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The great talent of always making things more complicated

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Jep, ich weiß, es ist eine Ewigkeit her, dass ich diese Story geupdated hab. Ich bin umgezogen, hab mein Studium begonnen und diese Story hier zugegebenermaßen zwischendurch irgendwie vergessen, aber nun hole ich sie mal wieder aus dem Nirwana zurück. Außerdem bin ich nun in der Lage, Textpassagen kursiv zu schreiben! (Ein Hoch auf mein unfassbar gutes Codierungsverständnis :D) Viel Spaß bei dem Kapitel, wo eindeutig bewiesen wird, dass man es nicht leicht mit Teenagerjungs im Leben hat. ^-^ Komplett anzeigen

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Family Issues

Tai warf einen Blick auf das Display seines Handys, während er quer durch das Schulgebäude sprintete. Es war bereits 08:05 Uhr, und das nur, weil er viel zu lange am Bahnübergang hatte warten müssen. So ein verdammter Mist.

Es war für seinen Lehrer Sensei Yoshimura nichts Neues, dass er zu spät kam, und genau das gab ihm zu denken. Er hatte bereits zweimal eine Ermahnung in dem Fach bekommen, sodass er sich eigentlich vorgenommen hatte, künftig pünktlich zu kommen. Aber andererseits war es nun einmal auch nicht einfach, am Montagmorgen sein Bett überhaupt zu verlassen...

Seine einzige Hoffnung war wohl, dass Sensei Yoshimura heute ebenfalls zu spät kam, aber diese löste sich wohl in Luft auf, als er die Tür seines Klassenraums aufstieß. Sofort fielen die Blicke seiner Klassenkameraden auf ihn. Matt und Sora sahen ihn eher mitleidig an, während die anderen zu tuscheln begannen.

„Tut mir leid, es war leider sehr glatt draußen, und deswegen konnte ich nicht so schnell fahren“, erzählte Tai die Ausrede, die er sich schnell auf dem Weg hierhin zurechtgelegt hatte, doch natürlich sah Yoshimura nicht überzeugt aus.

„Das Problem hätte man lösen können, indem du einfach ein bisschen eher losgefahren wärst, Kamiya.“ Er musterte seinen Schüler eindringlich, sodass es Tai so langsam ziemlich unangenehm wurde. „Du kannst dich setzen, denn eigentlich kommst du gerade rechtzeitig. Ich wollte nämlich gerade eure Klausuren zurückgeben.“

Tai schlenderte auf seinen Platz neben Matt, und begann, seine Sachen herauszukramen. Matts Blick flog flüchtig über die zerrissene Mappe und das Buch mit dem Wasserschaden, bis er schließlich Tai ansah. „Bist du dir sicher, dass ich dich demnächst nicht abholen soll?“

„Ich hab echt kein Bock, dass wir hinterher beide im Krankenhaus landen bei deinem Fahrstil.“

„Irgendjemand muss dir aber mal in den Arsch treten, damit du zur Abwechslung mal pünktlich kommst“, sagte Matt, und Tai musste zugeben, dass da vielleicht sogar etwas Wahres dran war. „Yoshimura meinte vorhin übrigens, dass die Klausur 'ne ziemliche Katastrophe für die meisten gewesen sein muss, falls es dich interessiert.“

Das flaue Gefühl in Tais Magen breitete sich aus, denn er hatte von Anfang an schon ein schlechtes Gefühl bei dieser Klausur gehabt. „Kein Wunder, die war ja auch viel zu schwer. Weißt du, was die niedrigste Punktzahl ist?“

„Nö, so aufmerksam hab ich dann doch wieder nicht zugehört.“

Tai schielte auf das Blatt, das vor Matt lag, und definitiv nicht so aussah, als würde es in die Japanischstunden gehören. Darauf waren Zeilen gekritzelt, von denen viele Worte und Sätze durchgestrichen waren, und insgesamt nach einem Songtext aussahen. „Offensichtlich“, murmelte Tai, doch da hatte Yoshimura ihn bereits erreicht, und klatschte ihm einen Zettel auf den Tisch.

„Ich glaube, wir sollten reden, Taichi“, sagte dieser, und sah Tai eindringlich an. „Wie du siehst, war diese Klausur ein ziemlicher Reinfall für dich...“

Allerdings. Dreiunddreißig von hundert Punkten waren verdammt wenig, und das, obwohl er sonst immer ziemich passable Noten in Japanisch gehabt hatte. Er konnte es sich selbst nicht wirklich erklären, außer damit, dass die Klausur viel zu schwer gewesen war.

„Ich hatte noch nie Probleme in Japanisch“, sagte Tai schließlich.

„Ich weiß, denn ich habe mir deine Vorjahresnoten angeschaut. Allerdings würde ich nicht unbedingt einfach nur die nächste Klausur abwarten, immerhin wird das hier dein Abschlusszeugnis.“

„Und was schlagen Sie stattdessen vor?“ Tai hatte keine besondere Lust auf diese Diskussion, und das hörte man ihm auch an. Er konnte sich selber nicht erklären, woher die schlechte Note kam – außer vielleicht damit, dass Yoshimura irgendetwas nicht erklärt hatte.

Yoshimura sah ziemlich nachdenklich aus. Oder aber, er wusste bereits eine Lösung, überlegte aber, ob er sie auch wirklich aussprechen sollte. „Du könntest Nachhilfe bei mir nehmen“, rückte er schließlich mit der Sprache heraus.

Tai blinzelte perplex. „Bei Ihnen?“

Er bemerkte, dass Matt neugierig zu ihm herübersah und offensichtlich ein Lachen unterdrückte, aber schnell scheinbar geistesabwesend auf seinen Songtext sah, als Tai ihm genervte Blicke zuwarf.

„Ja.“ Nun sah auch sein Sensei ihn belustigt an. „Ich meine, ich hätte mir in deinem Alter auch besseres vorstellen können, als Nachhilfe bei meinem Lehrer zu nehmen, aber das Schuljahr ist fast vorbei...“

Allerdings. Genau das beunruhigte Tai auch ziemlich, denn mit diesen Noten würde er sich für die Universität bewerben müssen. Für was auch immer – er hatte ja noch keine Ahnung, was er überhaupt studieren wollte.

„Wann hätten Sie denn Zeit?“, fragte Tai vorsichtig. Vielleicht hatte er ja Glück, und sein Lehrer könnte ihn gar nicht an den Tagen unterrichten, wo er Zeit hatte. Dann brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er doch keine Nachhilfe von ihm annehmen würde.

„Montags würde es mir gut passen.“

Genau wie Tai auch. So ein Mist.

„Gut, dann werde ich kommen“, erwiderte Tai nur murmelnd, auch, wenn er immer noch alles andere als begeistert davon war. „Dann in der Schule also?“

„Nein, in der Schule ist immer so viel los. Ich würde vorschlagen, das bei mir Zuhause zu machen – ist von dir aus gesehen sogar näher dran“, sagte sein Sensei, und schien einfach so zu tun, als hätte er Tais alles andere als begeisterten Ton in der Stimme überhört.

Tai runzelte verwirrt die Stirn. Er konnte sich deutlich Schöneres vorstellen, als seinen Lehrer zu Hause zu besuchen, aber andererseits war der Weg für ihn zur Schule tatsächlich ziemlich weit...

„Okay“, sagte er schließlich, obwohl er selbst nicht so ganz wusste, warum.

Yoshimura nickte schließlich. „Gut, dann treffen wir uns Montag um... fünf, würde ich sagen?“

„Joa.“ Tai versuchte einfach, Matts Blicke zu ignorieren, die es irgendwie schafften, Mitleid und Belustigung zu vereinen.

„Sehr gut.“ Yoshimuras Blick wanderte herüber zu Matt. „Übrigens, Texte werden in meinem Unterricht nur geschrieben, wenn ich das sage, Ishida. Eigentlich müsste ich dich jetzt nachsitzen lassen, aber wir belassen es mal bei einer Verwarnung.“

Ihr Lehrer verschwand wieder nach vorne an die Tafel, und Matt und Tai tauschten vielsagende Blicke. „Weißt du, ich könnte dir auch Nachhilfe geben“, sagte Matt schließlich beiläufig, während er endlich den Zettel mit dem Songtext unter seiner Mappe verschwinden ließ.

Tai schüttelte langsam den Kopf. „Nein, er hat schon recht, mit Freunden zu lernen bringt meistens wenig. Vor allem mit dir – so gut bist du auch nicht in Japanisch.“

„Also momentan bin ich vierzig Punkte besser als du“, erwiderte Matt lächelnd, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na ja, es ist ja deine Sache. Nur hätte ich besseres zu tun, als nach der Schule auch noch Zeit mit meinem Lehrer zu verbringen.“

„So schlimm wird es wohl nicht werden“, murmelte Tai und begann, das Geschriebene von der Tafel abzuschreiben. Nicht, dass er wirklich realisierte, was dort stand, sondern er wollte sich einfach nur nicht mehr weiter mit Matt unterhalten und seine blöden Fragen beantworten.
 

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„Weißt du, wie das am Wochenende passiert sein konnte?“, fragte Kari, als sie zusammen mit T.K. In der Mittagspause einen Platz mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu ihren Klassenkameraden oder irgendwelchen anderen Leuten, die sie kannte, eingenommen hatte. Sie wollte mit ihm über ihren Alkoholabsturz reden und es dabei möglichst vermeiden, dass es irgendwelche Leute mitbekamen und womöglich weitererzählten. Matt war das beste Beispiel, dass Gerüchte sich an Schulen in Tokio wie Lauffeuer verbreiteten.

„Ich schätze, wir haben zu viel Alkohol getrunken“, erwiderte T.K. stumpf, und stocherte weiter in seinem Reis herum.

Kari sah auf ihr eigenes Essen, doch irgendwie verging ihr der Appetit, wenn sie wieder an den vergangenen Freitag dachte. Es war ihr immer noch so peinlich, dass sie Matt nicht mehr unter die Augen treten konnte. „Ja, das weiß ich auch, du Scherzkeks. Ich meine nur, dass ich es mir irgendwie von mir selbst nicht vorstellen kann...“

T.K. widmete nun nicht mehr seinem Essen, sondern ausnahmsweise mal seiner besten Freundin die Aufmerksamkeit, als er erwiderte: „Vielleicht hat Matt auch einfach total übertrieben.“

Kari runzelte die Stirn. „Was hast du eigentlich auf einmal gegen deinen Bruder?“

„Das habe ich dir doch schon einmal gesagt. Er raucht, vögelt sich durch ganz Tokio und nimmt angeblich sogar Drogen...“

„Glaubst du wirklich, dass er Drogen nimmt?“, fragte Kari mit unüberhörbaren Zweifeln in der Stimme. So langsam glaubte sie, sie würde Matt besser kennen als T.K., obwohl dieser sein Bruder war. „Ich meine, er ist immer noch dein Bruder...“

T.K. Sah sie aus klaren, blauen Augen an. Es war merkwürdig, dass er seinem Bruder so ähnlich sah, und ihn trotzdem derzeit so sehr verabscheute für Dinge, die er wahrscheinlich niemals getan hatte. „Gerüchte kommen nicht von ungefähr. Und außerdem könnte ich mir das ganz gut bei ihm vorstellen... ich meine, er ist ein Möchtegern-Rockstar und denkt, er wäre cool.“

Kari sah T.K. aufmerksam an, doch sie bemerkte, dass sich ihnen ein Mädchen mit langen, blonden Haaren näherte und einer Haut so rein wie Porzellan. Ihre türkisblauen Augen waren von schwarzen Wimpern umrahmt und ihre Augenbrauen waren perfekt gezupft und nachgeschminkt, sodass sie aussah wie eines dieser Instagram-Models. Sie war Honoka Ichiyase, das schönste Mädchen der Schule, oder wie Kari sie nannte: die Schulschlampe. Sofort verfinsterte sich ihr Blick, als sie sie bemerkte.

„Hey“, begrüßte Honoka sie mit einem Lächeln, das ihre Augen allerdings nicht erreichte. Erst, als T.K. sich überrascht umdrehte, schien ihr Lächeln ernst gemeint zu sein.

„Hey“, erwiderte dieser, und lächelte ebenfallls.

„Ich dachte, wir könnten vielleicht mal reden... wegen Freitag.“ Honokas Lächeln verblasste nicht, sondern es schien eher so, als hätte jemand ihre Mundwinkel nach oben gemeißelt.

T.K. hob verwundert eine Braue und tauschte einen verwirrten Blick mit Kari, als er schließlich aufstand und mit einem „Bin gleich wieder da“ Honoka in die gegenüberliegende Ecke der Cafeteria folgte.

Kari starrte den beiden hinterher und war dabei nicht weniger verblüfft als T.K.. Sie wusste, dass T.K. aus irgendwelchen (ihr unerklärlichen) Gründen etwas von Honoka wollte, aber dass sie überhaupt realisierte, dass er existierte, war Kari vollkommen neu. Und was meinte sie überhaupt mit 'wir müssen über Freitag reden'?

„Wen stalkst du denn da?“

Kari zuckte vor Schreck zusammen und kippte dabei uneleganterweise auch noch das Wasserglas aus, dessen Flüssigkeit sich daraufhin über den ganzen Tisch ausbreitete. „Verdammt Shin, kannst du mich nicht irgendwie vorwarnen, anstatt dich hier wie ein Ninja anzuschleichen und mich zu Tode zu erschrecken?“, fragte sie gespielt wütend, während sie versuchte, das Wasser mit ihrer Serviette aufzuwischen.

Shin grinste schief, und setzte sich schließlich zu ihr. „Du saßt hier so alleine, weshalb ich mir dachte, ich setze mich mal zu dir.“

„Sehr solidarisch von dir.“

„Tut mir übrigens leid wegen Freitag... ich war immerhin derjenige, der euch den Alkohol verschafft hat.“ Er lächelte entschuldigend, und bekam dabei winzige Grübchen in den Wangen. Sofort vergaß Kari, dass sie vielleicht sauer auf ihn hätte sein müssen, denn sie starrte nur auf die niedlichen Fältchen und dachte darüber nach, wie süß das bei ihm aussah.

Sie machte eine abschweifende Handbewegung. „Du kannst ja nichts dafür, dass T.K. und ich unsere Limits nicht kennen.“

„Apropos T.K. … das mit ihm und Honoka ist wohl ernst, was?“ Kari sah ihn verwirrt an, doch er deutete nur mit dem Zeigefinger auf die beiden, die gerade damit beschäftigt waren, sich leidenschaftlich zu küssen. Fast hätte Kari aus Fassungslosigkeit wieder das Glas umgeworfen.

„Shin, sag mal... ist Freitag zwischen den beiden irgendetwas gelaufen?“, fragte sie vorsichtig, während sie immer noch völlig traumatisiert dabei zusah, wie Honokas Zunge in T.K.'s Mund verschwand.

Shin hob eine Braue. „Meinst du das ernst? Die haben im Florida doch schon die ganze Zeit rumgemacht.“

„Bitte?“ Kari glaubte, sich verhört zu haben, und sie wandte beschämt den Blick von dem eng umschlungenen Paar ab, denn allmählich wurde es sehr unangenehm, ihnen zuzusehen.

„Jedenfalls, bis T.K. aufs Klo verschwunden ist“, fügte Shin noch hinzu, und tat so, als würde er Karis Entsetzen gar nicht bemerken. „Scheint aber so, als hätte Honoka nichts von seinem Absturz mitbekommen...“

„Das ist ja schön für ihn“, murmelte Kari, obwohl sie sich wünschte, T.K. hätte Honoka am Freitag direkt auf die Füße gekotzt.

Shin strich sich eine blonde Locke aus der Stirn, und lächelte schief. „Na ja, man muss es wohl akzeptieren... übrigens, hast du schon den Tanz für nächste Woche geübt?“

Der Themenwechsel kam Kari mehr als gelegen. Wenn auch nur für einen kurzen Moment wollte sie verdrängen, dass ihr bester Freund gerade mit der größten Schlampe der Schule mitten in der Cafeteria rummachte und sie nicht einmal mitbekommen hatte, dass zwischen denen irgendetwas gelaufen war.
 

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„Irgendwas stimmt bei der Bridge noch nicht ganz.“ Matt ließ seinen Blick nachdenklich über jedes der Bandmitglieder gleiten, bis er schließlich an Riku hängenblieb. „Kann es sein, dass du dich die ganze Zeit verspielst? Du weißt, dass es E-Dur und nicht E-Moll ist, oder?“

„Sorry“, murmelte Riku nur.

„Apropos, wie läuft es eigentlich mit der Amerikanerin?“, fragte Akira plötzlich.

Matt seufzte, denn eigentlich hatte er die Pause gar nicht so lang ziehen wollen. Aber andererseits interessierte es ihn brennend, wen Riku schon wieder abgeschleppt hatte, sodass er nur verwirrt nachhakte: „Warte. Welche Amerikanerin?“

„Na Mimi, oder wie deine Freundin auch immer heißt“, erwiderte Riku und machte eine abschweifende Handbewegung. Danach schüttelte er den Kopf. „Man, die hat völlig einen an der Klatsche. Die ist einfach so Samstagmorgen abgehauen, während ich noch geschlafen hab, und hat nicht einmal etwas gesagt.“

Akira prustete drauflos, während Yoshi nur tief seufzte. Matt wiederum hob eine Braue. „Du und Mimi? Im Ernst?“

Riku zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich war eben betrunken! Und außerdem ist da nichs gelaufen... ich bin eingeschlafen, bevor es so weit kommen konnte, soweit ich weiß.“

„Gut, dann können wir ja weitermachen.“ Gerade, als Matt wieder den ersten Akkord greifen wollte, ertönte allerdings Nirvanas Smells like Teen Spirit im Raum. Leicht genervt zog Matt sein Handy aus der Hosentasche und entfernte sich von der Band.

„Hey, ich dachte, du willst unbedingt heute noch fertig werden?“, schrie Akira ihm hinterher, doch Matt ignorierte ihn. Stattdessen runzelte er nur verwirrt die Stirn, als er sah, dass Dad auf seinem Display geschrieben stand. Das letzte Telefonat mit seinem Vater war bestimmt schon über ein Jahr her.

„Hey“, begrüßte Matt ihn, als er den Anruf annahm. „Was gibt’s? Soll ich dir was aus der Stadt mitbringen, oder hast du deinen Haustürschlüssel vergessen?“

„Vielleicht wollte ich auch einfach nur mit dir reden“, schlug Hiroaki am anderen Ende der Leitung vor.

„Wenn du mit mir reden wollen würdest, könntest du das auch Zuhause tun. Also, was willst du?“

„Ich... ich wollte dich zum Essen einladen.“

Stille.

„Wer kommt denn noch mit?“, fragte Matt verwirrt, denn normalerweise ging er nie mit seinem Dad essen.

„Megumi und T.K.. Ich habe einen Tisch beim Inder für uns reserviert.“

Automatisch dachte Matt wieder an die letzten Gespräche zwischen ihm und seinen Bruder und daran, wie abweisend T.K. in letzter Zeit ihm gegenüber war. Er hatte keine Ahnung, warum das Verhältnis zu seinem kleinen Bruder so distanziert war, aber er wusste, dass T.K. Es nicht lange in seiner Gegenwart aushalten würde. Nicht gerade die beste Voraussetzung für einen entspannten Familienabend.

„Sorry, aber ich muss noch lernen“, nannte er die erstbeste Ausrede, die ihm einfiel. Zugegebenermaßen war es auch nicht die glaubwürdigste.

„Ich habe dich noch nie lernen gesehen“, erwiderte nun auch sein Vater mit deutlichen Zweifeln in der Stimme.

„Du bist ja auch nie Zuhause.“

Dieses Gespräch ging eindeutig in die falsche Richtung, denn eigentlich wollte Matt nicht so tun, als hätte es ihn jemals gestört, dass er schon früh auf sich alleine gestellt gewesen war. Meistens war es ganz praktisch gewesen, wenn sein Dad nicht wusste, wo er sich gerade herumtrieb. Andererseits aber wäre es vermutlich auch ganz gut gewesen, wenn er ihn vor einigen blöden Fehlern bewahrt hätte.

Matt seufzte. „Vergiss es, ich komme, wenn ich hier fertig bin“, sagte er schließlich nur, um die ganze Sache abzukürzen.

„Wirklich?“, fragte Hiroaki, als hätte er selbst nicht mit einer Zusage gerechnet. „Äh, wunderbar. Wann bist du denn fertig?“

„In einer halben Stunde ungefähr.“

„Gut, dann treffen wir uns direkt da!“ Sein Vater legte auf, vermutlich, bevor Matt es sich wieder anders überlegen konnte.

Matt starrte mit gerunzelter Stirn auf das Display. Wie bitte sollte er einen Abend mit T.K. An demselben Tisch überleben?
 

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Wenig später war Matt bei dem indischen Restaurant angekommen, das sein Vater gemeint hatte. Er wartete auf dem Parkplatz und rauchte geduldig seine Zigarette auf, bis seine 'Familie' erschien.

Er staunte nicht schlecht, als er bemerkte, dass Megumi ein hautenges, knallrotes Kleid mit Lippenstift und sein Vater einen Anzug trug. Sogar T.K. trug ein Hemd. Eine kurze Zeit überlegte er, ob er sich underdressed fühlen sollte in seiner zerrissenen Jeans, den alten Chucks und dem Metallica-Shirt, entschloss sich dann aber, dass es ihm eigentlich gänzlich egal war. Das hier war immerhin eine spontane Einladung gewesen, und es war nur ein Restaurant, und kein verdammter Abschlussball.

Als sein Vater allerdings bemerkte, was Matt trug, seufzte er leise. „Du hättest dir wenigstens eine Hose ohne Löcher und ein Hemd anziehen können“, murmelte er resigniert, weil er schon längst gemerkt hatte, dass Matt sich nicht vorschreiben ließ, was er zu tragen hatte.

„Tut mir leid, dass ich mich nicht vorher noch auf dem Klo umgezogen habe“, erwiderte dieser trocken.

Megumi allerdings lächelte bloß versöhnlich. „Wir haben doch keinen Dressode für heute Abend abgemacht“, sagte sie, und sah fragend in die Runde. „Also, wollen wir reingehen?“

Von 'wollen' konnte nicht die Rede sein, aber Matt folgte ihnen trotzdem kommentarlos in das schicke Restaurant. Er nahm sich heute wirklich vor, sich zusammenzureißen, und hoffte dabei, dass T.K. dasselbe tun würde. Zumindest seinem Vater zuliebe.

Drinnen fühlte er sich tatsächlich nach Indien versetzt in ein absolutes Reichen- und Kulturviertel, und eigentlich schämte er sich, dass er nur die billigsten Restaurants Tokios kannte. Aber er hatte nie wirklich Zeit und irgendwie auch keinen guten Anlass, um mal teuer essen zu gehen.

Skeptisch sah er zu seinem Vater und Megumi herüber. Was für einen Anlass hatten sie heute eigentlich?

Ein Kellner am Empfang brachte sie zu dem vermutlich vorbestellten Platz, und Matt nahm neben T.K. und gegenüber von seinem Vater Platz, weil dies der einzige Stuhl gewesen war, der noch frei gewesen war. Vielleicht war es nur Einbildung, aber er glaubte, dass T.K. sofort von ihm abrückte, um einen gewissen Abstand zwischen sich und Matt zu bringen.

Matt hatte sich schon vorher überlegt, wie das Essen laufen würde, und er hatte sich nicht entscheiden können, ob es eine totale Eskalation oder ein peinlich schweigsamer Abend werden würde. Nun wurde ihm klar, dass Letzteres deutlich eher der Fall war.

Niemand schien sich etwas zu erzählen haben, bis die Kellnerin kam und ihre Getränkebestellung entgegennahm. Danach dehnte sich erneut das Schweigen aus.

T.K. Tippte auf seinem Handy herum, Hiroaki sah scheinbar gedankenverloren in die Karte und Megumi sah sich gelangweilt um, obwohl Matt sich ziemlich sicher war, dass sie die Umgebung bereits lange genug inspiziert hatte.

„Wie war eure Bandprobe?“, ergriff Megumi schließlich das Wort, und wählte dabei anscheinend das erstbeste Thema, das ihr in den Sinn gekommen war.

„Wir sind nicht so weit gekommen, wie wir gehofft hatten“, sagte Matt schließlich, und erwähnte bewusst nicht, dass auch sein Vater die Schuld daran trug. „Deswegen müssen wir uns morgen nochmal treffen. Wir haben nämlich am Wochenende wieder einen Gig.“

„Wo denn diesmal?“, fragte Megumi. Matt war sich ziemlich sicher, dass sie es eher aus Höflichkeit als aus wirklichem Interesse fragte, aber immerhin war das ein Versuch, überhaupt Konversation zu betreiben und nicht wieder in das übliche, unangenehme Schweigen zu verfallen.

„Im 69.“ Aus dem Augenwinkel beobachtete er T.K., der scheinbar desinteressiert versuchte, seine Gabel auf seinem Zeigefinger zu balancieren, um so zu wirken, als würde er dem Gespräch gar nicht erst zuhören. Matt kämpfte gegen den Drang an, seinen Bruder diesbezüglich lautstark zurechtzuweisen, aber da dieser sowieso nicht auf ihn hören würde, ließ er es lieber.

„Das klingt nach einer Bar, in der Menschen Ü30 schief angeguckt werden würden“, erkannte Megumi lächelnd.

„Das klingt eher nach einer Sexstellung“, kommentierte T.K., ohne seine Gabel hinzulegen oder irgendjemanden dabei anzusehen.

Matt hätte gerne gewusst, woher sein Bruder sich bitte mit Sexstellungen auskannte, aber das Mantra, das in Dauerschleife in seinem Kopf lief, hielt ihn gerade noch davon ab. Lass sie nicht wissen, dass er dich momentan hasst. Das hier ist ein friedlicher Familienabend.

Hiroaki kratzte den Rest seiner verbleibenden Autorität zusammen und räusperte sich lautstark, vermutlich, weil er wollte, dass das Gesprächsthema weiterhin jugendfrei blieb. „Also, wisst ihr alle schon, was ihr bestellen wollt?“

Als hätte er irgendein Codewort gesagt, erschien sofort die Kellnerin und nahm die Bestellungen auf. Für einen kurzen Moment wirkten sie wie eine ganz normale Familie, die einen gemütlichen Abend in einem Restaurant verbringen wollte, so, wie es normale Familien vermutlich ab und zu taten. Schließlich aber sagte T.K. Nur mit spöttischem Ton: „Wow, das sind ja mittlerweile ganze fünfundvierzig Minuten für dich ohne eine Zigarette.“

Matt starrte T.K. an, welcher ihn nur fordernd aus azurblauen Augen ansah. Sie hatten sehr ähnliche Augen, beide tiefblau und mit schwarzen Wimpern, aber T.K.'s waren eine Nuance dunkler. Und irgendwie düsterer.

„Takeru!“, rief Hiroaki entrüstet, doch das interessierte T.K. sowieso nicht. Matt konnte sich nur zu gut an die Zeit erinnern, in der er fünfzehn gewesen war, und musste feststellen, dass er damals auch nie auf seinen Vater gehört hätte. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, jemals so frech gewesen zu sein.

Das Mantra in Matts Kopf zerplatzte ebenso wie seine guten Vorsätze wie eine Seifenblase. Wenn man ihn provozierte, provozierte er zurück. Eins der wenigen kommunikativen Dinge, in denen er gut war. „Wenn ich du wäre, würde ich aufhören, so frech zu sein, sonst lass ich dich bei deinem nächsten Absturz auf der Straße schlafen.“

Vom peinlichen Schweigen zur Eskalation. T.K. sah aus, als würde er jeden Moment auf Matt losgehen, begnügte sich dann aber doch damit, weiter zu provozieren: „Ich hätte auch noch alleine zurück gefunden.“

Matt schnaubte belustigt. „Ja, natürlich hättest du das.“

„Zumindest nehme ich keine Drogen!“

„Ich auch nicht“, erwiderte Matt, und beobachtete seinen Bruder, der unterdessen seine Faust vor Wut geballt hatte.

„Und warum erzählt die ganze Schule das dann?“, erwiderte T.K.. Rote Flecken hatten sich mittlerweile auf seinem Gesicht verteilt, die aussahen wie irgendein ansteckender Ausschlag. „Immer erzählen alle, dass du schon Kinder in die Welt gesetzt hättest und drogenabhängig bist... hast du nur einmal daran gedacht, wie ich mich als dein Bruder dabei fühle?“

Matt versuchte seine Gedanken vor einer Antwort zu ordnen, doch irgendwie schwirrten die Wörter in seinem Kopf so zusammenhangslos durch die Gegend, dass er nicht ganz wusste, womit er anfangen sollte.

„Takeru, es reicht!“, hörte er seinen Vater sagen, doch er registrierte es nicht.

„Das alles hört sich im Moment eher nach dir an“, erwiderte Matt schließlich, und merkte jetzt erst, dass er sich anscheinend unbewusst für die Eskalation anstatt Entschärfung entschieden hatte. Aber zurücknehmen konnte er seine Worte erst recht nicht mehr, also fuhr er fort: „Ich hab mich nicht mit fünfzehn an einem einzigen Abend in die Disko geschlichen, um da einen Alkoholabsturz zu haben.“

T.K.'s Blicke hätten töten können, doch stattdessen stand er nur wortlos auf, und stampfte aus dem Restaurant. Hiroakis Versuche, ihn wieder zurückzuholen, blieben vergeblich.



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