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Meeressturm

von

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Tausendfach zerbrochen

Der verletzte Blick in Annies Gesicht geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wollte sie aus allem raushalten, aber stattdessen ist sie jetzt tiefer in diese Sache verstrickt, als ihm lieb ist. Zum ersten Mal, seit sie ein Paar sind, ist er sich nicht sicher, ob ihre Beziehung eine gute Idee ist. Was hat sie seinetwegen durchgemacht?

Wenn das Kapitol sie verletzt hat, dann haben sie ihre Spuren sorgfältig getilgt. Nicht ein einziger Kratzer verunstaltet sie, das haben sie auf der Bühne bewiesen. Aber tief in Annie drinnen, hat er einen Sprung in ihrer Seele gesehen. Er erkennt es in der Art wie sie sich bewegt, wie sie ihren Kopf hochgereckt hält und mit ihren Augen doch in eine andere Welt blickt.

Endlich ist sie wieder frei, nur, damit das Schicksal Finnick einen ungnädigen Streich spielt und ihn tiefer in die Arme von Titania Creed schubst. Vor Annies Augen. Was das für sie bedeutet, will er sich gar nicht vorstellen.

Seufzend starrt Finnick in das nachtschwarze Fenster, in dem sich sein jämmerliches Selbst spiegelt. Nackt sitzt er auf der Bettkante und fühlt sich so zerbrechlich wie seit langem nicht. Je mehr seines Körpers dem Kapitol gehört, desto weniger erträgt er den Anblick. Gleichmäßig gebräunte Haut spannt sich über den harten Muskeln, die er sich in Jahren des Trainings erarbeitet hat, nur um den Leuten, die sich einen Dreck um ihn scheren, besser zu gefallen.

Von dem einfachen Jungen, der von der Hand in den Mund lebte, ist nichts mehr übrig. Die zarten Sommersprossen, die nach einem wolkenlosen Sonnentag seine Schultern zierten, sind schon lange weg. Die kleine Narbe an seinem Schlüsselbein, von einem unachtsam ausgeworfenen Angelhaken – ebenfalls fort. Auch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen ist dem Perfektionismus zum Opfer gefallen.

Wieder einmal fragt er sich, wie viel an ihm wirklich er ist. Oder ob am Ende alles nur dazu dient, seine Liebschaften – seine Schänder – zufriedenzustellen. Ob Finnick Odair nur eine große Lüge ist.

Gedankenverloren spielen seine Finger mit dem Gürtel des Bademantels, der achtlos weggeworfen zu seinen Füßen liegt. Wie von alleine schnürt er einen komplizierten Knoten in das Stoffband, um ihn sogleich wieder zu entwirren.

„Fin, willst du lieber Wild oder Fisch?“, ruft Titania aus dem angrenzenden Wohnzimmer.

Bei dem Klang des Spitznamens zuckt er unwillkürlich zusammen. Niemand, außer Annie, darf ihn so nennen. Trotzdem scheint Titania es sich in den Kopf gesetzt zu haben, ihn neuerdings damit zu necken.

„Egal, was immer dir schmeckt“, ruft er leidenschaftslos zurück und windet einen neuen Knoten. Ihm ist unbegreiflich, warum sie schon wieder an Essen denkt. Es ist schließlich nicht so, als wären während der Arenanacht keine Häppchen an die Zuschauer in der VIP-Lounge verteilt worden. Andererseits merkt Titania nie, wann es genug ist.

Er hört, wie sie leiser eine Bestellung ins Telefon murmelt. „Brauchst du noch lange?“

„Bin sofort bei dir!“ Sein Blick fällt auf den verknoteten Bademantelgürtel. Aus irgendeinem Grund treten ihm schon wieder Tränen in die Augen. Er kann Annie nicht vergessen, wie sie ihm voller Schmerz nachblickt.

Bisher war das Verdrängen von jeder Erinnerung an sie das Letzte, was ihn bei seinen nächtlichen Ausflügen über Wasser gehalten hat. Wenn er sich eingeredet hat, dass es sie nicht gibt, nur für eine Nacht, konnte er seinen Körper hergeben, als wäre er nichts wert.

Doch dieses Mal gelingt ihm das nicht. Heute kann er sich Titania nicht ergeben, egal wie sehr sie ihn zu reizen versucht. Weshalb sie jetzt im Nebenzimmer ist und ihnen Essen bestellt. Aber länger wird er sie kaum hinhalten können. Es muss weitergehen, irgendwie.

Mit einem Ruck löst er den Knoten auf und zieht den Bademantel an, bevor er eine kleine weiße Dose vom Nachtisch nimmt. Nur eine Pille und dann läuft alles wieder nach dem Plan des Kapitols. In all den Jahren ist es nie soweit gekommen, dass er eine der blauen Tabletten, die Cece ihm einst wortlos zugeschoben hat, nehmen musste.

Er öffnet die Dose und schüttelt sich eine kleine Kapsel in die Handfläche. Den Kopf in den Nacken gelegt, würgt er sie hinunter und kippt noch einen Schluck kaltes Wasser hinterher. Eine Stunde, steht auf der Packung, bis die Wirkung einsetzt.

In diesem Moment kommt Titania ins Schlafzimmer, in nichts als einen seidenen schwarzen Morgenmantel gehüllt, der einen tiefen Einblick in ihr üppiges Dekolletee gewährt.

„Ich hab einfach beides genommen“, verkündet sie und lehnt sich aufreizend in den Türrahmen.

„Gute Wahl“, brummt Finnick zurück und lässt das Medikamentendöschen schnell in eine Tasche des Bademantels gleiten.

Da er Titania keinen zweiten Blick schenkt, gibt sie ihre unbequeme Pose auf und kommt auf ihn zu. „Was ist los?“, fragt sie, während sie nach dem Gürtel seines Mantels greift und ihn zu einem ordentlichen Schleifchen verknotet. „Ich merk das doch, irgendwas ist anders, als vorhin.“ Sie legt kritisch ihre Stirn in Falten. „Ist es die Sache mit der Regeländerung?“

Dankbar nimmt er die Ausrede an. „Tita, Liebes ... es tut mir leid.“ Er seufzt, diesmal jedoch mit Berechnung. „Die Sache will mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich überlege schon die ganze Zeit, was wohl passieren wird. Ob es eine Chance für uns wird. Wir haben schon Edy verloren ...“

Den Rest des Satzes lässt er absichtlich in der Luft hängen. Es ist nur die halbe Wahrheit. Die Sorge hat die Regeländerung, ganz gleich wie ungewöhnlich und aufregend, in seinen Hinterkopf verbannt. Nur eine Sache mehr, über die er sich beizeiten den Kopf zerbrechen muss.

In Titanias Augen aber tritt ein Funkeln. „Du hast recht, es könnte ganz neue Möglichkeiten für euch eröffnen.“ Mit einem Lächeln, das ihm nicht behagt, drängt sie sich an ihn. „Überleg nur, was alles passieren könnte! Seit der Verkündung muss ich die ganze Zeit überlegen, wie ich den Spielmachern einen Vorschlag unterbreiten könnte. Ich hab bestimmt schon fünf Ideen – aber das muss sitzen! Ich will, dass sie meine Idee nicht ausschlagen können.“

„Ich bin sicher, ein Vorschlag von dir kann nur umwerfend sein.“

Titania sieht aus wie eine Katze kurz vor dem Sprung auf den fangfrischen Fisch. „Vielleicht sollte ich dir beim Essen mehr von meinen Ideen erzählen?“ Sie zwinkert ihm zu und stolziert mit einem Hüftwackler zurück ins Wohnzimmer. Nun, wenigstens kann sich dieser Abend noch als nützlich erweisen.
 

Das Essen ist sicherlich gut, doch für Finnick schmeckt es schon seit langer Zeit alles gleich. Er überlässt einen Großteil seiner Portion Titania, die es nicht einmal zu bemerken scheint, dass er nur auf seinem Teller herumstochert. Gierig schlingt sie die Gerichte herab und als es zu viel wird, genehmigt sie sich ein kleines Gläschen von dem Wundermittel, das einen weiter essen lässt.

Sie sind gerade beim Nachtisch angelangt – eine süße Creme mit frischen Erdbeeren – da wird der Ton des Fernsehers unvermittelt lauter.

Finnick hat sich schon lange daran gewöhnt, dass im Kapitol die Flimmerkiste den ganzen Tag in Dauerschleife läuft, und hat ihm keine Beachtung geschenkt. Über alles Wichtige wird er durch sein Tablet auf dem Laufenden gehalten und das liegt mit schwarzem Bildschirm auf dem Tisch vor ihm.

„Wer hat mein Messer genommen?“, vernimmt er eine fordernde Stimme. „Wer von euch?“

Überrascht wandert sein Blick zur flachen Leinwand, die eine komplette Seite des Raums in Beschlag nimmt.

„Wer auch immer der Idiot ist, er rückt besser mein Messer raus“, ruft ein zorniger Cato, der mit geballten Fäusten vor dem Füllhorn steht. „Und zwar sofort!“

Titania gibt ein aufgeregtes Keuchen von sich und dreht den Fernseher lauter.

Die Karrieros sitzen ebenfalls zum Abendessen beisammen und rösten ein paar ihrer Vorräte über dem Lagerfeuer. Cordelia sitzt zwischen Glimmer und Clove. Sie sieht elend aus, mit tiefen Ringen unter den Augen, aber abgesehen davon fit. Mit stillem Vorwurf im Blick mustert sie Cato, sagt allerdings nichts, sondern isst ungerührt weiter ihr Brot.

Der kleine Junge aus Distrikt drei hingegen ist bleich im Gesicht. „Ich habe es nicht Cato, ich schwöre“, piepst er, an Panik grenzend. „Aber du kannst meins haben!“

Der große Karriero schnaubt undankbar. „Klappe, Jaxley. Dein Buttermesser kannst du behalten. Ich will mein Messer wieder haben.“

Als bräuchten seine Worte weiteren Nachdruck, lässt er die Fingerknöchel knacken. Sein Blick wandert die Runde der Verbündeten entlang. Finnick meint zu merken, dass er bei Cordelia kurz innehält. Doch schlussendlich kommt er auf Peeta zu ruhen, der als einziger nichts isst, sondern ein paar Schritte abseits auf einer Vorratskiste sitzt und seinen verletzten Arm neu verbindet.

„Oooh“, haucht Titania leise, „das verspricht aufregend zu werden.“ Vor lauter Spannung vergisst sie sogar, den Löffel zum Mund zu führen.

„Ey, Loverboy, hörst du zu?“, bellt Cato an Peeta gewandt.

Ohne den Blick von seinem amateurhaften Verband zu heben, nickt der Tribut. „Ich höre dich laut und deutlich. Und wahrscheinlich alle anderen in dieser Arena ebenfalls.“

Catos Augen werden schmal. „Hältst dich wohl für ganz schlau, was?“

Peeta seufzt und windet die Verbandsrolle ein weiteres Mal um seinen Arm. „Nein.“

„Also schön, wo hast du es versteckt?“

Selbst von hier aus erkennt Finnick, wie sich Peetas Gesichtsausdruck verhärtet.

„Ich habe dein Messer nicht genommen“, entgegnet er mit Nachdruck hinter jedem Wort. „Warum sollte ich auch? Ich habe mein eigenes.“

„Vielleicht dachtest du ja, ich merke es nicht?“, schlägt der Karriero vor. „Willst uns verraten, dich zu deiner Liebsten davon machen ...“

„Dann wäre ich wohl sehr dumm.“ Haymitchs Schützling ist endlich fertig mit der Bandage und hebt seinen Kopf, um Cato direkt anzusehen. „Oder lebensmüde. Ich bin keins von beidem.“

Finnick wendet seinen Blick vom Bildschirm ab, denn Titania rammt ihm ihre Fingernägel in den Arm. „Oh, ich hoffe Haymitch hat nicht zu viel versprochen“, sagt sie.

Sanft löst er ihre Klauen aus seinem Arm und hält stattdessen ihre Hand. Auf Kratzspuren verzichtet er liebend gern. Er kann aber nicht verhehlen, dass auch er gespannt ist, ob Peeta dieser Situation entrinnen wird. Nach allem, was er und Haymitch geplant haben, ist er nicht bereit, ihn sterben zu sehen.

„Nein, du bist liebesblind“, lacht Cato höhnisch auf. „Bisher hast du uns noch nichts gebracht. Also, nochmal: Warum sollte ich dir glauben?“

„Wie wollt ihr Katniss ohne mich finden? Hast du etwa vergessen, warum wir dieses Bündnis geschlossen haben? Du willst sie aus dem Weg haben, nicht ich. Sie glaubt, dass ich sie liebe, mir würde sie nichts antun. Ich helfe euch das Mädchen mit der Elf in der Bewertung auszuschalten“, erklärt Peeta, jetzt ebenfalls zornig, „und im Gegenzug bin ich ein Teil dieses Bündnisses.“

Harte Worte, im Vergleich zu den Interviews. Das scheint auch Titania so zu empfinden, denn in ihren Augen glitzern Tränen.

„Hoffentlich kann er Katniss beschützen“, murmelt sie. „Er muss!“

Für das Kapitol ist es ein offenes Geheimnis, dass Peeta nicht wirklich auf Seiten der Karrieros ist. Dafür hat Haymitchs geschickt inszeniertes Spiel gesorgt. Wenn kein anderer Tribut guckt, wirft der Junge einen bedeutungsvollen Blick in die Kamera, schüttelt kurz den Kopf und schon wissen die Zuschauer, dass er immer noch für Katniss spielt.

Nun meldet sich endlich eine der restlichen Karrieros zu Wort. „Lass ihn doch, Cato“, ruft Glimmer und muss ein Kichern unterdrücken, „er kann ja nichts dafür, dass die kleine Everdeen so doof ist, das zu glauben.“

„Im Übrigen hat er geholfen, unsere Vorräte mit Jaxley zusammen zu sichern“, merkt Cordelia ernst an. „Etwas, das du dich nicht getraut hast.“

Auf Catos Stirn zeichnet sich eine steile Zornesfalte ab und er brummt irgendwas Undeutliches, ehe er Peeta den Rücken zuwendet und zurück zum Feuer stapft.

„Elia, wenn dir so viel an Loverboy gelegen ist, warum hilfst du ihm dann nicht mit seinem Verband? Sieht nämlich aus, als wenn ihm sonst der Arm abfault.“

Cordelias Lippen werden zu einem dünnen Strich, aber sie sagt nichts weiter, sondern geht selber zu Peeta hinüber, um sich seinen stümperhaften Verband anzusehen.

Zum Glück haben Floogs und Trexler genügend Zeit in ihr weiteres Training investiert und sie verbindet seinen Arm etwas geschickter. Finnick kann nicht anders, als ein wenig stolz zu sein.

Am Feuer unterdessen stellt sich heraus, dass Catos Messer nur in eine Lücke zwischen zwei Kisten gefallen ist. Eine Entschuldigung kommt ihm freilich nicht über die Lippen. Stattdessen schießt er immer noch düstere Blicke in Richtung von Peeta, der sich mit einem aufrichtigen Lächeln bei Cordelia bedankt. Vielleicht wird aus seinem und Haymitchs notdürftigem Pakt doch mehr, hofft Finnick bei dem Anblick.

Titania neben ihm atmet stoßartig aus. „Wow, so wenig habe ich Distrikt zwei selten gemocht“, sagt sie mit einem Kichern. „Dieser Cato bringt wirklich mein Blut zum Gefrieren.“ Sie erinnert sich, dass sie noch Nachtisch hat, und schiebt sich einen großen Löffel in den Mund.

In der Arena unterdessen bereiten sich die Tribute auf die Nachtwache vor. Peeta übernimmt freiwillig die erste, unter der strengen Überwachung von Marvel aus Distrikt eins, der am glimmenden Lagerfeuer zurückbleibt und ihn im Auge behält.

Zwischenzeitlich hat Titania auch die letzten Reste aus der Schüssel gekratzt und mustert Finnick mit neuem Begehren. Sie stellt den Fernseher wieder leiser, jetzt da die meisten Karrieros sich zur Ruhe legen.

„Eure Elia wäre wirklich eine hübsche Ergänzung in einem Bündnis mit Haymitchs Tributen“, stellt sie fest. „Das wäre jedenfalls spannender als das Bündnis mit den üblichen Distrikten.“ Sie leckt ihren leeren Löffel nachdenklich ab. „Es wäre aber auch interessant, wenn Bündnisse zwischen den Tributen verboten wären. Jeder für sich alleine“, sinniert sie. „Oder was hältst du von einem Verbot, das nur ein Bündnis mit dem Tribut des eigenen Distrikts erlaubt?“

Ermattet seufzt Finnick. Die Regeländerung hat er beinahe wieder vergessen nach dem Streit in der Arena. „Ich weiß nicht, Tita, du solltest uns das Leben nicht schwerer machen, als nötig. Denk nur an deinen ganzen Wetteinsatz für Cordelia.“

Sie schnalzt mit der Zunge. „Schon, aber Distrikt zwölf –“, mit einem Blick zu Finnick besitzt sie immerhin so viel Takt, den Satz nicht zu beenden.

Er hätte sich denken können, dass keine von ihren Ideen sich als nützlich erweist. Alles, wofür Titania sich interessiert, ist ihr Vergnügen. Verstohlen wirft er einen Blick auf die Uhr. Eine Stunde ist fast vorbei.

„Tita, warum gehst du nicht schon einmal ins Schlafzimmer“, schlägt er ihr mit tiefer Stimme vor, „die Spiele sind zwar interessant, aber du bist heute Abend noch aufregender.“

Sie lächelt. „Ach, jetzt auf einmal doch?“ Dennoch folgt sie seinem Vorschlag und tänzelt davon.

Finnick schnappt sich sein Mentorentablet. Ein Blick zum Fernseher zeigt ihm, dass Marvel, wenn auch unbeabsichtigt, langsam eindöst, während Peeta am Rand des Camps Wache hält.

Jetzt?, ist alles, was er Haymitch in seiner Nachricht schreibt. Es braucht keine Minute, bis dessen Antwort da ist. Fallschirm unterwegs.

Still und leise segelt das silbrige Behältnis zu Peeta herab in die Arena. Zumindest ein Anfang. Über alles andere wird er sich später Gedanken machen. Der Rest der Nacht gehört Titania Creed.

 

Wenige Stunden später liegt das Kapitol in tiefem Schlaf, als Finnick in das Trainingscenter zurückkehrt. Er sieht Annie sofort, kaum, dass er im Halbdunkel durch die Türen des Distrikt-Appartements schlüpft.

Sie sitzt mit angezogenen Knien an dem großen Fenster im Essbereich, das einen prächtigen Ausblick auf den Korso und die glänzenden Häuser in der Ferne eröffnet. Ihre langen dunklen Haare fallen ihr vor das Gesicht.

Er steht nur da und starrt sie an, unsicher, ob er sich ihre Rückkehr nicht bloß eingebildet hat. Aber nein, da sitzt sie wirklich, in Fleisch und Blut. Sein Herz flattert vor Aufregung, drängt ihn, sie in seine Arme zu reißen. Das ist alles, was er will. Doch der letzte Rest verdammter Vernunft hält ihn zurück. Tu es nicht, wispert sie in seinem Kopf, denk an Snow.

Hätte er ihm doch nur die Gartenschere ins Herz gerammt. Nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal wünscht Finnick sich, ihm ein Ende bereitet zu haben. Seine Hände zittern und er ballt sie hilflos zu Fäusten.

Langsam dreht Annie ihr Gesicht zu ihm. Sie sieht ihn an, aus diesen meerblau-grünen Augen, in denen er ertrinken könnte. Ihr Ausdruck ist unergründlich. Abneigung? Enttäuschung? Er wartet darauf, dass sie etwas sagt – und wenn es nur Vorwürfe sind. Hauptsache, er hört ihre Stimme. Dann kann er sich sicher sein, dass sie zurück ist.

Genau wie er schweigt sie jedoch bloß. Ihre Hände zittern wie seine und sie drückt sie an ihre Brust. Es kommt ihm vor wie Stunden, die sie einander einfach ansehen, voller Angst und Verlangen.

Endlich traut Finnick sich, ein paar Schritte in den Raum zu gehen, aber auf halber Strecke verlässt ihn der Mut. Nicht hier, schreit wieder die Vernunft, nicht vor den verborgenen Augen des Kapitols!

Annies Lippen zittern, als sie schließlich spricht. Sie sagt nur ein Wort:

„Finnick.“

Eine Stimme wie Muschelscherben, tausendfach gebrochen, rau und doch vertraut. Geliebt. Wärme steigt in ihm auf. Seine Sicht verschwimmt. Die Tränen bahnen sich unaufhaltsam ihren Weg und dann bricht schlussendlich die Vernunft.

Er stürzt auf sie zu und presst sie an sich, bis er ihren wilden Herzschlag an seiner Brust spürt. Niemals wieder will er sie gehen lassen. Finnicks Tränen fallen auf ihre Wangen und vermischen sich mit ihren eigenen.

„Annie“, versucht er zu sagen, aber seine Stimme versagt und er beschließt, dass es warten kann. Jetzt reicht es, sie einfach nur in den Armen zu halten. Er vergisst sogar, dass der Geruch von Titania noch an ihm klebt. Kameras, Snow, sie alle sind in diesem Moment egal.

Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit findet ausgerechnet Annie als erste ihre heisere Stimme wieder. „Ich bin so froh, dass du hier bist.“ Sie blinzelt ihn aus tränenverschleierten Augen an. Eine Träne tropft von ihrer Nasenspitze, was ihr ein kleines zersplittertes Kichern entringt.

Alle Anspannung und Angst von Finnick entlädt sich bei dem Anblick. Der Moment ist so absurd, so eigenartig und gerade deshalb kann er das Lachen nicht unterdrücken. Überglücklich und erfüllt von Leichtigkeit umfasst er ihr Gesicht. Ihr Kuss ist salzig wie das Meer.

Es gibt so vieles, das er ihr sagen will, doch als er sie ansieht, verschwinden die Worte schlicht aus seinem Kopf. Er lacht und weint zugleich und dann küsst er sie einfach nochmal. Und nochmal.

„Ich liebe dich“, wispert er auf ihre Lippen. Soll Snow es doch mitbekommen. Seine Beteuerungen werden dieses Appartement nie verlassen. Das Kapitol wird nichts außer falscher Versprechungen zu hören bekommen. Nur hier drinnen, alleine zwischen ihm und Annie, kann er keine Lüge mehr leben.

Er streicht eine Träne von ihrer Wange. „Es tut mir so leid“, setzt er erneut an, aber sie schüttelt den Kopf.

„Entschuldige dich nicht.“ Sie wischt sich die Augen. „Du hattest keine Wahl.“

„Und trotzdem wollte ich dich schützen.“ Er lockert seine Umarmung etwas, um ihnen Luft zum Atem zu geben.

Erst jetzt kommt Finnick dazu, sie richtig zu betrachten. Gestern Abend hatte das Vorbereitungsteam sich jegliche Mühe gegeben, sie herauszuputzen, mit allem, was die Welt des Make-ups bietet. Im frischen Morgenlicht ist nichts davon übrig und stattdessen sieht er die tiefen Schatten unter ihren Augen – und die roten Ringe an ihren Schläfen. Eine ganz andere Angst brodelt in ihm hoch, begleitet von hunderten neuer Sorgen.

Annie scheint in seinem Gesicht zu lesen. Bevor ihm die erste Frage über die Lippen kommt, schüttelt sie wieder sanft den Kopf. „Nicht jetzt.“

Mühsam unterdrückt Finnick den Drang und drückt sie stattdessen noch einmal an sich, froh, dass selbst das Kapitol sie nicht besiegen konnte. Erst in diesem Augenblick wird ihm klar, wie groß seine Furcht war, dass nach der Behandlung nicht mehr als eine leere Hülle von ihr bleiben würde.

Zwischen seine freudigen Gedanken mischen sich viel zu schnell die ersten Unangenehmen. Er trägt denselben Anzug wie letzte Nacht, dem der schwere Geruch von Titanias Parfüm anhaftet. Auf einmal kommt er sich unrein vor. Überzogen mit den Berührungen einer Fremden, wie ein dreckiges Hemd, das auch nach dem hundertsten Waschgang nicht mehr sauber wird. Und all das mutet er Annie zu.

Er traut sich kaum, seine Umarmung zu lösen, aber schließlich gewinnt das juckende Gefühl auf seiner Haut die Oberhand. Behutsam löst er seine Hände von Annies Rücken und tritt einen Schritt zurück.

Fragend sieht sie ihn an.

„Es ist nur – der Anzug. Ich –.“ Unglücklich zieht er eine Grimasse. Aber sie schafft es, wie immer, ihn zu überraschen.

„Geh ruhig duschen. Ich habe nicht vor, zu verschwinden.“ Irgendwo aus der tiefsten Reserve ihrer Kraft holt sie ein schwaches Lächeln auf ihr Gesicht, aber ihre Lippen zittern dabei und es fällt rasch in sich zusammen.

Es bedeutet Finnick mehr, als er je in Worte fassen könnte. „Danke“, bringt er nur hervor und küsst sie noch einmal, fast schon verlegen.

Sie nickt wissend und sieht dabei beinahe so weise aus wie Mags, gezeichnet von den Spuren eines Lebens, das sie lange vor ihrer Zeit hat reifen lassen.

Er versucht, sich bei der Dusche zu beeilen, doch es dauert eine Weile, bis er den Juckreiz fortgewaschen hat. Zurück im Wohnzimmer ist die Sonne bereits am Aufgehen und zu seinem Leidwesen wachen die übrigen Bewohner des Apartments auf. Und nicht nur das, auch die Arena ist wieder zu Leben erwacht.

Annie sitzt auf dem Sofa, die Knie ans Kinn gezogen und fest die Arme um ihre Beine geschlungen, während auf dem Fernseher Katniss durch den Wald rennt – der lichterloh in Flammen steht.

Anscheinend ist es den Spielmachern nach einem weiteren Tag ohne Tote doch zu langweilig, selbst wenn Seneca Cranes gestrige Ankündigung Wellen geschlagen hat.

Finnicks Herz beschleunigt erneut seinen Takt, dieses Mal allerdings nicht vor Freude. Das Flammenmädchen, umgeben von einem Flammenmeer. Das Kapitol liebt seine pathetische Ironie.

Unsicher sieht er zu Annie herüber. Sie schenkt ihm einen gequälten Blick. „Die Spielmacher haben sie im Schlaf überrascht“, sagt sie mit einer Handbewegung in Richtung Katniss. „Sie ... machen Jagd auf sie.“

Zischend rast ein Feuerball auf die angesengte Gestalt der Tributin zu und sie wirft sich im letzten Moment zu Boden.

»Ich kann einfach nicht wegsehen«, flüstert Annie mit ihrer neuen zerbrochenen Stimme, die Finnick einen Schauer über den Rücken jagt.

»Aber du darfst«, erwidert er leise und tritt an ihre Seite, schützend eine Hand auf ihrer Schulter. Suchend tasten ihre kühlen Finger danach und umschließen sie.

Gemeinsam betrachten sie stumm Katniss Kampf ums Überleben. Sie ist indes nicht die Einzige, die von den Flammen überrascht wurde.

Die Kamera wechselt die Perspektive und nun sind es die Karrieros, die gezeigt werden. Unter seinen Fingern spürt Finnick, wie Annies Muskeln sich spannen.

Mit gezückten Waffen laufen die Tribute durch den dichten Wald, auf der Suche nach ihren nächsten Opfern. Noch sehen sie den Brand nicht. Als die ersten panisch davonspringenden Eichhörnchen ihren Weg kreuzen, ist es zu spät.

Mitfühlend stöhnt Annie bei dem Anblick von Cordelias grimmigen Gesicht auf.

Tatenlos müssen sie zusehen, wie die Karrieros einander verwundert anschauen. Da lassen die Spielmacher auch schon die ersten Flammen durch die Büsche züngeln. Das trockene Laub auf dem Boden um sie herum entflammt rasend schnell. Keuchend fliehen die Tribute vor der Feuerzunge, die ihnen aus dem Wald entgegenschlägt. Sie sind geradewegs in die Falle getappt.

Auf einer kleinen Karte werden ihre gegenwärtigen Positionen eingeblendet. Natürlich ist nichts in den Spielen ein Zufall und so erstaunt es Finnick wenig, dass sie in Richtung Katniss fliehen. Nach dem gestrigen Streit zwischen Peeta und Cato wollen die Spielmacher es offenbar wissen. Womöglich haben sie sogar Kenntnis von dem Bündnis mit Haymitch und arbeiten darauf hin, ihnen den Moment zu nehmen.

Amber kommt aus der Küche dazu, ein Stück Brötchen und ihr Tablet in der Hand.

„Wir sollten in die Zentrale gehen“, sagt sie ohne Begrüßung.

„Ja.“ Finnick richtet sich auf und sieht hinunter zu Annie. Ihr Gesicht ist weiß, aber auch sie nickt mit zaghafter Entschlossenheit.

„Ich komme mit.“ Der Ausdruck in ihren Augen duldet keinen Widerspruch.

»Aber du kannst jederzeit gehen, in Ordnung?«

Annie versucht es mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Okay.«

Sie folgen Amber in Richtung der Zentrale und wie von alleine finden ihre Hände wieder zueinander. Amber bemerkt es, sagt aber nichts.

Umgeben von Cordelias Vitaldaten, unzähligen verschiedenen Kameraperspektiven der Feuersbrunst und der hektisch blinkenden Karte der Arena nehmen sie ihre Plätze an dem Glastisch ein.

Annies Hand lässt Finnick dennoch nicht los. Ihr Atem geht schnell und ihre Finger sind schweißnass, trotzdem hält sie das Kinn hochgereckt und sieht nicht weg.

Floogs und Trexler kommen ebenfalls angestürzt, herbeigerufen von dem Alarm aus ihren Mentorentablets.

Routine ergreift Finnick, während sie sich einen Überblick der Situation verschaffen. Die Flammen bilden einen großen Ring mitten im Herz des Waldes. In ihm eingeschlossen sind die Karrieros, Katniss – und die kleine Tributin aus Distrikt elf, wie er beunruhigt feststellt.

Er ruft ihre Perspektive auf und sieht sie geschwind von Ast zu Ast springen, flink wie ein kleiner Vogel und genauso unsichtbar in den hohen Baumwipfeln. Aber um sie kann er sich jetzt keine Gedanken machen.

„Sie treiben die Tribute vermutlich in Richtung der Lichtung hier“, sagt Floogs und tippt auf eine freie Stelle an der Karte, „die würde sich perfekt für einen Showdown eignen.“ Etwas unglücklich dreinsehend kratzt er sich am Kinn. „Die Frage ist – wollen wir das? Den Showdown, wie ihn sich die Spielmacher vorstellen?“

Grummelnd schüttelt Trexler den Kopf. „Nich’ so, wenn’s sich vermeiden lässt. Wir könnt’n Peeta noch gebrauch’n. Sollten das nich‘ auf’s Spiel setzen.“

Amber pflichtet ihm bei. „Wir sollten es rauszögern, solange wie es geht. Ich hab wenig Lust auf die Liebesschnulze, aber wenn Cordelia später mit Distrikt zwölf abhaut, kann es auch sie am Leben halten. Die Frage ist nur – was können wir tun?“

Finnick seufzt. „Vielleicht nichts, jetzt, wo sie um ihr Leben rennen. Aber das Feuer wird nicht ewig brennen. Vielleicht können wir sie im richtigen Augenblick mit einem Sponsorengeschenk ablenken, sodass sie die Verfolgung aufgeben – oder Katniss die Chance zur Flucht hat.“

Er sieht auf, als Annie aufgeregt nach Luft schnappt. „Ein Bündnis mit Zwölf? Wirklich?“ Mit großen Augen schaut sie in die Runde.

Erst jetzt wird ihm bewusst, dass sie die Entwicklungen der letzten Tage nicht mitbekommen hat. Entschuldigend nickt er. „Ja, es ist eine lange Geschichte, aber Haymitch und ich haben da einen Notfallplan, wie unsere Tribute das Karriero-Bündnis verlassen könnten. Weil Cato Edy ...“, zögerlich bricht er ab. Die Erinnerung an Annie, zusammengesunken in den Armen der Friedenswächter, drängt sich ihm auf.

Doch sie schreit nicht. Konzentriert blickt sie auf das Tablet vor sich und nickt langsam. „Ja, Cordelia kann nicht bei den Karrieros bleiben. Wenn sie bleibt, verrät sie sich selbst. Dann passiert wieder das, was mit dem Jungen aus Distrikt fünf geschehen ist.“ Ihr Blick gleitet in die Ferne und darüber hinaus in ihre eigene Welt. Gedankenverloren spielt sie mit einer langen Strähne ihres Haars.

Alle anderen am Tisch schweigen. Offensichtlich weiß Annie, was in der Arena vorgefallen ist. Hat das Kapitol sie die Spiele sehen lassen? Unruhe packt Finnick bei dem Gedanken daran. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Er drückt ihre Hand in einer Geste unausgesprochener Unterstützung.

„Könnte das die Chance für Cordelia sein, das Bündnis zu verlassen? Ich meine, falls ... falls die Karrieros verletzt werden ...“, Annie beißt sich verlegen auf die Unterlippe, da alle Blicke auf ihr kleben, „naja, dann könnte sie ... mit Peeta flüchten. Vielleicht?“

In dem folgenden Schweigen kriecht ihr Röte in die Wangen. „Entschuldigt“, murmelt sie. „Ich wollte nicht ... ich will bloß, dass sie überlebt.“ Ihr Blick fällt auf die gläserne Tischplatte, auf die sie in einem beständigen Rhythmus mit den Fingerspitzen tappt. Tipp-Tapp, Tipp-Tapp.

Doch Floogs Gesicht hellt sich auf. „Entschuldige dich nicht, Annie, du hast recht. Wenn wir es geschickt drehen, dann können wir das Bündnis beenden, ein für alle mal. Immerhin gibt es nichts, was die Karrieros uns länger bieten können. Haymitch hat den Charme der Außenseiter für sich und jeder will Teil ihrer Geschichte sein. Dort fließen genauso viele Sponsorengelder wie bei den Karrieros. Wenn nicht bald sogar mehr.“

„Das Problem ist nur“, meldet sich Amber zu Wort, „Cordelia weiß noch nichts von ihrem Glück. Haymitch hat gestern Abend Peeta einen Hinweis schicken können, aber wir hatten noch keine Chance, dasselbe für Cordelia zu tun. Und wie könnten wir das in diesem Chaos noch tun?“ Sie verschränkt ihre breiten Arme vor der Brust, als ein unheilvolles Zischen alle Mentoren herumfahren lässt.

Ein Feuerball, von der Größe einer geballten Faust, rast bedrohlich knapp über die Köpfe der rennenden Karrieros hinweg und explodiert in einem Funkenregen an einem Baum. Krachend stürzt seine Baumkrone hinab. Die trockenen Äste fangen sofort Feuer. Fluchend stoppen die Tribute und sehen sich nach einem Ausweg um.

„Da drüben!“, ruft Marvel und sie flüchten durch eine schmale Lücke in der Feuersbrunst, bevor ein neuer Feuerball den Rest des Waldbodens hinter ihnen in Flammen aufgehen lässt.

Herabfallende Äste hinterlassen Kratzer und blutige Striemen in ihren Gesichtern. Glühende Funken brennen sich durch ihre Kleidung. Mehr als einmal verfangen sich dornige Ranken an Schuhen und Hose. Wertvolle Sekunden vergehen, bis sie sich befreien können, und mit jedem Mal nähern sich die Detonationen der Feuerbälle.

Zum ersten Mal bekommen die Karrieros die volle Wucht der Arena zu spüren. Ihr Leben liegt nicht mehr in ihrer Hand. Einzig ihr Überlebensdrang lässt sie weiterrennen, ohne ihrem Schmerzen Raum zu geben. Cordelias Puls auf den Überwachungsbildschirmen rast im Gleichtakt mit Finnicks eigenem.

Wie ein einziges Wesen stöhnen die Mentoren auf, als ein brennender Ast Cordelias Jackenärmel aufreißt. Verbrannte Haut ist zu sehen. Der Geruch von angesengtem Fleisch dringt Finnick aus dem Nichts in die Nase, eine ferne Erinnerung an seine Hungerspiele. Er drückt Annies Hand noch fester, falls das möglich ist, und sie umklammert ihn ebenfalls.

Katniss ergeht es nicht besser. Blind rast sie durch den Wald. Funken versengen Jacke und Haare, jeder Einschlag näher als der vorherige. Schwer atmend bricht sie schließlich zusammen. Einen Moment gönnen ihr die Spielmacher Ruhe. Fast glaubt Finnick, dass sie es geschafft hat, obwohl er es besser wissen müsste.

Dann – ein Zischen. Der nächste Feuerball erwischt Katniss Unterschenkel und hinterlässt eine tiefrote Wunde. Mit schmerzverzerrtem Gesicht läuft sie weiter. Lange wird sie das Tempo nicht durchhalten können.

Das scheinen auch die Spielmacher zu begreifen, denn sie schicken zumindest keine neuen Feuerbälle in Richtung der Tribute. Der Wald jedoch brennt immer noch lichterloh und entwickelt sich zur Todesfalle.

Hände und T-Shirts vor Nase und Mund gepresst stolpern die Karrieros durch den verrauchten Wald. Die Schwaden hängen tief zwischen den Bäumen und rauben ihnen die Sicht. Mit kratzigen Stimmen rufen sie einander, um sich nicht zu verlieren. Ihre Waffen behalten sie trotzdem in den Händen, jederzeit bereit.

Ihre Kontrahentin hat mehr Glück, sie findet einen Weg hinaus aus dem Rauch und stolpert geradewegs in ihre Rettung, einen kleinen Teich, hinein. Die Augen geschlossen bricht Katniss stöhnend im Wasser zusammen und rollt sich auf den Rücken.

Ihr Leichtsinn lässt Finnick ärgerlich mit der Zunge schnalzen. Jeden Moment könnten die Karrieros über sie stolpern, doch das scheint sie nicht zu kümmern. Vielleicht denkt sie nicht daran. So oder so kann es sie das Leben kosten. Für den Augenblick muss er sich vorerst abwenden, denn Cordelia verlangt seine Aufmerksamkeit.

Glimmer hat einen verirrten Sonnenstrahl ausgemacht und mit tränenden Augen laufen die Karrieros ihm nach, fort von dem Brandherd. Sie landen auf einer vom Feuer unberührten Lichtung.

Nervös schaut Finnick auf die Karte. Nur etwas mehr als ein Kilometer trennt sie von Katniss Position. Sie sind genau dort, wo die Spielmacher sie haben wollen.

Zunächst sind sie indessen mit sich selbst beschäftigt. Cato reißt sich den prall gefüllten Rucksack vom Rücken und gräbt seine Wasserflasche aus. Ein Seufzer, zur Hälfte Schmerz, zur anderen Hälfte Erleichterung, entrinnt seiner Kehle, sobald er mit dem Wasser Augen und Mund auswäscht.

Die übrigen Karrieros tun es ihm gleich. In der Arena herrscht gespenstische Stille. Die Tiere sind fast alle vom Waldbrand vertrieben worden und nicht ein einziger Vogel singt, während die Tribute schwer atmend im Gras liegen.

Lediglich die schmale Tributin aus Distrikt elf sitzt unbemerkt im hohen Geäst und späht mit großen Augen hinab auf ihre Feinde. Ein kleines Lächeln in die Kameras und sie hüpft geräuschlos weiter. Entgegen Finnicks Befürchtungen hat das Feuer ihr nichts anhaben können. Rue. Er beschließt, sich endlich ihren Namen einzuprägen, sie hat es verdient.

Amber trommelt mit den Fingern auf den Glastisch, wie Annie. „Sieht aus, als wär’s das mit dem Feuer. Also, was jetzt?“ Sie schaut in die Runde.

„Wir warten“, entgegnet Finnick entschlossen. „Lass Cashmere ihr wertvolles Sponsorengeld ausgeben, du weißt, es brennt ihr unter den Nägeln. Cato und seine Freunde werden sich darauf stürzen, sobald das erste Geschenk ankommt. Und dann, wenn sie auspacken –“

„ – Kommt unser Geschenk direkt zu Cordelia, sodass keiner von ihnen mitbekommt, was wir ihr schicken“, greift Amber seinen Gedanken auf. Sie grinst. „Oh ja, das ist ein Plan. Also, was schicken wir ihr?“

Mit einem Räuspern meldet Floogs sich zu Wort. „Antiseptische Salbe. Cashmere wird sicherlich zur Brandsalbe greifen, aber wenn die Wunde erst einmal versorgt ist, besteht immer noch die Gefahr einer Infektion. So haben wir einen Grund, Cordelia ein eigenes Geschenk zu schicken, können die Botschaft unterbringen – und helfen ihr.“

„Irgendwelche Einwände?“, fragt Amber. „Nein, gut. Dann bereite ich den Abwurf vor. Hoffentlich fressen die Kosten nicht all unsere Reserven auf.“

Für alle sichtbar ruft sie die Informationen zu ihren Geldern und den verfügbaren Sponsorengeschenken auf. Die Salbe kostet ein kleines Vermögen, aber zumindest weniger als die Brandsalbe. Und sie haben nicht zu viel gehofft – ein silbriger Schirm geht bereits in der Arena nieder, bevor Amber überhaupt ihre Bestellung tätigen kann.

Cato schnappt ihn direkt aus der Luft. Grinsend schwenkt er das Geschenk über seinem Kopf, damit alle Kameras es einfangen können. „Dann wollen wir mal sehen, was wir unseren Fans wert sind“, verkündet er.

Glimmer springt auf, so schnell ihre Blessuren es erlauben. „Oh, lass mich sehen“, quiekt sie freudig. „Ich hoffe, es ist was gegen den Rauch im Hals. Mir ist ganz übel.“

Auch die anderen scharen sich um Cato – gerade rechtzeitig für die Ankunft eines zweiten Fallschirms.

„Sieht aus, als wäre Cash in Gönnerstimmung“, kommentiert Amber, den Finger über dem Tablet schwebend, in Erwartung des richtigen Augenblicks.

Selbst Cordelia schließt sich ihren Verbündeten an, die gierig die Dosen aufreißen und Salbe sowie einige Tabletten gegen die Rauchvergiftung erbeuten. Stumm hält sie sich ein paar Schritte im Hintergrund und wartet darauf, das Medikament gereicht zu bekommen. Erst ist allerdings Cato an der Reihe, der sich großzügig die grüne Paste auf jede noch so kleine Blase schmiert, bis Glimmer ihn genervt anrempelt, um selber dranzukommen.

„Besser wird’s nich‘ mehr“, stellt Trexler nüchtern fest.

Amber schickt die Bestellung ab. Keine Minute später erscheint ihr silbriges Schirmchen in der Arena. Einen Moment lang sieht es so aus, als wolle Cordelia ihr Geschenk nicht ergreifen, doch sobald sie bemerkt, dass es nicht auf Cato zusteuert, streckt sie die Arme danach aus. Die anderen bemerken die Ankunft, geben sich aber damit zufrieden, dass sie kurz murmelt „Salbe gegen Entzündungen“ und fahren fort, sich einzureiben.

Cordelias Miene ist ausdruckslos, während sie den kleinen Zettel mit Ambers Botschaft liest. Sie starrt kurz auf die Dose, dann knüllt sie kurzerhand den Papierstreifen und schiebt ihn tief in ihre Hosentasche.

„Gib mir auch mal die Salbe, Marvel“, fordert sie und wirft ihm im Gegenzug ihr Sponsorengeschenk zu. Ihr Blick flackert kurz zu Peeta hinüber, aber sie lässt sich nichts anmerken. „Die Scheiße tut nämlich wirklich weh.“

Neben Finnick stößt Annie einen Laut der Erleichterung aus. „Ich brauch eine kleine Pause“, flüstert sie mit glasigen Augen. Steifen Schrittes geht sie zu dem Balkon, der an die Mentorenzentrale angeschlossen ist.

Rasch folgt Finnick ihr. Fürs Erste ist die Gefahr gebannt und Cordelia in Sicherheit. Seine Angst um ihre Tributin wechselt sich fließend mit der um Annies Zustand ab. Er muss wissen, was das Kapitol ihr angetan hat, und fürchtet sich doch vor der Antwort, wie sonst nicht einmal vor dem Tod.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: irish_shamrock
2021-06-10T17:15:56+00:00 10.06.2021 19:15
Hallo Coronet,

hm, ein Kapitel, dass mich zwiespältig zurücklässt.
Und ich denke, dass es Finnick nicht anders erging :').
Der arme Junge, doch sein Verhalten ist durchaus nachvollziehbar.
Leichter Stolz auf Annie begleitet das Kapitel, sie gibt sich Mühe, nicht nur was die Spiele betrifft. Auch im Hinblick auf Finnick. Man möchte beide in eine Decke wickeln. Da, wo er sich aufgibt, tritt sie als Starke auf, und wirkt vielleicht sogar ein wenig ... abgebrüht?
Wieder ein großes Lob für die Darstellung der Spiele. Ich hatte wirklich Angst im Rue, und dass sie es nicht aus dem "burning ring of fire" schafft (was natürlich unnötig ist).
Was Cornelia betrifft, stehe ich nach der "Fallschirm"-Szene etwas ratlos da. Doch allzu viel Lebenszeit wird auch ihr nicht mehr bleiben und ich bin gespannt, was du dir für sie ausgedacht hast und was all das vor allem mit Annie und ihrer Beziehung zu Finnick macht.

Liebe Grüße,
irish C:
Antwort von:  Coronet
10.06.2021 20:23
Hey,

huch, so schnell hatte ich gar nicht mit einem neuen Kommentar gerechnet :D
Finnick ist definitiv hin und hergerissen zwischen Freude und Sorge. Wenigstens kann er Annie jetzt wieder um sich haben...
Ich finde immer, dass Annie auch etwas an sich haben sollte, was sie stark macht - und im Idealfall Finnick ergänzt. Sie ist zwar keine Kriegerin im klassischen Sinne, aber eine Kämpferin, was ihre mentalen Probleme angeht. Auf der einen Seite ist es ihre große Schwäche, aber dass sie dennoch weitermacht, ist gleichzeitig auch wieder ihre Stärke. Sie hat so viele schreckliche Momente erlebt, aber sie schafft es, sich nicht vom Abgrund verschlingen zu lassen, sondern steht wieder auf.
Natürlich wird die ganze "Therapie" noch ihre Wunden zurücklassen, denen ich hoffentlich gerecht werden kann, aber zunächst überwiegt die Erleichterung, überlebt zu haben und wieder an Finnicks Seite zu sein. Und ja, vielleicht ist sie wirklich schon etwas abgestumpft durch alles Erlebte.
Dankeschön :) Die Spiele gehören tatsächlich immer zu meinen Lieblingsszenen beim Schreiben!
Leider hast du recht - wir nähern uns schon dem gewissen Vorfall. Im Gegenzug bin ich mal gespannt, wie du dann darauf reagieren wirst ;)

Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar und liebe Grüße zurück
Coro


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