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Des Nachts sind die Labore still

Wie Josh zu Mael fand
von

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Das Stellenangebot

Kapitel 1: Das Stellenangebot
 

Nach meinem Studium hatte ich viele Möglichkeiten. Das zu erwähnen klang vielleicht überheblich, aber verglichen mit anderen Kommilitonen, hatte ich wirklich viele Möglichkeiten. Zwar wurde meine Abschlussarbeit nicht so hoch gelobt wie die anderer Mitstreiter, aber zumindest erhielt ich von drei Unis eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Drei von den fünf Laboren taten dasselbe und von den sechs Gesprächen boten mir drei sofortige Zusagen an.
 

Vielleicht lag es an meinen Fähigkeiten in der Forschung. Oder an meinem Charisma? So schlecht sah ich nun auch nicht aus. Mein Bruder sagte, ich hätte einfach nur Glück gehabt. Wie man es nahm, ich hatte wahrscheinlich wirklich nur Glück. Die Entscheidung wohin ich nun ginge, traf ich hingegen sehr spontan. Natürlich verwies ich öffentlich dafür auf allerlei Gründe, welche wohl zutrafen wie die Lage des Labors oder die Vorzüge der Forschung statt der Lehre. Ich konnte mich oft gut rausreden ohne den wahren Grund zu nennen.
 

Nun ... der eigentliche Grund war ein Werbespot. Ich fuhr gerade mit der Tram einige Besorgungen machen, als ein Transporter vorbeifuhr. Darauf zu sehen waren glücklich wirkende Menschen verschiedener Altersgruppen, Aussehens und Ethnien. Dazu die wichtigsten Fakten zum Anwerben von Bewerbern und der Spruch: „Sie können ihre Arbeitszeiten frei wählen! Garantiert!“. Das hatte mich ziemlich beeindruckt. Passenderweise stand das Gespräch mit diesem Labor noch aus. Es war das größte der Stadt und hatte mehrere Standorte für unterschiedliche Forschungsbereiche. Die ersten Minuten im Vorstellungsgespräch verliefen gut. Schließlich durfte ich Fragen stellen. Zunächst meine Standardfragen zu Gehalt, Urlaub und Überstunden. Schließlich:
 

„Eine Frage hätte ich noch.“
 

„Bitte sehr. Nur raus damit“, scherzte der Leiter.
 

Ich lächelte charmant und beugte mich leicht vor. „Ich habe neulich Werbung ihrer Uni gesehen. Dort hieß es, ich könnte mir meine Arbeitszeiten selbst wählen. Garantiert.“
 

„Mhm“, stimmte der Leiter zu und war ganz aufmerksam.
 

Ich lehnte mich entspannt zurück. „Sind damit Gleitzeiten gemeint? Von … bis …? Oder gibt es tatsächlich die Möglichkeit, sagen wir mal… Ich möchte vorzugsweise an drei bestimmten Tagen arbeiten und das 24 Stunden oder nur Freitag bis Sonntag oder eben nur nachts?“
 

Der Leiter lachte laut auf. „Sie sind mir einer. Die Freiwählung der Arbeitszeiten bezieht sich nur auf einige Mitarbeiter in den Laboren. Jene, die im Büro tätig sind, betrifft es leider nicht. Schließlich würde es nichts bringen mitten in der Nacht den Dienst anzufangen und den Schreibtisch leer zu arbeiten. Die meisten anderen Ämter haben zu der Zeit geschlossen.“
 

„Verständlich.“
 

„Da wir Sie im Labor einsetzen würden, könnten sie wie gesagt die Zeiten selbst wählen. Sie bekommen eine Chipkarte, mit der sie sich ein- und auschecken. Die moderne Version einer Stempelkarte. Und dann können Sie ihre Zeiten so wählen, wie es ihre Arbeit und die Projekte verlangt.“
 

„Das klingt interessant. Wie kamen sie auf diese Idee?“, fragte ich.
 

„Mit den Jahren ist uns aufgefallen, dass die Mitarbeiter oft zu lange arbeiten. Bei einer großangelegten Befragung kam heraus, dass viele über die normale Arbeitszeit blieben, weil sie Projekte oder Versuchsproben nicht allein lassen konnten. Oder es käme während des eigentlichen Arbeitsschlusses zur kritischen Phase eines Experiments. Daraufhin begannen wir das neue System einzuführen und ich muss sagen, unsere Erfolge sprechen für sich.“
 

Selbst nach dem Gespräch und Tage danach gefiel mir dieses System. Auch ich hatte während des Studiums Projekte und darin wichtige Versuchsproben und Kulturen gehabt, welche sich nicht an den zeitlichen Ablauf normaler Schlaf- und Wachphasen hielten. Wenn man Pech hatte, arbeitete man drei Nächte durch und hatte dann eine Klausur.
 

Im Nachhinein fragte ich mich wirklich, wie ich das überlebt hatte.
 

Zudem konnte ich mir in diesem Labor aussuchen, ob ich die Stunden ausgezahlt bekam oder abbummeln wollte. Ja, die Entscheidung war spontan, aber ich war immer noch zufrieden damit.
 

Und um ehrlich zu sein, hatte ich nicht erwartet, es jemals in Anspruch zu nehmen…
 

„Max?“
 

„Der ist gerade bei den Proben.“
 

„Danke.“
 

Elias fand mich als ich gerade ein zeitliches Problem versuchte auszurechnen.
 

„Hey Max. Was machen die Proben?“
 

„Die sind gut. Zu gut, wenn du mich fragst“, antwortete ich noch im Rechnen vertieft.
 

„Wie können sie zu gut sein?“ Ich warf den Stift auf den Tisch und lehnte mich zurück. Gähnend strich ich über meine Augen.
 

„Weil sie unerwartet gut gedeihen. Wenn meine Prognose stimmt, dann werden sie einen Tag und 10 Stunden früher fertig.“
 

Elias ging zum Probenschrank und starrte hinein. „Wie cool! Dann wirst du vor dem Wochenende noch fertig. Ich bin schon auf deinen Bericht gespannt.“
 

„Danke dir.“
 

„Was ist? Freust du dich nicht?“
 

„Doch schon. Zumal ich am Wochenende zu einer Familienfeier muss.“
 

„Na, ist doch prima! Dann kannst du wenigstens komplett abschalten!“ Elias freute sich für mich. Ja, das tat er wirklich. Er war so ein Mensch, der sich auch bei Kleinigkeiten mit oder für andere freute. Allerdings freute es mich nicht im geringsten zu meiner Familie zu gehen. Wir hatten keinen Zoff oder so. Ich wollte einfach nicht hin. Würden die Proben planmäßig fertig werden, hätte ich den Besuch dort verkürzen können. Aber nun? Hach, manchmal nervte mich meine Pflichtbewusstheit…
 

Aber Elias brauchte nichts davon zu wissen, also griff ich auf mein bewährtes Mittel der Wahrheitsvertuschung zurück. „Ja, das ist schon cool. Aber ich muss dafür die nächsten Nächte kommen.“
 

„Oh~“
 

Elias verstand mich. Wir beide nutzten unsere Nächte lieber für andere Dinge als Arbeiten. Schlafen, zocken, einen Trinken gehen. Die Palette war breit gefächert. Jedoch klang dieses „Oh~“ nicht nach einem „Oh, verdammt, unsere Kneipennacht!“ sondern mehr nach „Oh, mein Beileid für ihren Verlust.“
 

„Was?“, fragte ich deshalb irritiert.
 

„Naja… Ich habe gehört, dass der Graf aus dem Urlaub zurück ist. Also ist es ziemlich wahrscheinlich, dass du ihm über den Weg läufst.“
 

„Echt jetzt? Der Graf?“
 

„Ja, man… Tut mir voll leid, man.“ Elias nahm es wirklich mit. Er legte mir seine Hand auf die Schulter und bemitleidete mich.
 

„Äh, ja, schon klar. Ich mein, ich kenne die Gerüchte über den Grafen, aber wer sagt denn, dass ich ihm tatsächlich über den Weg laufe? Das Labor ist riesig.“
 

„Ja, das schon, aber…“ Elias deutete auf den zweiten Probenschrank. Auch dieser war vollgestellt mit Nährschalen. „Er lagert seine Proben zurzeit bei uns.“
 

„Willst du mich verarschen? Das sind zu viele Proben für einen alleine! Wie viele Experimente macht der Typ denn?“, fragte ich völlig zurecht aus der Fassung. Normalerweise bekam man ein Fach für ein Experiment zur Verfügung gestellt. Das umfasste zehn bis zwanzig Proben, je nach Größe des Gefäßes. Aber einen ganzen Schrank?! Das waren mindestens sechzig Proben, die der Graf verwalten musste. Zu viele für ein einziges Experiment!
 

„Ich glaube, drei oder vier“, mutmaßte Elias. „Das neuste Gerücht geht ja dahin, dass er die Leitung um die Erlaubnis gebeten haben soll, bis zu zehn Experimente gleichzeitig führen zu dürfen.“
 

Mir fiel wirklich die Kinnlade runter. „Das ist zu viel! Ist der Typ Da Vinci oder was?“
 

„Vielleicht“, scherzte Elias. „Letztes Jahr hat er eine Abhandlung veröffentlich. Es war ein Zwischenergebnis seiner Forschung und ich muss zugeben, es war wirklich brillant! Aber zehn Experimente gleichzeitig, ist echter Wahnsinn. Er entwickelt sich mehr zu einem Dr. Frankenstein als einem Da Vinci.“
 

„Bist du sicher, das Gerücht ist glaubhaft?“, insistierte ich.
 

„Schon. Manuel hat es von Maria und die hat mit Eva zusammen genau gehört, wie die Sekretärinnen gesagt hätten „zehn Experimente sind zu viel“.“
 

„Uuund der Rest des Gespräches?“ Ich hob fragend beide Augenbrauen. Elias zuckte mit den Schultern.
 

„Mehr hätten sie wohl nicht lauschen können. Und keiner hat nachgefragt.“
 

„Findest du das dann nicht etwas dürftig für ein Gerücht?“
 

Elias lachte nur. „Du wieder! Es ist ein Gerücht, Max, ok? Da ist es egal, ob es valide oder signifikant nachgewiesen werden kann. Der Graf gilt eh schon als Hauptgesprächsobjekt und mal ehrlich. Wenn du erstmal ein paar Jahre in diesem Labor gearbeitet hast, wirst du verstehen, warum wir so auf Gerüchte stehen. Immerhin arbeiten wir den gesamten Tag daran, Dinge zu belegen, Beweise zu erbringen und alles fundiert genau zu beschreiben und zu beobachten. Warum nicht etwas haben, dass mal jeglicher Logik entbehrt?“
 

Zugegeben, ein bisschen verstand ich schon, was Elias mir damit sagen wollte. Die Gerüchte über den Grafen der Nacht, wie er genannt wurde, waren zahlreich. Er trüge einen schwarzen Umhang und schritt böse lachend durch die Gänge. Er hasste andere Mitarbeiter, weil sie ihm angeblich mal ein Experiment versaut hätten, durch bloßes Zusehen! Ein Kollege berührte ihn einmal am Rücken und daraufhin sei diese Stelle in Flammen aufgegangen. Doch angeblich blieb nicht mal eine Narbe auf seiner Haut zurück! Natürlich trank er auch immer blutrote oder schwarze Getränke! Gruuselig, wenn man den Frauen hier zuhörte. Für mich klang das nach einer billigen Version von Dracula. Doch die Damen hier schienen für ein bisschen Mystik und Verruchtheit zu schwärmen. Ich selbst hatte den Grafen der Nacht bisher noch nie gesehen und kannte auch seinen Namen nicht. In den wenigen Monaten, die ich hier tätig war, war ich nur tagsüber im Labor. Der Graf hingegen arbeitet nur nachts.
 

Es war wie der Leiter damals gesagt hatte. Die Meisten arbeiteten tagsüber und innerhalb der Woche. Es gabt viele die am Wochenende lieber bei ihrer Familie und den Kindern blieben. Manche hatten Teilschichten, weil sie es sonst nicht geregelt bekämen, die Kinder vom Kindergarten oder Schule abzuholen. Aber selbst bei diesen wenigen Personen arbeitete keiner länger als acht Uhr abends. Der Graf der Nacht begann seinen Dienst meist gegen neun, halb zehn.
 

In diesem Fall konnte ich gespannt sein. Die nächsten drei Tage, vier, wenn es doch länger dauerte, würde auch ich zu neun Uhr hier erscheinen.
 

Ungewollt zupfte ein Lächeln an meinen Lippen. Ich freute mich schon etwas auf diese Zeit. Und den mysteriösen Grafen der Nacht.
 

Den Dienstagmorgen nutzte ich um meine Wohnung aufzuräumen. An meinen freien Tagen bürgerte sich das schon so ein, dass ich alles Unliebsame gleich zu Anfang erledigte, um den restlichen Tag nur noch Zeit für die wirklich guten Dinge zu haben. Wie immer verging der Tag zu schnell und schon war ich auf dem Weg ins Labor. Sandwiches und einen Latte vom Starbucks an der Ecke in der Hand, checkte ich ein und blieb stehen.
 

Das Foyer, welches sonst, bereits voller Stimmen und Gewuhle war, wurde nur von einigen wenigen Gestalten passiert, die eilig nach Hause hechteten. Es war schon etwas merkwürdig. Ach was soll’s. Ich ging die Flure entlang zu meinem Laborbereich. Die Kaffeeküche hatte ihre Nachtbeleuchtung bereits angeschaltet und wirkte wie eine einsame Lichtinsel. Die Flure hatten einen automatischen Lichtsensor. Doch um Energie zu sparen, gingen keine grellen, weißen Neonröhren an, sondern nur wenige Spots, die ausreichten um seinen Weg zu finden. Das Licht war angenehm und blendete müde Augen nicht. Waren die Spots aus, weil sich keiner im Flur befand, leuchteten die an der Fußleiste angebrachten Notleuchten in einem verschwörerischen Grünton. Alle Notfallleuchten waren Grün und verliehen verwaisten Fluren und Räumen etwas Gespenstisches.
 

Ich fand es eher malerisch. An Gespenster habe ich noch nie geglaubt. Auch Horrorfilme ließen mich grundlegend kalt. Warum vor etwas fürchten, dass dich entweder nicht erreichte oder berühren konnte. Oder aber so schnell war, dass du bei Berührung sofort tot wärst. Sich vor etwas so Ungewissen zu fürchten, war meiner Meinung nach ziemliche Verschwendung von Gehirnzellen. 90% aller paranormalen Phänomene konnten noch nicht bewiesen werden. Garantierte Tode fand ich schon viel erschreckender. Wie beim Autofahren, Fliegen im Flugzeug oder alle handwerklichen Tätigkeiten. Ich mein, wie viele hatten sich schon beim Holzfällen in die Hand gehackt und machten trotzdem weiter?! Oder die statistische Relevanz von Autounfällen aufgrund von zu hoher Geschwindigkeit oder Übermüdung. Selbst in eine Entführung verwickelt zu werden, war wahrscheinlicher als von einem Geister zu Tode erschreckt zu werden.
 

Hinzu kam meine naturgegebene Art alles eher positiv zu sehen. Im Fall von einem gruseligen Labor mit einem Grafen der Nacht, fragte ich mich daher, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass ich ihn jetzt schon sehen könnte? Es bestand ja auch die Möglichkeit, dass wir uns die ganzen Tage nicht sehen würden, weil wir dauernd aneinander vorbei liefen.
 

Ich trank meinen Latte aus und warf den Becher in den Müll. Gemütlich zog ich meinen Laborkittel an und prüfte, ob ich alles zusammen hatte. Unterlagen, Stifte, Notizzettel. Dann schmiss ich den Laptop an und begann zu arbeiten.
 

Es war nicht nur ruhig, sondern still. Die einzigen Geräusche kamen von der Tastatur. Ein paar Mal von meinen Schritten, der Tür zum Probenschrank, dem Klappern von Utensilien aneinander, das klare Klirren von Reagenzgläsern oder dem leisen Surren vom Mikroskop. Ich wusste nicht mal, dass ein Mikroskop Geräusche machen konnte! Wenn ich mich zum Denken im Stuhl zurücklehnte, hörte ich gar nichts. Es war einfach nur still.
 

Zeitweise war es ok, sogar angenehm. Aber Großteils war es einfach nur stinkend langweilig. Es war kurz vor zehn Uhr. Die Ankunftszeit des Grafen war lange vorbei. Vielleicht kam er wirklich nicht oder arbeitete woanders?
 

Ich lehnte mich wieder zurück, Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Dann hörte ich leise Schritte. Das Rascheln von Kleidung. Es kam näher und ich blieb einfach sitzen, lauschte. Die automatische Tür öffnete sich mit einem leisen Wusch und die Schritte waren ganz deutlich zu hören. Wenn er verwundert war, dass Licht brannte, tat er es leise. Wieder Schritte, die dann verstummten. Ich rührte mich nicht. Ein Lachen zu verkneifen fiel mir schwer. Aber hey! Ich kann auch tief in Gedanken oder eingeschlafen gewesen sein.
 

Wahrscheinlich kam der Graf der Nacht zum selben Schluss und setzte seinen Weg fort. Kleidung raschelte. Ich grinste innerlich, setzte mich dann wieder auf und rieb mir den Nacken. So lange in einer Position zu verharren, tat schon wieder weh.
 

Als ich mich umdrehte, stand vor mir der Graf. „Oh“, entkam es mir überrascht. Er trug einen weißen Laborkittel, genau wie ich. Keinen schwarzen Mantel, in dem er seine Opfer einwickelte, ehe er ihnen in den Nacken biss.
 

Der Graf drehte sich um und musterte mich. Er war groß und ziemlich adrett für einen Mann. Er trug den Schatten eines Bartes, elegant gestutzt und seinem Gesicht zum Vorteil gereicht. Seine Augen waren hellgrau wie Schneewolken, die Gesichtskonturen klar und männlich, die Haare dunkelbraun und leicht zur Seite frisiert. Selbst ich musste gestehen, dass seine Haare so weich aussahen, als würden sie eine geschmeidige Welle nachahmen. Herrgott dieser Graf war ein Bild von einem Mann! Kein Wunder, dass die Damenwelt so viele Gerüchte streute. Als Frau würde ich auch auf solche Männer stehen.
 

„N Abend“, grüßte ich und lächelte.
 

„Guten Abend“, erhielt ich als Antwort zurück. Seine Stimme war melodisch mit einem seichten Bass. Jupp. Die Damenwelt war entzückt!
 

Überhaupt nicht unter Druck stehend, eine gute Figur machen zu müssen, stand ich elegant auf und trat auf den Grafen der Nacht zu.
 

„Ich bin Maximilian Finnigan und noch relativ neu hier“, sagte ich und streckte ihm die Hand zum Gruß hin.
 

Erstaunlicherweise ergriff er sie und schüttelte sie mit einem sanften, zugleich festen Händedruck. Wieder kam ich mir unterlegen vor, denn seine Hände waren größer als meine. Hatte ich wirklich so feminine Hände? Oh man…
 

„Freut mich. Ich bin Joshua Fritz. Seit wann sind Sie denn eingestellt, wenn ich frag darf?“
 

Der Händedruck mit der angenehmen Stimme zusammen, bescherte mir eine Gänsehaut, die mir den Rücken hinab lief. Wahrlich ein Graf, dachte ich für mich.
 

„Klar dürfen Sie. Und duzen reicht mir aus. Die Förmlichkeiten hebe ich mir gerne für höherrangige Chefs auf.“ Ich war nur ehrlich! Aber der Graf hob eine seiner Augenbrauen und wirkte so lässig ohne auch nur ein Wort zu sagen. Mal ehrlich, ich beneidete Leute die nur eine Augenbraue heben konnten. Ich konnte das nur mit beiden Augenbrauen. Wenn ich versuchte nur eine anzuheben, wirke ich wie jemand kurz vor einem Schlaganfall. Und obwohl der Graf seine Frage nicht einmal ausgesprochen hatte, fügte ich schnell hinzu. „Wenn Sie es bevorzugen, Sieze ich sie gerne, nur mich dürfen Sie eben auch gerne duzen.“
 

Joshua ließ die Augenbraue sinken und hob dafür einen seiner Mundwinkel. Dieses Grinsen war das Schlichteste und Hämischste, dass ich je gesehen hatte. Wie konnte ein Mann nur so viel Ausdruck in so wenig Mimik legen?
 

„Schon ok. Du kannst mich auch gerne duzen.“ Irgendwie war es mir jetzt peinlich überhaupt einen Nachsatz gebracht zu haben. Erst nach einigen Sekunden ging mir auf, dass ich ihm noch eine Antwort schuldete.
 

„Gut, das freut mich“, überspielte ich gekonnt. „Also, ich bin Max. Freut mich sehr den Grafen der Nacht mal persönlich kennen zu lernen. Ich bin seit fast einem halben Jahr hier angestellt. Meistens arbeite ich tagsüber. Aber mein aktuelles Experiment verläuft so gut, dass es früher fertig wird und meinen Berechnungen zu folge wird es irgendwann nachts fertig. Darum bin ich die nächsten Nächte mal Nachtarbeiter. Ich wünsche gute Zusammenarbeit.“ Wenn ihm die Bemerkung zum „Grafen der Nacht“ gewundert hatte, so hatte er es nicht gezeigt. Aber vielleicht kannte er seinen Spitznamen und die damit verbundenen Gerüchte ja schon? Mir hingegen war es abermals peinlich, so was Unnützes erwähnt zu haben, obwohl es nur die Wahrheit war. Ich, der so ungern die Wahrheit aussprach... In der Hoffnung, das alles überspielen zu können, hatte ich mehr erzählt, als ich eigentlich wollte. Die meisten Menschen vergaßen den Anfang eines Monologs und besannen sich auf die letzten wichtigen Fakten. Ein befreundeter Sozialstudent und angehender Psychologe hatte mir mal erklärt, dass nur 20% aller Menschen wirklich zuhören konnten. Die Meisten nickten nur höflich und griffen das zuletzt Gesagt auf. Es gab sogar Studien über dieses Verhalten. Den meisten der Probanden war ihr Verhalten im Anschluss peinlich, da sie sich selbst als unhöflich erachteten. Allerdings soll es mehr eine Schutzfunktion des Gehirns gewesen sein, wichtige Dinge gefiltert zu haben. So zumindest mein Kommilitone damals.
 

Joshua Fritz hingegen gehörte zu den 20% die sich alles merkten und jedes Gespräch mit voller Aufmerksamkeit wahrnahmen. Diese Fähigkeit würde ich später noch entdecken. Jetzt zumindest war ich froh, dass wir jeder zurück an unsere Arbeit gingen.
 

Es war gegen ein Uhr als mich die Müdigkeit einholte. Scheinbar hatte ich mir doch einen zu regelmäßigen Schlafrhythmus antrainiert. Müde kniff ich die Augen zusammen und massierte die Stelle zwischen meinen Augenbrauen. Ein Tick von mir. Mein Bruder zog mich zu gerne damit auf.
 

Ich speicherte meine Arbeit und klappte den Laptop zu. Ein Kaffee würde mir guttun. Das Sandwich nahm ich auch gleich mit.
 

„Ich mach Pause“, sagte ich aus Gewohnheit. Sekunden später ging mir auf, dass Joshua mir sogar mit einem „Hmhm“, darauf geantwortet hatte.
 

Ehrlich, diese Gerüchte um ihn, mussten haltlos sein. Ich wette, wenn ich nachforschen würde, von wem die Gerüchte ausgegangen oder wie sie entstanden waren, würde ich nur Frauennamen erhalten. Verübeln konnte ich es ihnen nicht. Die Fantasie zu beflügeln und etwas zu träumen war nicht verkehrt. Ich fand es nur nicht fair, dass es auf Grundlage eines echten Menschen passieren musste. Joshua schein ein gewissenhafter Forscher zu sein. Gutaussehend, wohlgemerkt, aber vom ersten Eindruck her nicht sonderlich verschroben oder eigenbrötlerisch. Wahrscheinlich waren die Gerüchte auch nur aus dem Zusammenhang gerissen worden. Auch das mit den zehn Experimenten, war schwer zu glauben. Wer weiß, wie das Gespräch der Sekretärinnen weiter ging?
 

Dennoch fand ich es unangebracht. Träumereien sollten den Ruf eines Menschen nicht beeinflussen. Im Moment schien der Ruf des Grafen der Nacht gut zu sein, aber würde das auch so bleiben? In meiner Schulzeit hatte ich einige Mobbingopfer im Jahrgang gehabt. Klar, das waren andere Zeiten würde man heute sagen, aber die betroffenen Personen sahen das womöglich anders. Und nicht jeder hatte ein so dickes Fell, dass er darüber hinwegsehen konnte. Ich war keiner der mobbte oder Gerüchte verbreitete, allerdings war ich auch niemand, der sie aufhielt. Leben und leben lassen, fand ich als Devise ziemlich gut.
 

Aber wie schon gesagt, waren es nur Schwärmereien von einigen Frauen, die ich nachvollziehen konnte. Ich goss den Kaffee auf und starrte mit gerunzelten Augenbrauen in die Tasse. Warum störte es mich dann, dass es diese Gerüchte überhaupt gab?

Schwer seufzte ich und stellte den Wasserkocher zurück. Aus den Augenwinkeln erblickte ich jemanden hinter mir und erschrak fürchterlich.
 

„Wah!“
 

„Entschuldige, aber du warst in Gedanken.“ Der Graf stand hinter mir und mir rutschte das Herz in die Hose. Himmel, ein Geist wäre mir lieber gewesen!
 

„Ach, schon gut. Hattest du was gesagt?“
 

„Ich habe gefragt, ob du mir auch einen Kaffee machst?“ Sein Finger deutete auf den Wasserkocher in meiner Hand. Zu lange brauchte mein Hirn um das zu verarbeiten. Als es endlich so weit war, lachte ich verlegen auf.
 

„Ja, klar. Verzeih. Ich habe wirklich geträumt.“ Ich nahm eine Tasse aus dem Schrank und tat etwas Kaffeesatz rein. „Zwei Löffel?“
 

„Drei bitte.“
 

„Wow, ein Starkkaffeetrinker. Gerade würde ich das auch gerne trinken, aber zu starker Kaffee schlägt mir immer auf den Magen.“
 

„Bist du müde geworden?“, fragte Joshua.
 

Verlegen lächelnd rührte ich beide Tassen um, eh ich ihm seine reichte. „Etwas. Liegt vielleicht auch daran, dass es hier so ungewohnt still ist.“ Vielleicht sollte ich mir morgen meinen Mp3-Player mitnehmen?
 

„Danke. Wenn du zu müde wirst, beweg dich etwas. Wenn du eine Runde durch die Flure gehst, macht das recht munter.“
 

„Durch die Flure?“, fragte ich nach und blickte ihn überrascht an.
 

„Ja. Durch die Labore zwei bis fünf. Es gibt auch eine Zwischenverbindung zu den oberen drei Laboren. Dann kannst du noch mal zehn Minuten mehr rausschlagen.“
 

„Haha, ach, deshalb.“
 

Wieder hob sich Joshuas eine Augenbraue. Scheinbar hatte er nicht erwartet, dass seine so ernsthafte Aussage von mir belächelt wurde: „Was meinst du?“
 

„Entschuldige. Ich wollte nicht lachen. Ähm … kennst du die Gerüchte, die hier kursieren?“, fragte ich vorsichtig nach.
 

Er nickte. „Ja. Ziemlich lächerlich. Ich habe noch nie etwas davon hier gesehen. Nachts ist es hier sehr ruhig und es verirrt sich eher selten ein anderer Kollege hierher.“
 

Ich wähnte mich im sicheren Glauben, dass Joshua meinen Kommentar mit dem Grafen der Nacht von vorhin nicht auf sich bezogen hatte oder besser noch, überhört hatte.
 

„Ha ha“, entkam es mir trocken. „Na ja, die meisten der Gerüchte beziehen sich auf dich“, gestand ich ihm. Die Augenbraue blieb diesmal unten, dafür breitete sich eine längere Stille aus.
 

„Auf mich?“
 

Ich nickte.
 

„Wie viele davon?“
 

Das hatte man davon, dass man Themen anschnitt, von denen andere nichts wussten oder sie nicht auf sich bezogen hatten. Ich hätte ihm in diesen Glauben lassen sollen. Ihm jetzt reinen Wein einzuschenken, war mir unangenehm. Leider konnte ich mich diesmal nicht geschickt herausreden. Innerlich seufzte ich schwer. Warum nur fiel es mir gerade heute so schwer, meine Gedanken zurückzuhalten?
 

Mir blieb nur, mich über meine Gestik vom eigentlichen Sachverhalt zu distanzieren. Ich gab mich verhalten und lächelte entschuldigend.
 

„Eigentlich… alle.“
 

Wieder breitete sich Schweigen aus. Ich erwartete, dass er sauer wurde und wetterte oder einen abfälligen Kommentar über diese Gerüchteverbreiter von sich geben würde. Aber er nickte nur, sah sich um und legte den Kopf etwas schief als er mich ansah. Es war nur ein Mü, kaum wirklich auffällig.
 

„Welches Gerücht bezieht sich auf den Spaziergang durch den Flur?“ Joshua wirkte neugierig. Sein Blick eher lauernd. Wie eine Katze, die ihr Spielzeug fixierte. Das helle Grau blieb trotz allem eher sympathisch als angsteinflößend. Es lockte und ich ließ mich locken. Entspannter nahm ich meine Tasse und hielt sie mit beiden Händen fest, lehnte mich dabei an die Küchenzeile.
 

„Es heißt, dass der Graf von Zeit zu Zeit durch die Gänge der Labore schwebt. Er trägt einen schwarzen Umhang und ist auf der Suche nach etwas“, begann ich. Es machte mir sogar Spaß diese Geschichte zu erzählen, als sei es der Beginn einer Schauergeschichte. „Manchmal soll er tief in Gedanken seine Runden drehen. Manchmal wirkt er ausgelassen und manchmal würde er wie ein Bösewicht lachen. Es heißt, wenn er ausgelassen ist, hat er gerade das Blut einer Jungfrau getrunken, die er unter seinem schwarzen Mantel gezogen hat, ehe er ihr in den Hals biss.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Eisprinz
2022-12-24T10:10:02+00:00 24.12.2022 11:10
Hallöle zum Zweiten,
vorweg finde ich es sehr angenehm, dass du die Geschichte aus der Ich-Perspektive schreibst. Das macht den einen Hauptcharakter greifbarer, man kann sich besser mit ihm arrangieren und leichter in die Geschichte eintauchen. Zudem hast du mit Max einen sehr angenehmen Gesellen geschaffen, der eine recht pragmatische Lebensweise hat und die guten Dinge zu schätzen und genießen weiß. Ich finde Menschen, die das Leben so klar sehen können, bewundernswert. Ich bin gespannt, wie er später mit Schwierigkeiten umgehen wird, die definitiv kommen. Entweder privater, emotionaler oder beruflicher Natur.
Joshua ist ein ziemlich passendes Gegenstück. Die Beschreibungen lassen seinen Charakter erahnen, aber ich würde in manchen Momenten schon gern Mäuschen in seinen Gedanken spielen. Er wirkt ruhig und manchmal etwas zu fokussiert, aber du selbst hast ihn durch einige Beschreibungen mit einem Jäger gleichgesetzt und das verspricht, interessant zu werden.
Ich bin aufs nächste Kapitel gespannt.
Von:  Rees
2022-05-24T20:29:21+00:00 24.05.2022 22:29
So und weiter gehts:

Sich die Arbeitszeiten aussuchen zu können, ist in einem Labor schon ne coole Sache. Ich kenn das noch gut aus der Diplomzeit, in der ich auch des Öfteren mitten in der Nacht nochmal ins Labor musste, um ein Experiment zu betreuen.
Ich finde es spannend, wie Elias über den Grafen spricht, da sie doch eigentlich best Buddy's sind, was wir jetzt ja eigentlich noch gar nicht wissen.
Und Max, es ist definitv nicht nur die Damenwelt, die vom Grafen angetan ist. Du mein lieber gehörst definitiv dazu.
Und hey Josh ist ja auch ein niedlicher. Und er nimmt Max ja gut auf, anders als man von den Beschriebungen erwarten würde.
Ich hätte Josh gerne mal in einem schwarzen Umhang gesehen *lach*
Niedlich ist ja auch, dass Josh nicht klar ist, dass sich quasi alle Grüchte um ihn drehen. Gut das Max jetzt da ist und ihn mal darüber aufklärt.

Sonst ist es ein gutes Einstiegskapitel XD



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