Kapitel 1
Ein Fingertipp auf das Display ihres Smartphones und damit war das Kurzvideo auf Tik Tok hochgeladen. Die sechzehnjährige Hikari hatte ein Tanzvideo zu dem Song “can´t stop me now” von Twice aufgenommen. Auf der Plattform lud sie schon seit ein paar Monaten Videos hoch, nicht ständig, aber ab und an. Oftmals Tanzperformance von verschiedenen Bands, die sie einstudierte und dann vorführte, aber auch andere Kurzvideos.
Hikari, die auf dem Schreibtischstuhl an ihrem Schreibtisch saß, überprüfte nochmals, ob mit dem nun hochgeladenen Video alles in Ordnung war, dann durchstöberte sie die ihr angezeigten Videos, ob etwas interessantes dabei wäre. Sie scrollte nach unten. Plötzlich stoppte sie und scrollte nochmal ein Stück nach oben. Zwei Wörter waren ihr hängen geblieben. Wo war dieses Video nochmal? “Best Friend” hatte dort gestanden - bester Freund. Sofort musste sie an Takeru denken. Ihr bester Freund. Groß, blond, blaue Augen. Sie und der gleichaltrige Junge waren bereits seit acht Jahren beste Freunde. Sie machten alles zusammen und man bekam sie fast nur im Doppelpack. Sie war dankbar dafür, ihn in ihrem Leben zu haben.
Ah, da war es. Als sie den Titel des Videos las, wurde ihr warm. Als sie das Video dann ansah, schlug ihr Herz verdächtig.
Kiss your best Friend-Challenge
Den besten Freund einfach küssen. Und entweder ging es gut und der Kuss wurde erwidert oder man wurde zurückgewiesen.
Hikaris Herz schlug noch schneller. Den besten Freund küssen. Takeru …
Sie sah sich noch mehr Videos der Challenge an. Viele der Teilnehmer der Challenge erzählten, dass sie schon eine Weile in ihren besten Freund verliebt waren und nun die Chance durch die Challenge sahen. Tatsächlich gingen die meisten Videos gut aus und der beste Freund erwiderte den Kuss. Doch es gab auch ein paar, bei denen es nicht so war. Einer schrieb sogar dazu, dass er und seine beste Freundin seit diesem Moment nicht mehr miteinander sprachen. Und genau das verursachte leichte Bauchschmerzen bei Hikari.
Sie war bereits seit langem in ihren besten Freund verliebt. Wie oft bestanden Takeru und sie bei all ihren Freunden und auch bei ihrer Familie darauf, dass sie beste Freunde waren und nicht mehr. Wie oft gaben sie den Spruch “Mädchen und Jungen können auch einfach nur Freunde sein” von sich? Und jedes Mal war ihr klar, dass sie log. Lächerlich, oder? Sie bewies damit doch, dass das eben nicht stimmte, zumindest von ihrer Seite aus. Und von Takerus Seite aus? Sie wusste es nicht. Sie waren einander sehr nahe, nahmen sich oft in den Arm. Sie hatte oft das Gefühl, dass er mit ihr flirtete, aber es könnte natürlich auch gut sein, dass sie sich das einbildete. Wie hieß es noch gleich? Da war der Wunsch Vater der Gedanken? Oder so ähnlich.
Hikari kaute auf ihrer Unterlippe herum. Die Challenge wäre eine Möglichkeit, Takeru ihre Gefühle mitzuteilen. Vielleicht würde er sie ja erwidern. Falls nicht, könnte sie behaupten, sie hätte es wegen dieser Challenge getan, als Spaß. Und Späße machten sie und ihr bester Freund schließlich viele. Dann kam ihr wieder der fehlgeschlagene Kuss in Erinnerung “seit diesem Moment redeten er und seine beste Freundin nicht mehr miteinander”. Es könnte auch schief gehen und dann? Dann hätte sie ihren besten Freund verloren. Der Mensch, der ihr mit ihrer Familie zusammen die wichtigsten Personen in ihrem Leben bedeuteten. Ihn zu verlieren … das wäre das Schlimmste, was ihr passieren könnte. Das wollte sie auf keinen Fall.
Ihre Finger spielten mit ihren schulterlangen braunen Haaren. In ihrem Kopf sprangen die Für und Wider für die Challenge herum. Sollte sie? Oder sollte sie nicht?
Ein Klopfen an der Türe unterbrach sie.
“Kari, bist du da?”, fragte eine weibliche Stimme.
Ein Lächeln trat auf Hikaris Gesicht. “Natürlich, komm herein, Mimi.”
Die Zimmertüre öffnete sich und eine braunhaarige und sehr hübsche junge Frau trat ein. Ihres Zeichens gute und enge Freundin von Hikari, Teil ihres Freundeskreises und die feste Freundin ihres Bruders Taichi.
Mimis Augen glitten über das Zimmer. “Ich finde es immer wieder bewunderswert, wie ordentlich es bei dir ist. Drüben ist es das absolute Gegenteil.”
Hikari kicherte, ehe ihr Blick über ihr Zimmer glitt.
Links, hinter der nun geöffneten Zimmertür, stand ihr Kleiderschrank und daneben ein Regal, gefüllt mit Büchern, Spielen und anderem Krimskrams. Direkt rechts von der Türe, an der Wand stand eine Kommode mit vier länglichen Schubladen, auf der eine Schmuckdose stand und ein Ständer mit Ketten, ein paar Bilderrahmen mit Bildern von ihr mit Freunden, ihrem Bruder und natürlich auch mit Takeru. Dazu ein Stativ, auf dem vorher noch ihr Handy als Kamera angebracht gewesen und auf die Mitte des Zimmers gerichtet gewesen war. Links davon, an der nächsten Wand, stand ihr Bett, ordentlich gemacht. Daneben noch ein Sessel mit rosanem Stoff, auf dem normalerweise ihre Kleidung lag, momentan war er aber leer. Gegenüber der Zimmertür hatte sie ein großes Fenster, unter dem ihr, natürlich auch ordentlicher, Schreibtisch stand, an dem sie gerade saß.
“Dass es hier ordentlicher als in Tais Zimmer ist, ist klar. Selbst in normalem Zustand. Aber ich habe vorher alles weggeräumt. Ich wollte beim Video drehen nicht, dass irgendetwas herumliegt”, erklärte sie ihrer Freundin.
Dass es bei ihrem Bruder unordentlich war, war keine große Überraschung. Taichi war der unordentlichste Mensch, den sie kannte. Dass man überhaupt etwas in seinem Schrank fand, war immer wieder erstaunlich. Mimi hatte zwar für ein wenig mehr Ordnung in seinem Leben gesorgt, auch in seinem Zimmer, trotzdem musste man sich immer einen Platz bei ihm freiräumen.
“Wegen deinem Video bin ich übrigens da”, erklärte Mimi in diesem Moment und hob ihr Smartphone hoch.
“Du hast es schon gesehen? Ich habe es doch gerade eben erst hochgeladen”, wunderte sich die Jüngere und sah erstaunt auf.
“Ach”, Mimi winkte ab und setzte sich auf Hikaris Sessel. “Ich war gerade sowieso auf Tik Tok unterwegs. Dein Bruder versucht aufzuräumen und ich weigere mich, ihm dabei zu helfen. Wer so eine Unordnung schafft, der kann sie gefälligst auch selbst wieder entfernen. Ich bin doch nicht seine Putzfrau!”, ereiferte sie sich.
Hikari lachte auf. Das war so typisch ihr Bruder und seine Freundin. “Na ob er da Erfolg hat.”
Mimi zuckte mit ihren Schultern. “Wir werden sehen. Aber zurück zu deinem Video. Das war mal wieder mega! Ich meine, ich tanze auch super gern und sicher auch gut, um bescheiden zu bleiben. Aber du? Du hast den Tanz doch noch gar nicht so lange geprobt.”
“Ach … ich habe schon eine ganze Weile geprobt. Ich stelle ein Video erst online, wenn ich zufrieden bin, Und da habe ich schon einige Ansprüche”, verteidigte Hikari sich schüchtern.
“Du musst das gar nicht so kleinredenn, ich könnte das nicht”, wischte Mimi die Worte der Jüngeren mit einer Handbewegung davon. “Ich bin auf jeden Fall begeistert.” Sie nickte bekräftigend zu ihren Worten und packte das Handy in die Hosentasche ihrer eigentlich dafür zu engen Jeans.
“Vielen Dank für deine lieben Worte”, bedankte sich Hikari mit roten Wangen und lächelte erfreut. Genau diese Rückmeldungen waren einfach das, was sie immer wieder voller Freude Videos öffentlich teilen ließ. Sie war normal eher schüchtern, doch tanzen machte ihr Freude. Daher hatte Takeru sie zu dem Tik Tok Kanal überredet. Und die Kommentare dort, und auch Aussagen wie die von Mimi, bestätigte ihren besten Freund. Und es tat ihr gut. Daher machte Hikari es gerne.
Sie legte ihr Handy zur Seite und konzentrierte sich ganz auf das Gespräch mit ihrer Freundin. Und darüber vergaß sie die Kiss your best Friend-Challenge, zumindest für den Moment.