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Something Strange

Vanished
von

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Chapter 6

Es war kein Blick auf die Uhr, der Randall letztendlich doch die Kraft dazu verlieh, sich vom kalten Asphalt aufzurappeln und die noch gut fünfundzwanzig verbleibenden Meter zurückzulegen, die ihn noch von der Rosalin-Parson-High School trennten. Nein, er hatte, trotz des eingebildeten Geräusches eines voranrückenden Sekundenzeigers, nicht einmal daran gedacht, nach der Uhrzeit zu sehen, womöglich auch aus der unterbewussten Angst heraus, dass die Gewissheit ihn noch zusätzlich in Panik versetzen würde.

Nein, was ihn hatte zusammenfahren lassen war das laute, durchdringende Klingeln der Schulglocke gewesen, die unmissverständlich und ohne jeden Kompromiss den Beginn der ersten Stunde verkündet hatte, und damit die Pflicht sämtlicher Schüler, sich auf ihre Plätzen in ihren jeweiligen Unterrichtsräumen zu begeben.

Seinen noch immer schmerzenden Rippen zum Trotz, mit weiterhin keuchendem Atem und viel zu schnell pochendem Herzen, war es Randall irgendwie gelungen (und ich wie genau er das geschafft hatte, konnte er selbst nicht sagen), sich an den Zaunpfählen nach oben zu ziehen und so wieder auf die Beine zu kommen, und dann, sobald er einen halbwegs stabilen Stand erreicht hatte, seinen Weg in einem einigermaßen raschen Tempo fortzusetzen.

Im Gehen zog er sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf und senkte den Blick, um die Pflastersteine unter seinen Füßen zu betrachten.

Er hatte vielleicht den größten Teil seines Verstandes darauf konzentriert, vor Atemnot und Schmerz und, nicht zu vergessen, Schlafmangel nicht das Bewusstsein zu verlieren, aber dennoch waren ihm nicht die vier oder fünf Schüler entgangen, die in eiligem, jedoch nicht übermäßig gehetztem Schritt an ihm vorbeigegangen waren und die ihn ganz sicher nicht übersehen haben konnten.

Keiner von ihnen hatte angehalten, um zu sehen, was mit ihm los war. Keiner von ihnen hatte auch nur versucht, irgendwie behilflich zu sein. Keiner hatte gefragt, ob alles in Ordnung war.

Sie hatten höchstens für einen Augenblick ein wenig ihr Tempo verringert.

Und dann hatten sie ihn wahrscheinlich erkannt. Erkannt, wer er war; jeder in der Schule, nein, jeder in der Stadt wusste, wer er war, und waren dann zu der Erkenntnis gelangt, dass es keinesfalls nötig sein würde, anzuhalten und so ihre wertvolle Zeit zu verschwenden.

Nicht für so jemanden wie ihn.

Die Selbstverständlichkeit, mit dem ihm diese harten, abschätzigen Gedanken kamen, ließen Randall einen Schauer über den Rücken laufen. Momente wie diese waren es, die ihm die Schmerzhafte Tatsache deutlich vor Augen führten, dass, wenn man etwas nur oft genug von allen Seiten gesagt oder zumindest zu spüren bekam, es erstaunlich leicht passieren konnte, dass man diese entgegengebrachten Gefühle - in seinem Falle Abneigung, bis hin zu ernsthafter Furcht - in sein eigenes Denken etablierte.

Und irgendwann selbst daran glaubte.

Das war das eigentlich Schlimme an der Art, wie seine Mitschüler und auch viele andere Leute aus Clover Rock Randall seit über zehn Monaten behandelten.

Natürlich, die Blicke, die sie ihm oder sich gegenseitig zuwarfen, wenn sie ihm über den Weg liefen, manche bemüht diskret, andere geradezu provozierend offen, waren alles andere als angenehm. Ebenso wie die Bemerkungen und Gerüchte, die man sich erzählte, und die er unmöglich allesamt überhören konnte. Oder das Geflüster und Gekichere, das immer irgendwo ein wenig Nervosität zu beinhalten schien. Es stand vollkommen außer Frage, dass all das verdammt unangenehm war und er gerne darauf verzichtet hätte.

Doch war nichts davon in einem solchen Ausmaße schlimm, wie die Selbstzweifel, die alles das in ihm weckte. Zweifel nicht nur auf sein Selbstbewusstsein bezogen.

Sondern auch daran, dass das, was er so oft vor den Polizisten, vor den Reportern, vor überhaupt allen beteuert und geschworen hatte, wirklich und wahrhaftig der Wahrheit entsprach.

Mit einem wütenden Kopfschütteln, das bei weitem nicht so entschlossen wirkte, wie Randall es sich vorgestellt hatte, wischte er diese nagenden Gedanken beiseite, zumindest für eine Weile - sie würden bei der nächsten Gelegenheit wieder zum Vorschein kommen, daran bestanden nicht der Hauch eines Zweifels - und konzentrierte sich mit aller Kraft auf den noch vor ihm liegenden Weg, der ihm viel, viel länger vorkam, als er eigentlich sein sollte.

Er war nicht der einzige, der nicht ganz pünktlich seinen Unterrichtsraum erreichen würde.

Ein gutes Dutzend weiterer Schüler lief mit zum Teil gestresst verzerrten Gesichtern über den Hof auf die Eingangstür zu, und bei den Bänken, die unter den alten Lindenbäumen standen, hatte sich eine kleine Gruppe von Rauchern versammelt, die nichts so wenig zu interessieren schien wie die Tatsache, dass der Unterricht soeben offiziell begonnen hatte.

Mit einem aufkeimenden Gefühl der Nervosität stellte Randall fest, dass er einige dieser Personen kannte. Sie waren im selben Jahrgang wie er, besuchten einige der gleichen Kurse, und bei niemandem davon legte er großen Wert darauf, von ihm entdeckt zu werden.

Den Blick gesenkt und auf den grauen, rissigen Boden geheftet wagte er kaum zu atmen, als er in einer realistisch betrachtet recht sicheren Entfernung von gut zwanzig Metern an ihnen vorbei hastete, aus der irrationalen Angst heraus, eine der Personen könnte ihn über das Heulen hinweg hören und ihn entdecken.

Dabei schenkte keiner der Raucher ihrer Umgebung sonderlich große Aufmerksamkeit. Viel mehr schienen sie vollkommen von ihren Zigaretten beansprucht, die sie mit von der scharfen Kälte geröteten Fingern umklammerten und in einer Art unhörbarem Rhythmus immer wieder zum Mund führten und dann weißen Rauch in die eisige Luft bliesen, ohne dabei auch nur ein einziges Wort von sich zu geben.

Jemand schlug Randall im Vorbeilaufen mit dem Ellenbogen gegen die Schulter. Überrascht schnappte dieser nach Luft, stolperte einen Schritt zur Seite und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren, während die Person, welche verantwortlich für sein Straucheln gewesen war, vollkommen unbeeindruckt weiter und die steinerne Treppe hinaufrannte, die zur Eingangstür führte. Nicht einmal umblicken tat sie sich. Zumindest nicht, bevor sie die Tür aufgerissen hatte, hinein in die Eingangshalle gelaufen war und besagte Tür wieder hinter sich zugedrückt hatte.

Dann jedoch hielt er inne.

Drehte sich, den eisernen Griff der Flügeltüren noch immer fest umklammerte, um, und sah Randall, der gerade eben die oberste Stufe erreicht hatte und seinerseits nach der eiskalten Klinke griff, direkt in die Augen.

Es war ein pummeliger Junge mit kurz geschorenen, hellblonden Haaren, nicht älter als fünfzehn, einen ganzen Kopf kleiner als Randall und dabei mit einem Grinsen im Gesicht, das derart selbstgefällig war, dass man Donald Trump im Vergleich dazu Minderwertigkeitskomplexe unterstellen konnte.

Allein dieses Grinsen weckte in Randall eine Welle der Aggression, von der er ernsthaft befürchtete, sie nicht unbedingt lange kontrollieren zu können.

Versuchend, sich nicht unnötig von diesem Anblick provozieren zu lassen, drückte er die Klinke hinab, wollte die hellgraue Plastiktür aufdrücken, um ehrlich ins warme und dann auch in seinen Unterrichtsraum zu kommen... doch der Kleine stemmte sich mit all seinem Gewicht dagegen. Sein Grinsen schien dabei noch breiter zu werden, und im ersten Moment war Randall so überrascht von seiner Aktion, dass er die Klinke perplex wieder losließ.

Der Junge, auf der anderen Seite unbeweglich verharrend und weiterhin mit diesem ekelhaften Grinsen nach draußen glotzend, stieß ein lautes, prustendes Lachen aus als er den verwirrten Gesichtsausdruck seines Gegenübers sah, ein Geräusch, das von dem billigen, dünnen Plastik, aus dem die Doppeltüren bestanden, kaum gedämpft wurde.

Am liebsten hätte Randall ihm eine reingehauen.

Noch einmal versuchte er, die verdammte Türe mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, aufzudrücken, doch ohne Erfolg, der Typ schien eine gute halbe Tonne zu wiegen. Vollkommen unbeweglich stand er da, wie großer Fels in einer Brandung - nur das Felsen für gewöhnlich nicht so verdammt widerlich grinsten - und hob nun auch noch eine Hand, um damit betont langsam in der Luft herum zu winken. Die ganze Situation schien ihm eine unglaubliche Freude zu bereiten.

"Findest du das witzig?" Randall hatte seine Stimme ruhig und gefasst klingen lassen wollen, doch das, was er da soeben hervorgebracht hatte, war viel mehr ein Fauchen gewesen, und es besaß keine Spur von Gelassenheit. "Mach die Tür auf, du Trottel!"

"Und wenn nicht?"

Vollkommen unbeeindruckt machte der Junge keinerlei Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen, herausfordernd starrte er seinem Gegenüber durch das Glas direkt in die Augen, mit einem Ausdruck in seinem Blick, der nur zu deutlich machte, wie sehr ihn das Ganze doch amüsierte. "Was machst du dann? Bringst du mich um?"

Wenn er ehrlich war, dann hatte Randall nicht erwartet, dass ihm diese Worte auch nach so langer Zeit noch einen derart schmerzhaften Stich in den Eingeweiden verursachen konnten. Er hatte geglaubt, sich daran gewöhnt zu haben, hatte er derartige Bemerkungen doch so oft bereits zu hören bekommen, ob nun auf spöttische, provokante, oder auch schlicht und ergreifend von purem Hass erfüllte Art und Weise. In den Sommermonaten war es besonders schlimm gewesen. Nachdem der Ansturm der Medien ein wenig abgeebbt war und den ermittelnden Polizisten keinerlei Fragen mehr einzufallen schienen, die ihnen neue Erkenntnisse welcher Art auch immer verschaffen könnten, und der Aufruhr, der von den Bürgern von Clover Rock Besitz ergriffen hatte, sich zumindest langsam zu legen begann, schienen mit einem Mal ein ganzer Haufen von Leuten, vorrangig Schüler der Rosalin-Parson-High School, ein unfassbar großes Vergnügen daran gefunden zu haben, solche Kommentare von sich zu geben. Manche von ihnen Taten es aus purem Hohn, oder aus dem einfachen Grund, dass so viele es Taten, doch die meisten, daran bestand überhaupt kein Zweifel, taten es darüber hinaus aus purer Überzeugung.

Sie glaubten, dass es stimmte, was sie selbst und all die Reporter und überhaupt fast jeder über ihn sagten, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen, irgendetwas daran zu hinterfragen. Sie glaubten, mit absoluter und unwiderlegbarer Sicherheit zu wissen, dass Randall Flynt ein Mörder war.

Dass er seinen eigenen Cousin ermordet hatte.

Der Minutenzeiger auf der billigen grauweißen Wanduhr am anderen Ende der Eingangshalle sprang auf fünf Minuten nach acht.

Fast glaubte Randall, dass laute "Klack" hören zu können; die höhnische, mechanische Stimme der Zeit, die ihren Spott und ihre Belustigung darüber zum Ausdruck bringen wollte, wie sie unaufhaltsam weiter lief, unbeeindruckt von jeder irdischen Handlung, und davon, dass Randall vor der Einganstüre der High School stand, bereits fünf Minuten zu spät, und nicht viel anderes tun konnte, als der Uhr beim Ticken zuzuschauen.

"Was ist denn los? Ist die Tür kaputt?"

Vollkommen überrascht von dem Klang der angenehmen, ruhigen Stimme, die wie aus dem Nichts gekommen zu sein schien - er hatte vollkommen vergessen, dass er nicht die einzige Person auf dem Schulhof gewesen war - drehte Randall sich um, dabei den Griff der Tür weiterhin umklammert haltend und sich noch immer leicht dagegen lehnend. Der kleine Junge folgte seinem Blick, und das arrogante Grinsen wich aus seinen Gesicht als habe es jemand mit einem Putztuch abgewischt, und mit einem Mal sah er aus, als würde er am liebsten auf der Stelle im Erdboden versinken.

Dass er sich dennoch nicht von der Stelle bewegte und stattdessen auch weiterhin die Tür am Öffnen hinderte war wohl einzig und alleine dem Schock geschuldet.

Randall bemerkte diese Veränderung der Mimik nicht. Er hatte seine Aufmerksamkeit der Person gewidmet.

Vor ihm, mit vom Wind zerzaust Haaren und schlammverschmierten Schuhen, was sie jedoch nicht im geringsten zu kümmern schien, stand Miss McCarthy.

Miss McCarthy war Lehrerin für Mathematik und Biologie, gerade einmal Mitte zwanzig, doch dabei von Anfang an im Gegensatz zu vielen ihrer jungen Kolleginnen und Kollegen mit einer Selbstsicherheit aufgetreten, die jeden bloßen Gedanken daran, sie mit irgendwelchen kindischen Streichen auf die Probe zu stellen, im Keim erstickt hatte.

Sie war dabei niemals unfreundlich gewesen, sondern schlicht und ergreifend einfach sehr energisch und zielstrebig, dabei jedoch nicht humorlos und allgemein ausgesprochen unkonventionell, was ihre Ansichten anbelangte. Das war wohl auch der Grund, weshalb sie trotz ihrer bestimmten und oftmals strengen Art von den meisten Schülern der Rosalin-Parson-High gemocht wurde, und viele brachten ihr weitaus mehr Achtung entgegen, als Mr. O'Brian, dem häufig schlecht gelaunten Schuldirektor, der Nachsitzen für eine gerechte Strafe für jede noch so kleine Unaufmerksamkeit während des Unterrichts hielt, oder auch als dem cholerischen Mr. Lamb, hinter dessen Rücken nicht selten dumme Witze über ihn gemacht wurden.

Etwas, was sich bei Miss McCarthy wohl niemals jemand trauen würde.

Woher genau der allgemein vorhandene Respekt vor dieser kleinen, ein wenig stämmigen Frau rührte, vermochte niemand so recht zu sagen - Fakt war, er war da. Und niemand würde es wagen, sich jemals ernsthaft mit Mrs. McCarthy anzulegen.

Keiner wusste, was in einem solchen Fall passieren, wie sie reagieren würde. Und niemand legte auch nur den geringsten Wert darauf, das herauszufinden.

Auch der Jungen hinter der Glasscheibe schien genau zu wissen, wenn er dort vor sich hatte, obgleich er schätzungsweise noch nicht lange auf diese Schule gehen dürfte, und auch er schien keinerlei Interesse daran zu haben, die Geduld der jungen Lehrerin auf die Probe zu stellen. Den Schock ihres Auftauchen anscheinend überwunden habend drehte er sich um, ließ endlich von der Tür ab und lief mit großen Schritten durch die Halle auf eine der beiden großen Treppen an deren Ende zu, von denen eine in den ersten und die andere in den zweiten Stock führte.

Randall, der den Blick noch immer Miss McCarthy zugewandt und somit nicht gesehen hatte, wie der jüngere Schüler von dannen gezogen war, stieß einen überraschten, leisen Aufschrei aus, als die Tür unter dem nun fehlenden Gegendruck mit Leichtigkeit aufschwang und wäre um ein Haar gestürzt, hätte er sich nicht weiterhin am kalten Griff festgeklammert und sich so, wenn auch wenig elegant, auf den Beinen gehalten.

Einer der Raucher, der sich mittlerweile wohl doch bequemt hatte, sich auf den Weg in seinen Unterricht zu machen - hauptsächlich deshalb wahrscheinlich, weil er fertig war mit Rauchen und das Wetter nicht dazu einlud, sich länger als unbedingt nötig im Freien aufzuhalten - kam in mäßigem Tempo die Treppe hinauf, vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass er viel zu spät dran war.

Randall erkannte ihn sofort. Braydon House war sein Name, ein typischer, geradezu klischeehafter Sportlertyp, der Football spielte und sich ansonsten herzlich wenig für die Schule interessierte, und nur deshalb keine komplett schlechten Noten bekam, weil er immer irgendjemanden fand, der ihn abschreiben ließ. Abgesehen davon, dass er vielleicht nicht super intelligent, aber auch nicht vollkommen dämlich war, hätte er direkt aus einem Teenie-High-School-Film entsprungen sein können - oder einem Slasher-Film.

Braydon trat durch die geöffnete Tür, mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran ließ, dass er sich einen blöden Spruch nur deshalb verkniff, weil die Lehrerin ihn dafür mit Sicherheit sofort zurecht gewiesen hätte.

Miss McCarthy ihrerseits blickte dem kleinen Jungen nach, der das Ende der Eingangshalle mittlerweile erreicht hatte und die Treppe zum zweiten Stock hinauf hastete, in einem Tempo, als hinge sein Leben davon ab, und schüttelte dabei missbilligend den Kopf.

"Manchmal komm ich mir hier vor, wie im Kindergarten!"

Dann betrat auch sie die Eingangshalle, warf dabei einen Blick auf die Uhr und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, als sie erkannte, dass ihr Unterricht bereits vor sieben Minuten hätte beginnen sollen. "Na, wunderbar! Die Schüler freuen sich bestimmt..." Sie stieß ein leises Seufzen aus, machte Anstalten, ihren Weg fortzusetzen, hielt dann jedoch wieder inne. Musterte Randall, der noch immer unbeweglich, sich am Türgriff festklammernd dastand, den Sekundenzeiger der Uhr betrachtend, der unaufhaltsam vorwärts tickte...Der Minutenzeiger sprang auf acht Minuten nach acht.

Miss McCarthy zögerte. Eine weitere Eigenschaft an ihr, die sie so beliebt machte, waren ihr Einfühlungsvermögen und ihr Verständnis, sowie die Tatsache, dass sie in den meisten Fällen recht schnell begriff, was in den Köpfen anderer Leute vor sich ging. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie unfassbar unangenehm es ihr früher immer gewesen war, wenn sie wieder einmal viel zu spät und somit nach dem Eintreffen des Lehrers in die Klasse gestürzt kam, und dieser sie sofort mit diesem herausfordernden Blick bedachte und sie fragte, warum sie denn so spät dran war. Meist in einem Tonfall, als habe sie gerade irgendjemanden verprügelt. Und alle hatten sie angestarrt. Als wäre ihr gerade ein zweiter Kopf gewachsen oder die Haare ausgefallen oder sonst irgend etwas abartiges mit ihr passiert. Und nicht selten hatten sie gekichert. Als gäbe es nichts interessanteres und peinlicheres als einen zu spät kommenden Schüler.

Damals, als ihr Selbstbewusstsein noch so gut wie nicht vorhanden gewesen war, waren derartige Situationen die Hölle für sie gewesen.

Und für sie bestand kein Zweifel daran, dass es Gedanken dieser Art waren, die im Kopf des vor ihr stehenden Schülers vor sich gingen. Wie eigentlich die meisten Bewohner der Stadt wusste sie, wer er war. Sie wusste, was ihm vorgeworfen wurde und für was der Großteil der Leute ihn hielt und wie sie ihn infolgedessen behandelten. Sowohl Schüler als auch Lehrer.

Sie selbst hielt nicht das Geringste von dieser Stigmatisierung, nicht, solange die polizeilichen Ermittlungen noch keinerlei Ergebnisse vorzuweisen hatten. Im Zweifel für den Angeklagten, doch das schienen viele Menschen nicht in ihren Kopf zu bekommen.

Jedenfalls konnte Miss McCarthy sich nur zu gut vorstellen, dass es nicht gerade angenehm sein dürfte, unter derartigen Umständen überhaupt in die Schule zu kommen, geschweige denn zu spät, wenn einen alle mit diesen Blicken anglotzten wie einen Außerirdischen. Dummerweise war die einzige Alternative in solch einer Situation, die Schule zu schwänzen. Was sie, zugegebenermaßen, damals einige Male ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Doch natürlich war das keine Lösung.

Ein weiterer Schüler, ein Mädchen diesmal, wohl aus einer der unteren Klassen, schob sich an ihr vorbei, mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und einem Gesichtsausdruck, als sei sie auf direktem Weg zu ihrer eigenen Hinrichtung. Miss McCarthy sah ihr nach, und Randall, der nun endlich aus seiner Starre erwachte und wieder fähig war sich zu bewegen, folgte ihrem Blick, mit einem wachsenden Gefühl der Panik im Magen.

Er wusste es nicht, doch Miss McCarthy hatte mit ihren Vermutungen zu seinen Gedankengängen fast genau ins Schwarze getroffen. Nur, dass die Blicke seiner Mitschüler nicht sein größtes Problem waren - diese musste er ohnehin den ganzen Tag über ertragen. Was viel Schlimmer sein würde, waren Mr. Lambs Kommentare.

Ein weiteres Fortrücken des Minutenzeigers. Neun Minuten nach acht. Elf nach, bis er den Unterrichtsraum erreicht hätte. Elf Minuten Verspätung, über die Mr. Lamb sich würde aufregen können. Wegen denen er ihm spöttische Sprüche an den Kopf werfen konnte.

Mr. Lamb konnte keinen seiner Schüler wirklich leiden, und weshalb er ausgerechnet Lehrer geworden war, erschloss sich absolut niemandem. Doch gab es einige Individuen, wie er sie gerne nannte, die er noch weniger ausstehen konnte, als den Rest.

Und Randall gehörte definitiv dazu.

"Das wird nicht besser, wenn du noch länger wartest."

Die Stimme klang einfühlsam, aber bestimmt. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Miss McCarthy ihm einen mitfühlend Blick zuwarf, als sie an ihm vorbeischritt und den Weg in Richtung des mittleren der zu den Unterrichtsräumen führenden Gänge einschlug, dabei in Gedanken bereits planend, wie sie ihren Schülern ihre Verspätung erläutern würde. Bei jeder anderen Person hätte dieser Satz höchstwahrscheinlich wie ein Vorwurf geklungen, womöglich sogar mit einem genervten Unterton hervorgebracht, doch Miss McCarthy meinte es schlicht und ergreifend einfach so, wie sie es sagte: Eine andere Möglichkeit, als in den Unterricht zu gehen, gab es nicht. Zumindest keine, die letztendlich nicht noch mehr Probleme verursachen würde. Und je länger er noch abwartete, desto schlimmer würde es letztendlich werden.

Also ließ er den Griff der Tür, der unter seinen Händen mittlerweile angenehm warm geworden war, los und setzte sich in Bewegung. Folgte Miss McCarthy durch die Eingangshalle, und der einzige klare Gedanke, der währenddessen durch die immer stärker werdende Panik hindurch in sein Gehirn drang, war: Dr. Parker glaubt vielleicht, dass das irgendwann leichter wird. Aber das stimmt nicht.



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