche ist er in eine komplett möblierte Wohnung gezogen. Mom hat ihr Versprechen also gehalten. Ich hoffe so sehr, dass ihm das bei seinem Neustart hilft.

Hoffnungsvoll stehe ich vor seinem Apartment und werde nicht enttäuscht, als Dad mir endlich die Tür aufmacht.

»Mimi.« Seine Augen strahlen mich an, bevor er mir zur Begrüßung um den Hals fällt. »Komm rein, sieh dir alles an.«

»Sehr gern«, schaffe ich es nur zu erwidern, als er mich auch schon mit sich in die Wohnung zieht.

»Wow. Sie ist wirklich hübsch.«

Die Wohnung ist das komplette Gegenteil von unserem alten Haus. Sie hat viele Fenster, durch die Tageslicht dringt, welches die weißen Wände zum Strahlen bringt. Sie ist noch etwas spartanisch eingerichtet, mit hellen Möbeln, die noch völlig unbenutzt aussehen.

»Dein Kollege hat es wirklich schön eingerichtet. Bist du sicher, dass er hier gewohnt hat? Es sieht alles noch so neu und unbenutzt aus«, stellt Dad nüchtern fest, was jedoch nicht seine Begeisterung mindert. Ich sehe mich um und fahre mit dem Finger über die Oberfläche einer Kommode.

Nicht ein Körnchen Staub klebt daran.

»Nun, er war selten zu Hause. Und sehr minimalistisch eingestellt.«

»Und jetzt studiert er in Deutschland, was für ein Glück für mich«, meint Dad und ich nicke lächelnd.

Nachdem Mom die Wohnung für ihn gefunden hatte, habe ich ihm erzählt, es sei die Wohnung eines Kollegen, der für ein Auslandssemester nach München gereist ist und für die Zeit nach jemanden auf der Suche sei, der auf seine Wohnung aufpasst. Ich habe sogar ein Namensschild mit irgendeinem fremden Namen an die Klingel geklebt, damit es glaubwürdig aussieht. Ich weiß, dass Dad sonst in irgendeinem dreckigen Hostel sitzen würde. Es ist schwierig ohne Job in der Stadt eine Wohnung zu bekommen und von Mom hätte er sich nie im Leben aushelfen lassen. Daher bin ich trotz der kleinen Notlüge glücklich, es getan zu haben. Er wirkt jetzt schon wie verändert. Richtig aufgeblüht.

»Der Tapetenwechsel scheint dir gut zu tun«, stelle ich lächelnd fest und schaue mir ganz nebenbei noch die restlichen Räume an. »Die Wohnung ist perfekt für einen Neuanfang.«

Dad nickt eifrig, als mein Blick auf den leeren Küchentisch fällt. Stirnrunzelnd zeige ich mit dem Finger darauf.

»Wolltest du mich nicht zum Frühstück einladen?«

»Jaah, das hatte ich vor.« Verlegen kratzt Dad sich am Hinterkopf, nur, um gleich darauf auf zwei gepackte Taschen auf dem blauen Sofa zu zeigen, die mir tatsächlich erst jetzt auffallen. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, unterwegs zu frühstücken?«
 

Dad wirkt aufgeregt, als wir in seinen Wagen steigen und losfahren.

Neugierig wende ich mich ihm zu. »Erzählst du mir jetzt endlich, wo wir hinfahren?«

»Die Klinik hat gestern angerufen«, erzählt er mir endlich. Meine Augen weiten sich vor Überraschung.

»Wirklich? Was wollten sie?« Die Frage ist fast überflüssig. Ich kann es mir denken. Trotzdem beschleunigt sich mein Puls vor Aufregung.

»Einer ihrer Patienten konnte die Klinik frühzeitig verlassen, also ist ein Platz frei geworden. Sie haben alle auf der Warteliste abtelefoniert und ich war der Einzige, der sofort kommen konnte. Hat also auch was Gutes, keinen festen Job zu haben.« Dad lacht auf und beinahe hätte ich mit gelacht, wenn mir nicht schlagartig bewusst werden würde, was das bedeutet.

»Warte mal. Das heißt, du beginnst jetzt schon mit der Therapie? Wie lange wirst du weg sein?«

»Das kann man vorher nie so genau sagen«, zuckt Dad mit den Schultern und biegt auf die Autobahn ab. »Ich werde mir so viel Zeit nehmen, wie ich brauche.«

Ich nicke. Das klingt vernünftig. Trotzdem bin ich auch ein bisschen wehmütig.

»Du wirst mir fehlen«, sage ich. Dad schenkt mir ein schiefes Grinsen.

»Besuche sind gestattet, weißt du«, antwortet er und zieht dabei eine Augenbraue in die Höhe. »Wobei wir sicher sechs Stunden unterwegs sein werden. Ich denke nicht, dass du so viel Zeit haben wirst, um diese weite Strecke öfters zu fahren. Wobei du ja jetzt sicher wieder mehr Zeit hast, da du mit deinem Freund Schluss gemacht hast.«

Welcher Freund?

Verwirrt sehe ich ihn an, da hebt Dad schon entschuldigend die Hand.

»Tut mir Leid. Deine Mom hat mir von diesem Matt erzählt und dass du mit ihm Schluss gemacht hast. Vor ihren Augen.« Plötzlich beginnt er herzhaft zu lachen. »Ich hätte zu gern ihr Gesicht gesehen.«

Leider kann ich nicht mit lachen. »Du redest mit Mom über mein Liebesleben? Du redest überhaupt wieder mit ihr? Was ist passiert?«, frage ich und kann das Misstrauen in meiner Stimme kaum verbergen. Ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll. Ich will nicht, dass Dad wieder verletzt wird.

»Es gab keine Zeit, in der wir nicht miteinander geredet haben. Auch wenn es nicht immer nette Worte waren«, meint Dad, als wäre es das Normalste von der Welt. Mir kommt es eher spanisch vor. »Außerdem bist du unsere gemeinsame Tochter, Mimi. Natürlich reden wir über dich, auch wenn wir getrennt sind.«

So?

Ich antworte nicht gleich darauf, weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Stattdessen drehe ich meinen Kopf und sehe aus dem Fenster.

»Was hat sie dir noch erzählt?«, hake ich nach. Ich hoffe, sie hat nichts von unserer Abmachung erzählt, wenn sie schon so frei heraus über Matt und mich plaudert, als wüsste sie über irgendwas Bescheid. Als hätte sie auch nur irgendeine Ahnung von meinem Liebesleben.

»Nichts«, zuckt Dad erneut mit den Schultern. Ich beobachte ihn aus den Augenwinkeln, um irgendein Anzeichen zu erkennen, dass er lügt. Aber da ist nichts. Entweder, er hat ein extrem gutes Pokerface oder Mom hat ihm wirklich nicht mehr als das erzählt.

»Also«, beginne ich zaghaft und streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Matt war nicht mein richtiger Freund. Das habe ich Mom nur erzählt, um sie auf die Palme zu bringen. Was übrigens sehr gut geklappt hat.«

Nun lacht Dad so herzhaft auf, dass er sich kaum mehr beruhigen kann.

»Das ist typisch meine Mimi. Sieht dir ähnlich, deine Mutter ein bisschen zu reizen.«

Ich stütze meinen Kopf auf meiner Handfläche ab und sehe weiter aus dem Fenster. »Nun, sie hatte es verdient«, sage ich ruhig. »Manchmal benimmt sie sich einfach unmöglich anderen Menschen gegenüber.«

Ich höre, wie Dad neben mir seufzt. »Da ist schon was dran. Aber ich denke, sie versucht auch, sich ein wenig zu ändern. Immerhin wird sie noch mal Mutter.«

Und das verändert einen Menschen so sehr? Kann ich mir nicht vorstellen. Aber wie auch immer …

»Was ist mit Tai?«, fragt Dad plötzlich und reißt mich somit aus meiner seligen Ruhe.

»Was soll mit ihm sein?«

Sofort spüre ich, wie mein Körper sich bei dem Gedanken an ihn anspannt, obwohl ich das nicht möchte. Und nicht nur das. Auch mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.

»Es gibt da jemand anderen, bei dem er ist. Seitdem herrscht Eiszeit bei uns«, offenbare ich ihm, ohne meinem Dad die ganze Wahrheit zu erzählen.

»Ach so? Das wundert mich jetzt aber …«

Stirnrunzelnd werfe ich ihm einen Blick zu. »Warum das?«

»Das passt nicht zu euch, ganz einfach. Ihr seid immer unzertrennlich gewesen und wart die besten Freunde.«

Ja, das dachte ich auch mal. Leider wurde ich eines Besseren belehrt.

»Außerdem dachte ich immer, dass ihr später mal heiraten werdet. Hat er dir nicht mit zehn Jahren einen Heiratsantrag gemacht?«, fragt Dad, während ich in meinem Gedächtnis nach dem Ereignis suche, das er meint. Viel zu schnell finde ich es, was meinem Herzen nur noch mehr Schmerz zufügt.

»Wir sind keine Kinder mehr, Dad«, erwidere ich tonlos und lehne meinen Kopf ans Fenster.

»Stimmt, das seid ihr wirklich nicht mehr«, nickt Dad. »Aber das ändert nichts daran, dass ihr euch sehr gern habt. Nach wie vor.«

Ich seufze schwer. »Ja, da könntest du recht haben«, murmle ich in mich hinein, ehe ich das Radio an schalte und es mir wieder im Sitz bequem mache. Ich bin müde und Tai ist der letzte Mensch, über den ich jetzt reden möchte. Der letzte Mensch, an den ich jetzt denken möchte. Also versuche ich, meinen Kopf auszuschalten und schließe die Augen …
 

Ich schrecke von meinen Hausaufgaben hoch, weil ein lautes Klacken mich aus meinen Überlegungen reißt.

Ein Stein fliegt gegen mein Fenster.

Und dann noch einer.

Und noch einer.

Ich presse die Lippen aufeinander, als ich aufspringe.

Will dieser Idiot ein Loch in meine Scheibe schlagen?

Ich beuge mich über meinen Schreibtisch, um das Fenster zur Seite aufzuschieben. Es dauert keine fünf Sekunden, da erscheinen auch schon zwei Hände, die sich am Rahmen festhalten und daran hochziehen. Ihnen folgt natürlich niemand anderer als Tai, der wie selbstverständlich durch mein Fenster klettert.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und trete mehrere Schritte zurück, um ihm Platz zu machen.

»Habe ich dir nicht gesagt, dass du das lassen sollst? Wir haben eine Haustür.«

Tai springt gewohnt lässig vom Schreibtisch, nur, um sich dann vor mir aufzurichten. Ich muss den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um zu ihm aufzuschauen. Nicht nur, dass er fast zwei Jahre älter ist als ich, nein … irgendwann letzten Frühling hat er einen Schuss gemacht und überragt mich mittlerweile um einen ganzen Kopf. Er ist echt groß geworden. Bei seinem Anblick werde ich fast ein wenig rot.

»Kannst du knicken«, erwidert er jedoch nur frech.

Ja, frech ist er auch geworden. Um nicht zu sagen: rotzfrech.

Wenn Jungs zehn werden, werden sie echt komisch. Richtig früh pubertär - mit so was will ich gar nichts zu tun haben.

»Ich habe Hausarrest, falls du dich erinnerst. Wenn ich bei euch an der Tür klingle, verpfeift mich deine Mutter doch nur wieder, wie beim letzten Mal.«

Ich rümpfe die Nase und strecke meinen Hals. »Pass bloß auf, dass ich dich nicht verpfeife.«

Tai schenkt mir ein schiefes Grinsen. Dann grabscht er nach einer Packung Kaugummis, die auf meinem Schreibtisch liegt, nimmt sich einen raus und schiebt ihn sich in den Mund. Das leere Papier steckt er sich in die Hosentasche seiner Jeans. Das macht er immer. Seine Hosentaschen müssen voller leerer Kaugummi Papiere sein, echt eklig.

»Würdest du nicht«, sagt er dann selbstsicher und greift wahllos nach eines der Bücher von meinem Nachttisch.

Nein, nicht mein Tagebuch!

Ich erschrecke und mache einen Satz nach vorne, um es ihm aus der Hand zu reißen, weil er, dreist wie er ist, bereits darin blättert.

»Hey, wieso steht da mein Name?«, meint er neckend, während ich ihm das Buch unter der Nase wegschnappe und an meine Brust presse.

»Das ist mein Tagebuch, du Idiot.«

»Und da stehen Sachen über mich drin?«

»Keine Guten.«

»Pfft, war ja klar.« Er lässt sich rückwärts auf mein Bett fallen und verschränkt die Arme hinter dem Kopf, während ich das Buch zurück an seinen Platz lege und mich neben ihm auf die Bettkante setze. Dann seufze ich.

»Ich verstehe nicht, warum du dir immer so viel Ärger einhandeln musst. Das ist das dritte Mal in diesem Monat, dass du Hausarrest bekommst. Früher hattest du nie welchen.«

Beleidigt verzieht Tai das Gesicht. »Na und? Wen juckt's? Nur, weil ich ein Mal mit Matt die Schule geschwänzt habe. Meine Eltern übertreiben total.«

Ein ungläubiges Kichern entfährt mir. »Tai, es war nicht ein Mal, sondern an drei Tagen in Folge.«

»Das zähle ich als ein Mal.«

»Ach so.« Ich werfe einen Blick nach hinten. »Du bist wirklich unmöglich. So bekommst du sicher keine Freundin.« Ich weiß ganz genau, dass Matt und er immer gewetteifert haben, wer als erstes ein Mädchen küsst. Auch wenn Tai immer so tut, als würde ihn das gar nicht interessieren. Ich glaube doch, dass es so ist. Alle Jungs in dem Alter sind blöd und denken sich dämliche Wetten aus.

Nun, letztendlich war natürlich Matt derjenige, der sich vor ein paar Tagen von einem Mädchen aus der Oberschule einen Kuss gestohlen hat. Ein älteres Mädchen. Wie hat er das eigentlich angestellt? Ich kann's mir einfach nicht vorstellen …

»Ich brauche auch keine Freundin. Ich hab doch dich«, antwortet Tai keck und springt mit einem Satz vom Bett auf.

»Was soll das nun wieder heißen?«, fahre ich ihn an. »Man, du nervst echt.«

Sein warmes Lächeln trifft mich ganz unerwartet.

Werde ich schon wieder rot? Oh nein!

»Manchmal bist du ein bisschen süß, Mimi«, sagt er und geht vor mir auf die Knie. Nun ist er es, der zu mir aufschaut. Ich rutsche auf dem Bett zurück.

»Und du bist komisch.«

Wieder zucken seine Mundwinkel und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich gerade verarschen will.

»Wollen wir später heiraten?«, fragt er mich plötzlich und ich schaue ihn perplex an.

Heiraten? Hä? Spinnt er?

»Ähm, ich muss noch Hausaufgaben machen«, sage ich und zeige mit dem Finger auf meinen Schreibtisch, der übersät ist, mit Büchern und Zettel.

Tai lacht kurz auf. »Ich meine mit später doch nicht heute noch, du Dummchen.«

»Nenn mich nicht Dummchen«, ist alles, was ich höre. Wieder verschränke ich die Arme vor der Brust und plustere mich auf, wie ein kleiner Vogel mit zu viel Gefieder.

»Ich meine mit später, wenn wir mal erwachsen sind. Ist doch klar«, erklärt Tai mir, während er immer noch vor mir kniet.

»Das dauert noch lange, Tai«, stelle ich nüchtern fest und warte darauf, dass er mich auslacht, weil er wieder nur einen blöden Witz gemacht hat. Aber er sieht mich einfach nur lächelnd an. Das macht mich nervös.

»Du hast ja gar keinen Ring«, sage ich herausfordernd und strecke ihm die Zunge raus.

Tai legt den Kopf schief und überlegt. Fragend sieht er sich in meinem Zimmer um, als würde hier irgendwo ein Verlobungsring auf dem Teppich liegen und nur darauf warten, dass er ihn aufhebt. Doch dann scheint er eine Eingebung zu haben. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck holt er das alte Kaugummipapier aus seiner Hosentasche und dreht es so lange zwischen seinen Fingern, bis das zerknitterte Teil wie ein kleiner Ring aussieht.

Dann schnappt er sich meine Hand und steckt den selbstgebastelten Ring an meinen kleinen Finger, weil er an keinen anderen passt.

»Hübsch«, kommentiere ich unbeeindruckt und lasse die Hand wieder sinken.

»Später bekommst du einen Echten.«

Ich hoffe sehr, dass er mit später auch erst meint, wenn wir erwachsen sind und nicht, dass er gleich nach Hause geht, seiner Mutter einen Ring klaut und ihn mir bringt. Zuzutrauen wäre es ihm.

»Steck deine Nase lieber in Bücher und konzentrier dich auf die Schule, anstatt solche blöden Vorschläge zu machen«, sage ich und schnippe ihm mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

»Aua«, beschwert Tai sich sofort und reibt sich die Stelle. »Ich nehme alles zurück. Du bist echt gar nicht süß.«

Ich kichere und in dem Moment geht meine Zimmertür auf. Mom steht in der Tür. Sie braucht ganze drei Sekunden, um das Bild vor ihren Augen in sich aufzunehmen und dann auszurasten.

»Was machst du schon wieder im Zimmer meiner Tochter? Wie bist du überhaupt hier reingekommen? Sag nicht, du bist schon wieder durchs Fenster gestiegen? Du Flegel! Mimi! Warum lässt du ihn überhaupt rein?«

Ich ziehe die Schultern hoch und sehe sie verständnislos an. Ist es ihr lieber, wenn er das Fenster mit seinen Steinen kaputt macht?

»Und was soll das eigentlich werden, wenn's fertig ist?« Mom verschränkt wütend die Arme vor der Brust. Ihr Blick heftet sich an Tai, der immer noch wie ein Prinz vor mir kniet. Hoffentlich weiß sie nichts von seinem Hausarrest. Neulich hat sie ihn nämlich wirklich bei seiner Mama verpfiffen. Das war echt so peinlich.

»Sie stören gerade, wissen Sie das?«

Ich halte den Atem an. Das hat er nicht wirklich gesagt. Ist er lebensmüde?

Meine Mutter und ich starren ihn beide gleichermaßen fassungslos an.

»Ich war gerade dabei Ihrer Tochter einen Heiratsantrag zu machen, sehen Sie das nicht?« Tai deutet total verständnislos auf sich und dann auf mich, während mir vor Entsetzen die Kinnlade runter klappt. Gott, er ist so frech!

»Wie bitte?«, keift Mom drauf los und stemmt die Hände in die Hüfte.

»Lass den Quatsch!«, sage ich und schlage Tais Hand runter, die immer noch auf mich zeigt.

»Raus aus meinem Haus!« Mom funkelt Tai böse an, das kann sie gut. Doch während ich zusammen zucke, springt er lediglich grinsend auf die Beine.

»Ist ja schon gut«, meint er und geht zum Fenster.

»Durch die TÜR!«, schreit Mom ihn an, aber Tai beeindruckt das gar nicht. Er springt einfach auf meinen Schreibtisch und dreht sich zu mir um.

»Bis später, zukünftige Ehefrau.« Als er mir zuzwinkert, rastet meine Mom komplett aus. Sie geht so schnell auf ihn zu, dass ich beinahe Angst habe, dass sie ihn aus dem Fenster schuppst. Aber Tai entwischt ihren Fingern mit einem überheblichen Grinsen auf den Lippen. Und dann … ist er weg.

Mom wütet noch eine ganze Weile rum, rennt dann die Treppen runter, um meinem Dad alles zu erzählen. Ich glaube, danach hat sie tatsächlich Tai’s Mama angerufen, um sich bei ihr zu beschweren.

Ich sitze wieder allein in meinem Zimmer und erledige meine Hausaufgaben. Dabei starre ich immer wieder auf den Ring aus Kaugummipapier, den er mir gebastelt hat.

»Du bist wirklich kindisch, Tai«, murmle ich zu mir selbst und muss doch grinsen …
 

Nach Luft schnappend reiße ich die Augen auf, als hätte ich gerade einen Albtraum gehabt. Dabei war es nur eine Szene aus meiner und Tais Kindheit, die sich in mein Unterbewusstsein geschlichen hat. Und die ich eigentlich schon längst vergessen hatte. Danke, Dad.

»Ist alles gut?«, fragt Dad mich von der Seite.

Langsam richte ich mich im Beifahrersitz auf. Meine Glieder tun weh.

»Wie lang hab ich geschlafen?«, frage ich gähnend und versuche, mich zu strecken.

»Fast drei Stunden«, stellt Dad mit einem Blick auf die Uhr fest. Ich erschrecke.

»So lang?«

»Du warst anscheinend ziemlich müde.«

»War ich wohl«, antworte ich. Aber auf diesen Traum hätte ich gut und gerne verzichten können. Ich brauche noch mehrere Minuten, bis ich wieder richtig in der Realität ankomme. Dieser Traum war so real, als wäre es erst gestern geschehen. Gerade kommt es mir wirklich so vor. Als wären Tai und ich immer noch Kinder und immer noch durch dieses zarte, aber unzerstörbare Band der Freundschaft miteinander verbunden. Als wäre es erst gestern gewesen, dass er sich heimlich durch das Fenster in mein Zimmer geschlichen hat.

Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurück drehen. Dieser Traum führt mir nur all zu deutlich vor Augen, was wir alles verloren haben. Was sich alles verändert hat.

Wir sind keine Kinder mehr. Und ans Heiraten denken wir auch nicht mehr.

Stattdessen schlafen wir miteinander und schafften es nicht, uns am nächsten Tag ohne Reue in die Augen zu sehen. Wir meiden den jeweils anderen, weil es zu weh tut. Es fühlt sich an wie eine Tragödie. Nur, dass noch keiner von uns tot ist - jedenfalls nicht körperlich.

Mimi

»Bist du sicher, dass du klar kommst?«, frage ich zum gefühlt zehnten Mal.

»Ja doch!«

»Wirklich?«

Dad rollt mit den Augen. »Bin ich das Kind oder du?«

Ich seufze. »Ich hab schon verstanden. Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch, Kleines.«

Dann umarmen wir uns zum Abschied, nachdem ich ihn in der Klinik abgesetzt habe. Dad hat nicht übertrieben, wir waren tatsächlich sechs Stunden lang unterwegs. Mit den Kaffeepausen sogar ein bisschen länger. Eine Mitarbeiterin der Klinik hat uns das ganze Gelände gezeigt und uns überall rumgeführt. Sogar sein Zimmer durfte er schon beziehen. Es ist ein Einzelzimmer, mit einem fantastischen Ausblick auf ein riesengroßes Blumenbeet. Es ist so idyllisch hier, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sich hier so viele Menschen mit Problemen befinden. Aber wahrscheinlich sind sie genau deshalb hier. Dieser Ort hat etwas märchenhaftes und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass hier nicht nur der Körper, sondern auch die Seele heilt.

Der Besuch hat allerdings auch länger gedauert als geplant, weshalb ich bereits unruhig auf meine Uhr sehe. Es ist schon spät und ich muss noch den ganzen Weg zurück nach Tokyo fahren.

»Du solltest jetzt wirklich fahren. Schreib mir, wenn du angekommen bist«, meint Dad und schiebt mich sachte zu seinem Wagen, den ich die nächsten Wochen benutzen darf, solange er nicht da ist.

»Das mache ich. Ruf mich bitte an, sobald du Zeit hast. Dann kannst du mir alles erzählen«, sage ich, während ich ins Auto steige. Dad lächelt, aber hinter diesem Lächeln sehe ich genau, was er denkt: ich verhalte mich wie eine Glucke.

»Keine Sorge, das mache ich.«

Ich nicke und schließe die Tür, ehe ich den Motor starte und langsam vom Gelände rolle. Als ich in den Rückspiegel schaue, sehe ich, wie Dad mir zuwinkt und in der Ferne immer kleiner wird.

Mir wird ganz schwer ums Herz, wenn ich daran denke, welchen steinigen Weg er nun vor sich hat. Aber immerhin ist er bereit, ihn zu gehen und das macht mich unfassbar stolz auf ihn.

Ich drehe das Radio laut auf und fixiere mich auf das Navi.

Ankunftszeit: 00.43 Uhr.

Na, klasse. Wahrscheinlich werde ich unterwegs doch noch irgendwo anhalten und mir literweise Kaffee reinziehen, nur, um danach ständig zur Toilette zu müssen.
 

Nach 2 1/2 Stunden Fahrt lege ich einen Boxenstopp ein, um zu tanken. Ich nutze die kurze Pause, um Kari eine SMS zu schreiben, dass sie sich keine Sorgen machen soll und ich später nach Hause komme. Als das erledigt ist und ich mit einem Coffee to go wieder ins Auto steige, geht bereits die Sonne unter. Noch eine halbe Stunde, dann ist es sicher dunkel.

Die Fahrtzeit verkürze ich mir mit singen - laut - und schrill. Ich singe jedes Lied mit, das im Radio läuft und wünschte, ich hätte einige meiner Lieblings CD's dabei.

Wenn ich an Musik denke, muss ich automatisch an Matt denken. Er hat sich seit unserem Streit nicht mehr bei mir gemeldet, aber das habe ich auch gar nicht von ihm erwartet, dafür kenne ich ihn bereits zu gut. Und mir ist es ganz recht so. Leider habe ich überhaupt viel zu viel Zeit, um im Auto über alles nachzudenken. An Matt, an Tai, an Sora, an Kari, an meine Mom, an Dad …

Nach 4 Stunden Autofahrt qualmt mein Kopf so sehr, dass ich eine Ausfahrt verpasse. Ich fluche laut und nehme die Nächste, woraufhin sich meine Ankunftszeit noch mal nach hinten verschiebt.

So ein Mist!

Ich gähne und spüre, wie meine Augen langsam schwer werden. Es ist bereits so dunkel, dass ich mich wirklich sehr konzentrieren muss, um nicht ja irgendein Schild zu übersehen. Wieso sind wir nur so spät losgefahren?

Mein Handy klingelt. Ich zucke zusammen, weil ich gerade in ein Duett mit meiner Königin Halsey versunken bin - das Einzige, das mich noch wach hält.

Kari ruft an. Ich drehe das Radio leiser und hebe ab.

»Hallo?«

»Hey, ich wollte nur mal fragen, ob alles okay ist?«

»Jaah«, gähne ich und schüttle schnell den Kopf. »Alles bestens. Habe mich ein mal verfahren, wird also doch etwas später.«

»Du klingst müde. Wieso übernachtest du nicht im nächsten Hotel und kommst morgen früh frisch ausgeschlafen nach Hause?«

Ich stutze einige Sekunden. »Willst du mich loswerden? Hey«, rufe ich und beuge mich näher ans Telefon, damit sie mich auch ja richtig versteht. »Meine Wohnung ist keine Partyhöhle! Besucher sind nicht gestattet. Vor allem keine männlichen!«

Kari kichert, aber danach höre ich auch ein leises Stöhnen. »So war das doch gar nicht gemeint. Auch, wenn du's mir nicht glaubst: ich liege schon lange mit einem Buch im Bett. Oder eher, auf dem Sofa.«

»Gut«, meine ich, aber meine Augen verengen sich trotzdem zu zwei schmalen Schlitzen. Zum einen, weil ich doch etwas misstrauisch bin und zum anderen, weil ich langsam wirklich müde werde.

»Vielleicht hast du doch recht. Ich schaue gleich mal im Navi, wo sich das nächste Hotel befindet.« Dann fällt mir etwas ein. »Aber ich werde deinem Bruder eine Nachricht schreiben, damit er kommt und nach dir sieht.«

»Oh, Mimi«, stöhnt Kari nun deutlich genervt auf. »Muss das sein? Ich bin doch kein Pflegefall.«

»Ja, es muss sein, leider«, entgegne ich, obwohl ich genauso wenig von der Idee begeistert bin wie sie. »Ich habe Tai versprochen ein Auge auf dich zu haben. Wenn ich einfach so über Nacht weg bleibe, erfülle ich damit nicht so ganz unsere Abmachung.« Außerdem könnte ich es mir nie verzeihen, wenn ich Tai nicht informiere und Kari doch wieder auf irgendwelche komischen Ideen kommt.

»Na, schön«, gibt Kari sich geschlagen.

»Okay«, sage ich zufrieden. »Ich schicke dir nachher meinen Standort, sobald ich ein Hotel gefunden habe. Wir sehen uns morgen früh.«

»Gut, Mimi. Bis dann.«

»Bis dann.« Ich lege auf und ändere die Route in meinem Navi. Das nächste Hostel ist nur eine viertel Stunde entfernt. Es scheint eine billige Absteige zu sein, aber um dort ein paar Stunden Schlaf zu finden, ist es perfekt.
 

Im Hostel angekommen, bin ich überrascht, wie viele Autos auf dem Parkplatz stehen. Das habe ich bei so einer günstigen Unterkunft, die so abgelegen ist, nicht erwartet. Auf dem Weg zur Rezeption kommen mir gleich mehrere Menschen entgegen.

»Ist Ihr Hostel immer so gut besucht?«, frage ich den Mann hinter der Rezeption, nachdem ich ein Zimmer für eine Nacht bestellt habe.

Der ältere Mann schenkt mir ein mattes, aber warmes Lächeln. »Eigentlich nicht, so viele Gäste hatten wir hier lange nicht mehr. Nicht, dass ich mich beschweren würde.«

»Nun, dann muss heute wohl Ihr Glückstag sein.« Und meiner auch. Mir war ein bisschen mulmig zumute, weil ich befürchtet hatte, ganz allein hier übernachten zu müssen. Mit vielen vollen Zimmern um mich drum rum, fühle ich mich irgendwie sicherer.

»Ja, ich mache heute ein gutes Geschäft. Möchten Sie sonst noch etwas?«

»Nein danke, nur die Schlüssel bitte.«

Der Mann nickt und reicht mir den Zimmerschlüssel.
 

Ich überquere erneut den Parkplatz und trotz der vielen Autos ist es hier erstaunlich ruhig. Nur eine kleine Gruppe Männer und Frauen tummeln sich um ein Fahrzeug und scheinen sich zu betrinken. Aus dem Fahrzeug dröhnt laut Musik und ihr Lachen ist kaum zu überhören.

»Hey, Süße«, ruft einer der Männer in meine Richtung.

War ja klar, dass ich nicht ungesehen an denen vorbei komme. Demonstrativ verdrehe ich die Augen und gehe weiter, ohne ihn zu beachten.

»Warum kommst du nicht rüber und trinkst was mit uns?«

Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?

»Wir haben auch Bier hier«, will er mich weiter locken und wedelt mit der Dose in meine Richtung. Kurz vor meiner Tür halte ich inne und lege den Kopf schief. Dann drehe ich mich um und gehe auf den Kerl zu. Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er damit nicht gerechnet hat.

Lächelnd bleibe ich direkt vor ihm stehen und greife nach der Bierdose, die er immer noch in der Hand hat.

»Das kann ich heute wirklich gut gebrauchen. Danke!«, sage ich freundlich und lasse ihn stehen.

Hinter mir höre ich immer noch, wie seine Freunde ihn auslachen, ehe ich die Tür schließe und mich in meinem winzigen Zimmer umsehe. Ein Bett, ein Bad, ein Fernseher. Nicht mal ein Kleiderschrank, aber den brauche ich auch nicht. Ich lasse mich aufs Bett fallen und öffne mit einem Klicken die Bierdose. Was für ein langer Tag. Überhaupt waren die letzten Tage so anstrengend, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Ich fühle mich wie gerädert.

Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und schreibe schnell eine Nachricht an Dad, dass ich in einem Hostel übernachte und morgen früh weiter fahre. Dann schicke ich Kari meinen Standort, damit auch sie beruhigt ist. Und jetzt kommt das Schlimmste: ich muss Tai schreiben.
 

»Hey, ich bin heute Nacht leider nicht zu Hause. Könntest du nachher kurz bei mir vorbei schauen und nach Kari sehen? Danke.«
 

Nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe, runzle ich die Stirn. Das klingt ja, als hätten wir ein Kind und müssten uns das Sorgerecht teilen. Gruslige Vorstellung.

Schnell schüttle ich den Kopf und trinke gleich die Hälfte meines Biers mit ein mal aus, als auch schon mein Handy vibriert. Das ging schnell …
 

Tai: »Was soll das heißen, du bist heute Nacht nicht zu Hause? Wo bist du?«
 

Wie bitte?

Spinnt er?

Was soll dieser vorlaute Tonfall?
 

»Schau einfach nach Kari, danke«, ist alles, was ich zurück schreibe. Dann trinke ich mein Bier aus, doch es dauert keine zehn Sekunden, da trudelt schon die nächste Antwort ein.
 

Tai: »Wo bist du???«
 

Also, jetzt reicht's aber! Ich rümpfe die Nase, während meine Finger so schnell über die Tastatur fliegen, dass ich die Nachricht in Sekundenschnelle abgeschickt habe.
 

»Geht dich nichts an.«
 

Ich glaube, es hackt! Was bildet er sich ein?

Natürlich kommt prompt die Antwort.
 

Tai: »Mimi!«
 

Ich stöhne genervt auf.
 

»Tai!«
 

Was, zur Hölle, will er von mir?

Ich erschrecke, als mein Handy klingelt.

Jetzt ruft er auch noch an.

Was soll das?

Kurzerhand drücke ich ihn weg.

Doch er probiert es noch mal.

Mein erster Impuls ist abzuheben und ihm die Meinung zu geigen. Doch ich entscheide mich für den Weg des geringsten Widerstandes und drücke ihn erneut weg.

»Man, jetzt lass mich doch endlich in Ruhe!«, stoße ich fluchend aus und schmeiße das Handy hinter mir aufs Bett. Was soll dieses Getue? Er tut so, als wäre auch ich plötzlich seine kleine Schwester, die er bevormunden müsste. Und vor allem tut er so, als wäre er immer noch mein bester Freund und als würde es ihn irgendwas angehen, was ich nachts mache.

Voller Wut zerknülle ich die leere Bierdose in meiner Hand und ziele damit auf den Mülleimer in der Ecke, den ich natürlich verfehle. Wieder klingelt mein Handy, doch diesmal mache ich mir nicht mal mehr die Mühe, ihn wegzudrücken. Ich ignoriere es einfach. Dann gibt er anscheinend auf.

Völlig entnervt von diesem kleinen, kurzen Schlagabtausch, schnappe ich mir das Handy, stelle es auf stumm und schiebe es zurück in meine Hosentasche.

Tai regt mich so auf!

Er kann nicht ernsthaft gerade mit Sora zusammen sein und mich gleichzeitig die ganze Zeit anrufen und mir freche Nachrichten schicken. Er ist so was von … argh! Er bringt mich so zur Weißglut.

Ich muss hier raus. Ich brauche dringend noch etwas zu trinken und zu essen, sonst kann ich nicht schlafen. Dad und ich hatten zwar unterwegs ein ausgiebiges Mittagessen, aber das ist Stunden her.

Also stiefle ich erneut wie ein rastloser Tiger über den Parkplatz.

Leider sagt der Mann hinter der Rezeption zu mir, dass sie lediglich einen Snackautomaten führen, der Getränkeautomat aber leider kaputt ist und als ich frage, wo die Leute auf dem Parkplatz ihre Getränke herhaben, zuckt er nur mit den Schultern. Er meint, wahrscheinlich von der Tankstelle, die eine Stunde von hier entfernt ist.

Ich lasse den Kopf hängen. Na, klasse. Ich hole mir ein paar Schokoriegel und Chips und will gerade alles auf mein Zimmer schleppen, als mein Blick erneut auf die kleine Menschentraube auf dem Parkplatz fällt. Der Kerl, dem ich vorhin das Bier weggenommen habe, zieht verwirrt eine Augenbraue in die Höhe, während ich geradewegs auf sie zugehe.

»Hey«, sage ich.

Fragende Blicke.

»Hey?«, meint der Kerl von vorhin.

Gott, dass ich das wirklich mache …

Ich zucke mit den Schultern. »Habt ihr vielleicht noch was zu trinken für mich?«

Sein Interesse ist geweckt. Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem schiefen Grinsen. »Klar, aber nur, wenn du es mit uns zusammen trinkst.«

Auch das noch.

»Von mir aus«, sage ich, da reicht er mir auch schon die nächste Dose Bier.

Ich schüttle den Kopf. »Habt ihr auch Cola? Ich muss morgen früh gleich weiter fahren.«

Der Kerl zuckt mit den Schultern. »Klar doch.«

Ich öffne die Dose Cola, die er mir statt des Biers gibt, öffne sie und freue mich darüber, dass sie eisgekühlt ist.

»Wie heißt du?«, fragt er nun. Die Mädchen in der Runde sehen mich interessiert an. Alle scheinen ungefähr so alt zu sein wie ich.

»Mimi«, erwidere ich und gönne mir einen großen Schluck Cola. Das tut gut. »Warum seid ihr so gut drauf? Gibts was zu feiern?«

»Allerdings!«, sagt der Kerl vor mir, der mir die Cola gegeben hat und grinst breit. »Wir kommen gerade von einem Junggesellenabschied und übernachten spontan hier.«

»Aah, so ist das. Und du bist also die Braut, nehme ich an?«, frage ich den Typen und alle beginnen loszuprusten.

»Sie ist witzig, sie darf bleiben«, meint eine Blondine lachend und zeigt dann mit dem Finger auf sich. »Nein, ich bin die Braut.«

»Nun, dann herzlichen Glückwunsch.« Doch dann lege ich nachdenklich den Kopf schief. »Oder auch nicht. Heiraten führt doch nur zu noch weiteren, endlosen Versprechen, die sowieso früher oder später gebrochen werden.«

»Uuuh«, kommt es von gleich mehreren Leuten im Chor. »Da ist wohl jemand sitzen gelassen worden.«

»So würde ich das nicht sagen«, entgegne ich und ziehe die Schultern hoch, als wäre es keine große Sache. Ha, wenn sie wüssten!

Dann werfe ich der Braut, deren Name ich noch nicht weiß, einen entschuldigenden Blick zu. »Tut mir leid.«

Sie winkt pfeifend ab. »Ach, kein Problem. Ich nehm's dir nicht übel. Früher habe ich genauso gedacht wie du. Glaub mir, irgendwann kommt dein Prinz auf seinem weißen Pferd schon noch zu dir.«

»Jaah … und reitet dann mit einer anderen in den Sonnenuntergang«, nuschle ich in meine Coladose, bevor ich noch einen großen Schluck davon nehme. Zum Glück haben die anderen meinen Kommentar nicht gehört und setzen fröhlich ihre Unterhaltung fort. Ich bleibe noch eine Weile bei ihnen stehen, weil ich es ganz unterhaltsam finde und nahezu den ganzen Tag im Auto verbracht habe und etwas Abwechslung brauche.

Der Typ, der mir das Getränk gegeben hat, flirtet heftig mit mir und ich finde es ganz amüsant, wie sehr er sich ins Zeug legt. Auch wenn natürlich jeder seiner Versuche, mir näher zu kommen, nirgendwohin führen. Aber er ist witzig und nett und macht blöde Witze, über die eigentlich niemand lachen sollte, aber irgendwie lache ich doch jedes mal. Ich glaube, ich bin einfach nur müde.

»Okay, warte. Einen hab ich noch«, lacht er und ich muss schon jetzt kichern. Wir sitzen auf der Motorhaube seines Autos, während sich um uns herum nun einige kleinere Grüppchen gebildet haben.

»Ich bin bereit«, sage ich, straffe die Schultern und presse die Lippen aufeinander. Diesmal werde ich nicht lachen.

Der Kerl räuspert sich. »Warum sollte man nie Cola und Bier gleichzeitig trinken?«

Ich denke nach, aber zucke schnell mit den Schultern. »Oh nein, das habe ich heute schon gemacht. Warum nicht?«

»Weil man sonst colabiert.«

Ich sehe ihn an, dann pruste ich los. Mein Lachen ist so laut, dass ich mir vorkomme, wie eine Geisteskranke. Der Typ neben mir steigt mit ein und es dauert mehrere Minuten, bis wir uns auch nur ansatzweise wieder beruhigen. Ich fasse mir an den Bauch und krümme mich vor Lachen, doch als ich mich wieder aufrichte, erstarre ich.

»Oh scheiße!«, entfährt es mir und ich schüttle die Haare, die mir ins Gesicht gefallen sind, zurück. Der Kerl neben mir folgt meinem Blick. Dann runzelt er dir Stirn, während wir beide den jungen Mann fixieren, der schnellen Schrittes auf uns zukommt.

»Ist das dein Freund?«

Ich schaffe es gerade noch so, den Kopf zu schütteln, denn im nächsten Moment kommt Tai abrupt vor mir zum Stehen. So dicht, dass ich sogar ein paar Zentimeter vor ihm zurückweichen muss.

Sein Blick trifft mich ziemlich hart. Und unvorbereitet.

»Was, zum Teufel, machst du hier?«, poltert Tai los, woraufhin ich verwirrt blinzle.

Ich? Was mache ICH hier? Was macht ER hier?

Irritiert schaue ich ihn an und lege den Kopf schief. Ich überlege sogar kurz, ob ich mir nur einbilde, dass er da ist.

»Wer bist du denn?«, fragt der Typ neben mir, genauso verwirrt wie ich. Okay, ich bilde es mir nicht ein. Tai ist keine Fata Morgana, sondern wirklich hier.

Ach. Du. Scheiße.

»Und wer bist du?«, entgegnet Tai sichtlich gereizt und schenkt dem Unbekannten einen abschätzigen Blick.

»Das ist …«, will ich erklären und zeige auf den Kerl. »Äh, das ist …« Mein Kopf wandert in seine Richtung. »Wie heißt du noch mal?«

Der Typ schmunzelt belustigt über meine Antwort, ehe Tai mich auch schon am Arm packt.

»Okay, das reicht.« Er zieht mich von der Motorhaube, woraufhin ich meine noch halb volle Dose fallen lasse. Dann schleift er mich gegen meinen Willen hinter sich her.

»Hey, lass das gefälligst«, protestiere ich, doch das scheint Tai gar nicht zu hören. Oder er will es nicht hören.

»Wo ist dein Zimmer?«

»Das geht dich nichts an.«

»Wo ist dein Zimmer?«, fragt er mit mehr Nachdruck und ich schlucke. Dann zeige ich kurz auf die dritte Tür von links.

Kurz vor meinem Zimmer reiße ich mich von ihm los. Wütend wirbelt er zu mir herum.

»Was soll das, Mimi?«

»Was soll was?« Wir sehen uns beide verständnislos an. »Was machst du überhaupt hier? Wie zum Teufel hast du mich gefunden?«

»Das ist doch jetzt völlig egal«, brummt Tai. »Warum gehst du nicht an dein Handy, wenn ich versuche, dich zu erreichen?«

»Warum hast du versucht, mich zu erreichen? Ist irgendwas mit Kari?« Ich schlage mir die Hand vor den Mund, aber Tai zischt nur und mustert mich auffallend.

»Nein, ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

Ich kann ein sarkastisches Auflachen nicht unterdrücken. »Ach so. Natürlich. Da ist er ja, mein Ritter, in glänzender Rüstung, um mich vor all den Gefahren da draußen zu beschützen und um meine Tugend zu bewahren.« Ich mache eine ausfallende Handbewegung. »Ich verrate dir was: da kommst du etwas zu spät.«

»Oh Gott.« Genervt drückt Tai sich mit zwei Fingern den Nasenrücken. »Jetzt werd nicht albern, Mimi.«

Ein abschätziges Zischen ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Dann gehe ich an ihm vorbei und lasse ihn stehen. Natürlich folgt Tai mir in mein Zimmer, obwohl ich ihn nicht eingeladen habe.

»Du spielst dich auf wie meine Mutter«, sage ich und fange an, das Bett aufzuschlagen. Ich bin todmüde.

»Du kannst froh sein, dass sie nicht hier ist und dich so sieht.«

Ich halte in meiner Bewegung inne und presse stattdessen die Lippen aufeinander. »Tut mir leid, dass ich für euch beide so eine Enttäuschung bin.«

Tai geht schnellen Schrittes um das Bett herum, nur, um im nächsten Moment dicht vor mir stehen zu bleiben. Ein tiefes Seufzen dringt aus seiner Kehle.

»Was redest du denn da?« Seine Stimme klingt nun viel entspannter.

Einfühlsamer.

Mehr nach ihm.

»Du könntest mich nie enttäuschen.« Er hebt die Hand, um mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.

Eine Gänsehaut erfasst mich und das altbekannte Prickeln macht sich in meiner Magengegend breit.

Zu nah.

Viel zu nah.

Ich schließe die Augen, um den Emotionen zu entkommen, die seine Berührung mit sich bringt. Aber mein Herz schlägt trotzdem lautstark gegen meine Brust.

Langsam wende ich mich ihm zu und hebe den Kopf. Ich zwinge mich, ihn anzusehen, was es nicht besser macht.

»Was tust du hier, Tai?«, flüstere ich. »Du darfst überhaupt nicht hier sein.«

Ein müdes Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht. »Ich weiß. Ich lehne mich gerade weit aus dem Fenster, aber … ich musste wissen, ob es dir gut geht.«

Ich zucke leicht mit den Schultern. Typisch Tai. »Wenn es mir nicht gut gehen würde, wärst du der Erste, der es erfährt.«

Wieder ein Lächeln. So warm, dass es mir direkt unter die Haut geht. Gott, wenn er noch einen Schritt näher kommt, auch nur einen Zentimeter, dann …

»Du solltest dich jetzt schlafen legen«, unterbricht Tai diese aufkommende Hitze zwischen uns, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Ich reiße meinen Blick von ihm los und schlüpfe ins Bett. Er setzt sich neben mich auf die Bettkante und deckt mich sogar zu.

»Ich muss jetzt wieder zurück fahren. Jetzt, wo ich weiß, dass es dir gut geht, bin ich beruhigt.«

Ich nicke stumm.

»Ich hoffe, du schläfst dich aus. Sei auf der Heimfahrt morgen Früh vorsichtig.«

Wieder nicke ich.

Tai möchte aufstehen, aber ich greife nach seinem Handgelenk. Fragend sieht er mich an. Ich weiß, ich sollte das jetzt nicht tun, um es uns beiden nicht noch schwerer zu machen, aber … ich kann nicht anders.

»Würdest du … würdest du bleiben, bis ich eingeschlafen bin?«

Hoffnung liegt in meiner Stimme. Hoffnung, dass er diesmal nicht einfach so geht und mich allein lässt.

Tai überlegt kurz. Er sieht aus, als wäre er hin und hergerissen und schon tut es mir leid, dass ich überhaupt gefragt habe. Doch dann nickt er schließlich und der Anflug eines Grinsens legt sich auf seine Lippen.

»Aber nur, bis du eingeschlafen bist.«

Schnaubend verdrehe ich die Augen. »Klar, was denkst du denn?«

Tai steigt über mich hinweg und legt sich dicht hinter mich. Er legt einen Arm um mich und zieht mich fest an sich, so dass mein Hinterkopf auf seiner Brust ruht und er für einen Moment sein Gesicht in meinen Haaren vergraben kann. Er atmet tief ein, als müsste er meinen Geruch erst wieder in sich aufnehmen.

Ich umfasse seine Hand mit meiner und verschränke unsere Finger miteinander. Würden wir auch nur für einen Moment alles ausblenden können, würde es sich fast wie früher anfühlen.

Ich stoße ein zufriedenes Seufzen aus. »Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich brauche.«

»Nein, du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich brauche.« Ich spüre sein Grinsen an meinem Nacken und muss ebenfalls lächeln.

»So sehr, dass du mich überall auf der Welt finden kannst?«

Tai lacht leise auf. »Du hast Kari deinen Standort geschickt, schon vergessen? Außerdem ist das hier nicht gerade die große weite Welt.«

Oh, natürlich. Das hätte mir gleich einfallen sollen. Ich schließe die Augen und versuche krampfhaft einzuschlafen, aber mein pochendes Herz hindert mich daran.

Nach mehreren Minuten der Stille, öffne ich sie dann doch wieder. Lediglich die Lichter der Straße scheinen durchs Fenster und werfen dunkle Schatten an die Wände, während ich Tais gleichmäßigen Atem hinter mir spüren kann.

»Tai?«, frage ich, weil ich Sorge habe, dass er eingeschlafen sein könnte.

»Ja?«, antwortet er jedoch so klar und deutlich, dass ich weiß, dass er unmöglich schlafen kann.

»Weißt du noch, wie du mir einen Heiratsantrag gemacht hast, als wir Kinder waren?«

Kurz ist es still. Dann … »Wie kommst du jetzt darauf?«

Ich zucke mit den Schultern. Unsere Finger sind immer noch eng miteinander verschlungen, genau wie unsere Körper. Es fühlt sich so warm, so richtig an, dass ich jetzt schon die Kälte hasse, die seine Abwesenheit nachher mit sich bringen wird.

»Nur so. Ich habe davon geträumt. Obwohl es schon so lange her ist«, flüstere ich und schließe die Augen wieder.

»So?« Tai rutscht noch enger an mich ran, auch wenn ich nicht wusste, dass das überhaupt noch geht. »Du hast mir nie eine Antwort auf den Antrag gegeben.«

Mit geschlossenen Augen grinse ich. »Die bekommst du auch nicht.«

»Wie gemein.«

Ich kichere leise, als könnte uns sonst jemand hören. »Für eine Antwort müsstest du dich schon etwas mehr ins Zeug legen und selbst dann weiß ich nicht, ob es ein ja oder nein sein würde.«

Tai lacht. »Okay, ich merk's mir für's nächste Mal.« Dann vergräbt er sein Gesicht wieder in meinem Haar und haucht mir einen Kuss in den Nacken. »Versuch jetzt zu schlafen.«

Ich lächle zufrieden, während ich versuche, jede einzelne Berührung in mir aufzusaugen. Mir zu merken, wie sein Körper sich an meinem anfühlt oder wie seine Hand in meiner liegt oder wie sein Atem meine Haut streift. Ich versuche, es mir einzuprägen, weil ich ganz genau weiß, dass diese kleinen, intimen Momente in Zukunft nicht mehr stattfinden dürfen. Dass es das letzte Mal sein muss, dass er mich so festhält. Auf diese Art und Weise dürfen wir uns nicht mehr nahe sein und das wissen wir beide. Schlimm genug, dass wir miteinander geschlafen haben und dass ich ihn schon wieder in so eine Situation bringe. Es wird allmählich Zeit aus diesem Traum aufzuwachen.

Aber für den Moment … nur in diesen einen Moment … will ich es festhalten. Will ich ihn festhalten - solange es geht.

Mimi

Ich weiß, dass er längst nicht mehr da ist, noch bevor ich die Augen aufschlage. Mein ganzer Körper fühlt sich ausgekühlt an. Die Wärme, die Tai gestern Nacht mit sich gebracht hat, ist verschwunden, genau wie er. Anscheinend hat er Wort gehalten und ist gegangen, nachdem ich eingeschlafen war. Ich drehe mich auf die Seite und weigere mich, die Augen zu öffnen, denn ich will noch ein wenig länger in dem Traum von letzter Nacht verweilen.

Meine Hand wandert nach oben zu meiner Brust, in der es so unfassbar weh tut, dass es mich fast zerreißt. Eine einzelne leise Träne rollt aus meinem Augenwinkel.

Er fehlt mir so sehr.

Wird das irgendwann aufhören? Werde ich je aufhören können, ihn zu vermissen?

Um nicht schon wieder in meinen Gefühlen zu versinken, wische ich die Träne mit dem Handrücken weg und zwinge mich endlich, die Augen aufzuschlagen.

Ich blicke zur Seite. Auf dem Nachttisch liegt ein Zettel. Mein Herz schlägt höher …
 

»Ich hätte dir gerne noch länger beim Schlafen zugesehen.

Tai«
 

Ein leises Seufzen kommt mir über die Lippen und ich presse den Zettel dicht an mich, ehe ich ihn in der Hand zerknülle. Ich stehe auf, gehe zum Papierkorb und werfe ihn hinein. Seine Worte müssen hierbleiben, genauso wie die Gefühle, die er erneut in mir ausgelöst hat. Nichts davon darf ich mit nach Hause nehmen.

Nach Hause.

Oh Gott.

Ich habe völlig übersehen, wie spät es schon ist und dass ich bereits längst auf der Straße sein sollte. Ich eile nach draußen und der Parkplatz sieht im Vergleich zu gestern Abend wie leergefegt aus. Lediglich ein paar Autos stehen immer noch rum, deren Besitzer vermutlich gerade ihren Rausch ausschlafen. Meinen Schlüssel gebe ich wieder an der Rezeption ab und nachdem ich mir noch einen Kaffee aus dem Automaten geholt habe, steige ich ins Auto und mache mich auf den Weg nach Hause.
 

Ich komme früher an, als erwartet und doch bin ich spät dran. Heute habe ich die Spätschicht im Café übernommen und ich habe immer noch nichts gegessen, geschweige denn geduscht. Als ich die Wohnung betrete, finde ich Kari schlafend auf dem Sofa vor. Ich verkneife mir es, sie zu wecken und gehe stattdessen mit frischen Klamotten ins Bad, um zu duschen. Danach setze ich mich zu Kari aufs Sofa und esse schnell noch eine Schale Müsli, bevor ich zur Arbeit muss.

»Was hast du heute vor?«, frage ich Kari, die immer noch verschlafen neben mir sitzt und sich durch das Fernsehprogramm zappt.

»Ich denke, ich gehe nachher noch joggen. Und gehe einkaufen.«

Ich werfe ihr einen entschuldigenden Blick zu. »Ich weiß, der Kühlschrank ist wie leergefegt, tut mir leid.«

»Schon okay«, lacht Kari auf. »Ich bin es gewohnt, für mich selbst zu sorgen.«

Ich nicke. Zumindest das haben wir gemeinsam.

»Hat … hat Tai gestern nach dir gesehen?«, frage ich vorsichtig nach und fühle mich jetzt schon ertappt. Wie albern von mir. Sie kann schließlich nicht meine Gedanken lesen.

Kari entfährt ein Zischen. »Was denkst du denn? Das hat er sich natürlich nicht nehmen lassen.«

»Richtig so«, entgegne ich viel zu schnell. Karis Kopf wirbelt zu mir herum.

»Fall mir nicht in den Rücken. Oh man, mein Bruder und du, ihr seid euch immer noch so ähnlich.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich denke nicht, dass wir das einfach so abstellen können.«

Kari kichert und streckt mir die Zunge raus. Zum Glück muss ich jetzt los, weshalb wir dieses Gespräch nicht vertiefen können.

»Ich bin gegen 23.00 Uhr wieder da«, informiere ich Kari.

»Ist gut, bis dann«, ruft sie mir noch hinterher, ehe die Tür hinter mir ins Schloss fällt.

Ich bin ziemlich froh, dass ich gerade Dad's Wagen habe, weil ich mir so den Weg zur U-Bahn sparen kann. Allerdings hatte ich nicht mit der Rush-Hour gerechnet und stehe zehn Minuten später schon im Stau. Na, super. Jetzt werde ich wahrscheinlich auch noch zu spät kommen, wenn ich nicht …

HALT.

Moment mal. Das ist doch …

Wie gebannt starre ich durch die Windschutzscheibe meines Wagens und muss gleich mehrmals blinzeln, um mich zu vergewissern, dass ich mich gerade nicht vergucke.

Sora kommt die Straße entlang gelaufen. Ein kleiner Bauch wölbt sich nach vorne. Doch das ist es nicht, was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Es ist der Kerl, der neben ihr hergeht.

»Das ist doch Yoshi.«

Ich reibe mir über die Augen, als würde ich immer noch schlafen. Aber das hier ist kein Traum. Die beiden miteinander zu sehen, ist absolut merkwürdig.

Ich meine … sie halten keine Händchen oder so was. Aber sie scheinen sich definitiv zu kennen. Was mich so stutzig macht, ist, dass ich ihn noch nie zuvor mit ihr gesehen habe. Selbst wenn Sora mal eine Party geschmissen hat oder sie Geburtstag hatte, war dieser Typ definitiv nicht dabei gewesen. Und sie hat ihn auch nie erwähnt, zumindest nicht in meinem Beisein.

Warum tun die beiden dann so vertraut?

Er berührt ihren Arm und lächelt sie an, als würden sie sich schon ewig kennen. Sora hingegen verzieht keine Miene. Nein, sie rollt stattdessen mit den Augen, schlägt seine Hand von sich und redet ungehalten auf ihn ein, während sie schließlich an meinem Wagen vorbei gehen. Da sie das Auto meines Vaters nicht kennen, beachten sie mich gar nicht und merken auch nicht, wie ich ihnen hinterher starre.

Mein Hals verdreht sich nach hinten, doch sie sind ziemlich schnell außer Sichtweite.

Komisch. Es sah so aus, als hätten sie sich gestritten.

Man streitet sich nur mit Personen, die man gut kennt. Das tut man nicht mit Fremden oder flüchtigen Bekannten. Vor allem berührt man sie nicht so am Arm und wirft ihnen derartige Blicke zu.

Wow.

Ich schüttle den Kopf, als es bereits hinter mir hupt. Die Ampel ist schon eine ganze Weile auf grün gesprungen und ich drücke aufs Gas. Meine Finger umklammern das Lenkrad, während mein Kopf rattert.

Ich möchte es nicht, aber in mir macht sich eine Befürchtung breit, die … unmöglich wahr sein kann.

Nein.

Das würde sie nicht tun.

Sie würde Tai nicht betrügen, während sie ein Kind von ihm erwartet. Das wäre einfach unvorstellbar. Aber es würde erklären, warum Yoshi neulich an seinem ersten Arbeitstag dachte, Matt wäre Tai. Wieso dachte er das? Nur, weil meine Kollegen angeblich von mir und Tai erzählt haben? Das kam mir gleich spanisch vor.

Ich beiße mir schmerzhaft auf die Unterlippe. Es kommt mir vor wie ein Puzzleteil, dass ich bis jetzt nicht gefunden habe, was sich aber allmählich ins Bild einfügt. Doch anstatt mich über diese vermeintliche Erkenntnis zu freuen, krampft sich mein Herz so sehr zusammen, dass es mir die Luft abschnürt. Sollte das wahr sein, würde es nicht nur mich schockieren, sondern auch Tai zutiefst treffen.

Ich beschließe, erst ein mal nichts zu tun und stattdessen Yoshi weiter auf den Zahn zu fühlen. Tai sage ich vorerst nichts davon, denn das kann ich erst machen, wenn ich mir ganz sicher bin, dass mein Gefühl mich nicht täuscht.
 

Selbst im Café schaffe ich es nicht, die Gedanken an Sora und Yoshi beiseite zu schieben. In einer freien Minute, gehe ich zur Hintertür hinaus und scrolle in meinem Handy durch meine Social Media Kontakte. Ich kann Soras Freunde einsehen und … er ist definitiv nicht dabei.

Ihn zur Rede stellen kann ich auch nicht, weil er seine Schicht heute bereits hinter sich gebracht hat und ich weiß auch nicht, ob das so klug wäre. Ich habe schließlich keine Ahnung, warum die beiden überhaupt in Kontakt stehen oder woher sie sich kennen. Ob er es mir überhaupt sagen würde? Oder würde er mich anlügen? Sollte ich mich auch in ihm so sehr getäuscht haben? Ist meine Menschenkenntnis wirklich so schlecht? Yoshi kam mir wie ein liebevoller, aufrichtiger Kerl vor. Wenn er das nicht ist, zweifle ich ernsthaft an meinem Urteilsvermögen.

Wie auch immer. Ich gehe wieder rein und stelle mich hinter die Theke. Heute werde ich eh nichts mehr in Erfahrung bringen. Vielleicht ist er auch einfach nur ein Freund von ihr. Ein Freund, den niemand kennt, aber was soll's.

So ist das eben manchmal.

Jeder hat seine Geheimnisse. Und meines kommt gerade durch die Ladentür des Cafés.

»Hey«, begrüßt er mich und lehnt sich betont lässig gegen den Tresen.

»Matt?«, frage ich irritiert. »Was machst du hier?« Er sieht irgendwie übermüdet aus. Und das verrät mir nicht nur sein Dreitagebart, den er sonst nie trägt, sondern auch die kaum sichtbaren Schatten unter seinen Augen. Ob er wieder zu viel gearbeitet hat?

Matts Augen wandern kurz zur Decke, als müsste er überlegen, doch dann sieht er mich wieder an.

»Ich könnte jetzt lügen und sagen, ich will nur einen Kaffee trinken, aber das würdest du mir ohnehin nicht glauben.«

»Wahrscheinlich nicht«, entgegne ich gleichgültig und wende mich wieder der Espresso Maschine zu, die noch gereinigt werden muss. Wir schließen in wenigen Minuten und ich habe außerdem gerade keine Lust auf ein Gespräch mit ihm.

»Okay, dann versuche ich es mal so«, meint Matt und stützt sich mit den Händen auf dem Tresen ab. »Ich wollte dich gern sehen.«

»Ach ja?« Ich ignoriere seine bohrenden Blicke. »Warum?«

»Vielleicht, weil ich es nicht schön fand, wie wir neulich auseinander gegangen sind?«

Kurz halte ich in der Bewegung inne, doch dann wische ich eilig weiter über die Maschine.

»Du meinst, so ganz ohne Orgasmus?«

Mein Kollege, der gerade an mir vorbei geht, bleibt abrupt stehen und sieht mich entrüstet an, schließt jedoch den Mund dann wieder und geht kopfschüttelnd weiter. Matt wirft ihm einen Blick hinterher, ehe er mich genervt ansieht.

»Warum zickst du jetzt so rum, Mimi? Ich versuche mich gerade bei dir zu entschuldigen.«

»Kein Interesse, danke«, erwidere ich giftiger, als beabsichtigt und werfe den Lappen zurück in die Spüle. »Ich bin hier fertig. Und wir schließen gleich. Also, würdest du bitte …?« Ich mache eine Handbewegung in Richtung Ausgang, doch Matt tut nicht mal so, als würde er meiner Aufforderung nachkommen. Stattdessen verschränkt er die Arme vor der Brust.

»Nein. Denn ich hätte gerne einen Espresso.«

Wie bitte?

Wütend funkle ich ihn an. Doch er zuckt nur mit den Schultern.

»Ihr habt noch zehn Minuten geöffnet, oder?«

Meine Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen und ich sehe ihn giftig an. Dieser miese …

Mein Kollege wirft mir einen warnenden Blick zu.

Schon klar, der Kunde ist König, bla bla. Idiot.

Ich wende mich ab und mache Matt einen Espresso in der Maschine, die ich gerade gereinigt habe.
 

Nachdem ich das Teil dank Matt zum zweiten Mal putzen konnte, schaue ich nun endlich über die Schulter. Natürlich sitzt er immer noch an einen der Tische, hat die Beine betont lässig übereinandergeschlagen und schlürft seinen Espresso.

»Schließt du dann ab, sobald er fertig ist?«, meint mein Kollege, der sich bereits die Jacke übergezogen hat und endlich Feierabend machen will. Ich nicke stumm in seine Richtung, weil ich mir nicht noch mehr Ärger einhandeln will, ehe er sich verabschiedet. Als er weg ist, gehe ich zu Matt rüber. Interessiert schaut er von seiner Tasse auf.

»Ich würde jetzt gerne nach Hause gehen«, seufze ich, doch ahne bereits, dass er sich nicht so leicht abwimmeln lässt.

»Und ich würde gerne mit dir reden.«

Ich pruste los. »Reden? Klar, dafür bist du ja bekannt.«

Ich schnappe mir seine leere Tasse und bringe sie hinter den Tresen, um sie in die Spüle zu stellen.

»Ich finde, du könntest ruhig etwas netter sein«, meint Matt, der mir unaufgefordert hinter die Bar gefolgt ist. »Schließlich habe ich dir nichts getan.«

»Stimmt«, sage ich trocken, als ich mich ihm zuwende und gleichzeitig spüre, wie Wut in mir aufsteigt. »Aber du bist der … der Inbegriff von …« Mit ausgestrecktem Arm zeige ich auf ihn und mustere ihn dabei, wie ein Kunstgemälde, für das mir kein passender Name einfallen will. »Der Inbegriff von Sünde.«

Matt zieht eine Augenbraue in die Höhe. Seine Mundwinkel zucken belustigt.

»War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung?«

Ich stöhne laut auf. »Du willst es nicht verstehen, oder?«

Es ist mir schon länger aufgefallen, aber erst, seit ich von der Sache mit Kari und T.K. weiß und was er mit ihr abgezogen hat, begreife ich, was hier wirklich abgeht. Matt ist ohne Zweifel jemand, mit dem man Spaß haben kann und mit dem man sich gern umgibt. Er gibt einem ein gutes Gefühl. Aber er bringt auch die schlechteste Seite in mir zum Vorschein. Eine Seite, die ich so noch nicht an mir kannte. Die mir neu ist und die mir Angst macht. Jedes Mal, wenn ich mit ihm schlafe, fühle ich mich danach so … skrupellos. Und das Schlimme daran ist, dass es mir auch noch gefällt. Matt ist charismatisch und färbt auf mich ab.

Wenn es mir schon so geht, die ihn erst seit kurzem besser kennt - wie geht es dann wohl T.K., der sein ganzes Leben mit Matt verbracht hat und der ihn ohne jeden Zweifel anhimmelt und zu ihm aufschaut? Matt hat einen enormen Einfluss auf die Menschen in seiner Umgebung, aber ganz besonders auf T.K.

Matt schnaubt grinsend und kommt auf mich zu. »Oh doch, ich verstehe dich.« Seine Hand landet an meiner Taille und er zieht mich mit einem Ruck an sich, was mir zwar im ersten Moment widerstrebt, aber dann mein Innerstes erwartungsvoll kribbeln lässt. Weil es verboten ist. Weil wir uns niemals so nahe sein dürften.

Und da ist sie wieder … diese dunkle Seite in mir.

»Du hast ja schließlich schon betont, dass du denkst, dass ich einen schlechten Einfluss auf T.K. habe und somit indirekt daran Schuld bin, was da mit Kari gelaufen ist.«

Ich nicke verwirrt, während ich zu ihm aufschaue. Dass er so verständnisvoll ist, hätte ich nicht erwartet.

»Und ich denke, im entferntesten Sinne hast du vielleicht sogar recht«, gibt Matt nun zu. Nun bin ich völlig sprachlos. Ich sehe ihn nur noch fragend an.

»Natürlich habe ich nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich Frauen abschleppe. Dass ich sie für eine Nacht mit zu mir nach Hause nehme und danach nie wieder sehe. Wahrscheinlich hatte dieses Verhalten einen gewissen Einfluss auf meinen kleinen Bruder, aber …« Matt legt eine Pause ein, um seinen Finger unter mein Kinn zu legen und es anzuheben. Seine blauen Augen durchdringen mich und machen mich beinahe bewegungsunfähig. Wieso hat er nur diese Macht über mich?

» … machst du mich auch dafür verantwortlich, dass T.K. keine tieferen Gefühle für Kari hegt? Kann ich etwas dafür, dass er nicht in sie verliebt ist, so wie sie in ihn? Ist das auch meine Schuld?«

Ich schlucke hart. Verdammt.

Mehrere Sekunden vergehen.

Dann schüttle ich stumm den Kopf.

»Na, siehst du.« Matt lässt mich los und tritt unerwartet einen Schritt zurück, was mich wieder atmen lässt. Wie lange habe ich die Luft angehalten?

»Vielleicht bin ich der Inbegriff von Sünde, wie du sagst. Aber ich bin sicher nicht der Teufel«, sagt er und will sich abwenden, doch ich greife nach seiner Hand.

»Tut … tut mir leid«, kommt es mir zwar nur schwer über die Lippen, aber es stimmt.

Matt ist sicher kein Heiliger, das weiß jeder. Und sicher war er T.K. nicht immer ein perfektes Vorbild. Aber ihn für die Fehler seines Bruders verantwortlich zu machen, ist nicht fair gewesen.

»Ich habe wohl ein klein wenig über reagiert«, gebe ich seufzend zu. »Ich weiß, dass du deinen Bruder über alles liebst und ihm nie absichtlich schaden würdest. Ich denke einfach nur, dass du diese Seite in ihm zum Vorschein gebracht hast. Dass er sich an dir ein Beispiel genommen hat. Und dass er denkt, dass es okay wäre, so mit Frauen umzugehen.«

Ich suche nach Matts Blick, der meinem eisern standhält. Wieder mache ich ihm Vorwürfe. Aber diesmal wirkt er gar nicht gekränkt.

»Vermutlich ist das so«, gesteht er mir schließlich zu. »Ich habe auch schon mit ihm darüber gesprochen.«

Meine Augen weiten sich vor Überraschung. »Du hast was …?«

»Eigentlich wollte ich mich da nicht einmischen«, meint Matt und verdreht die Augen. »Aber ich habe mit ihm geredet und ihm gesagt, dass er Kari nicht so behandeln kann. Er war ziemlich auf brausend und hat mir dieselben Vorwürfe gemacht wie du. Dass ich es doch genau so mache und kein Recht habe ihn, was das angeht, zu belehren.«

Ich schlucke schwer. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie mies ein derartiger Streit unter Brüdern sein muss.

»Leider musste ich ihm da recht geben«, erzählt Matt schulterzuckend weiter. »Ich bin selbst nicht besser, was das angeht. Aber ich gehe immer davon aus, dass es für die Frauen auch okay ist und dass sie wissen worauf sie sich einlassen. In der Regel ist das auch so. Aber Kari und T.K. sind befreundet. Eng befreundet. Das ist etwas völlig anderes.«

Ein kleiner Kloß bildet sich in meinem Hals und meine Lippen fühlen sich staubtrocken an, als ich spreche.

»Ist es … ist es bei uns auch etwas anderes? Wie bei Kari und T.K.?«

Matt legt den Kopf schief und sieht mich mit einem unfassbar verwirrten Blick an, als könne er gar nicht fassen, dass ich diese Frage stelle.

»Mimi … natürlich ist es das. Wir sind auch befreundet, oder etwa nicht?«

Ich nicke stumm.

Ja, das sind wir.

Macht es das besser?

»Letztendlich haben wir denselben Fehler gemacht wie die beiden. Wir können ihnen überhaupt keine Vorwürfe machen«, sage ich.

»Ich würde es niemals als Fehler bezeichnen«, wirft Matt ein, was mich beinahe sprachlos macht.

»Das verstehe ich jetzt nicht«, lache ich irritiert auf und greife mir gegen die Stirn, weil dieses Gespräch wirklich so einiges in mir auslöst. »Du sagst, das, was zwischen Kari und T.K. passiert ist, wäre ein Fehler gewesen, weil sie befreundet sind. Aber bei uns ist es das nicht? Klär mich bitte auf.«

Matt's Mundwinkel zucken und er macht einen Schritt auf mich zu, um dann beide Hände an mein Gesicht zu legen.

»Ich denke, die beiden waren sich ihrer Gefühle vorher nicht bewusst. Kari scheint etwas für meinen Bruder zu empfinden und bei ihm ist es wahrscheinlich nicht so. Sie sind beide mit völlig falschen Erwartungen im Bett gelandet, daher reden sie auch momentan nicht mehr miteinander. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass das bei uns nicht der Fall ist. Du bist nicht in mich verliebt, Mimi. Und ich nicht in dich. Würden wir das Ganze hier und jetzt beenden und uns nie wieder küssen, uns nie wieder berühren und nie wieder miteinander schlafen, würde es dir das Herz brechen?«

Ohne groß über diese Frage nachzudenken, schüttle ich den Kopf. Natürlich nicht. Wir wissen beide, dass das, was wir hier haben, nicht für immer sein wird. Das kann nicht immer so weitergehen. Irgendwann wird es zu Ende sein, aus welchen Gründen auch immer. Aber das ist okay. Matt ist ein Abenteuer. Eine Ablenkung. Aber er ist nicht so dumm, das nicht zu wissen.

»Siehst du«, grinst er. »Wir wissen beide, woran wir sind und warum wir gerade zusammen sind. Und vor allem können wir uns danach immer noch in die Augen sehen und Freunde sein.«

»Das heißt, du wärst gar nicht traurig, wenn ich dir jetzt einen Korb geben würde und das mit uns vorbei wäre?«, platzt es aus mir raus, bevor ich mir dafür auf die Zunge beißen kann.

Matt's Grinsen wird noch breiter. Er wirkt ein wenig amüsiert, während er mein Gesicht immer noch in seinen Händen hält.

»Vielleicht ein ganz klein wenig«, gesteht er mir und ich muss kichern. »Es würde mir schon schwer fallen, dich nicht mehr zu berühren, weil … ganz ehrlich, Mimi - der Sex mit dir ist ziemlich aufregend. Und das nicht nur, weil es verboten ist. Aber würdest du mir jetzt sagen, wir können ab jetzt nur noch Freunde sein, könnte ich wohl damit leben.«

Ein zufriedenes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Nicht, dass ich mir je Gedanken darüber gemacht hätte, ob Matt vielleicht tiefere Gefühle für mich hegt. Aber weil er so gnadenlos ehrlich ist und diese Eigenschaft schätze ich sehr an ihm.

»Du bedeutest mir viel, Mimi. Ich würde niemals irgendetwas tun, was dich verletzen könnte«, wispert er leise, doch ich höre jedes einzelne Wort. Es berührt mich zutiefst, dass wir eine so innige Beziehung aufgebaut haben. Matt hat mir so oft über den Kummer mit Tai hinweggeholfen und das nicht nur mit Sex. Ich hoffe, dass ich mich irgendwann dafür revanchieren kann.

»Ich denke, du bedeutest mir auch viel«, erwidere ich und klinge dabei nicht halb so gefühlvoll wie er, was Matt zum Lachen bringt.

»Nett, dass du das sagst.«

»Ja, oder?« Wir müssen beide lachen. Sein Kopf senkt sich und seine Lippen treffen auf meine. Aus dem Lachen wird ein lustvolles Seufzen, was seinen Mund verlässt.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich es höre und er mich kurz darauf an der Hüfte packt, auf der Theke absetzt und sich zwischen meine Beine drängt.

Mitten im Kuss halte ich inne und sehe ihn fragend an. »Du weißt schon, wo wir hier sind?«

Matt sieht sich suchend um und zuckt dann grinsend mit den Schultern. »Ich kann niemanden sehen.«

Er küsst mich erneut und ich lasse es zu, obwohl ich ganz genau weiß, worauf das hier hinausläuft. Erst fühle ich mich ein wenig unwohl dabei, aber Matt schafft es zu schnell, all meine Bedenken über Bord zu werfen.

Der Sex mit ihm ist reizvoll, schnell und befreiend.

Er hat recht - wir erwarten nichts voneinander - nur das.

Erwartung ist die Wurzel allen Kummers - sagte schon William Shakespeare.

Die Grenzen sind klar definiert, aber das macht gar nichts besser. Würden die Menschen, denen wir etwas bedeuten und die uns etwas bedeuten, von uns erfahren, wären sie mehr als nur enttäuscht. Das ist das eigentliche Vergehen: dass wir es wissen! Wir wissen, es würde andere verletzen und wir tun es trotzdem.

Mit jedem weiteren Kuss klebt die Sünde wie Pech an uns und egal, wie gut es sich anfühlt, es hinterlässt immer einen bitteren Nachgeschmack.

Ich weiß nicht, warum, aber … ich habe das Gefühl, dass das nicht mehr lange gut gehen wird.

Mimi

Unruhig wippe ich mit den Füßen auf und ab, während ich mich in dem spartanisch eingerichtetem Büro umsehe. Es ist 09.00 Uhr morgens und meine Schicht beginnt eigentlich erst in ein paar Stunden, aber der Geschäftsführer des Cafés hat mich gleich heute morgen angerufen und mich ins Büro zitiert. Wahrscheinlich habe ich wieder zu wenig Sojamilch bestellt oder unwissentlich eine sauteure Kaffeemaschine kaputt gemacht.

Oder … ich kriege eine Gehaltserhöhung und werde befördert.

Stellvertretende Geschäftsleitung.

Das wäre nicht schlecht, Mimi.

Aber doch eher Wunschdenken. Zumal ich ja gar nicht vorhabe, in dem Saftladen hier zu versauern. Irgendwann kündige ich eh und mache …

Meinen eigenen Gedanken hinterher hängend, lege ich den Kopf schief und merke dabei erst gar nicht, wie die Tür zum Büro geöffnet wird. Ich stehe mit dem Rücken zur Tür und zucke zusammen, als mein Vorgesetzter an mir vorbei marschiert.

»Setz dich bitte, Mimi.«

Er deutet auf den Stuhl gegenüber von seinem Schreibtisch, an dem er selbst auch Platz nimmt. Während ich mich noch über diese unhöfliche Begrüßung wundere, schießt er auch schon los.

»Wunderst du dich, warum ich dich heute so früh persönlich sehen wollte?«, fragt er, als ich noch nicht mal ganz sitze. Ich zucke mit den Schultern.

»Nun, ich hatte gerade vier Tage frei. Ich nehme an, in der Zwischenzeit ist jemand krank geworden und ich soll einspringen?«

»Das hätte ich dir am Telefon gesagt.«

Dieser Tonfall gefällt mir gar nicht. Auch nicht den Blick, den er mir zuwirft. Seine Augen kleben förmlich an mir und ich lese in ihnen eine Spur von Abscheu.

Was soll das? Welche Laus ist ihm denn über die Leber gelaufen? Er ist zwar mein Chef, doch auch nur wenig älter als ich. So förmlich ist er mit mir noch nie umgegangen.

»Ich muss dich leider entlassen.«

Ich falle aus allen Wolken. Mein Oberkörper schießt so schnell nach vorne, dass ich es nicht mal schaffe, Luft zu holen, bevor ich drauf los poltere.

»Wie bitte? Aber warum? Was soll das? Ich war immer pünktlich und bin so gut wie nie krank, während andere hier …«

»Andere …«, fällt er mir ins Wort und funkelt mich nun wütend an. » … haben auch keinen Sex im Café.«
 

Großer Gott!
 

Es fühlt sich an, als hätte er mich geohrfeigt.

Mein Mund klappt auf und in meinem Kopf herrscht gähnende Leere. Woher …?

Als hätte er meine Gedanken gelesen, dreht er den Bildschirm seines Computers in meine Richtung, so dass ich nun gezwungen bin, das ganze Ausmaß des Übels mit eigenen Augen zu sehen.

Matt und ich, wie wir es auf dem Tresen des Cafés treiben. In Schwarz-Weiß. Von der Decke aus gefilmt.

Scheiße.

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Die Überwachungskameras. Wieso habe ich nicht daran gedacht?

Zum Glück ist die Aufnahme ohne Ton, aber es ist auch so mehr als offensichtlich, was wir da tun und in welchen Stellungen wir es tun.

»Deinem Blick nach zu urteilen, muss ich dich wohl nicht erst fragen, ob du das auf der Aufnahme bist.«

Ich schlucke schwer. »Nein, Sir.«

Plötzlich bin ich ganz kleinlaut. Vor lauter Scham presse ich die Augen aufeinander und schlage mir die Hand zusätzlich noch davor. Was für eine Schande. Gott, wenn das irgendjemand sehen würde … ich würde sterben. Was ich gerade auch tue, denn … scheiße, es hat ja bereits jemand gesehen.

»Wie viele Leute wissen davon?«, flüstere ich kaum hörbar und halte dabei immer noch die Augen geschlossen. Ich will sie nie wieder aufmachen.

»Niemand, nur ich«, höre ich ihn sagen und öffne sie dann doch einen kleinen Spalt breit, um ihn aus schmalen Augen heraus zu mustern.

»Wirklich nicht?«

Er dreht den Bildschirm wieder um und stoppt die Aufnahme, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Doch er mustert mich argwöhnisch. »Meinst du, du findest den Porno morgen im Internet?«

Empört lehne ich mich nach vorn. »Das ist kein … Porno!« Das letzte Wort flüstere ich wieder, als würde man dafür verhaftet werden, wenn man es laut ausspricht.

Andächtig zieht er eine Augenbraue in die Höhe, als hätte ich nicht mehr alle beisammen.

»Jedenfalls ist das absolut tabu und du verstehst sicher, dass du hier nicht mehr weiter arbeiten kannst«, eröffnet er mir abermals und meine Schultern sacken nach unten.

Immer noch geschockt, richte ich mich dennoch auf.

Natürlich bin ich gefeuert. Ich hätte mich selbst gefeuert, wenn ich das tun könnte. Aber hey, wenigstens bin ich diesen beschissenen Job endlich los.

»Kann ich dann wenigstens die Aufnahme bekommen?« Ich strecke die Hand aus, was ihm zeigen soll, dass ich ein Nein nicht akzeptieren würde.

Seufzend macht er ein paar Klicks und wirft dann die CD aus dem Laufwerk, um sie mir zu überreichen. Skeptisch funkle ich ihn an.

»Und davon gibt es keine Kopien?«

Abschätzig schüttelt er den Kopf und schnalzt dabei auch noch mit der Zunge. »Für wen hältst du mich?«

»Wollte nur auf Nummer sicher gehen«, meine ich nur und stehe dann auf.

»Du wirkst bestürzter über das Video, als über die Tatsache, dass ich dich eben gefeuert habe«, stellt mein Ex-Boss nüchtern fest. Zum Abschied schenke ich ihm einen gelangweilten Blick.

»Ich fand den Laden sowieso scheiße.«
 

Ein zweites Mal an diesem Tag versinke ich im Erdboden. Wenn ich könnte, würde ich mir auf der Stelle ein tiefes Loch graben, während Matt nur mit verschränkten Armen neben mir sitzt und den Kopf schief legt, als müsse er die Perspektive wechseln. Gleich, nachdem ich fristlos entlassen wurde, bin ich zu ihm gegangen und habe ihn aus dem Bett geklingelt. Nun sitzen wir im Wohnzimmer vor seinem Laptop und sehen uns beiden dabei zu, wie wir es miteinander auf einem Tresen treiben.

Ein fettes Grinsen huscht über Matts Gesicht und ich schlage ihm so heftig gegen den Oberarm, dass er aufschreit.

»Aua, was soll das?«

»Das ist nicht witzig!« Wie kann er sich nur darüber freuen? Immerhin ist diese Aufnahme daran Schuld, dass ich meinen Job verloren habe.

Nein, ER ist daran Schuld.

»Ich wollte schon immer mal in einem Porno mitspielen«, offenbart er mir immer noch grinsend und drückt auf Pause, gerade, als die Abschlussszene zu Ende ist - endlich.

»Das. Ist. Kein. Porno!«, erwidere ich hinter zusammengepressten Zähnen und bin versucht, ihn noch mal zu schlagen.

»Äh, Mimi …«, meint Matt jedoch nur zweifelnd, zieht eine Augenbraue in die Höhe und deutet mit der Hand auf den Bildschirm. »Das ist ein waschechter Porno, egal, was du sagst. Nicht aus der besten Perspektive aufgenommen, weil, … mal ehrlich, da geht noch was … aber immerhin ist es ein …«

»Halt, Stopp!«, werfe ich ein und halte mir gleich beide Ohren zu. »Sag es nicht noch mal.«

Ich höre, wie Matt mich auslacht. Dann klopft er mir kumpelhaft auf die Schulter. »Ach, komm. Es gibt Schlimmeres als das.«

»Jaah«, sage ich gedehnt, während er aufsteht und uns zwei Coladosen aus dem Kühlschrank holt. »Zum Beispiel wenn es über eine digitale Reklametafel abgespielt werden würde.«

Wieder muss Matt lachen und ich ärgere mich ein bisschen darüber, dass er sich einen Spaß daraus macht. Dabei ist das hier der Gipfel meiner persönlichen Schande. Dafür komme ich in die Hölle, ganz sicher.

»Warum regst du dich so auf?«, fragt er, als wir beide gleichzeitig unsere Dosen mit einem zischenden Klick öffnen. »Du fandest den Job ohnehin scheiße - hast du selbst gesagt.«

Ich nicke, nachdem ich mir einen großen Schluck gegönnt habe. »Schon. Aber hast du mal daran gedacht, wer jetzt meine Miete bezahlen soll? Kein Job, keine Kohle. So einfach ist das.«

Ja, das ist mir tatsächlich auch erst bewusst geworden, nachdem ich das Café so biestig verlassen hatte, aber es stimmt leider. Die Arbeit dort war meine einzige Einnahmequelle. Jetzt muss ich Bewerbungen schreiben und zu Vorstellungsgesprächen gehen und wenn ich ganz viel Glück habe, finde ich in drei bis vier Monaten etwas Brauchbares. Aber wer wird bis dahin meine Miete und mein Essen zahlen?

»Hey, du wolltest das doch sowieso nicht für immer machen«, meint Matt, der meine leicht verzweifelte Miene sieht.

»Wollte ich nicht. Aber hast du eine bessere Idee?«

»Habe ich schon, aber die gefällt dir ja nicht.« Schulterzuckend leert Matt seine Dose in einem Zug, ehe er sie mit einem lauten »Aah« auf dem Tisch abstellt. Dann sieht er mich fragend an.

»Oder hast du deine Meinung diesbezüglich geändert?«

Natürlich weiß ich, worauf er anspielt. Auf seinen bescheuerten Vorschlag von neulich.

»Du sagtest, du könntest mich erst mal nicht bezahlen.«

»Schnee von gestern«, winkt er ab. »Falls es dir nicht aufgefallen ist, ich bin todmüde, weil ich in den letzten Wochen geschuftet habe, wie ein Blöder, um die ganze anfallende Arbeit zu erledigen und um neue Songs zu schreiben. Das Zeug hier ist quasi mein Lebenselixier.«

»Und?«, hake ich neugierig nach, da mir natürlich wieder ein mal seine müden Augen aufgefallen sind. »Ist was Gutes bei raus gekommen?«

»Etwas ziemlich Gutes sogar.« Matt nickt eifrig und auf sein Gesicht schleicht sich doch allen Ernstes der Ausdruck eines kleinen Kindes, der gerade einen Lolly geschenkt bekommen hat. Ich muss grinsen, weil's so süß ist.

»Ich habe ein paar wirklich gute Songs geschrieben und sie einen unserer Kunden vorgespielt. Er fand sie super und hat uns für die nächsten fünf Auftritte in seinem Club gebucht.«

Mein Gesicht erhellt sich vor Freude und ich greife nach seiner Hand, um sie zu drücken. »Matt, das sind wirklich gute Neuigkeiten. Das freut mich für euch.«

Matt nickt begeistert. »Und das Beste ist, er hat alle Auftritte bereits im Voraus bezahlt.«

»Oh, wow. So gut fand er die neuen Songs?«

Wieder nickt Matt breit grinsend. Ich lächle zufrieden, weil ich mich ehrlich für die Jungs freue. Matt hat sich so ins Zeug gelegt, als es nicht mehr gut mit den Auftritten lief und etwas Neues, Besseres geschaffen. Ich kann es kaum verbergen, aber ich bin ein wenig stolz auf ihn. Ich kenne niemanden, der seinen Traum so ehrgeizig verfolgt wie er. Diese Eigenschaft ist wirklich beneidenswert und die Augenringe alle mal wert.

»Würdest du bei uns einsteigen und uns managen, könnte ich dich für die nächsten drei Monate im Voraus bezahlen«, kommt Matt schließlich auf den Punkt. Mein Lächeln erstirbt schlagartig.

»Aber ich hatte dir doch schon gesagt, dass ich das nicht machen werde.«

»Was spricht denn dagegen?«, versucht Matt auf mich einzureden. »Du hast deinen Job so sehr gehasst, aber ihn stets ernst genommen. Du warst gut darin. Was meinst du, wie gut du erst in einer Sache wärst, die dir wirklich liegen und Spaß machen würde?«

Ich lege die Stirn in Falten und denke kurz über seine Worte nach. So habe ich das noch gar nicht gesehen.

»Du hast genauso viel Leidenschaft in dir, wie ich in mir, Mimi. Du musst sie nur rausholen. Ich habe doch gesehen, wie du mir und den Jungs geholfen hast, völlig uneigennützig. Und gib zu, es hat sich gut angefühlt, oder?«

»Nur, weil sich etwas gut anfühlt, muss ich es noch lange nicht zu meinem Job machen«, werfe ich bestimmt ein. »Ich fahre auch gerne mit der U-Bahn und möchte trotzdem nicht gerne dort arbeiten.«

Matt macht ein glucksendes Geräusch bei dieser Vorstellung, wie ich durch die U-Bahn schlendere und Fahrkarten kontrolliere - völlig absurd. Aber wäre es nicht noch absurder, Managerin einer noch nicht ganz so erfolgreichen Band zu sein? Wo würde das hinführen?

»Du könntest es mit einem Studium verbinden«, sagt Matt. »So etwas gibt es. Und du wolltest doch sowieso irgendwann studieren.«

»Ja, schon«, gebe ich zu. »Aber ich weiß doch noch gar nicht, was ich studieren möchte.«

»Der beste Zeitpunkt, um es rauszufinden, oder?« Matt grinst schief und legt mir eine Hand aufs Bein. »Du kannst es doch zumindest mal versuchen, oder? Wie wäre es mit einem Deal?«

Irritiert blinzle ich. »Einem Deal?«

»Du arbeitest die nächsten drei Monate für uns als Managerin. Kümmerst dich um alles Organisatorische, buchst unsere Auftritte, organisierst An- und Abreise, den Aufbau der Instrumente, machst die Abrechnungen …«

»Das klingt nach einer Menge Arbeit«, werfe ich zweifelnd ein, doch Matt redet einfach weiter.

» … natürlich bezahle ich dich in den drei Monaten, wie versprochen. Wenn wir es gut machen - und das werden wir - werden wir noch mehr Aufträge bekommen und somit auch mehr Geld. Und in der Zeit kannst du dir Gedanken darüber machen, was du studieren möchtest. Oder hast du wirklich Lust, dir den nächsten dämlichen Job ans Bein zu binden, der dir nur auf die Nerven geht und dich kein Stück weiterbringt?«

Ein tiefes Seufzen dringt aus meiner Kehle, während ich in mich zusammensacke. Irgendwie hat er ja recht - leider. Ich wollte es eigentlich nicht machen, aber habe ich eine Wahl? Mir wird gerade angeboten, dass ich meine Miete weiterhin bezahlen kann, ohne mir lästige Bewerbungsgespräche über den Hals zu ziehen. Und mit Matt und den Jungs zusammen zu arbeiten, wäre sicher nicht der schlechteste Job auf der Welt. Da wäre nur eine Sache …

»Wenn ich mit dir und den anderen Jungs zusammen arbeite …«, beginne ich zögerlich, doch Matt grinst bereits wie ein Honigkuchenpferd. » … dann muss das zwischen uns aufhören.«

Ich deute mit dem Finger zwischen uns und sein Lachen erstirbt.

»Ist das dein Ernst?«

Entschieden nicke ich. »Wir können nicht miteinander schlafen und gleichzeitig zusammen arbeiten. Das ist super unprofessionell.«

Matt verzieht das Gesicht, als hätte ich ihm gerade eine reingehauen. »Man, du nimmst deinen Job aber wirklich ganz schön ernst.«

Ich nicke bestimmt. »Entweder so oder das mit unserer Zusammenarbeit wird nichts. Es geht nur eins von beiden.«

»Oh, man.« Matt reibt sich allen Ernstes mit den Händen übers Gesicht, als wäre das eine schwer zu treffende Entscheidung.

»Das heißt, nie wieder Sex?«

»Nie wieder Sex.«

Ein Seufzen. Dann dreht er den Kopf in Richtung des Laptops, auf dem noch immer unser schwarz-weiß Bild auf Stand by flackert.

»Na, immerhin war das ein würdiger Abschluss.«

Ich folge seinem Blick und schlage ihn erneut gegen den Oberarm.

Matt lacht auf. »Ist ja schon gut, okay? Du bist eingestellt - unter deinen Bedingungen.«

Zufrieden grinse ich. »Ich danke Ihnen vielmals.« Wir reichen einander die Hände und schütteln sie, wie zwei alte Geschäftspartner. In dem Moment geht die Tür zu Matt's Wohnung auf und ehe ich mich versehe, stehen Tai und Sora im Wohnzimmer.

Matt reagiert schnell und schlägt den Laptop viel zu laut zu, während Tai uns fragend mustert.

»Was macht ihr da?« Skeptisch zieht er eine Augenbraue in die Höhe, sein Blick haftet auf unseren Händen, die sich immer noch festhalten. Wie aufgescheucht entziehe ich sie ihm und rutsche gleich mehrere Zentimeter von Matt weg.

»Wir haben nur eingeschlagen«, sage ich verlegen, immer noch völlig überrumpelt von dem plötzlichen Auftauchen der Beiden.

Immer noch fragende Blicke.

»Mimi hat endlich mein Jobangebot angenommen und steigt als Managerin in der Band ein. Danke, für die Empfehlung, Kumpel. Ich denke, das mit uns beiden wird gut harmonieren«, sagt Matt und dreht sich um, allerdings nicht, ohne mir vorher noch ein kaum erkennbares Grinsen zuzuwerfen.

Ich würde auch gerne noch was dazu sagen, aber wüsste nicht was. Außerdem ist mein Mund staubtrocken und meine Augen richten sich wie gebannt auf den Fußboden vor mir.

Ich kann die Beiden nicht ansehen. Erst recht nicht, als Sora das Wort erhebt.

»Nun, dann wollen wir euch mal nicht weiter stören. Tai wollte nur ein paar Sachen abholen.«

»Ziehst du jetzt komplett hier aus, so oft, wie du Sachen abholst und nicht mehr zurück bringst?«, erwidert Matt zwar tonlos, aber ich höre genau heraus, dass ihm diese Tatsache gar nicht passt. »Ich meine ja nur, falls es so ist, wäre es nett, wenn du es mir sagen würdest. Dann kann ich mir einen neuen Mitbewohner suchen.«

Ich höre Tai zischen. »Das hättest du wohl gern.« Dann steuert er sein Zimmer an.

»Wieso? Er hat doch recht. Wir könnten genauso gut zusammen ziehen«, wirft Sora ein.

Bei dieser Vorstellung dreht sich mir der Magen um. Vorsichtig hebe ich den Blick, um zu sehen, wie Tai reagiert. Doch dieser marschiert einfach in sein Zimmer, dicht gefolgt von Sora, und knallt die Tür hinter sich zu.

Dann sind laute Stimmen zu vernehmen.
 

»Ich habe dir gesagt, dass ich aktuell noch nicht darüber reden will.«

»Aber warum? Nach der Uni bist du sowieso ständig bei mir. Dann können wir auch gleich zusammen ziehen.«

»Wir können es aber auch einfach so lassen, wie es jetzt ist.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Warum? Was macht das für einen Unterschied?«
 

Oh Gott.

Wie unangenehm.

Unsicher rutsche ich auf meinem Platz hin und her. Schlagartig will ich einfach nur noch von hier weg.

»Wenn du mich fragst, passen die Beiden überhaupt nicht zusammen«, sagt Matt und macht sich dabei nicht ein mal die Mühe, seine Stimme zu senken. Wobei Sora und Tai es vermutlich ohnehin nicht hören würden, denn sie streiten immer noch und es scheint sie nicht die Bohne zu interessieren, dass wir hier draußen alles mitkriegen.

Das ist zu viel für meine Nerven.

»Ich verschwinde jetzt«, sage ich und stehe auf. Das ertrage ich keine Sekunde länger. Und ehrlichgesagt habe ich keine Ahnung, wie Tai das aushält. Ob das immer so zwischen den Beiden ist? - frage ich mich, als ich die Wohnung ohne ein weiteres Wort verlasse. Irgendwie hatte ich mir ihre »Beziehung« anders vorgestellt. Harmonischer. Aber diese kleine Momentaufnahme zeigt mir, dass es vermutlich doch nicht so ist.

Auf dem Weg nach unten seufze ich schwer. Unwillkürlich muss ich daran denken, was Tai und ich neulich getan haben. Wir haben miteinander geschlafen. Wir haben uns geliebt. Ich bin mir ganz sicher, dass er in jedem einzelnen Moment ganz bei mir war. Dass er keinen Gedanken an Sora oder irgendwelcher Konsequenzen verschwendet hat. Dass er einfach nur bei mir sein wollte, so wie ich bei ihm.

Ich merke erst, dass mir die Tränen über die Wangen laufen, als ich im Auto sitze und in den Rückspiegel gucke. Ich fühle mich so erbärmlich. Ich habe mit meinem besten Freund geschlafen und mit seinem besten Freund und nur für einen von beiden empfinde ich was. Nur einer von beiden kann mich durch seine bloße Anwesenheit so aus der Fassung bringen. Nur einer kann mein Herz entweder höher schlagen oder in tausend Teile zersplittern lassen, so wie eben.

Tai

»Was sollte das?«, stelle ich Sora sofort zur Rede, als die Türen meines Wagens zufallen und wir endlich allein sind. Schon klar, dass Mimi und Matt vorhin unseren Streit mit anhören mussten und das war wirklich das Letzte, was ich wollte.

Unschuldig sieht sie mich von der Seite her an. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Klar weißt du, was ich meine.« Ich presse die Zähne aufeinander, weil ich immer noch sauer bin. Dann drehe ich den Schlüssel um und fahre los. »Wieso machst du vor Mimi und Matt so eine Szene?«

»Ich habe nur das ausgesprochen, was Matt schon lange denkt.«

»Und das wäre?«

»Dass du sowieso kaum noch zu Hause bist.«

Ich umklammere das Lenkrad.

Ja, und wessen Schuld ist das?

»Das stimmt«, gebe ich zu und versuche, nicht gleich den nächsten Streit vom Zaun zu brechen und das irgendwie sachlich zu klären. »Aber das ist nur so, weil du mir das Gefühl gibst, dich nicht allein lassen zu können.«

Sora sackt etwas in ihrem Sitz zusammen. »Weil ich genau weiß, wo du als erstes hingehen würdest, wenn du alleine wärst«, sagt sie mit gesenkter Stimme. Daher weht also der Wind.

»Sora, ich habe dir versprochen, mich von Mimi fernzuhalten, um dich nicht weiter aufzuregen. Damit es dem Baby gut geht.«

»Wenn ich es nicht wüsste, würde es mich ja nicht aufregen, oder?«

Ich presse die Lippen aufeinander, während ich an einer Ampel halte. Wahrscheinlich hat sie ein bisschen recht, mit dem, was sie sagt, denn ich habe ihr nichts von meinem nächtlichen Ausflug zu Mimis Hotel erzählt. Laut ihres Wissens war ich mit Kari zusammen, aber anscheinend misstraut sie mir sogar dann.

»Ich weiß nicht, was du noch von mir möchtest, Sora«, seufze ich.

»Ich möchte, dass du bei mir einziehst«, offenbart sie mir erneut, wie schon so oft in den letzten Tagen. »Matt hat doch recht, Tai. Du bist sowieso kaum noch zu Hause. Es wäre doch für uns alle das Beste, wenn wir zusammen wohnen würden.« Sie legt eine Hand auf ihren runden Bauch und ich schlucke schwer.

Ich kann es nicht.

Ich bringe es einfach nicht fertig, diesen Schritt zu gehen.

Das wäre so endgültig. Aber vor allem wäre es das endgültige Ende von Mimi und mir. Wir wären eine richtige Familie und da wäre definitiv kein Platz mehr für meine Liebe zu Mimi, die ich immer noch nicht ganz aufgegeben habe. Und so lange das nicht der Fall ist, bringe ich es nicht über mich, diesen entscheidenden Schritt zu gehen.

»Lass uns das nicht jetzt entscheiden«, schlage ich versöhnlich vor und versuche dabei entspannt zu klingen. »Wir haben noch so viel Zeit.«

»Es sind nur noch 12 Wochen«, korrigiert mich Sora, was ich natürlich selber weiß.

»Trotzdem«, dränge ich. »Gib mir Zeit zum Nachdenken.«

»Na gut.«

Sie bohrt nicht weiter, aber ich höre, wie ungeduldig sie ist. Und wie ängstlich. Sie hat immer noch Angst, dass ich einen Rückzieher mache und mich meiner Verantwortung entziehe - so schlecht kennt sie mich also.

Ich bin gespannt, wann sie das Thema »Zusammen ziehen« erneut ansprechen wird. Lange kann ich mich nicht mehr rausreden. Ich weiß, dass sie recht hat und es für uns alle so am einfachsten wäre. Nur wäre da noch das Problem, dass mein Herz immer noch an einem Mädchen hängt, dass ich nicht haben kann. Und dieses Problem wird immer wie ein verdammter rosa Elefant im Raum stehen!
 

Nachdem ich Sora zu Hause abgesetzt habe, treffe ich mich mit Kari. Sora war zwar nicht begeistert, weil sie mir einfach nicht vertraut, aber sie weiß auch, wie wichtig es mir ist, das Verhältnis zu meiner Schwester wieder positiver zu gestalten. Es ist nicht schön, dass wir uns in letzter Zeit so häufig streiten und ich möchte, dass sich das wieder ändert. Kari scheint es gut zu gehen bei Mimi. Zumindest hat sie seither keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, geht zur Schule, lernt für ihre Prüfungen und trifft sich gelegentlich mit ihren Freundinnen. Alles völlig normal. Mimi scheint ihr gut zu tun. Offensichtlich war es doch die richtige Entscheidung, Kari zu vertrauen, was das angeht, auch wenn es mir äußerst schwer gefallen ist.

»Hast du Lust, was zu unternehmen?«, frage ich sie, während wir durch die Straßen bummeln und uns ein Eis gönnen.

»Lust schon, aber keine Zeit. Ich habe noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen.« Kari verzieht das Gesicht und hält demonstrativ ihre Schultasche in die Höhe. Heute habe ich sie von der Schule abgeholt und spontan auf ein Eis eingeladen. Es fühlt sich ein bisschen wie früher an, als wir noch klein waren.

»Soll ich dir dabei helfen?«

Kari lacht. »Tai, ich bin doch keine zehn mehr. Ich komme schon klar.«

»Stimmt«, gebe ich peinlich berührt zu. »Das vergesse ich immer wieder.«

»Was? Dass ich erwachsen geworden bin?«

»Na ja, so weit würde ich mich noch nicht aus dem Fenster lehnen, aber ja … so was in der Art.«

Sie streckt mir die Zunge raus und ich muss grinsen. Oh nein, erwachsen hin oder her - du wirst immer meine kleine Schwester bleiben.

»Wie geht es Mimi?«, platzt es plötzlich aus mir heraus, obwohl ich versuche, die Frage ganz beiläufig zu formulieren. Ich weiß, dass die beiden gut befreundet sind und da sie zur Zeit zusammen wohnen, reden sie doch sicher über mich. Aber da ich so gut wie keinen Kontakt mehr zu Mimi habe, wie ich es Sora versprach, möchte ich gerade wirklich einfach nur wissen, wie es ihr geht. Ich möchte wieder wissen, was sie macht, woran sie denkt, was sie beschäftigt. Verdammt, ich möchte sie wieder in meinen Armen halten wie früher.

»Wieso fragst du sie nicht selbst?«

Ich schlecke von meinem Vanilleeis und verdrehe dabei die Augen. »Du weißt genau, warum.«

»Oh Gott, Tai«, stöhnt Kari auf und wirft den Kopf in den Nacken. »Wie lange willst du dieses Spiel noch spielen?«

»Welches Spiel? Ich spiele nicht!«, entrüste ich mich, aber Kari sieht mich nur mit einem wissenden Blick an.

»Das: Ich-tue-so-als-hätte-ich-mit-Sora-eine-Familie-und-würde-Mimi-nicht-lieben-Spiel.«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. »Das klingt ziemlich bekloppt.«

»Ist es ja auch. Man, Tai!« Kari bleibt mitten auf der Straße stehen und sieht mich so anklagend an, als hätte ich ein Verbrechen begangen. »Wie kannst du nur so dumm sein? Merkst du denn nicht, dass an der Sache vielleicht etwas faul ist?«

Nun bin ich sichtlich verwirrt. »Kannst du mich aufklären, was du genau meinst?« Ich werde langsam ungeduldig. Aber ich kenne diesen Blick meiner Schwester. Gleich wird etwas gewaltiges wie eine Bombe aus ihr herausplatzen. Und dann holt sie auch schon tief Luft …

»Ich denke, Sora hat dich betrogen und dieses Baby ist nicht von dir. So. Jetzt ist es raus«, wirft sie mir viel zu schnell an den Kopf, ehe ich auch nur begreifen kann, was sie da sagt.

Doch dann dringen ihre Worte zu mir durch.

Halb schmunzelnd, halb zweifelnd schaue ich sie an. »Und wie kommst du darauf?«

Natürlich habe ich diese Option selbst schon in Erwägung gezogen und das nicht nur ein mal.

Ich lag teilweise Nächte lang wach und habe gegrübelt, ob Sora mir die Wahrheit erzählt. Letztlich bin ich jedoch immer zu dem Schluss gekommen, dass ich ihr im Moment nichts beweisen kann und dass wir uns schon so lange kennen, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, warum sie mich in so einer Sache anlügen sollte.

Aber ich möchte gerne Karis Sichtweise der Dinge hören. Weiß sie etwas, dass ich nicht weiß?

»T.K. hat sie mal zusammen mit einem anderen Typen gesehen, abends, in einer Bar.«

Stutzig wandert meine Augenbraue in die Höhe. »Ist es normal, dass ihr in eurem Alter in Bars abhängt?«

Kari stöhnt genervt auf. »Oh Gott, genau das gleiche hat Mimi auch gesagt. Hört ihr mir eigentlich zu?«

Und wie ich zuhöre! »Du hast es Mimi erzählt?«, will ich sofort wissen. Kari nickt.

Moment. Das geht zu schnell. Mimi weiß von Karis Theorie und hat mir nichts davon erzählt?

»Schau nicht so misstrauisch«, ertappt mich Kari sofort. »Sie hat mir nicht geglaubt. Oder besser gesagt, sie wollte es nicht hören.« Kari lässt den Kopf hängen, während ihr Eis langsam schmilzt und zu Boden tropft, genauso wie meins. Allerdings ist mir soeben der Appetit vergangen.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und denke nach.

Fuck …

Was, wenn da was dran ist? Wenn das wirklich wahr ist, dann …

Ich fasse mir ein Herz. »Ich will es aber hören«, sage ich entschlossen, weshalb Kari überrascht aufsieht. »Am besten von T.K. selbst. Willst du mich begleiten? Ich muss es von ihm persönlich hören!«

Kari überlegt einen Moment zu lange und ich sehe, wie sie mit sich kämpft, doch dann nickt sie wieder. »Klar. Lass uns zu ihm fahren.«

Mimi

»Hätte ich gewusst, dass du das tust, hätte ich dich nie eingestellt.«

Stutzig ziehe ich die Augenbrauen in die Höhe, während Matt neben mir sitzt und ganz diva-like die Arme vor der Brust verschränkt und ein Bein über sein Knie geschlagen hat.

Er ist eindeutig beleidigt. Oder besser gesagt: richtig angepisst.

»Hättest du denn zugestimmt, wenn ich dich vorher gefragt hätte?«

Ein Zischen geht in meine Richtung. »Natürlich nicht«, sagt er. »Wieso sollte ich auch? Unsere Band ist komplett. Was soll dieses ganze Theater hier?«

Beinahe hätte ich gegrinst, weil wir uns gerade wirklich in einem kleinen, alten Theater befinden, was ich für heute gemietet habe. Die Jungs und ich sitzen in einer Reihe und starren alle gebannt auf die kleine Bühne vor uns.

Koichi zuckt nur belanglos mit den Schultern. »Aber es kann ja nicht schaden, mal ein wenig seinen Horizont zu erweitern.«

»Finde ich auch. Was wäre so schlimm daran, einen neuen Sänger in die Band aufzunehmen?«, stimmt nun auch Jingle zu, woraufhin sich beide einen vernichtenden Blick von Matt einhandeln.

»ICH bin der Sänger der Band!«, betont er und deutet mit dem Finger auf sich.

»Keine Sorge«, wirft Tatsuya ein und klopft Matt beruhigend auf die Schulter. »An dich kommt sowieso keiner ran. Ich bin ganz auf deiner Seite, Bro. Wir brauchen keinen neuen Sänger.«

Matt quittiert diese kleine Zustimmung mit einem Nicken, während ich in meinem gepolsterten Sitz immer weiter nach unten rutsche und die Luft auspuste. Ich wusste ja, dass Matt ein Sturkopf ist. Aber, dass er sich nicht mal ansatzweise auf diesen Vorschlag einlässt, wundert mich. Zwar laufen seine Auftritte zwar gut, aber ich habe in den vergangenen Tagen viel recherchiert. Natürlich war ich von nun an bei jedem Auftritt der Jungs dabei und die neuen Songs, die Matt geschrieben hat, kommen gut an, aber … irgendetwas fehlt.

Und nachdem ich einige Zuschauer befragt habe, wurde mir auch klar, was.

Sie waren schlichtweg zu eintönig.

Die Jungs machen bereits seit so vielen Jahren zusammen Musik, dass es scheint, als hätten sie sich festgefahren. Sie ähneln sich inzwischen einander so sehr, dass der Wind raus ist. Keine Frage, sie haben alle unglaubliches Talent und es ist nichts Schlechtes, aufeinander abgestimmt zu sein. Aber das lässt auch wenig Platz für Neues. Und genau das ist es, was der Band und ihren Auftritten fehlt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie deutlich mehr Aufträge hätten, wenn sie etwas frischen Wind in ihren inneren Zirkel bringen würden: eine neue Stimme.

Aber, wie ich mir bereits vorher denken konnte, ist Matt gegen diese Idee.

»Ich möchte dich als Singer and Songwriter doch gar nicht ersetzen, Matt. Du bist fantastisch auf der Bühne.«

Ein weiteres Zischen.

Ich seufze. »Nun sieh sie dir doch wenigstens erst ein mal an, bevor du voreilige Schlüsse ziehst«, bitte ich ihn, weil ich in den heutigen Vormittag wirklich viel Arbeit investiert habe. Es war nicht so einfach, ein inoffizielles Casting für eine mehr oder weniger noch unbekannte Band zu organisieren.

»Schön«, gibt Matt sich schließlich zu meiner Überraschung geschlagen und schielt zu mir rüber. »Aber nur, weil wir Freunde sind und ich dir hiermit den ersten und letzten Gefallen tue.«

Ein kleines Grinsen legt sich auf meine Lippen und ich schaue ihn zuversichtlich an.

»Ich danke dir.«

»Bedank dich nicht zu früh. Das hier wird nach hinten losgehen.«

Grinsend verdrehe ich die Augen. Er ist einfach unbelehrbar. So ein Dickkopf. Aber mir war klar, dass es nicht einfach werden würde. Nun ist es meine Aufgabe, ihn vom Gegenteil zu überzeugen …
 

Diese Aufgabe stellt sich schwieriger raus, als erwartet. Denn seit der erste Bewerber seine Füße durch die Tür gesetzt hat, wird es immer schlimmer. Zehn Leute waren bis jetzt da, alle männlich, und einer schlechter als der andere. Sie singen schief, sie treffen die Töne nicht und können die Melodie nicht halten. Kurz gesagt: es ist blamabel. Vor allem für mich, weil ich diese Leute eingeladen habe.

»Das ist die pure Zeitverschwendung«, stellt Matt nach zwei Stunden ernüchternd fest, während er sich die Schläfen reibt, als hätte er Kopfschmerzen.

Gerade hat ein weiterer Teilnehmer einen Coversong zum Besten gegeben und sogar die letzten Textzeilen komplett vergessen. Den Rest des Liedes hat er gesummt. Peinlicher geht es wohl kaum.

»Und, hat es euch gefallen?«, fragt er am Ende hoffnungsvoll.

Ich grinse unsicher, während die Jungs einfach nur betreten den Blick abwenden.

»Ja, ähm … danke. Wir melden uns.«

Der Typ nickt und wirkt ganz zufrieden, doch ich streiche seinen Namen gleich auf meinem Klemmbrett durch, als er die Bühne und den Saal verlässt.

»Bitte, Mimi«, sagt Matt deutlich gelangweilt von dem Ganzen. »Bitte erlöse uns davon.«

Wir sehen einander an und ich weiß, dass er vermutlich recht hat. Aber so einfach will ich nicht aufgeben, dafür habe ich bereits zu viel Arbeit in das Casting gesteckt. Auf meiner Unterlippe kauend schaue ich auf mein Klemmbrett. Noch zwei Teilnehmer sind übrig und als ich den Namen des nächsten Kandidaten lese, erhellt sich mein Blick.

»Ihr habt es gleich geschafft, Jungs. Der Nächste wird's rocken, das weiß ich«, sage ich etwas zu euphorisch und ernte dafür reihenweise Gestöhne. Sogar Jingle und Koichi, die anfangs gar nicht so abgeneigt von der Idee waren, sehen inzwischen so aus, als würden sie bald einschlafen. Zumindest Koichi's Gähnen spricht Bände.

»Na, schön. Wer ist der Nächste?«, fragt Matt und richtet sich geschäftig in seinem Sitz auf, während er lässig ein Bein über das andere geschlagen hat.

»Er heißt Jin Akanishi und ist …«

»Halt, sprich nicht weiter«, unterbricht Jingle mich aufgebracht. »Du meinst nicht wirklich DEN Jin Akanishi, oder?« In Sekundenschnelle tippt er etwas in sein Smartphone ein und hält mir dann einen YouTube Kanal unter die Nase. Ich grinse.

»Doch, genau den meine ich.«

»Wow …«, meint Jingle ehrfürchtig, während Matt irritiert auf dessen Smartphone starrt.

»Wer soll das sein?«

Sofort heimst er sich von Tatsuya einen Klapps gegen den Oberarm ein. »Kennst du ihn etwa nicht? Er veröffentlicht schon seit Jahren selbstgeschriebene Songs auf seinem YouTube Kanal und hat inzwischen eine recht große Reichweite als Influencer.«

»Als wer?«

»Oh, Bro«, meint Tatsuya kopfschüttelnd, als wäre er enttäuscht von seinem Bandleader. »Du solltest dich echt mal mehr mit den sozialen Medien befassen, sonst lebst du ewig hinterm Mond.«

Matt's Antwort ist ein Zähneknirschen. »Würde ich ja vielleicht, wenn ich nicht ständig Auftritte für uns organisieren müsste, damit wir alle unsere Miete bezahlen können.«

»Dafür hast du ja jetzt Mimi«, entgegnet Tatsuya mit einem breiten Grinsen in meine Richtung, das ich unsicher erwidere. Er sollte Matt besser nicht noch weiter reizen. Er ist eh nicht bester Laune und ich habe Sorge, dass er Jin von vornherein ablehnen könnte, weil er ihn als Konkurrenz sieht. Auch ich habe mir einige YouTube Videos von ihm angesehen und er hat wirklich Talent. Daraufhin habe ich ihn angeschrieben und ihn gefragt, ob er Interesse an einem Casting für eine Band hätte. Zu meiner Verwunderung hat er sofort zugesagt.

Wir verstummen alle kurz, als hinter uns die Tür auf geht. Jingle dreht sich vorsichtig um, nur um sich dann umso schneller wieder abzuwenden und meine Hand zu drücken.

»Ich kann's nicht fassen, dass er wirklich gekommen ist. Wie hast du das nur geschafft, Mimi?«

Ich schenke ihm ein nervöses Lächeln und gleich daraufhin betritt Jin auch schon die Bühne. Er hat eine Akustik Gitarre mitgebracht und winkt uns zur Begrüßung zu.

»Hi, ich bin Jin.«

»Das wissen wir!«, platzt es viel zu schnell und viel zu laut aus Jingle raus und beinahe wäre er von seinem Sitz aufgesprungen. Beruhigend lege ich ihm eine Hand aufs Bein.

»Hallo, Jin. Schön, dass du gekommen bist. Wir würden uns freuen, wenn du uns was vorspielen würdest, damit wir einen Eindruck davon bekommen, was so deine Stilrichtung ist.«

»Nicht, dass das nötig wäre …«, quatscht Jingle erneut völlig überdreht dazwischen, woraufhin er einen bösen Blick von Matt erntet und sich dann schnell eine Hand vor den Mund legt. Gott, wenn das weiter so geht, wird Matt ihn aus Prinzip ablehnen. Und Jingle wird er gleich erwürgen.

Jin stimmt einen Song an und ich erkenne ihn sofort, nach den ersten Zeilen. Er spielt »Someday« von One Republic und er macht es zu einer wunderschönen Akustik Version. Seine Stimme ist sanft und gefühlvoll, ähnlich wie die von Matt, wenn er singt, nur nicht ganz so rau. Aber dennoch einprägsam. Ich kann verstehen, warum Jingle ein Fan von ihm ist.

Er spielt sogar das komplette Lied durch, obwohl seine Vorgänger meist schon nach dem ersten Refrain aufgehört haben. Seine Finger gleiten so gekonnt über die Gitarre, als hätte er nie was anderes getan und als er fertig ist, fühle ich mich ein bisschen glückselig.

Ich denke, wir haben unser neuestes Mitglied gefunden - vorausgesetzt die anderen sind damit einverstanden. Doch nach Matts Blick zu urteilen, der nun hart auf meinen trifft und so gar nicht voller Begeisterung steckt, irre ich mich da gewaltig.

»Willst du mich verarschen?«, flüstert er mir zu, so dass die anderen und Jin es nicht hören. Ich zucke leicht mit den Schultern, weil ich nicht so ganz weiß, was ihn gestört hat. Jin's Auftritt war nahezu perfekt. Ein Wunder, dass er noch keinen Plattenvertrag hat. Unauffällig lehne ich mich näher zu Matt rüber.

»Was ist dein Problem? Er ist perfekt«, flüstere ich hinter hervorgehaltener Hand.

»Perfekter als ich? Willst du das damit sagen? Willst du mich durch ihn ersetzen?«

Fassungslos sehe ich ihn an. »Niemals! Was denkst du bitte von mir?«

»Trotzdem. Das ist nicht unser Stil. Er passt nicht zu uns.«

»Passt er nicht zu uns oder passt er nicht zu dir?«, erwidere ich zunehmend wütend über sein abweisendes Verhalten. »Wie es mir scheint, sind alle anderen recht angetan von ihm.«

Matts Blick wandert zu seinen Bandkollegen, deren Gesichter eine andere Sprache sprechen als seins.

»Lass mich raten«, meine ich nun fast schon beleidigt. »Es ist völlig egal, wer durch diese Tür kommt. Du boykottierst sowieso jeden von ihnen.«

»Ich bitte dich, Mimi«, zischt Matt leise. »Diese Leute waren eine Beleidigung für unsere Band.«

»Und Jin gibst du keine Chance.«

Matt kneift die Augen zusammen und ich kann deutlich sehen, wie seine Kiefer sich anspannen. Ob er es inzwischen bereut, mich eingestellt zu haben?

»Na schön, wie du willst«, lenkt er schließlich doch ein und lehnt sich in seinem Sitz zurück. »Wir haben noch einen Bewerber. Würdest du bitte hier warten, bis das Casting vorbei ist? Dann verkünden wir unsere Entscheidung«, sagt Matt nun an Jin gerichtet, was mich sichtlich überrascht. Ich spüre, dass er keinen Streit will und dass er das mehr für mich als für sich macht, aber … er könnte wirklich etwas weniger stur sein.

Frustriert puste ich die Luft aus und werfe das Klemmbrett zu Boden. Völlig egal, wer jetzt noch auf der Liste steht … es macht sowieso keinen Unterschied. Matt wird sich nie darauf einlassen.

Jin nimmt ein paar Reihen hinter uns Platz und im selben Moment geht die Tür zu dem kleinen Theatersaal auf und eilige Schritte sind zu vernehmen. Die Person rennt, als wäre sie auf der Flucht. Irritiert wende ich den Kopf und bleibe mit meinen Blicken an der jungen Frau hängen, die geradewegs auf die Bühne stürmt, als würde es hier um Leben und Tod gehen.

Ihre langen blonden Haare, die recht unordentlich geflochten sind, flattern hinter ihr her. Sie trägt eine blaue Schuluniform, sieht aber deutlich älter aus, als es den Anschein macht. Völlig perplex sehe ich sie an, weil ich total vergessen habe, dass die letzte Teilnehmerin weiblich ist. Die einzige Frau, die sich auf das Casting beworben hat. Die Jungs sehen ebenfalls verwirrt zur Bühne, während Matt die Stirn in Falten legt.

»Hey, ich bin Zoey und ich habe nicht viel Zeit. Wäre also besser, wenn wir gleich anfangen«, begrüßt sie uns und streicht hastig eine verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr.

»Wieso hast du keine Zeit?«, fragt Matt sie irritiert.

»Das ist meine Mittagspause«, antwortet sie.

»Gehst du etwa noch zur Schule?« Matt mustert sie fragend von oben bis unten, als wäre gar keine Antwort mehr nötig. »Minderjährige sind beim Casting nicht gestattet.«

»Äh … nein? Ich bin nicht minderjährig.«

»Dann läufst du also immer in Schuluniform rum?«

»Ja, ist das verboten?«

Ich muss mir das Lachen verkneifen. Sie ist ganz schön frech. Was Matt anscheinend so gar nicht gefällt. Das war klar.

»Na, schön«, unterbreche ich schließlich die kleine Unterhaltung, damit wir nicht noch mehr kostbare Zeit verlieren. »Was möchtest du singen?«

»Meine eigene Version von Wake Me Up.«

»Wir sind eine Rockband«, erklärt Matt ihr beiläufig, als wäre es nötig, sie aufzuklären. Doch Zoey zuckt nur mit den Schultern.

»Ich weiß«, sagt sie und legt das Playback in den CD Player. Sie fängt einfach an. Mutig.

Doch dann tut sie etwas, dass uns alle stutzen lässt.

Sie zieht ihre Schuhe aus. Bunte Socken kommen zum Vorschein, die überhaupt nicht zusammenpassen. Die zieht sie dann auch noch aus, bis sie schließlich Barfuß auf der Bühne steht.

»Hat sie einen Knall?«, flüstert Matt mir zu, aber ich weiß auch nicht, was ich dazu sagen soll.

»Also, ich finde die Auswahl sehr spannend. Das ist mal was Neues«, versuche ich Matt stattdessen zu begeistern, doch dieser gibt nur ein genervtes Schnauben von sich. »Ja, klar.«

Ich verdrehe die Augen. Er ist wirklich nur schwer zu beeindrucken.

Das Playback beginnt und ich bin überrascht, die sanften Töne eines Pianos zu hören. Die Musik von Avicii ist mir anders in Erinnerung geblieben. Jetzt bin ich noch gespannter auf diese ganz neue Version. Und ich werde nicht enttäuscht …

Als Zoeys Stimme den Raum flutet, halte ich kurz die Luft an. Es passiert nicht oft, dass eine Stimme direkt unter die Haut geht, aber Zoey trifft genau den richtigen Nerv. Ihre Stimmfarbe ist ganz anders als ich vermutet habe. Ich habe erwartet, dass sie wie ihr Äußeres eher zierlich, zerbrechlich und sanft ist, aber sie ist das komplette Gegenteil. Sie ist stark, sie ist rau, sie ist intensiv. Sie hat etwas souliges an sich. Und dabei singt sie so gefühlvoll, dass ich jede einzelne Zeile des Textes genau spüren kann. Er geht geradewegs durch mich hindurch und trifft mich dort, wo ich gerade am verletzlichsten bin - in mein Herz.

Ich wage es und riskiere einen Seitenblick in Matts Richtung. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt. Sein steinharter Blick haftet unentwegt an ihr und die Muskeln seiner Arme sind angespannt.

Ich grinse.

Das ist ein Unterschied zu den ganzen letzten Performances. Bei allen anderen Bewerbern war er gelangweilt, genervt und hat dies auch deutlich raushängen lassen. Zoey hört er zu - richtig zu. Wenn man ihn nicht kennen würde, würde man denken, er hasst es. Aber er hängt wie gebannt an ihren Lippen und ich sehe, was es mit ihm macht.

Es gefällt ihm.

Ein heimliches Lächeln legt sich auf meine Lippen, als ich wieder nach vorne blicke und Zoey die letzten Zeilen ihres Textes singt. Es ist unfassbar, wie mächtig ihre Stimme ist. Wie wunderbar würde sie mit Matts Stimme harmonieren.

Als sie endet ist es für eine ganze Weile totenstill unter uns. Schließlich räuspere ich mich und ergreife als Erste das Wort.

»Danke, Zoey. Das war …«

»Unglaublich«, beendet Tatsuya meinen Satz, woraufhin Matt ihn fassungslos ansieht, als wäre er ihm gerade in den Rücken gefallen.

»Ich kann auch noch was anderes singen, wenn ihr wollt. Vielleicht eine schnellere Nummer?«, meint Zoey und wirkt völlig unberührt von diesem Kompliment, als hätte sie nicht gerade unser aller Welt erschüttert.

»Das wird nicht nötig sein«, antwortet Matt viel zu schnell und richtet sich in seinem Sitz auf. Verblüfft schaue ich ihn an. »Die Entscheidung ist bereits getroffen.«

»Matt«, flüstere ich ihm zu. »Sollten wir das nicht erst mal besprechen?«

»Wozu?« Fragend sieht er mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Ich will keinen von ihnen.«

Wie vor den Kopf gestoßen klappt mir der Mund auf.

»Ich habe dieses ganze Theater nur dir zu Liebe mitgemacht, Mimi. Und jetzt ist es vorbei.«

»Matt, du kannst nicht einfach …«, setze ich an, doch Tatsuya springt bereits ein.

»Hey, Bro, wir sollten das wirklich kurz besprechen, findest du nicht? Ich finde, sie war echt gut. Sogar mehr als gut.«

Schweigend stimme ich ihm zu, auch wenn es mich wundert, das ausgerechnet von ihm zu hören, war er doch bis vorhin noch auf Matts Seite.

»Jin war aber auch gut«, mischt sich nun auch Jingle ein. Koichi hingegen hat den Kopf schief gelegt und sieht so aus, als würde er angestrengt nachdenken.

»Okay, ich sehe, wir haben alle eindeutig redebedarf«, stelle ich fest und lege eine professionelle Stimme auf, woraufhin Matt die Arme vor der Brust verschränkt und an mir vorbei marschiert.

»Schön, dann reden wir. Draußen.«

Die Jungs folgen ihrem Anführer vor die Tür, während ich mich noch kurz bei Jin und Zoey entschuldige und sie bitte, kurz auf unsere Entscheidung zu warten.

Als ich vor den Saal trete, ist bereits eine hitzige Diskussion entstanden.

»Ich verstehe nicht, warum wir überhaupt einen zusätzlichen Sänger oder Sängerin brauchen. Wir sind bis jetzt auch sehr gut ohne ein weiteres Mitglied klargekommen«, meint Matt zu den anderen und klingt dabei ziemlich vorwurfsvoll. Die anderen wirken bereits recht eingeschüchtert. Es ist, als würde er auf Tauben schießen.

»Hey, hey, was haltet ihr davon, wenn wir uns alle erst mal beruhigen?«

»Du musst zugeben, dass sie echt fantastisch gesungen hat«, meint Koichi nun etwas kleinlaut in die Runde. »Ich fand Jin besser«, sagt Jingle.

Matt zischt. »Das sagst du doch nur, weil du anscheinend sein Fan bist. Hast du dich mal gefragt, warum er überhaupt hier ist, wenn er doch selbst schon so sehr berühmt ist im Internet? Wozu braucht er dann uns? Ich kann es dir sagen: solche Typen wollen nur eins von anderen Musikern haben: ein Sprungbrett. Nichts weiter sind wir für ihn. Er hat ohne Zweifel großes Talent, wahrscheinlich mehr als wir alle zusammen - aber als Solo Künstler. Er hat anscheinend noch keine Bühnen Erfahrung und will sich an uns testen, wie das so ist. Nein, auf keinen Fall lasse ich so jemanden in die Band.«

Woah. Das war eine Ansage. Jingle sieht aus, als hätte Matt ihn gerade einen Kopf kürzer gemacht. Allerdings ist er noch nicht fertig, denn nun wendet er sich Tatsuya zu.

»Und du willst Zoey doch nur in der Band haben, weil du auf sie stehst.«

»Das äh … das stimmt doch gar nicht«, antwortet Tatsuya stotternd, als hätte man ihn ertappt. »Ich denke wirklich, dass eine weibliche Stimme eine Bereicherung für uns wäre. Denk doch nur mal an die ganzen Balladen, die ihr zusammen singen könntet. Das würden die Zuschauer lieben.«

»Seit wann tun wir das, was die Zuschauer lieben? Ich dachte, wir tun das, was wir lieben?« Matt scheint völlig außer sich zu sein, weil keiner ihn versteht. Ich atme frustriert aus, weil ich keine Ahnung habe, wie ich die Situation noch retten kann. Konfrontation?

»Ich habe genau gesehen, dass es dir gefallen hat. Sogar sehr«, fordere ich ihn heraus, woraufhin er mich empört ansieht, als hätte ich ihn gerade zutiefst beleidigt.

»So ein Schwachsinn.«

Gott, warum kann er es nicht einfach zugeben?

»Kann es sein, dass du einfach Schiss hast, dass sie dir deinen Platz in der Band wegnimmt?«, konfrontiert ihn nun auch Koichi, der anscheinend plötzlich Todessehnsucht hat.

Matt's Kopf schnellt in seine Richtung. Fassungslosigkeit gepaart mit Wut flackern in seinen Augen auf.

»Ist das dein Ernst? Sie? Das würde sie niemals schaffen.«

»Eben«, bestätige ich und lege ihm beruhigend eine Hand auf den Oberarm. »Also, warum regst du dich so auf?«, versuche ich es nun eine Spur sanfter, da Argumente anscheinend nichts bringen.

»Weil diese Idee völliger Blödsinn ist und zudem auch noch überflüssig. Wir brauchen kein neues Mitglied, dass unseren musikalischen Horizont erweitert. Wir brauchen sie nicht. Und ich bin wirklich enttäuscht von euch, dass ihr das anscheinend alle anders seht.«

Schuldbewusst sehe ich zu den Jungs. Alle schauen sich betreten an. Wir fühlen uns wahrscheinlich gerade alle, als hätten wir Matt verraten. Dabei wollte ich doch nur helfen. Und jetzt streiten einfach alle. Das kann doch nicht wahr sein.

»Wie auch immer«, meint Matt schließlich seufzend und fährt sich gestresst durch die blonden, wilden Haare. »Es bleibt dabei. Meine Entscheidung steht fest: nein zu beiden. Entweder ihr akzeptiert das oder ihr lasst es.«

Und mit diesen Worten wendet er sich von uns ab und geht.

Er geht einfach, lässt uns wie Vollidioten stehen. Und genauso fühle ich mich auch. Wie eine Vollidiotin, die ihren Job nicht richtig macht und zudem noch ihren Freund verraten hat.

Tai

Angespannt kaut Kari an ihren Fingernägeln, während wir im Auto sitzen und zu T.K. fahren.

»Warum bist du so nervös?«, frage ich sie, als wir in seine Straße einbiegen. Kari sieht nur mit starrem Blick aus dem Fenster.

»Wer?«

»Du.«

»Was?« Ihr Kopf dreht sich in meine Richtung. Sie hat mir überhaupt nicht zugehört.

»Wir können immer noch umdrehen, wenn du willst. Ich kann auch irgendwann alleine mit T.K. reden.« War wahrscheinlich eine doofe Idee gewesen, das jetzt sofort und mit Kari an meiner Seite zu klären. Ich dachte nur, dass sie gerne dabei sein möchte, da sie diesen Gedanken überhaupt erst angestoßen hat.

»Quatsch«, sagt sie lediglich und sieht dann wieder aus dem Fenster. Sie wirkt richtig verbissen und angespannt. So kenne ich sie gar nicht.

»Ihr redet momentan nicht miteinander, was?«, hake ich vorsichtig nach, während ich einen Parkplatz suche. Ehrlich gesagt ist das total ins Blaue gegriffen, aber ich vermute schon länger, dass ihr merkwürdiges Verhalten mit ihm zu tun hat. Irgendwas ist zwischen den beiden vorgefallen. Ob sie sich Mimi anvertraut hat?

»Nicht wirklich.«

Hm, okay. Meiner sonst so redseligen Schwester muss man bei diesem Thema anscheinend alles aus der Nase ziehen.

»Ist es schlimm?«

Kari schnaubt. »Schlimmer.«

»Oje«, seufze ich, parke den Wagen und drehe mich in ihre Richtung.

»Wenn du darüber reden willst …«

»Will ich nicht.«

»Okay, aber wenn du irgendwann mal …«

»Ich sagte doch nein«, fährt sie mich plötzlich an. »Lass uns das jetzt einfach schnell hinter uns bringen, wir sind schließlich wegen Sora hier.«

Ich nicke und wir steigen aus. Ist wahrscheinlich besser, wenn ich sie nicht weiter bedränge. So viel weiß ich inzwischen über Frauen - manchmal ist es besser einfach die Klappe zu halten.

Ich gehe voraus, Kari trottet dicht hinter mir her, als wolle sie sich hinter mir verstecken. Innerlich seufze ich. Keine Ahnung, warum sie überhaupt mitgegangen ist, wenn sie ihn offensichtlich gar nicht sehen will.

»Ich tue das für dich, Tai«, beantwortet sie meine unausgesprochene Frage.

Ich grinse. »Ich weiß.« Aber ich hoffe trotzdem, dass du dich irrst. Dass ihr euch beide irrt.

An der Tür angekommen, klingle ich. Es dauert nicht lang, bis T.K. uns auf macht. Ziemlich überrascht sieht er uns an.

»Tai? Kari? Was macht ihr denn hier?« Damit hat er wohl nicht gerechnet und ich nicht damit, dass er plötzlich abwehrend einen Schritt nach hinten macht, als sein Blick an mir hängen bleibt und mein Gesicht studiert, als würde er darin irgendwas suchen.

Für einen kurzen Moment sieht er etwas ängstlich aus.

»Also …?«, fragt er noch mal, nun etwas zittriger.

»Ehm, wir wollten mir dir reden, wenn das okay ist. Über Sora. Bist du allein zu Hause?«, beginne ich und prompt entspannt sich sein Gesicht wieder.

»Klar, meine Mutter ist nicht zu Hause, sie ist noch arbeiten, aber … warte mal, über Sora?« Fragend wandern seine Augen zwischen Kari und mir hin und her.

»Ja, es geht … es geht um diese eine Sache, die du mir erzählt hast«, ergreift nun Kari etwas schüchtern das Wort. »Du weißt schon, was ich meine. Ich habe Tai davon erzählt und er wollte gerne selbst mit dir darüber sprechen.«

T.K. überlegt kurz, doch dann erhellt sich sein Blick. »Oh ja, na klar, kommt rein.«

»Danke«, sage ich und trete über die Türschwelle. Wir folgen T.K. ins Wohnzimmer und während er noch schnell einige Lehrbücher vom Tisch räumt, damit es nicht so unordentlich aussieht, mustere ich ihn eingehend. Ich habe T.K. länger nicht gesehen und erst jetzt fällt mir auf, wie erwachsen er geworden ist. Er hat diesen Sommer definitiv einen Schuss gemacht, seine Schultern wirken breiter, seine Haare länger, das Gesicht kantiger. Er sieht nun noch mehr aus wie Matt. Erstaunlich, diese Ähnlichkeit.

»Also«, beginnt er, als er sich uns gegenüber setzt und uns erwartungsvoll ansieht. »Was möchtest du wissen, Tai?«

»Ich gehe davon aus, dass du über alles Bescheid weißt?«, frage ich unnötigerweise und T.K. lacht.

»Allerdings.«

»Warum lachst du?«

»Tut mir leid«, entgegnet er schulterzuckend. »Ich habe mich schon gefragt, ob du hier auftauchst und mich danach fragst.«

»Ach ja?« Ich stutze und beäuge ihn kritisch. »Wieso bist du mit so einer wichtigen Info nicht zu mir gekommen? Oder zu Matt? Du hättest es ihm erzählen können.«

T.K. hebt abwehrend die Hände. »Sorry Bro, aber da mische ich mich ungefragt nun wirklich nicht ein. Das ist dein privates Ding.«

»Du hast es Kari erzählt.«

Ich sehe, wie seine Augen kurz zu meiner Schwester huschen, die angespannt und kerzengerade neben mir sitzt. Dann sieht er wieder zu mir. »Hab ich.«

Ich schüttle den Kopf. Ich bin schließlich nicht hier, um ihn mit irgendetwas zu konfrontieren. Ich will lediglich Antworten haben.

»Sie sagt, du hast Sora gesehen?«, frage ich nun ganz direkt heraus.

T.K. nickt. »Ja, das stimmt. Ich sah sie vor längerer Zeit mit einem anderen Typen in einer Bar rum knutschen.«

Rum knutschen?

Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln. Zum einen macht sich bereits jetzt ein winzig kleiner Funken Hoffnung in mir breit, dass es wahr sein könnte, auf der anderen Seite bin ich gekränkt über diesen Betrug.

»Oh, nein, nein. Nicht, was du denkst«, unterbricht T.K. sofort mein Gedankenspiel, als er meinen steinernen Gesichtsausdruck bemerkt. »Ihr wart zu der Zeit gerade nicht zusammen, da bin ich mir ziemlich sicher. Ihr hattet diese Pause.«

»Okay«, sage ich lediglich und atme ein wenig auf. »Kannst du mir mehr darüber erzählen?«

T.K. zuckt entschuldigend mit den Schultern und legt die Stirn in Falten. »Nicht wirklich. Ich kann nicht sagen, ob sie sich schon länger kannten oder ob sie sich an dem Abend erst kennengelernt haben. Aber sie haben die Bar zusammen verlassen, so viel habe ich mitbekommen.«

»Hat sie dich nicht bemerkt?«, mischt Kari sich nun ein und T.K. sieht sie überrascht an, als hätte er nicht damit gerechnet, dass sie das Wort erhebt.

»Ich meine, hat sie nicht gesehen, dass du auch da warst und sie dabei siehst?«

»Oh, ach das meinst du. Doch, wir haben sogar kurz miteinander geredet«, antwortet T.K.

Ich runzle die Stirn. Ergibt das Sinn?

»Und weiter? Hast du dich mit dem Typen, der mit Sora dort war auch unterhalten?«, frage ich ihn.

T.K. räuspert sich und muss sich offensichtlich zwingen, seinen Blick von Kari abzuwenden und seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken. »Nein, das habe ich nicht. Ich kann dir daher auch nicht sagen, wie er heißt.«

»Hmm«, mache ich laut und überlege. Was bringt es dann? Wie soll ich jemals rausfinden, wer dieser Kerl war? Sora einfach fragen?

Ja klar, Tai. Sie wird es dir sicher sagen.

»Es muss nichts bedeuten«, reißt T.K. mich aus meinen Gedanken. Fragend sehe ich ihn an. »Ich wollte mich wie gesagt gar nicht weiter da einmischen und ich möchte auch nichts behaupten, was nicht stimmt. Ich sage dir lediglich, was ich gesehen habe. Aber vielleicht hat es überhaupt nichts zu bedeuten.«

Krampfhaft presse ich die Zähne aufeinander. Er hat recht. Wie soll ich wissen, ob es was zu bedeuten hat?

»Natürlich hat es das!«, fährt Kari dazwischen und wirkt plötzlich ganz aufgewühlt. »Das kann doch kein Zufall sein! Ihr trennt euch und plötzlich ist sie schwanger und wurde vorher wild knutschend mit einem anderen gesehen. Das hat definitiv was zu bedeuten«, redet Kari sich regelrecht in Rage und kurz glaube ich, sie wäre gleich von ihrem Platz aufgesprungen, hätte ich ihr nicht beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt.

»Lass gut sein, Kari. Das bringt nichts.«

»Weißt du wenigstens noch, wie der Kerl ausgesehen hat?«, greift sie nun T.K. an, der kurz zusammenzuckt. So aufgebracht haben wir sie anscheinend beide noch nicht erlebt.

»Was willst du damit bezwecken, Kari? Willst du ganz Tokyo nach ihm absuchen?«, frage ich sie, doch sie zischt mich nur an und sieht weiterhin T.K. herausfordernd an.

»Sag schon!«, fordert sie, woraufhin T.K. sich ein wenig aufrichtet und stark nachdenkt.

»Klar erinnere ich mich noch, wie er ausgesehen hat. Ich dachte nämlich noch, dass es eigentlich gar nicht Soras Typ ist, wenn ich mir stattdessen Tai so anschaue.« Er mustert mich von oben bis unten, mit einem zweifelnden Blick. »Er war blond, braune Augen, hatte eine Brille auf und hatte dieses typische Babyboy Face. Er sah ziemlich jung aus. Offensichtlich kein Sportler, eher so der Typ Joe, wenn ihr versteht, was ich meine. Also das komplette Gegenteil von Tai.«

Ich werte das mal als Kompliment, aber auch das bringt uns kein Stück weiter. Wir suchen die Nadel im Heuhaufen. Diese Beschreibung könnte auf jeden blonden Typen mit Brille zutreffen, der da draußen rum läuft. Sollte es nicht irgendeine glückliche Fügung des Schicksals geben, werden wir diesen Kerl NIEMALS finden - so viel steht fest.

Und selbst wenn - würde er sich überhaupt noch an Sora erinnern? Wenn ja, würde er es abstreiten oder zugeben?

Egal.

Das sind alles Fragen, die mir nie jemand beantworten wird. Dieser Besuch bei T.K. hat unsere Zeit verschwendet.

»Danke, das reicht wohl«, sage ich dennoch an T.K. gerichtet, da er sich die Zeit genommen und mir alles erzählt hat, was er weiß. »Ich denke, wir können wieder gehen, Kari.«

Noch ehe Kari widersprechen kann, stehe ich auf und gehe zur Tür.

»Aber Tai …«, höre ich sie trotzdem hinter mir, doch weiter kommt sie nicht, da T.K. ebenfalls mit uns aufgesprungen ist und ihr nun hinterher läuft.

»Kari, warte mal.«

»Was denn?«

Erwartungsvoll drehe auch ich mich um, obwohl meine Hand schon auf der Türklinke liegt.

T.K. sieht plötzlich ein wenig nervös aus. Er kratzt sich am Hinterkopf und hat Probleme, ihr überhaupt in die Augen zu sehen.

Okay, ich nehme alles zurück, was ich vorhin über ihn gedacht habe. Er mag zwar äußerlich gewachsen sein, aber innerlich ist er immer noch ein kleiner Junge.

»Können wir uns bald mal treffen? Nur wir zwei?«

Herrje. Der stammelt sich vielleicht einen zurecht.

Selbst Kari stutzt. »Ähm … vielleicht.« Das ist alles, was sie sagt, dann dreht sie sich um und geht noch vor mir aus der Tür, die ich ihr bereitwillig aufhalte. T.K. lässt sie einfach stehen.

»Okay, ich ruf dich an!«, ruft er ihr noch hinterher, aber sie marschiert einfach weiter. Ich schließe die Tür hinter mir und folge ihr schnellen Schrittes. Sie flüchtet ja förmlich von diesem Haus.

»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, frage ich sie, ehe sie abrupt stehen bleibt und sich wütend zu mir umdreht.

»Du willst aufgeben.« Vorwurf schwingt in ihrer Stimme mit.

»Was?«

»Wofür sind wir überhaupt hergekommen, wenn du jetzt schon das Handtuch werfen willst?«

Mir entweicht ein tiefer Seufzer und ich fahre mir durchs Haar. »Du hast doch gehört, dass er im Grunde genommen überhaupt nichts weiß.«

»Aber das stimmt nicht.«

»Kari«, lache ich nun fast schon auf, weil ich nicht weiß, an welchem Strohhalm sie sich gerade klammert. »Es ist vorbei, bevor es angefangen hat. Ja, okay, Sora hatte was mit einem anderen. Und ja, vielleicht ist an der Sache mehr dran, als es den Anschein macht. Vielleicht hat sie mich monatelang belogen und das Kind ist nicht von mir. Aber ich denke nicht, dass sie es mir sagen würde, wenn ich sie danach frage und das tue ich auch nicht. Und diesen Typen, diese Beschreibung … tut mir leid, aber denkst du ernsthaft, dass uns das irgendwie weiter bringt?«

Stur sieht Kari mich an und ballt die Hände zu Fäusten. Ihre Wangen sind vor Erregung gerötet und sie sieht aus, als müsste sie dringend auf irgendetwas einschlagen.

Ich hoffe, dass ich das nicht bin. Dann soll sie lieber zurück zu T.K. gehen und da ihre Wut rauslassen - der scheint es ja offensichtlich verdient zu haben, warum auch immer.

»Du bist ein Idiot«, wirft sie mir nun zornig an den Kopf. »Genauso wie T.K.«

Dann stampft sie davon in Richtung Auto. Ich bleibe noch einen Moment stehen und atme tief durch. Ich kann sie ja verstehen. Ich hatte mir auch mehr von diesem Gespräch erhofft, aber … uns waren und sind immer noch die Hände gebunden.

Egal, wie groß die Zweifel gegenüber Sora nun sind - und sie haben sich soeben noch ein mal verstärkt - wir können absolut nichts tun. Den Typen werden wir niemals finden und sie würde es nicht zugeben, wenn da was dran wäre. Die einzige Chance, die ich habe, ist ein Vaterschaftstest nach der Geburt. Und bis dahin werde ich gezwungen sein, mich mit der Vaterrolle abzufinden, die mir bald schon bevorsteht.

Mimi

Nun habe ich schon drei Mal geklingelt und er macht mir immer noch nicht die Tür auf.

Wenn er denkt, dass ich so leicht aufgebe, hat er sich geschnitten.

Sein Abgang nach dem Casting vor ein paar Tagen war bühnenreif. Matt ist einfach so eine Diva.

Seitdem reagiert er auf keine Anrufe oder Nachrichten, nicht mal auf die von den Jungs. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Matt so nachtragend sein kann. Heute Abend hat die Band einen Auftritt und so langsam werden alle unruhig, ob ihr Sänger und Gitarrist sie im Stich lässt. Deshalb habe ich mich, aufopferungsvoll wie ich bin, bereit erklärt, in die Höhle des Löwen zu gehen.

Und weil es mein Job ist, die Angelegenheit zu klären.

Ja, vor allem ist es jetzt mein Job, deshalb versuche ich mich, professionell zu verhalten.

»Mach endlich die Tür auf, ich weiß genau, dass du zu Hause bist, du dummer Ignorant«, brülle ich wütend wie eine Furie und hämmere gegen Matt's Tür.

So viel zum Thema Professionalität.

Wenn dieser Kerl nicht endlich auf macht, dann werde ich …

Ich bin drauf und dran, mit dem Fuß gegen die Tür zu treten, doch in dem Moment, als ich die Hand hebe, öffnet sie sich tatsächlich.

»Bist du völlig durchgedreht, hier so rum zu schreien?«

Ich lasse meine Hand wieder sinken und sehe Matt erbost an.

»Dann solltest du mich vielleicht in Zukunft besser nicht mehr ignorieren«, antworte ich anstatt einer Begrüßung und drücke mich, ohne zu Fragen, an ihm vorbei in die Wohnung.

»Wie siehst du eigentlich aus?«, kommentiere ich sein Outfit, was aus einem abgenutzten Shirt und einer dreckigen Jogginghose besteht. »Warst du seit Tagen nicht mehr vor der Tür? Du siehst aus wie ein Landstreicher.«

Matt zischt und zieht eine Augenbraue in die Höhe. »Wer benutzt denn heute noch das Wort Landstreicher? Kommst du aus dem Mittelalter? Und nein, ich habe einfach meiner kreativen Ader freien Lauf gelassen und an ein paar neuen Songs geschrieben. Wie gut, wenn man seine Wut in etwas Positives verwandeln kann«, erklärt mir Matt, ohne auch nur die geringste Regung von Emotion und geht in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. »Es sind Solo Stücke.«

Nun sehe ich sein fieses Grinsen über den Rand seines Wasserglases, was er gerade an seine Lippen setzt und innerhalb weniger Sekunden leert. Ich bin versucht, es ihm über den Kopf zu schütten. Eine Dusche würde ihm sicher nicht schaden.

»Ha ha, sehr witzig, Ishida«, kommentiere ich diesen fiesen Einwurf nur, während er wortlos an mir vorbei auf den Balkon geht und sich eine Zigarette ansteckt. Ich folge ihm, auch wenn ich den Gestank von Tabak schon immer gehasst habe.

»Was ist los mit dir?«, konfrontiere ich ihn. »Du verhältst dich wie eine Diva. Bist du wirklich so beleidigt?«

Keine Antwort.

Er ignoriert mich, während ich direkt neben ihm stehe und nimmt genüsslich den nächsten Zug von seinem Glimmstängel.

Dieser arrogante …

Ich beiße die Zähne zusammen.
 

Okay. Andere Taktik.
 

»Es tut mir leid, Matt«, sage ich und versuche, einen etwas versöhnlicheren Ton anzuschlagen.

»Was denn?«

»Dass ich dich mit dieser Idee so überfallen habe. Aber hätte ich vorher mit dir darüber gesprochen, hättest du es sofort abgeblockt und wärst nicht mal mit zum Casting gekommen.«

»Womit ich eine Menge Lebenszeit gespart hätte.«

Ich stöhne leise und schlage mir die Hand gegen die Stirn. »Gott … warum bist du nur so stur?«

»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«

Stutzig sehe ich ihn an, während er mich immer noch keines Blickes würdigt. »Was soll das denn jetzt bitte heißen?«

»Ich frage mich nur, warum du so versessen darauf bist, mir meinen Platz in der Band streitig zu machen, das ist alles.«

»Oh lieber Gott, Matt«, entgegne ich verständnislos. »Niemand will dir deinen Platz streitig machen. Du hast die Band gegründet und du wirst immer der Frontmann bleiben. Immer der Gitarrist. Immer der Liedsänger. Ich dachte nur … Nein, ich bin überzeugt davon, dass eine weitere Stimme eure Musik um so vieles bereichern könnte. Vor allem, wenn es so eine Stimme ist, wie Zoey sie hat. Sie könnte der Funken sein, der euch zum großen Erfolg fehlt.«

Matt pustet den Qualm aus und wendet sich mir dann zu. Das erste Mal sieht er mir nun direkt in die Augen und ich erkenne vor allem eins darin: Zweifel.

Aber woran? An mir? An meinem Urteilsvermögen, weil ich keine Erfahrung im Musikbusiness habe? An der Band? An sich selbst? Was ist es, das ihn so quält?

»Mimi, weißt du, was mit Bands passiert, in denen eine Frau hinzukommt und dann auch noch als Sängerin?«

Irritiert sehe ich ihn an, weil ich keine Ahnung habe, worauf er hinaus will.

»Sie übernimmt die Band. Sie wird die Frontfrau. Sie wird alle Blicke auf sich ziehen. Es ist ihre Stimme, die die Leute hören wollen, nicht meine. Sie wird im Mittelpunkt stehen. Sie wird sich von uns allen abheben, weil sie eben nun mal eine Frau ist und wir dann nur ihr Beiwerk. Weil sie fantastisch singen kann.«

Ich kann es nicht verhindern, dass meine Mundwinkel leicht zucken, bei diesem Geständnis.

»Also hat dir ihr Auftritt doch gefallen«, stelle ich triumphierend fest, woraufhin Matt ein Zischen von sich gibt, als wäre das nicht offensichtlich gewesen.

»Ich habe keine Tomaten auf den Ohren, Mimi. Natürlich war sie grandios.«

Ich kann mir denken, wie viel Kraft ihn das kostet, sich das einzugestehen und dann auch noch vor mir.

»Aber sie ist so gut … wozu braucht sie uns? Ehe wir uns versehen, würden wir alle in den Hintergrund rücken und sie würde die Bühne rocken. Die Leute würden nur noch sie sehen.«

Ist es das, was er will? Gesehen werden?

»Ich möchte, dass meine Songs bei den Menschen ankommen und ich möchte derjenige sein, der sie zu ihnen trägt. Für mich hat es keinen Wert, all diese Texte zu schreiben, wenn sie am Ende jemand anderes singt.«

Okay, das ist ein Argument. Eines, dass ich sehr gut verstehen kann.

»Hey, nun hör mir mal zu«, sage ich sanft, greife nach seiner freien Hand und drücke sie leicht, während ich ihm in die Augen sehe. »Es war nie geplant gewesen, dich durch irgendwen zu ersetzen oder dass eine andere Person deine Songs singt. So was würde ich mir niemals anmaßen, selbst als eure Managerin nicht. Ich bin ausschließlich an eurem Erfolg interessiert. Und ich weiß einfach, dass ihr ihn haben könntet. Ihr seid so so gut. Euch fehlt nur noch das gewisse Etwas. Was hältst du von einem Kompromiss?«

Matt drückt die Zigarette im Aschenbecher aus und verschränkt dann die Arme vor der Brust, nur, um mich mit hochgezogener Augenbraue zu mustern.

»Und wie soll der aussehen?«

»Du singst ein Lied mit ihr, heute Abend, bei eurem Auftritt.«

Matt schnappt hörbar nach Luft. »Aber Mimi, wir haben gar nicht mit ihr geprobt und außerdem …«

Ich winke eilig ab, damit er mich ausreden lässt. »Ein Lied«, wiederhole ich. »Heute Abend. Vor Publikum. Ihr habt vorher noch eine Stunde Zeit, um es einzuproben. Es ist keine große Sache. Ihr macht es ganz am Ende eures Auftritts, sozusagen als kleine Überraschung. Geht es in die Hose und sind die Leute nicht davon begeistert, werde ich diese Idee nie wieder ansprechen und ihr bleibt für immer eine Vier-Mann-Band. Versprochen.« Wie zum Schwur hebe ich zwei Finger in die Luft. »Aber wenn es ihnen gefällt und vor allem, wenn es dir gefällt …«

» … was sicher nicht passieren wird.«

» … dann lässt du dich zumindest darauf ein, es mit Zoey zu versuchen. Ich meine, letztendlich kannst du sie jederzeit wieder rausschmeißen. Du bist der Chef.«

Matt legt den Kopf schief und fährt sich mit der Hand seufzend über den Nacken. Nach einer Weile sieht er mich an.

»Du bist echt unmöglich, weißt du das?«, sagt er, aber ich sehe genau, wie seine Mundwinkel zucken.

»Sehe ich da etwa den Anflug eines Lächelns?«, entgegne ich breit grinsend, woraufhin auch Matt sich nicht mehr unter Kontrolle hat und endlich lächelt. Schön, so versöhnlich gefällt er mir viel besser.

»Okay, hast mich überredet. Aber wenn das mit uns nicht funktioniert, wirst du mich nicht länger damit nerven.«

»Juhu!« Ich klatsche wie ein kleines Kind in die Hände und mache einen Luftsprung. Dann falle ich ihm unerwartet um den Hals. »Du wirst es nicht bereuen.«

»Okay, ist ja gut, halte gefälligst Abstand, du erdrückst mich!«

Schnell lasse ich ihn wieder los und rümpfe die Nase. »Ist kein Problem, du müffelst echt. Wie wär's mit einer Dusche?« Demonstrativ wedle ich mit der Hand vor meiner Nase rum.

Matt grinst. »Hatte ich eh vor. Kommst du mit?«

Ich rolle mit den Augen. »Wir hatten eine Abmachung, schon vergessen?«

»Nein, aber würde ich gern.« Sein Grinsen wird noch breiter, woraufhin ich ihm einen Tritt gebe, damit er endlich rein geht. Als er drin ist, atme ich noch mal tief durch. Gott, ich hoffe, dass meine Bemühungen nicht umsonst waren …
 

Später am Abend bin ich natürlich die Erste von uns, die im Club ist. Als Managerin der Band nehme ich meinen Job sehr ernst und schaue, ob das Equipment vor Ort und ob auch sonst alles da ist, was die Jungs so brauchen. Außerdem besorge ich noch ein paar Snacks und Getränke, die ich hinter die Bühne in den Proberaum bringe. Als die Jungs gemeinsam den Raum betreten, staunen sie nicht schlecht. Tatsuya gibt ein anerkennendes Pfeifen von sich, als sein Blick auf die bunte Platte mit den vielen Köstlichkeiten fällt.

»Wow, nicht schlecht, Mimi. Wir wurden noch nie wie Könige behandelt, kurz vor einem Auftritt.«

Ich schenke ihm ein zufriedenes Lächeln und verkreuze dabei die Hände hinter dem Rücken. »Ich möchte nur, dass ihr euch so wohl wie möglich fühlt.«

»Warum haben wir sie nicht früher engagiert?«, lacht Koichi, als er sich eine der gekühlten Coladosen greift und diese mit einem Zischen öffnet.

Matt stellt seinen Gitarrenkoffer ab. »Und? Wo ist sie?«

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr und öffne zeitgleich den Mund, um ihm zu sagen, dass Zoey jeden Moment hier sein müsste. Als auch schon ein Poltern von draußen zu hören ist. Wie auf Kommando stürmt eine Sekunde später Zoey durch die Tür des Proberaums, völlig außer Atem, offensichtlich hierher gerannt.

Gott, ist dieses Mädchen denn eigentlich immer in Eile?

»Da bin ich«, verkündet sie schwer atmend, als wüsste sie, dass Matt eben bereits nach ihr gefragt hat. Dieser zieht jedoch nur eine Augenbraue in die Höhe und mustert sie auffallend.

»Schön und du hast sogar deine Schuluniform zu Hause gelassen«, kommentiert er ihr Outfit, was aus einem kurzen, schwarzen Rock, Stiefeln und einem einfachen Top besteht. Ihr langes, blondes Haar, trägt sie diesmal offen. Nicht übertrieben aufgestylt, aber völlig ausreichend für einen Auftritt mit einer Rockband. »Darfst du hier überhaupt schon rein?«, will Matt wissen und klingt dabei äußerst skeptisch.

Zoey stemmt sofort die Hände in die Hüfte und wirft ihm einen missbilligenden Blick zu, als hätte er sie eben beleidigt.

»Ich sagte doch, dass ich keine Schülerin mehr bin.«

»Und wieso bist du dann neulich zum Vorsingen in einer Schuluniform aufgetaucht?«, bohrt er weiter, anstatt ihr einfach zu glauben. Ich seufze innerlich. Warum ist er so verbissen darauf, irgendetwas an ihr zu finden, das nicht geht?

»Na, weil ich gerade aus der Schule kam. Warum sollte ich sonst so rumlaufen?«, entgegnet Zoey, woraufhin Matt sie noch verwirrter ansieht.

»Aber du sagtest doch eben …«

»Dass ich keine Schülerin bin, richtig. Aber manchmal tue ich so, das ist doch nicht verboten, oder?« Zoey guckt in die Runde, als wäre diese Erklärung völlig logisch und normal, allerdings habe ich das Gefühl, dass bei diesem Mädchen so gar nix normal ist. Um ehrlich zu sein, denke ich sogar, dass sie eine kleine Schraube locker hat. Was sie für mich nur noch interessanter macht.

»Keine Sorge, Matt«, mische ich mich nun doch ein. »Ich habe ihr Profil gecheckt. Sie ist bereits 22.«

Mürrisch murmelt er irgendetwas vor sich hin, was von uns allen hier keiner so richtig versteht. Dann wendet er sich seinem Gitarrenkoffer zu, öffnet ihn und holt seine Gitarre raus, um sich mit ihm auf dem einzigen Sofa zu setzen, das dieser Raum hergibt.

»Also?«, beginnt er. »Ich habe gehört, wir singen heute zum Abschluss einen Song zusammen. Welcher wäre das?«

»Cold Heart«, antworte ich, weil ich es bin, die den Song für die beiden ausgesucht hat.

»Ernsthaft?«

»Was hast du gegen Elton John?«, kommt es sofort von Jingle, der offensichtlich einen etwas anderen Musikgeschmack als Matt hat.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich dachte, der Titel passt ganz gut zu dir«, sage ich räuspernd, während die anderen Jungs kurz drauf los lachen, jedoch sofort wieder verstummen, als sie Matts Blick trifft.

»Na, schön«, entgegnet dieser schließlich, allerdings deutlich genervt. »Alles, was du willst, Prinzessin.«

Zufrieden grinse ich. »Ich lasse euch dann mal alleine. Enttäuscht mich nicht.« Ich schenke Zoey ein Augenzwinkern und sie lächelt mich zuversichtlich an. Man, jede andere wäre wahrscheinlich schon wieder rückwärts aus dem Raum gerannt. Bei Matt's offensichtlicher Abneigung wundert es mich wirklich, dass sie noch hier ist. Sie hat diese Abneigung bereits beim Probesingen zu spüren bekommen. Aber als ich sie dann doch anrief und sie um diesen Gefallen gebeten habe, hat sie sofort zugestimmt, was mich ziemlich überrascht hat. Entweder es ist ihr völlig egal, was Matt von ihr hält oder sie will ihm eins auswischen und ihn beim Auftritt nachher blamieren. Aber dann wäre sie eh raus aus der Nummer. So oder so, jeder würde heute Abend das bekommen, was er wollte - ich hoffe, das trifft letztendlich auch auf Matt zu. Denn nur für ihn mache ich das hier alles …
 

Es vergeht noch eine weitere Stunde, bis der Auftritt endlich beginnt. Wahrscheinlich wartet Zoey hinter der Bühne auf ihren Einsatz, denn sie ist nicht mehr nach vorne zu mir an die Bar gekommen. Ob sie nervös ist? Ich weiß, dass sie nicht wirklich Bühnenerfahrung hat.

Die Jungs spielen ihre Songs und man merkt ihnen an, dass sie Profis sind. Wenn ich so an den ersten Auftritt zurück denke, bei dem ich live dabei war, muss ich grinsen. Denn inzwischen betrachte ich alles mit anderen Augen. Damals war es einfach nur Musik für mich gewesen. Es war schön, Matt auf der Bühne zu sehen. Aber jetzt schaue ich mir seine Auftritte aus einer anderen Perspektive an. Ich beobachte genau, wie das Publikum sich bei jedem einzelnen Song verhält, wie die Begeisterung ist, ob sie zunimmt oder abnimmt. Ich habe im Blick, ob auch keiner von den Jungs seinen Einsatz verpasst und ich kenne die Playlist auswendig und weiß genau, welches Lied als nächstes gespielt wird.

Zufrieden lächelnd sitze ich etwas weiter hinten mit einem Cocktail an der Bar und schaue der Band dabei zu, wie sie ihr Bestes gibt - nicht, ohne auch ein bisschen stolz zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal zugeben würde, aber … dieser Job macht mir wirklich Spaß. Es ist, als hätte ich endlich eine sinnvolle Aufgabe für mich gefunden. Ein Organisationstalent war ich schon immer, nur hätte ich nie gedacht, dass ich das mal zu meinem Beruf machen könnte. Und dass ausgerechnet Matt derjenige sein wird, der mich auf diese Spur bringt. Oder besser gesagt … Tai. Denn eigentlich war das alles hier seine Idee.

Das Puplikum applaudiert, als der Song endet und ich weiß, wir sind nun noch zwei Lieder vom letzten Song entfernt, bei dem Zoey mit dazu stoßen wird.

Hippelig wie ein kleines Kind vor Weihnachten, rutsche ich auf meinem Barhocker hin und her.

Scheiße, bin ich aufgeregt. Hoffentlich geht alles gut.

Während ich die Hände falte und mich schon jetzt auf das Duett freue, bemerke ich erst gar nicht, wie sich jemand neben mich stellt.

Erst, als derjenige »Ein Bier, bitte« in Richtung des Barkeepers sagt, erkenne ich die Stimme. Sofort erwacht jede einzelne Zelle in mir zum Leben und ein aufgeregtes Kribbeln macht sich in meiner Magengegend breit, als ich den Kopf drehe und direkt in Tais Augen schaue …

Tai

Meine Schwester verachtet mich förmlich, seit wir zusammen bei T.K. waren und ich dort beschlossen habe, nichts weiter gegen diese Anschuldigungen Sora gegenüber zu unternehmen, denn ich kann sie weder widerlegen, noch beweisen.

Kari versteht das nicht. Sie beharrt darauf, dass ich Sora zur Rede stellen soll. Wie auch jetzt wieder.

»Aber das ist nicht so einfach«, flüstere ich ins Handy und drücke es mir noch dichter ans Ohr, aus Sorge, Sora könnte uns hören. Ich sitze mit einer Tasse Kaffee in ihrer Küche und schlage die Beine übereinander, während Kari mir die Hölle heiß macht.

»Was ist daran so schwer? Du sagst einfach: hey Sora, hast du mich mit einem blonden Nerd betrogen und ist das Kind von ihm?«

Zweifelnd runzle ich die Stirn. »So würdest du es sagen? Tatsächlich?«

»Na ja also … natürlich mit ein bisschen mehr Feingefühl. Was ich damit sagen will: du musst ihr unbedingt auf den Zahn fühlen.«

Ich seufze. Warum versteht sie es nicht?

»Kari, ich denke, wir sind alle besser dran, wenn wir abwarten, bis das Kind da ist. Dann kann ich einen Test veranlassen« So lange ist das ja nicht mehr. Mein Magen dreht sich um.

Ich höre Kari am anderen Ende der Leitung zischen, doch ich lasse mich da nicht beirren.

»Im Moment sind mir die Hände gebunden«, flüstere ich und es zerreißt mich innerlich. Natürlich will ich genauso wie sie endlich die Wahrheit wissen. Aber Sora ahnt von alledem nichts. Sie weiß nicht, was ich weiß und dabei soll es erst mal bleiben. Ich habe so gut wie keine Chance ihr etwas zu beweisen. Momentan kann ich einfach nur abwarten, was geschieht.

»Wie läuft's in der Schule?«, frage ich nun und schlage einen etwas normaleren Ton an.

»Gut«, knurrt Kari, die offenbar nicht begeistert vom Themawechsel ist.

»Mama und Papa kommen nächste Woche wieder nach Hause, dann kannst du bei Mimi ausziehen.«

»Zu schade. Ich habe mich schon daran gewöhnt, mit ihr zusammen zu wohnen.«

»Kann ich mir vorstellen«, lächle ich und komme nicht umhin, eifersüchtig auf meine kleine Schwester zu sein. Sie darf das Mädchen, dass ich liebe, jeden Tag sehen. Mit ihr zusammen wohnen. Wie gerne wäre ich an ihrer Stelle. Es fällt mir so schwer, sie nicht zu sehen, dass die Sehnsucht mich beinahe schon auffrisst - von innen nach außen. Zumindest fühlt es sich so an.

Ich schlucke schwer. »Trotzdem ist es gut, wenn Mimi bald wieder etwas mehr Freiraum hat. Ist sicher eng zu zweit in ihrer kleinen Wohnung.«

»Es geht schon. Morgens im Bad ist es immer etwas hektisch, aber das kriegen wir hin. Und sonst ist Mimi eher selten zu Hause. Meistens nimmt sie ihren Laptop mit nach draußen und arbeitet von irgendeinem Café aus.«

Wie schön, Mimi scheint ihr neuer Job ziemlich gut zu gefallen. Ich bin wirklich froh, dass Matt meine Idee, sie könnte als Managerin für ihn arbeiten, offensichtlich genauso gut fand wie ich. Ich hoffe, sie hat endlich etwas gefunden, dass ihr Spaß macht.

»Na gut«, räuspere ich mich und tue so, als würde mich diese kleine Info so gar nicht berühren. »Ich ruf dich morgen wieder an. Sei brav, kleine Schwester.«

»Bin ich doch immer«, lacht Kari und wir legen beide auf.

Kurz hänge ich noch meinen Gedanken an Mimi hinterher, doch ich komme nicht dazu, mich darin zu verlieren, denn Sora betritt wenige Minuten später die Küche.

»Mit wem hast du telefoniert?«, fragt sie ganz beiläufig, während sie sich eine Tasse Kaffee einschenkt.

»Mit Kari.«

»Oh, geht es ihr gut?«

Ich nicke. »Ja, unsere Eltern kommen nächste Woche wieder, dann wird sie wieder nach Hause ziehen. Das ist wohl für alle das Beste, denke ich.«

Sora setzt sich mir gegenüber und ich drehe meine Tasse hin und her, weil ich nicht weiß, über was wir reden sollen. Das ist in letzter Zeit oft so. Entweder wir reden über das Baby und planen Dinge, oder wir reden gar nicht. Sie gibt sich Mühe, aber auch sie spürt die Distanz.

»Ich werde nachher zu Matt fahren«, beschließe ich kurzerhand. Sora sieht von ihrer Kaffeetasse auf.

»So? Wollen wir nicht lieber noch ein paar Besorgungen für das Baby machen?«

»Das haben wir doch schon gestern gemacht. Und den Tag davor. Und den Tag davor.«

»Na ja, aber es fehlen immer noch einige Dinge von unserer Liste.«

Ich atme tief durch. »Wirklich Sora. Ich habe Matt in letzter Zeit so gut wie nicht gesehen und ich brauche dringend mal eine Pause von der Uni und von diesem ganzen Babykram.«

Sofort zuckt Sora zurück und sieht sichtlich verletzt aus. Schnell winke ich ab und versuche einen Kompromiss zu finden.

»Aber wir können das ja morgen erledigen, wenn es dir so wichtig ist«, sage ich versöhnlich, woraufhin sie nur schwach grinst. Schließlich nickt sie. »Okay, wenn du das sagst.«

Richtig überzeugt klingt sie nicht, aber ich muss dringend mal raus hier und tief durchatmen, sonst fressen sich meine Gedanken noch gegenseitig auf. Ich kann ja verstehen, dass sie viel in meiner Nähe sein möchte, aber momentan erdrückt sie mich damit.

»Ich komme nicht so spät nach Hause, versprochen.«

»Okay, Tai«, sagt sie und schenkt mir ein Lächeln. Ich trinke meine Tasse leer und mache mich gleich darauf auf den Weg zu Matt.
 

Die WG ist leer, als ich zu Hause ankomme und das erste Mal seit langem wieder frei atmen kann. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Matt zu Hause ist, um mit ihm zu reden. Ihm zu erzählen, was passiert ist. Aber er ist nicht da. In den letzten Wochen haben wir uns so wenig gesehen, dass ich gar nicht mehr weiß, was er eigentlich so treibt. Ich war nur noch für Sora da und jetzt merke ich erst, wie viel mir entgangen sein muss. Vor allem, als ich den Plan sehe, der mit einem Magneten am Kühlschrank befestigt ist und auf dem Matt's nächste Termine gelistet sind.

Es sind so viele, es müssen mindestens doppelt so viele sein, als im letzten Monat. Das ist Wahnsinn. Anscheinend ist die Band wirklich gefragt und ich komme nicht umhin, Mimi dafür verantwortlich zu machen. Ich wusste, sie ist perfekt dafür geeignet und so wie es aussieht, macht sie ihren Job wirklich gut.

Ich checke die Liste und sehe nach, ob Matt heute irgendeinen Auftritt hat und tatsächlich …

20.00 Uhr in einem Club in der Nähe. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Es ist erst Mittag. Wahrscheinlich macht er noch einige Besorgungen und kommt vorher sogar noch mal nach Hause. So oder so werde ich heute Abend zu seinem Konzert gehen, das habe ich viel zu lange nicht gemacht. Doch plötzlich stocke ich in meiner Bewegung, als ich zum Kühlschrank gehe, um mir was zu Trinken zu holen. Mimi wird auch da sein, ganz sicher sogar. Ob das eine gute Idee ist, ihr heute zu begegnen? Ich wüsste da jemanden, der absolut gar nicht begeistert davon wäre …
 

Was auch immer Matt treibt, er scheint schwer beschäftigt zu sein, denn er kommt erst drei Stunden später nach Hause.

Ungläubig bleibt er in der Tür stehen, als er mich auf dem Sofa sitzend erblickt. Er hat zwei große Einkaufstüten in der Hand.

»Bist du echt?«

»Was soll das, du Idiot?«, frage ich und klappe ein Buch zu, mit dem ich mir die Zeit vertrieben habe. Kommentarlos löst Matt sich aus seiner Starre und macht die Tür hinter sich zu. Dann geht er in die Küche, um die Einkäufe auszuräumen.

»Warst du gerade drei Stunden einkaufen?«, suche ich das Gespräch, da er mich offensichtlich zu ignorieren versucht.

»Nein«, antwortet er, während er die Milch im Kühlschrank verstaut. »Ich habe mich vorher noch mit Mimi und den Jungs im Club getroffen, um zu checken, ob alle Instrumente da sind. Danach war ich einkaufen.«

»Achso.« Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche, ganz beiläufig zu klingen. »Heißt das … Mimi ist heute Abend auch da?«

Matt hält in seiner Bewegung inne und dreht den Kopf nun leicht in meine Richtung, um mich mit einem wissenden Blick zu mustern. »Wieso? Willst du auch kommen?«

Ich zucke mit den Schultern, ganz belanglos. »Vielleicht. Mal sehen.«

»Kommt Sora dann auch mit?«, fragt Matt mich plötzlich unerwartet, während er weiter die Schränke einräumt. Anscheinend hat er einen Großeinkauf gemacht.

»Ähm, nein … die kommt nicht.«

»Okay? Warum nicht? Was ist los?«

»Was meinst du?«

Als Matt mich mit hochgezogener Augenbraue ansieht, merke ich selbst, wie bescheuert es ist, ihm jetzt noch was vormachen zu wollen. Dieser Kerl kennt mich schließlich fast mein ganzes Leben lang.

»Ich brauche nur mal etwas Freiraum, das ist alles.«

Matt schlägt die Tür vom Kühlschrank zu. »Das wundert mich nicht«, meint er tonlos, als wäre es keine super große Sache.

»Was soll das denn bitteschön heißen?«, entgegne ich leicht gereizt, weil diese Reaktion doch etwas direkt ist. Auch wenn ich das von meinem besten Freund gewöhnt bin.

»Dass ich mich schon gefragt habe, wann du aus deinem goldenen Käfig ausbrichst. Mir war klar, dass du das nicht ewig aushältst.«

»So?« Ich stehe auf, gehe zu ihm rüber und lehne mich mit dem Rücken gegen die Küchentheke, während ich die Arme vor der Brust verschränke. »Und wie kamst du zu dieser Erkenntnis?«

Matt gibt ein Zischen von sich und verdreht sogar die Augen dabei. »Ich bitte dich Tai«, sagt er halb grinsend, halb bedauernd. »Ich habe von Anfang an gewusst, dass das die falsche Entscheidung war.«

»Oh, du meinst also, mich für mein Kind zu entscheiden, war die falsche Entscheidung?«, kontere ich nun doch leicht gereizt und sehe ihn herausfordernd an.

»Nein, das habe ich nicht gemeint. Dich für dein Kind zu entscheiden, war richtig. Was anderes hätte ich nicht von dir erwartet, natürlich stehst du zu deinen Taten. Dich für Sora aufzuopfern war die falsche Entscheidung.«

Etwas irritiert sehe ich ihn an. Ich hatte bisher keine Ahnung, dass er so darüber denkt. Sonst ist er immer sehr direkt und sagt frei heraus, was ihm durch den Kopf geht, aber anscheinend hat er sich in dieser Sache zurückgehalten.

»Ich dachte …«, stammle ich, weil ich versuche, mein Verhalten irgendwie vor mir selbst zu rechtfertigen, obwohl ich inzwischen weiß, dass Matt recht hat. »Ich dachte, ich muss das jetzt einfach so machen. Dass das der einzige Weg ist.«

Meinem besten Freund entfährt ein lautes Lachen und er klopft mir zuversichtlich auf die Schulter. »Das ist ja zuckersüß von dir. Aber so funktioniert das nun mal nicht. Würde Sora dich wirklich lieben, wie sie behauptet, würde sie wollen, dass du glücklich bist.«

Ich schüttle ergeben den Kopf. »Ja, da hast du recht. Ich wollte es einfach besser machen und es nicht so aussehen lassen, als würde ich mich meiner Verantwortung entziehen wollen.«

»Hey, wir wissen alle, dass das nicht deine Art ist. Du hast es versucht. Das ist schon mehr als andere gemacht hätten. Hör auf dich selbst zu geißeln und für etwas zu bestrafen, für dass du nichts kannst.«

Ich weiß genau, was er meint …

»Ich kann's versuchen«, nicke ich und bin innerlich erleichtert, dass Matt mich versteht. »Du hättest mir früher sagen können, was du darüber denkst.«

Matt sieht mich vielsagend an, bevor er sich umdreht und sich eine wahrscheinlich noch warme Cola aus dem eben eingeräumten Kühlschrank nimmt.

»Hättest du denn auf mich gehört?«, fragt er und öffnet die Dose, dann reicht er sie mir.

Ich schüttle den Kopf, nehme die Cola aber dankend an. »Nein, vermutlich nicht.«

»Siehst du.« Er öffnet sich auch eine und verzieht das Gesicht. »Igitt, total warm.«

Ich lache. Als wäre ihm das nicht klargewesen. Dann lehnt Matt sich wie ich zurück und wirft mir einen fragenden Blick zu.

»Wo wir grad beim Thema sind. Was hältst du davon, wieder hier einzuziehen?«

Ich erwidere seinen fragenden Blick, offensichtlich genauso verwirrt wie er. »Äh? Bin ich jemals hier ausgezogen?«

»Na ja …« Matt's Augen rollen Richtung Decke. » … du warst so gut wie nie da, hast ewig nicht hier geschlafen, hast nicht eingekauft, nicht geputzt, dich nicht gemeldet …«

»Aber ich habe Miete bezahlt«, unterbreche ich ihn. Er zeigt mit dem Finger auf mich.

»Ist ein Argument. Ansonsten hast du als bester Freund und Mitbewohner kläglich versagt. Noch zwei Wochen länger und ich hätte mir einen neuen Untermieter gesucht.«

»Okay, okay, okay«, werfe ich schnell ein und schlage die Hände über dem Kopf zusammen. »Ich hab's verstanden. Und ja, diese Ohrfeige habe ich wohl verdient.«

»Mehr als das«, entgegnet Matt. In den letzten Wochen war ich ein absoluter Scheißfreund. Aber er hat recht. Mit allem.

Es war absurd zu denken, ich könnte Soras Bedürfnisse permanent über meine stellen. Selbst wenn ich das wollen würde, und ja, ich habe es versucht … es ist unmöglich ihr gerecht zu werden. Zwischen uns ist zu viel passiert. Das Verhältnis ist angespannt. Und inzwischen weiß ich gar nicht mehr, wie ich mit ihr umgehen soll. Mein Misstrauen ihr gegenüber wächst von Tag zu Tag und ich fange an zu denken, dass es wohl doch das Beste wäre, mich zeitweise von ihr zu trennen - zumindest räumlich gesehen - bis die Sache mit dem Vaterschaftstest geklärt ist. Vielleicht sollte ich wirklich wieder hier einziehen.

»Und ich bin nicht der Einzige, bei dem du dich entschuldigen solltest.«

»Oh, bitte«, sage ich leicht genervt und stelle die Dose ab, um aus der Küche zu flüchten. Aber Matt folgt mir zurück ins Wohnzimmer, wo ich mir wieder mein Buch nehme, es aufklappe und so tue, als wäre er gar nicht mehr da, während er sich direkt neben mich setzt. Seine Blicke sind bohrend. Voll unangenehm.

Als er nichts sagt, sondern mich einfach weiter anstarrt, stöhne ich auf und werfe den Kopf zurück.

»Ma-ha-tt«, sage ich gedehnt. »Ich bin noch nicht bereit dafür.«

»Findest du nicht, sie hat eine Entschuldigung von dir verdient?«

»Doch, natürlich hat sie das. Aber nicht jetzt. Ich … ich wüsste gar nicht, was ich sagen sollte.«

Und war es nicht beim letzten Mal auch so? Ich mache mit Sora Schluss, gestehe ihr meine Gefühle und dann geht alles den Bach runter? Ich habe echt keine Lust, dass sich diese Geschichte wiederholt.«

Matt stutzt. »Wieso? Hast du noch eine geschwängert?«

Ich schlage ihn hart gegen die Schulter. »Lass den Scheiß! Sie weiß längst, wie ich für sie empfinde.«

Seufzent lehnt sich Matt zurück und stützt sich mit beiden Händen ab. »Verstehe. Na ja, das musst du selbst wissen. Ich will dir da nicht rein quatschen. Ich habe nur in den letzten Wochen viel Zeit mit Mimi verbracht und sie hat deinetwegen echt gelitten.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und balle die Hand zur Faust. »Ich weiß.« Natürlich würde ich sofort die Zeit zurückdrehen, wenn ich könnte und alles ungeschehen machen. Aber das kann ich nicht. Trotzdem ist sie immer noch das Mädchen, dass ich schon immer geliebt habe und immer lieben werde.

»Na, wie du meinst«, sagt Matt schließlich und steht auf. »Falls du es dir anders überlegst, sie ist heute Abend bei unserem Auftritt mit dabei und sieht sich das Konzert an. Nur, falls du doch noch vorhast, zu kommen …« Dann verschwindet er im Badezimmer, vermutlich, um vor seinem Gig noch mal zu duschen. Kurze Zeit später höre ich, wie das Wasser rauscht, während ich immer noch wie gelähmt dasitze und in die Seiten meines Buches starre, ohne auch nur eine Zeile davon zu lesen.

Matt hat so recht, das weiß ich. Das hat er leider irgendwie immer. Aber schaffe ich das?

Der Gedanke, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit bei dem Konzert auf Mimi treffen werde, schreckt mich auf der einen Seite etwas ab, weil ich nicht weiß, wie sie inzwischen zu mir steht. Auf der anderen Seite halte ich es keine Minute länger ohne sie aus.

Gott, ich vermisse dieses Mädchen so schrecklich, dass es weh tut. Diese angestaute Sehnsucht dehnt sich wie ein Ballon in meinem Magen aus, der kurz davor ist, zu platzen.

Ich muss sie einfach sehen, ich kann gar nicht anders.
 

Der Tag zieht sich wie Kaugummi, bis es endlich 20.00 Uhr ist. Ich bin etwas später als Matt in den Club gegangen, weil er sich natürlich noch auf seinen Auftritt vorbereiten musste. Und dann war er anscheinend so beschäftigt, dass er es nicht mehr geschafft hat, vorher noch mal an die Bar zu kommen, so wie er es sonst immer tut. Er weiß gar nicht, dass ich doch noch gekommen bin, weil ich es ihm nicht gesagt habe. Ich war mir bis zur letzten Minute unsicher, ob ich wirklich gehen soll. Aber nun bin ich da. Und es gibt kein Zurück.

Bislang halte ich mich im Hintergrund und sehe, wie Mimi sich kurz vor dem Auftritt auf einen der Barhocker niederlässt. Sie lässt ihren Blick über das Publikum schweifen, kann mich aber in der Menge zum Glück nicht ausmachen, weil ich etwas abseits stehe. Sie sieht aufgeregt aus. Sie rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, wippt ständig mit ihrem Fuß und kaut sogar das ein oder andere mal an ihren Fingernägeln, während sie aufmerksam die Stimmung im Raum beobachtet. Bei ihrem Anblick muss ich unwillkürlich grinsen. Nicht, weil sie heute Abend, wie immer, zauberhaft aussieht, sondern weil sie so steif ist. So kenne ich sie noch von früher, wenn sie kurz vor einer Prüfung stand. Dann ist sie so konzentriert, dass ihr Gesicht quasi einfriert und sie mit den Gedanken genau bei dieser einen Aufgabe ist.

Mein Grinsen wird breiter. Dann wollen wir doch mal sehen, ob ich sie aus der Reserve locken kann.

Ich warte bis kurz vor dem Ende, bevor ich zu ihr rüber gehe. Sie bemerkt mich gar nicht, obwohl ich einen ganzen Song lang neben ihr stehe. Sie ist so auf den Auftritt fixiert, dass sie nichts mehr um sich herum wahrnimmt.

Ich drehe mich zum Barkeeper um und sage: »Ein Bier, bitte.«

Ihre Reaktion folgt auf der Stelle. Als hätte sie meine Stimme wachgerüttelt, dreht sie ihren Kopf in meine Richtung und sieht mich mit großen, überraschten Augen an, die mein Herz sofort höher schlagen lassen …


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich würde sagen, das hier ist mein Lieblingskapitel in der gesamten Geschichte. <3
Ich habe viel Zeit in die Recherche zu Sternen und Sternenbilder und deren Geschichte gesteckt - was wirklich Spaß gemacht hat und letztendlich hab ich eine Geschichte gefunden, die sehr gut zu Mimi und Tai passt :) Ich hoffe, es hat euch gefallen. Ich füge euch einen Link zu Tais Stern bei ;)
Stern des Orion Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Man hätte dieses Kapitel auch "Ein unmoralisches Angebot" nennen können, oder :P Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh nein... was meint ihr, was mit Mimis Vater passiert ist? Und ob Tai wohl was von diesem unmoralischen Angebot mitbekommen hat...? -.~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke für eure vielen Kommentare :) Auch wenn ich nicht immer dazu komme, auf jeden zu antworten, lese ich sie doch alle und freue mich immer sehr über euer Feedback! :* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Also wer Sora bis jetzt noch nicht gehasst hat ... :'D bitteschön. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich und meine Partyspiele... :'D Sorry not sorry! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Keine Sorge... so lasse ich euch nicht zurück :D Im nächsten Kapitel gehts genau an der Stelle weiter ;-)
Bis dann! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ok... hier ist mir ein kleiner Fauxpas passiert und bevor sich jemand beschwert... :D
Als ich die Story geschrieben habe, sagte Google mir, dass Japan das Mindestalter, bzw. die Volljährigkeit auf 18 herabsetzen will. Also habe ich Kari und Mimi fröhlich und guten Gewissens in eine Bar geschickt :D Tja, nun ist das eben doch nicht so gekommen und man darf weiterhin erst ab 20 Alkohol trinken und Bars besuchen. Ehrlicherweise hatte ich keine Lust, das ganze Kapitel noch mal umzuschreiben, und habe Kari eben ein bisschen flunkern lassen :D Vergebt mir!
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen :-* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ach, was habe ich es vermisst... :) Schön, wieder hier zu sein! <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Okay... ich weiß ehrlich nicht mehr, wie oft ich dieses Kapitel umgeschrieben habe xD Aber irgendwann muss man sich ja mal für eine Version entscheiden (vermutlich hab ich deshalb auch länger nicht hochgeladen). In der ersten Version dieses Kapitels macht Tai übrigens mit Sora schluss :D Tja, aber das hab ich wohl gestrichen, wie man sieht. Vielleicht wird es ja noch :D Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu dieser Fanfic (147)
[1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11...14]
/ 14

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Hallostern2014
2023-09-22T20:02:13+00:00 22.09.2023 22:02
Huhu Liebes ❤️

Endlich, endlich habe ich es auch geschafft 🤣🙈

Ich bin auch sauer auf Tai, da kann ich Kari 100%tig verstehen. Wie kann er nur ? Sein scheiß Pflichtgefühl, zum Teufel mit Sora. Sie kann den Heiraten die passt perfekt dorthin wo er wohnt.
Er hätte ruhig Schluss machen können. Und wie sie versucht ihn wieder für sich zu beanspruchen, die Tickt doch nicht richtig.

Ich finde das Gespräch zwischen Matt und Tai echt spannend. Matt hat mit allen Dingen recht. Ich hoffe Tai macht endlich die hübschen Augen auf und folgt seinen Herzen nicht den Kopf. Das Matt die ,, Beziehung " zwischen Tai und Mimi regeln möchte zeigt wieder wie sehr er es sich für die beiden Wünscht. Und das er im Herzen irgendwie was gut machen möchte.

Ich bin jetzt richtig gespannt was nun passiert, hoffentlich reden beiden und evtl auch mehr. Wo Tai sich nun endgültig für Mimi entscheidet. Er soll sein Herz nun sprechen lassen. Kopf aus, Herz an. Sora ist in der Sonne verschwunden 🤣

Ich freue mich auf das nächste Kapitel 😍😍😍

❤️

Von:  Linchen-86
2023-09-21T18:28:53+00:00 21.09.2023 20:28
Hallo meine Liebe 😍

Ja, es geht hier weiter... ja, mach bitte mit der alten schluss, weil sie absolut toxisch ist ...

Ich mag das Gespräch zwischen Matt und Tai. So richtige Bros eben und Matt scheint Tai auch ein wenig die Augen zu öffnen und ihn wachzurütteln und was läuft Sora ständig für das Baby?

Soviel braucht es am Anfang auch wieder nicht :D
Armer Tai... Ich frag mich wirklich wie man so leben kann, wenn man bei einer Person ist, die man hasst, wie schlimm, dass kann einen doch nur unglücklich machen.

Ich bin gespannt wie es weitergeht :)

Bei allem ;) :D
Von:  Tasha88
2023-09-20T18:43:21+00:00 20.09.2023 20:43
Hey :)
also ich glaube, Version 1 hätte mir auch gefallen :D
ach ja, irgendwie finde ich es von Tai gar nicht so falsch, dass er Sora nicht so in die Ecke drängt. muss in einer schwangerschaft auch nicht sein ... aber den Vaterschaftstest finde ich mehr als angebracht.

und dann Matt und Tai - gott, ich habe alles an dem teil geliebt. die Freundschaft ist einfach schön, aber auch schonungslos ehrlich. doch das macht es aus, oder? ;)

bin schon gespannt auf das nächste Kapitel :)

Liebe Grüße ;)
Von:  Hallostern2014
2023-08-14T20:16:18+00:00 14.08.2023 22:16
Huhu Liebes,

Endlich habe ich es geschafft das Kapitel zu lesen. Was die mal wieder mega gelungen ist 😍

Matt ist so ein richtiger Dickkopf, Diva passt da auch perfekt 🤣Er soll mal Mimi machen lassen sie weiß schon was sie macht.
Sie ist so gut in ihrem Job, Matt hat schon die richtige Wahl getroffen. Zum Glück haben beide da noch die Abmachung wenn es nach ihm gehen würde, würden beiden trotzdem ihre Affäre durchziehen. Zum Glück gibt Mimi aber da nicht nach.

Matt hat aber sorgen, dank Zoey würden noch mehr Männlichefans dazu kommen. Die Weiblichen wird Matt schon behalten und ich glaube nicht das sie die Band übernehmen wird.

Sehr gut, Matt geht auf ihren Vorschlag ein. Er wird es auch nicht bereuen. Nun wird er es auch merken das es nur Vorteile für die Band gibt wenn sie manche Lieder zusammen singen. Zoey mag ich immer mehr sie lässt sich null was von Matt gefallen. Vielleicht sollte sie mal mit Sora reden 🤣. Die wird sie zur Sonne jagen.

Jetzt bin ich gespannt wie die Band auftritt. Aber ich bin mir sicher das es gut wird. Mimi wird wohl nicht viel davon mit bekommen.

Das du auch immer an der spannste Stelle aufhören muss. Tai auch im Club. Ich glaube ich weiß warum, er ist gar nicht erst nach T.K zum Teufel gefahren sondern möchte sich ablenken. Wie gut das er auf Mimi getroffen ist. Hoffentlich reden sie auch miteinander.

Ich freue mich schon wie es weiter geht 😍
Von:  Linchen-86
2023-08-14T11:07:41+00:00 14.08.2023 13:07
Okaaaayyy, jetzt kann es also losgehen...

Find ich super. Mal sehen wie die Sängerin sich schlagen wird und ob es wirklich zu und mit der Band passt.

Matt ist so Hot, der wird sich schon behaupten können und ja ich glaube auch dass das Mädel etwas crazy ist, aber hey sonst würde sie das auch wohl kaum machen, vielleicht ist sie ja Küchenhelferin an einer Schule... Keine Ahnung was sie tut :D

Tai hat Freigang? Wie hat er es denn geschafft, seinem Hausarrest zu entfliehen? ;) oh man, sicher hat Sora ein Stick nachts bei ihm versteckt, damit sie ihn immer aufspüren kann :D

Das kann ich mir echt vorstellen. So bin auf dem aktuellen Stand, es darf weitergehen ;)
Von:  Linchen-86
2023-08-14T10:49:33+00:00 14.08.2023 12:49
Haha da hatte T.K wohl Angst, dass er gleich ein paar auf die F..... Kriegt :D

Und dann: Achsoooo... Hmm ich weiß nicht mehr wie der Kollege von Mimi aussah, aber wer weiß mit vielen Typen sich Sora getroffen hat um möglichst schnell... Na ja.. ihrem Plan auszuführen...

Tai, Gib echt nicht so schnell auf...
Vielleicht hat das Baby ja auch blonde Haare, wenn es auf die Welt kommt :D dann ist die Sache direkt klar :D
Von:  Linchen-86
2023-08-14T10:36:15+00:00 14.08.2023 12:36
Oh man,

Also erstmal fand ich das Kapitel sehr lustig :D und ja es war klar, dass Matt diese Entscheidung nicht gut heißen würde. Ich glaube er geht diesen Weg schon solange, er lässt sich da einfach nicht gerne reinreden.

Ich kann sogar verstehen, dass er den Sänger da nicht wollte, denn irgendwie wäre die Konkurrenz unter den Beiden doch zu groß und die Spannung innerhalb der Band würde sie auch nicht weiter bringen.

Eine Sängerin finde ich jedoch gut, ist was anderes und bei manchen Songs könnte das wirklich ein Vorteil sein und wenn sie dann noch ein Instrument beherrscht. Super, aber es kann auch gerne Mimi sein :D auch wenn es hier wohl eher nicht darum geht.

Mal sehen ob die Sängerin noch eine Chance bekommt und Matt sich wieder etwas beruhigt...

Bin gespannt
Von:  Tasha88
2023-08-13T19:12:39+00:00 13.08.2023 21:12
Hey :)

uh, sehr gut. Und ein fieser Cliffhänger o.o
ob Mimi sich jetzt noch auf das Duett konzentrieren kann`???
man darf wohl gespannt bleiben :)

weißt du eigentlich schon, wie viele Kaps es werden sollen?

liebe Grüße
Tabea
Antwort von:  Khaleesi26
13.08.2023 21:38
Hallöle :D

Och, na das will ich doch wohl mal hoffen, dass sie sich noch auf die Musik konzentrieren kann, wenn sie Matt schon dazu überreden musste :D Aber dass ausgerechnet Tai da auftaucht, damit hat sie wohl nicht gerechnet ;P ob er zufällig da ist... wer weiß

Nun, zu den Kapiteln... es waren ursprünglich mal 50 geplant. Aber da wir ja jetzt schon bei 51 sind, kannst du dir denken, dass daraus nichts wird :D Es werden locker noch 10-15 dazu kommen. Mir sind einfach zwischendurch immer wieder neue Wendungen eingefallen, die ich unbedingt mit einbauen wollte, obwohl ich vorher ganz genau geplottet hatte, kamen immer wieder neue Kapitel dazwischen :D aber das kennst du ja sicher.
Also ein bisschen was zu lesen habt ihr noch ;)

Liebe Grüße
Antwort von:  Tasha88
13.08.2023 21:43
ich bin echt begeistert :D
ich konnte ja in der Hormonbombe Schwangerschaft und Stillzeit gar nicht schreiben >.<

daher Respekt an dich ^^
Antwort von:  Khaleesi26
13.08.2023 21:52
Hehe, wieso nicht? Warst du zu emotional?

ich brauche das grad sehr, um dem Alltag und dem Stress ein bisschen zu entfliehen. Dann bin ich auch ausgeglichener :)
Antwort von:  Tasha88
13.08.2023 21:54
Nein. Ich konnte einfach nicht. Ich saß vor dem geöffneten Dokument ... und ... nichts. Kam kein Wort. weder aus meinem Kopf, noch auf das Papier. Daher hab ich mich in der Zeit so Dingen wie häkeln gewidmet. Du weißt, wer mich darauf gebracht hat XD
Antwort von:  Khaleesi26
13.08.2023 22:03
Ja weiß ich :D

Das kann ich SO verstehen! Mein Kopf ist manchmal wie leer gefegt, da geht nichts rein und nichts raus. Schreiben kann ich grad nur, weil ich das meiste schon vorher fertig hatte und jetzt nur noch das ein oder andere ergänzen, bzw. abändern muss. Wobei ich den großen Showdown (es gibt 2 davon) immer noch nicht fertig habe ^^*
Antwort von:  Tasha88
13.08.2023 22:43
ich freue mich auf jeden Fall, dass du wieder da bist ;)
und bei mir hat es ca 2021 wieder gerappelt - da war der kleine ~ 1 1/2 - und seitdem ... ähm XD sieh in meinen Geschcihten rein und du wirst sehen, dass es seitdem ein wenig spinnt XD
daher muss ich mir jetzt häkeln bzw stricken lassen XD
Von:  Linchen-86
2023-08-13T18:48:43+00:00 13.08.2023 20:48
Ja endlich, also auf dieses Kapitel hab ich lange gewartet... Gut blöd dass es solche Beweise der Affäre gibt... Aber hey endlich hört sie in dem Laden auf und nimmt Matts Jobangebot an
Das wird bestimmt mega und sie wird erkennen wie gut sie saß macht :)

Sora, wie nervig kann ein Mensch sein?
Geh einfach...

Und Tai, du solltest weit weg laufen... Echt Mal, wann merkst du es endlich???
Antwort von:  Khaleesi26
13.08.2023 21:01
Jaaaaa :D Du bist wieder hier! <3 I missed you!

Sora geh einfach xD
(Ich werde es ihr in deinem Namen ausrichten!)

Ja schon irgendwie scheiße, wenn es solche Beweise gibt. Wer weiß, in wessen Händen die am Ende landen o.O
Bin gespannt was du denkst, wie Mimi sich in dem Job so macht. Das gibt auf jeden Fall wieder ordentlich Zündstoff :D

Ich wünsche dir viel Spaß beim Weiterlesen <3
Von:  Linchen-86
2023-08-13T18:28:10+00:00 13.08.2023 20:28
Du bist da und ich bin da und lese *-*

Ja also... Die Nachricht war sweet. Er wird sich immer um Mimi sorgen, aber seine Moral hält ihn an Sora, die wiederum wohl von Mimi vom wahren Vater gesehen wurde... Das glaub ich wirklich. Sora ist richtig durchtrieben...

Und Matt... Der Bad Boy, ah ja, das Gespräch war überfällig und ich habe mir schon gedacht, dass das wieder passiert, aber auch in denke, dass wird nicht ewig weitergehen und früher oder später werden sie erwischt... Oh man...

Mal sehen, eins schaffe ich noch ;)


Zurück