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Ein Bett gemacht aus Schweigen

von

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Klar

16. Oktober, 20.41 Uhr
 

»Warum tragen wir dieses Böse in uns?«

Diese Frage hatte Bodenksi in einem Interview, das Alea gelesen hatte, in den Raum gestellt.

»Eine frühere Liebe schlägt in Hass um. Wann überschreitet der Mensch diese dunkle Grenze? Wann setzt er seine mörderischen Fantastereien in der Wirklichkeit um?«

Ohne Gefühl in den Gliedern taumelte er Schritt für Schritt durch die Dunkelheit, schniefend und zitternd.

Bodenksi hatte auch von einem tatsächlichen Fall gesprochen, bei dem ein Mann seine Ehefrau getötet hatte, ohne später davon wissen.

»Er schubste sie gegen die Wand und verließ darauf sein Haus. Als er zurückkam, wartete schon die Polizei auf ihn. Der Mann hatte einen Filmriss und fragte die Polizisten, was sie denn hier machten. Die Polizisten aber wollten von ihm wissen, was das Letzte war, an das er sich erinnern konnte. Er antwortete nur, dass er Streit gehabt hatte. Später stellte sich heraus, dass die Frau beim Schubsen gestorben war. Der Mann hatte sie danach noch ins Schlafzimmer gebracht und sie ins Bett gelegt. An diesen Teil konnte er sich nicht mehr erinnern. Sein Gehirn hatte alles nach dem Streit komplett ausgeblendet.«

Und genau das hatte Aleas Hirn auch getan.

Ich habe Eric getötet, und ich weiß nicht einmal, warum.

»Wahrscheinlich war es jemand wirklich Enges. Jemand, der bei allen Subway-Produktionen dabei war, jemand, bei dem keiner so was in der Art vermuten würde. Ist der Gedanke nicht widerwärtig?« Das hatte Lasterbalk gesagt. Lasterbalk, der es die ganze Zeit gewusst hatte. »Begreifst du es denn nicht? IMMER noch nicht? NIEMAND kann hier irgendwas für dich tun, NIEMAND außer dir selbst!«

»Du bist hier, um dich zu erinnern.«

»Eric muss den Typen gut gekannt haben, und wir wahrscheinlich auch – wie sollte er sonst so dicht an Eric rankommen? Das ist das wirklich Grauenhafte, das Widerliche daran. Wir suchen nach jemandem, den wir KENNEN.«

»Wenn du dich nicht erinnerst, kann dir keiner helfen.«

Stimmen. So viele Stimmen, die das wiederholten, was er in den letzten Stunden gehört hatte.

Alea erreichte die Pforte des Vorgartens und schob sich hindurch, ohne es am Leib zu spüren. Plötzlich war er auf der Straße, allein in der kalten, einsamen Dunkelheit dieses beinahe menschenleeren Dorfes, und folgte ihr zum Ortsausgang.

Immer in Richtung Hölle. Er musste die Waffe finden.

Da klingelte sein Handy.

Wie im Traum langte er in die Tasche und hob es im Gehen ans Ohr.

»Hey, bist du dran?« Lasterbalk klang aufgeregt.

»Ja«, antwortete Alea teilnahmslos.

»Puh, Gott sei Dank. Bist du in Ordnung? Hör zu, du darfst auf keinen Fall –«

Doch Alea fiel ihm mechanisch ins Wort: »Es ist egal. Ich weiß jetzt wieder, was passiert ist.«

»Ja? Na endlich! Also, dann –«

»Ich habe Eric umgebracht.«

»WAS? Nein nein nein, hör mir zu –«

»Ich muss gehen.« Er ließ die Hand mit dem Telefon sinken.

Am anderen Ende protestierte Lasterbalk, immer leiser werdend: »NEIN, verlass auf keinen Fall das –«

Dann hatte Alea ihn weggedrückt und das Handy an Ort und Stelle auf den Schotter fallen lassen.
 

20.55 Uhr
 

Der Weg war lang, dunkel und kalt.

Die asphaltierte Straße wand sich auf und ab durch den Köthener Wald, und keine Straßenlaterne spendete irgendeine Art von Licht. Durch das schwarze Blattwerk sickerte nur spärlich der fahle Glanz eines sichelförmigen Mondes, der den Weg, dem Alea folgte, nicht erhellen konnte.

Ich muss die Waffe finden.

Taumelnd setzte er einen Fuß vor den anderen, während das Gebüsch zu beiden Seiten raschelte, als kleine Nachttiere in ihre Verstecke flohen.

Ich muss sie finden …

Aber er wusste nicht, wo er suchen sollte. Dieser Teil seiner Erinnerung fehlte noch immer. Dort, wo er die kleine, glänzende Pistole suchte, klaffte ein schwarzes Loch.

Aber ich brauche sie …

Minute um Minute verstrich außerhalb seiner Wahrnehmung, während er wanderte und wanderte, ohne Ziel, nur voran, bis in alle Ewigkeit, ins Dunkel.
 

21.46 Uhr
 

»Es tut mir Leid«, murmelte er immer noch wie ein Mantra. »Es tut mir Leid.«

Der Schweiß auf seiner Haut schien gefroren, ebenso wie die Tränen auf seinen Wangen, die jetzt auch in Wirklichkeit ohne Unterlass geflossen waren, ohne dass er den Schmerz spürte. Alles war nass. Nass und kalt.

Und er hatte die Waffe noch immer nicht.

In der Ferne geriet Licht in sein Sichtfeld, erst schwach, dann deutlicher. Es war eine Laterne. Er hatte den Ort Märkisch Buchholz erreicht, der in der nächtlichen Finsternis genauso still und leblos dalag wie Köthen. Nicht einmal ein Fenster war erhellt.

Er schleppte sich die Straße hinunter, immer geradeaus, bis zu einer zementierten Brücke, auf deren Mitte er innehielt. Unter ihm rauschte leise die Dahme dahin, ein schwarzes, im bleichen Mondlicht funkelndes Band. Alea verließ die Brücke, und dann stiegen seine Füße ans Ufer des kleinen Flusses hinunter.

Schlamm gab unter seinen Sohlen nach, das Gras, schwer von Tropfen, wurde weggedrückt. Ein Schritt, dann noch ein Schritt. Bis zu den Knöcheln stand Alea schon im braunen, gluckernden Wasser, als er stehen blieb.

Keine Waffe.

Vielleicht geht es auch so …

Der Fluss rauschte weiter, gleichgültig, unbeteiligt. Kein anderes Geräusch erfüllte die eisige, neblige Luft.

Aber die Dahme war zu flach. Im Vergleich zur Elbe oder zum Rhein war sie nur ein Bachlauf, kaum tief genug, um die Hüfte eines Mannes zu erreichen.

Damit war endgültig alles zerstört.

Ich kann nichts mehr tun.

Gebrochen sank Alea in den Matsch hinab, auf Hände und Knie, und sah zu, wie seine Tränen in die Schwärze tropften.

»Es tut mir so unendlich Leid …« Seine Stimme war kaum mehr als ein dünnes Wispern. Nur noch ein Schatten. »Es gibt nichts mehr, das ich tun kann …«

Die Qual in seinem Inneren umfasste sein Herz mit nasskalter Faust und drückte unaufhaltsam zu.
 

22.03 Uhr
 

Ein leises Geräusch erhob sich hinter ihm. Es kam von der Straße und näherte sich der lichtlosen Uferstelle, an der Alea im Schlamm kauerte und litt.

Die Schritte hielten dicht hinter seinem Rücken an, und auf einmal glaubte er, die Wärme eines Körpers zu spüren, ehe sich aus dem Nichts eine Hand auf seine Schulter legte und ihn mit sanftem Nachdruck zwang, sich umzudrehen.

Willenlos gab Alea nach, und auf einmal lag sein Kopf an der Brust des anderen, und zwei kräftige Arme zogen ihn näher heran und umschlangen ihn, um ihn festzuhalten.

Alea zitterte fiebrig. Seine Tränen durchnässten den schwarzen Stoff, an den er gedrückt wurde. Als er den Mund öffnete, konnte er kaum verhindern, dass seine Zähne klapperten.

Er kannte diesen Menschen. Alles an ihm.

»Du bist nicht tot.« Kaum mehr als ein gespenstischer Lufthauch kam über seine klammen Lippen.

»Natürlich nicht«, war die ruhige Antwort.

»Ich … Ich hab dich nicht umgebracht …«

»Nein. Und auch kein anderer, wie du siehst.«

Alea machte sich ungeschickt los, um Eric Fish ins Gesicht sehen zu können, das schummrig, aber klar erkennbar vor seinem schwebte. »Aber … Du wurdest …«

»Ich hab’s überlebt.« Eric ließ ihn los, griff nach dem Saum seines Shirts und zog es unter der Jacke vorsichtig hoch, sodass Alea den Verband über der linken Brustseite sehen konnte. »War ’n schlechter Schuss. Hat die Lunge angekratzt, aber auch das war halb so wild. Nur meine Zunge ist noch ’n bisschen dick.« Er leckte sich über die Zähne. »Da hab ich beim Fallen ziemlich tief reingebissen.«

Alea war hin- hergerissen zwischen überschäumender Erleichterung und grenzenloser Verwirrung. In seinem Kopf herrschte ein dröhnendes Chaos. »Aber warum«, begann er in schwachem Protest, »warum tun dann alle so, als wärst du …«

Eric brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen und tätschelte ihm die Schulter. »Ich erklär’s dir. Scheiß auf die Anweisungen. Komm mit.« Er griff nach Aleas Hand und zog ihn mit sich nach oben, sodass sie beide dicht beieinander im Schlamm standen. Wieder legte er einen Arm um Aleas Schultern und führte ihn behutsam zurück auf die Straße. »Mann, du zitterst ja. Hast du keine warmen Sachen? Ich mach dir erst mal ’nen Tee.«

Mit wackeligen Schritten, fest an Erics rechte Seite geklammert, folgte Alea ihm zurück Richtung Ortskern. Die winzige Stadt war so still wie ein Friedhof.

»Ich konnte immer nur spät abends rausgehen«, erklärte Eric. »Ich hab die Anweisung, mich nicht zu zeigen, genau wie du. Wir sind in einem Safehouse, wegen des Mörders – ah, Mörder in spe, meine ich. Falls er’s doch noch schafft.«

Eric war entspannt und trotz der Umstände offenbar guter Laune, und Alea ließ sich beinahe dazu hinreißen, die ausgestandenen Ängste und Depressionen zu vergessen. All das, was er sich zusammengereimt hatte, das war in Wirklichkeit nie passiert …

»So wie du da unten gehockt hast, hatte ich schon Angst, du würdest dich gleich selbst verletzen«, fuhr Eric fort. »Dich ertränken, oder sonst was. Da konnte ich nicht zugucken. Wahrscheinlich kriegen wir jetzt Ärger, aber egal.«

Alea bekam sein Zittern langsam unter Kontrolle. Seine Schritte wurden sicherer. »Ich bin in einem alten Haus in Köthen«, murmelte er. »Da im Keller … da ist ein altes Tonstudio … und die haben da alle Alben von euch …«

»Ich weiß. Das Haus gehört einer alten Freundin. Da unten in der Bude haben wir 1994 aufgenommen. Danach hat sie unsere Karriere immer verfolgt. War Bodenskis Idee, dich dahin zu bringen.« Eric dirigierte ihn sanft auf eine Reihe ebenfalls alt aussehender Häuser neben der Straße zu.

Deswegen wusste ich nicht, wo die Waffe ist, dachte Alea benommen. Ich brauche sie nicht zu finden. Ich habe keine. Hatte nie eine …

»Da vorne gehen wir rein«, sagte Eric ruhig. »Die Besitzer nutzen das nur als Sommerhaus, also konnte man mich da einquartieren, solange der Kerl frei rumläuft. Bin ziemlich sicher, dass der uns hier nie finden wird.«

»Warte, ich …« Unbehaglich machte sich Alea los, als sie in die dunkle Seitengasse zu einer Einfahrt abbogen. »… Ich habe es gesehen, verstehst du … Ich habe gesehen, wie man auf dich …«

»Ja, das weiß ich d–«
 

22.21 Uhr
 

Alea hörte das Klicken dicht hinter sich, und sein Nacken prickelte. Eric hatte es auch gehört, und beide Männer waren auf der Stelle zu Salzsäulen erstarrt.

»Dreht euch um«, knurrte jemand. »Ich will es sehen.« Als nicht gleich eine Reaktion kam, setzte er ein ungeduldiges »Macht schon!« hinterher.

Wie in Zeitlupe wandte Alea sich um und spürte, wie Eric neben ihm es ihm gleich tat. Er hatte das Gefühl, sein Atem sei in seiner Kehle erfroren, so unbeweglich war er.

Vor ihnen stand, das Straßenlicht im Rücken, eine dunkle Silhouette, die eine Waffe auf sie richtete.

Es war die kurzläufige Pistole mit dem zerkratzten Griff aus Aleas Erinnerung.

Und der Mann war Thorsten Raeth.

»Du?«, hörte er Eric ungläubig murmeln.

»Ja, ich!« Raeth fuchtelte mit der Waffe; auch er zitterte wie Espenlaub. »Ich muss sagen, es hat wirklich funktioniert … dich für tot zu erklären und deine Spuren zu verwischen … Ich hab bis eben gerade wirklich gedacht, du wärst verreckt! Wie konnte ich so dicht dran sein und daneben schießen? Ich hätte …« Seine Stimme brach. Dann, nach einem kurzen Moment, fing er sich. »Egal. Egal. Diesmal ist alles perfekt. Gott sei Dank. Ich hab euch beide. Und du –« Fahrig richtete sich der Waffenlauf auf Alea. »– konntest mich nicht verpfeifen, weil du an traumatischer Amnesie leidest. Wenn das kein Wink des Schicksals ist!« Er stieß ein leises, hysterisches Lachen aus, und seine Schultern bebten heftig. »Da renne ich kopflos weg, als Eric umfällt, anstatt dich einfach auch über den Haufen zu schießen! Wir waren beide nicht die Hellsten in dem Moment, was? Egal … Zwei Fehler, die mir nicht noch mal passieren werden. Nicht noch mal.« Er grinste widernatürlich, überwältigt von der geradezu absurden Gelegenheit, die sich ihm bot.

Und in diesem Augenblick kam endlich alles zurück.

Alea wurde abwechselnd heiß und kalt, und seine Knie drohten nachzugeben, als die Erinnerung seinen Verstand flutete.

Jetzt, in diesem Moment, konnte er alles erklären.

Thorsten hatte die Waffe gehabt. Eric hatte in der Mitte des Raumes gestanden, in vollem Licht, und Alea war ihm durch die Tür entgegen gekommen, als er über Erics Schulter hinweg den anderen vertrauten Mann gesehen hatte. Thorsten stand hinter Eric, hob zitternd und mit verzerrtem Gesicht die Pistole. Alea öffnete den Mund, schockiert, mit der plötzlichen, klaren Erkenntnis, was passieren würde – doch es war schon zu spät. Der Schuss warf Eric vornüber. Er keuchte und spuckte Blut; er hatte sich auf die Zunge gebissen, und gleichzeitig begann auch aus seiner Brust Blut hervorzuquellen, wo die Kugel in das empfindliche Gewebe eingedrungen war, das die Lungen umgab. Im selben Moment war Alea fassungslos zurückgewichen. Er war bei allen Subway-Produktionen dabei, dachte er, wir alle kennen ihn, er war einer von uns – Eric, vor ihm auf dem Boden, rang um Bewusstsein, starrte ihn an, das einzige vertraute Gesicht im Umkreis, den Einzigen, der ihm helfen konnte, und in Panik warf er die Hand nach vorn, um sich an Alea festzuhalten. Hilf mir! Doch Alea wich zurück, schaudernd, von Entsetzen geschüttelt. Plötzlich war Thorsten bei ihm und stieß ihn beiseite, um durch die Tür zu entkommen. In einem Sekundenbruchteil war er fort. Eric dort unten zuckte und atmete schwer und röchelnd, und dann sah Alea, wie bei ihm die Lichter ausgingen, sein Körper erschlaffte und er in der wachsenden Lache seines eigenen Blutes reglos liegen blieb. Und in Alea setzte etwas aus. Völlig von Sinnen warf er sich auf dem Absatz herum und rannte. »Eric ist tot!«, schrie er, wollte er schreien, doch heraus kam nur ein Wimmern und Würgen, und dann … war es vorbei. Ein schwarzer Vorhang fiel herunter. Aleas Hirn, von den Eindrücken überladen, schaltete sich ab wie ein Computer, in den der Blitz einschlägt.
 

Sorry, Mister, that you’re dying

I didn’t know he had a gun

Such a shame to leave you lying

But you know I’ve got to run

– Eric Fish – Partners (The Brandos Cover)
 

22.23 Uhr
 

»Also hast du von hinten auf mich geschossen«, stellte Eric nüchtern fest. Seine Stimme schwankte kaum merklich. »Warum

»Ach, wozu ist das wichtig?«, spie Raeth ihm entgegen. »Ich war doch immer nur eure Bühnenschlampe. Ihr habt mich ausgenutzt, wo es nur ging, ich hab alles für euch gemacht, alles, was ihr wolltet, und nie hab ich auch nur den kleinsten Funken Ruhm abgekriegt. Verdammt, ich wurde nicht mal bei irgendeiner Danksagung in euren Alben erwähnt!«

Aleas Kopf fühlte sich seltsam leicht an. Er wusste, dass das stimmte; Thorstens Name hatte dort nicht gestanden. Genauso wenig wie sein eigener. Das war eine Halluzination gewesen, die einzige, die er je durch die Tabletten gehabt hatte. Nur das. Denn er, Alea, hatte nicht bei allen Subway-Alben mitgewirkt. Natürlich nicht.

Eric versuchte, Ruhe zu bewahren, und seine Stimme war heiser, als er vorsichtig einwandte: »Wir dachten, du machst das, weil du … uns magst.« Es klang lahm, wie eine schlechte Ausrede.

Raeth lachte wild auf. »Ja, ja, genau, deshalb trage ich euch auch jeden verdammten Scheiß hinterher! Weißt du was, Eric – ich mochte euch. Am Anfang. Wirklich. Aber dann wurdet ihr immer bekannter. Immer arroganter. Und ihr habt angefangen, alle auszunutzen, die für euch arbeiten. Weil ihr ja so großartig seid, die großen Künstler, die alle anderen mit Füßen treten können …«

»Thorsten, wir haben dich nicht –«

»Halt die Klappe!« Raeth hielt wieder die Waffe auf ihn, und schaumiger Speichel quoll zwischen seinen angespannt zusammengebissenen Zähnen hervor. »Halt endlich einmal die Klappe und hör auf, über andere herzuziehen! ›Du machst das nicht richtig, du machst jenes falsch …‹ Ich will das nicht mehr hören. Nie wieder

»Thorsten …«

»Nein. Es ist genug.« Raeths Finger spannten den Hahn der Pistole. Seine sich wahnhaft überschlagene Stimme kündigte die Tat an: »Ich werde das alles hinter mir lassen. Alles

Alea schauderte. Er spürte, wie seine Züge sich in Horror verzerrten, und kniff die Augen zusammen, den Schuss erwartend.
 

22.24 Uhr
 

Eine grausame Sekunde verstrich.

Dann fiel der Schuss.

Es war ein Knall, der die Stille regelrecht zerriss wie einen alten Vorhang. Die Nachtluft schien zu bersten, und der Hall schwebte über der Straße, ehe das Leichentuch des Schweigens langsam wieder auf sie niedersank.

Aleas ganzer Körper bebte unkontrolliert. Er wusste nicht, was er sehen würde, wenn er die Augen jetzt öffnete.

Dann umfasste jemand seine Schulter.

»Hey«, sagte Erics belegte, aber gefasste Stimme. »Es ist vorbei.«

Ein Hund bellte.

Alea schlug die Augen auf.

Thorsten Raeth lag auf dem Boden, bäuchlings, wie auch Eric vor vier Tagen, und in der Dunkelheit war sein Blut nicht zu sehen. Eilige Schritte näherten sich, und plötzlich kamen drei Gestalten von der Straßenecke aus ins Licht gestürmt. Vorn lief ein aufgeregter Hund, der direkt auf Raeths Leiche zuhielt. Ihm folgte ein stämmiger Mann in kurzer Jacke, der soeben beherrscht seine eigene Pistole zurück ins Holster an seinem Gürtel schob. Und dahinter …

»Oh, mein Gott!«, stöhnte Lasterbalk auf, als sein schreckverzerrter Blick auf Alea und Eric fiel. Ungestüm sprang er an dem Polizisten und dem Leichnam vorbei und riss mit einem Arm Alea, mit dem anderen Eric fest an sich. Auf dem Fuß folgte ihm Bodenski, der gleichfalls mit einem tiefen Aufatmen die Arme um alle schlang wie ein Koala.

Da standen sie zu viert, zitternd und heftig atmend, während zwischen ihnen und dem Gartentor Olaf Knussen neben dem toten Körper kniete und der Hund anstellig bellte.
 

22.36 Uhr
 

Sirenengeheul wurde in der Ferne lauter, als die Vier es endlich wagten, sich wieder voneinander zu lösen.

»Gehen Sie bitte ins Haus«, sagte Knussen ruhig. »Es wird gleich jemand kommen und Sie betreuen.«

»Sie haben einen tollen Job gemacht!«, sagte Lasterbalk unerwartet emotional. Die Erleichterung war ihm noch immer anzumerken.

Der Polizist nickte lächelnd, aber glücklich sah er nicht aus. »Einen Mann zu töten ist keine schöne Sache, und es wird ein Ermittlungsverfahren gegen mich geben. Ich denke, Sie werden bezeugen, dass ich keine Wahl hatte.«

»Ich glaube nicht, dass Thorsten ein zweites Mal daneben geschossen hätte«, sagte Eric zittrig. Er war noch immer blass wie ein Laken, und Alea wusste, dass er selbst nicht besser aussah. »Okay, kommt rein … Ich setz dann mal Tee auf …«
 

22.41 Uhr
 

Als Alea in der hellen Küche am Tisch saß und auf seine Hände starrte, musste er feststellen, dass sie noch immer kaum merklich zitterten. Nur langsam flutete das Adrenalin in seinem Blut wieder ab.

Neben der Spüle begann der Wasserkocher leise zu zischen.

Lasterbalk griff nach Aleas Hand drückte sie abwesend. »Ich schulde dir eine Erkärung.«

»Allerdings.«

»Also … Du hast sicher schon erkannt, dass wir Erics Tod inszeniert haben.« Ruhig ruhten Lasterbalks Augen auf seinen; jetzt war keinerlei Fassade mehr darin zu entdecken. Er war offen wie ein aufgeschlagenes Buch. »Alle denken, er wäre gestorben. Eingeweiht sind nur wir und die Polizei – inklusive Dr. Sabelke, die Psychologin. Die ich übrigens nicht kenne, das haben wir nur gesagt, damit du ihr vertraust.« Ein leises Seufzen hob die Brust des großen Mannes. »So viele Lügen, ich weiß.«

»Du hast mir geschworen, es gäbe keine Lügen mehr«, sagte Alea matt.

»Ah, nein.« Lasterbalk hob einen Finger. »Du hast mich schwören lassen, dass es keine Lügen mehr gibt, von denen du wissen solltest. Das ist ein Unterschied.«

Bodenksi, der mit verschränkten Armen neben ihm saß, schüttelte mit traurigem Lächeln den Kopf.

Alea biss sich auf die Lippe. »Du Arsch. Wäre es nicht anders gegangen?«

»Nein. Glaub mir, es hat uns allen das Herz zerrissen, dir das antun zu müssen. Aber du warst der Einzige, der gesehen hat, wer auf Eric geschossen hat – und du hattest einen richtig schlimmen Blackout. Als ich dir vor drei Tagen sagte, Eric wäre tot, da wusstest du von nichts mehr.«

»Ich … ja.«

»Als wir dich unmittelbar nach der Tat gefunden haben, hattest du dich in deinem Bett zusammengerollt und fest geschlafen. Du hast alles, was passiert ist, komplett ausgeblendet.«

Jetzt musste Alea gegen aufkeimende Tränen anschlucken. »Ich … Ich bin einfach weggerannt. Ich hab Eric liegen lassen, weil ich überfordert war. Ich hab ihn im Stich gelassen …«

»Und das«, sagte Lasterbalk fest und hob Aleas Kinn, um ihn ansehen zu können, »ist eine völlig normale menschliche Reaktion. Niemand kann dich dafür verurteilen. Das war Selbstschutz, eine Instinkthandlung, damit dein Hirn nicht den Verstand verliert. Helden gehören in Filme, verstehst du … Die Realität sieht anders aus.« Er ließ ihn los und erklärte ihm dann: »Ich kann dir im Nachhinein auch sagen, warum die Sache in deinem Kopf so ausgeartet ist. Du hast das alles nur deshalb verdrängt, weil du mit deinem schlechten Gewissen nicht fertig wurdest. Ja, du hast Eric verletzt liegen gelassen, und keiner macht dir einen Vorwurf deswegen – außer dir selbst. Dein Unterbewusstsein hat daraus massive Schuldgefühle entwickelt. Deshalb ist es dir auch so leicht gefallen zu glauben, dass du selbst der Mörder warst – weil du unterschwellig noch wusstest, oder glaubtest zu wissen, dass du was wirklich Schlimmes gemacht hast.«

»Oh, Scheiße«, murmelte Alea, als diese Erkenntnis einsank. »Natürlich.«

»Schwer zu glauben, aber das waren alles normale Vorgänge.«

Wie um das zu bestätigen, legte Eric wieder lässig einen Arm über Aleas Schulter und drückte ihn kurz. »Ist ja alles gut gegangen.«

»Jedenfalls«, fuhr Lasterbalk fort, »war allen klar, dass der Mörder die nächste Gelegenheit nutzen würde, um dich zu töten, den einzigen Zeugen. Er wusste ja nicht, dass Eric überlebt hat – das war ja unser Plan, er sollte nicht weiter Jagd auf ihn machen. Also musste Eric weg. Und du musstest weg, weil du den Anschlag gesehen hattest. Also haben wir euch beide in Sicherheit geschafft. Aber du hast noch eine besondere Behandlung bekommen … denn du musstest dich so schnell wie möglich erinnern, damit der Täter gefasst werden konnte.«

Alea begann zu verstehen. »Ich sollte das Werkzeug sein, um ihn zu überführen.«

»Traurigerweise, ja. Der Plan war radikal. Du hattest keinen Zugang zu der entscheidenden Erinnerung, also musste alles unternommen werden, um den wiederherzustellen. Wir durften dich nicht einweihen oder bedrängen, das hätte dich unter Druck gesetzt und den Prozess nur noch verzögert. Stattdessen haben wir dich in einer möglichst reizlosen Umgebung isoliert. Dadurch warst du gezwungen nachzudenken. Das Hirn braucht immer Reize, und wenn die fehlen – Langeweile kann richtig schädlich sein, weißt du –, dann fängt es an, aus sich selbst zu schöpfen. Deshalb durften wir dich auch nicht ewig allein lassen und mussten dich gut überwachen. Ich hab Erics Nummer aus deinem Handy gelöscht, damit du nicht auf die Idee kommst, ihn anzurufen … denn er hatte es ja immer noch, um mit uns in Kontakt zu bleiben.«

Natürlich. Alles ergab Sinn.

»Die Tabletten …«, begann Alea leise.

»Richtig. Das war natürlich kein Antidepressivum, sondern ein Medikament, das dein Unterbewusstsein stimulieren sollte. Damit alles Verschüttete wieder hochkommt.«

Alea stieß ein bitteres Lachen aus. »Oh ja, das hat funktioniert! Am Ende war ich komplett durch … Ich hab gedacht, ich hätte Eric erschossen … Ich wollte auch mich erschießen.«

Lasterbalk atmete zitternd ein und nickte mitleidig. Seine Augen wurden ein wenig feucht. »Tja«, sagte er, mühsam gefasst, »das hat allerdings keiner kommen sehen, dass du derartige Wahnvorstellungen entwickeln würdest. Dein Gewissen hat das verursacht. Wir hätten damit rechnen müssen.«

»War nicht geplant«, sagte nun auch Bodenksi entschuldigend. Und, an Eric gewandt: »Gut, dass du ihn aufgesammelt hast.«

»Ich konnte mir das echt nicht angucken«, murrte Eric. »Ich dachte, der Kleine ersäuft sich in der Dahme.« Er ließ Alea los und stand auf, um das inzwischen kochende Wasser in die Teetassen umzufüllen.

»Aber wie … wie konntet ihr schnell genug hier sein?«, fragte Alea, als er feststellte, dass dieses Puzzleteil immer noch fehlte. »Woher wusstet ihr, dass …?«

»Ganz einfach«, antwortete Lasterbalk. »Wir haben so ziemlich allen Leuten gesagt, dass sie dich nicht anrufen sollen. Nur an Thorsten haben wir natürlich nicht gedacht. Ich glaube, niemand hat an Thorsten gedacht …«

»Niemand hat jemals an Thorsten gedacht«, ergänzte Bodenski düster. »Das ist leider die Wahrheit. Wir haben ihn nie wirklich mit an den runden Tisch geholt, obwohl er immer dabei war. Von Anfang an. Aber eben irgendwie nur im Hintergrund. Er war einfach da, hat alles gemacht, was man ihm gesagt hat, aber … keiner hat viel über ihn gewusst. Wir haben auch nicht gefragt. Es ergab sich irgendwie nie.«

»Tja.« Lasterbalk rieb sich die Hände auf dem Tisch. »Jedenfalls hattest du mir gegenüber beiläufig erwähnt, dass du Thorsten gesagt hast, wo du bist. Ich hab danach mit den beiden reden wollen, um ihnen scharf klarzumachen, dass sie dich bitte in Ruhe lassen sollen. Wollte ihnen den Plan auch erläutern. Hubi hab ich gekriegt, die hat versprochen, dich nicht mehr zu nerven, aber Thorsten … war nicht zu erreichen. Niemand wusste, wo er war, er ging nicht ans Telefon, nicht ans Handy …«

»Und das war auffällig«, übernahm Bodenksi, »denn Thorsten stand immer wie ’ne Eins bereit, wenn wir was von ihm wollten. Egal wo, egal wann. Und da war uns klar, dass wir sofort herkommen mussten.«

»Als du dann nicht mit mir reden wolltest«, fuhr Lasterbalk an Alea gewandt fort, »und mir gesagt hast, du hättest Eric getötet und dass du aus dem Haus gehen würdest, da waren bei uns alle Alarmglocken an. Der Knussen hat einen Spürhund geholt, wir sind zum Haus gefahren und haben von da deine Spur verfolgt. Nur so haben wir euch noch rechtzeitig gefunden.«

»War knapp«, stimmte Eric zu. »Gute Arbeit.«

Alea sagte mit dünner, belegter Stimme: »Du hättest es mir glauben können.«

»Was?«

»Dass ich es war.«

Lasterbalk verzog das Gesicht, als hätte er einen schlechten Witz gehört. »Das, mein Lieber, hab ich keine Sekunde geglaubt.«

Eric kehrte an den Tisch zurück und verteilte die dampfenden Tassen. »Du hättest doch gar kein Motiv gehabt«, sagte er wie beiläufig zu Alea. »Außerdem standest du mir gegenüber, also wenn du auf mich geschossen hättest, wäre ich nach hinten auf den Rücken gefallen, nicht nach vorne auf den Bauch. Klare Sache, oder?« Er zuckte die Achseln. »Aber jetzt können wir uns mal wieder einkriegen und froh sein, dass alles gut gegangen ist.«

Er hatte völlig Recht. Mit schwachem Nicken zog Alea seine Tasse zu sich heran; es war eine bauchige weiße mit der irischen Flagge auf der Außenseite. »Das mit Thorsten tut mir Leid.«

»Das tut uns allen Leid. Aber nichts rechtfertigt, dass er mich töten wollte. Da bin ich leider knallhart. Keiner konnte seine Gedanken lesen.«

Die Männer starrten in ihre Tassen, und langsam fiel die Anspannung von ihnen ab.

Draußen vor dem Haus bellte der Hund auf, und jemand lobte ihn in unverständlichen Worten. Das Stimmgewirr drang nur gedämpft herein; der Vorgarten wimmelte von Polizisten, die den Fall in gemeinsamer Arbeit zu einem Abschluss brachten. Olaf Knussen würde, sobald das Verfahren gegen ihn zu Recht eingestellt wurde, als Held gefeiert werden. Der Hund vermutlich auch.

»Eigentlich«, sagte Lasterbalk mit schiefem Lächeln und legte Alea seine große Hand auf die Schulter, »hast du eine Tapferkeitsmedaille verdient.«

»Bin dafür«, stimmte Eric zu.

Alea blickte unbehaglich beiseite. »Ich bin beinahe wahnsinnig geworden. Mehr hab ich nicht gemacht, außer erst Eric verletzt liegen zu lassen und dann … beinahe durchzudrehen und euren Plan zu ruinieren.«

»Nee.« Eric warf wieder seinen Arm um ihn. Es war auch jetzt der rechte, da ihn links die verbundene Schussverletzung noch behinderte; doch das machte nichts, denn Wunden heilten. »Ich sag dir, was du gemacht hast: Du hast uns beiden das Leben gerettet. Dir und mir.«

»Oh, Mann«, ächzte Alea. »Ich müsste sauer auf euch alle sein. Es war die Hölle. Aber jetzt bin ich zu müde.« Er versuchte zu lächeln. »Also werde ich einfach morgen auf euch sauer sein … wenn ich wieder Kraft habe.«

Eric knuffte ihn freundschaftlich, und Lasterbalk streckte die Hand aus, um ihm auf den Kopf zu patschen.

»Es tut uns Leid, das weißt du hoffentlich«, sagte er ehrlich. »Ich hoffe, wir können das verlorene Vertrauen wiederherstellen.«

Alea atmete tief und nickte ihm zu.

Dann begannen sie langsam und in Ruhe, ihren Tee zu trinken, der ihre Glieder wärmte und sie wieder klar und vernünftig werden ließ.

Für Alea endete ein tagelanger Alptraum. Eric saß neben ihm, halbwegs gesund und auf jeden Fall munter, und immer noch lag sein Arm locker über Aleas Nacken, als dachte er gar nicht daran, ihn in nächster Zeit dort wegzunehmen. Gerade nahm er einen Schluck Tee, leckte sich die Lippen und warf Alea unter seinem weißblonden Haarschopf einen aufmunternden Blick zu.

Alea schaute zurück, und er brauchte nichts zu sagen. Sie verstanden sich auch so.

Er war sich ganz sicher, dass seine zerrüttete Welt jetzt langsam wieder in Ordnung kommen würde.
 

ENDE


Nachwort zu diesem Kapitel:
Die zitierten Zeilen stammen aus einem Interview mit „da Hog’n“: KLICK

Nun, das Ende ... ist wahrscheinlich nicht, was mancher sich hier erhofft hätte, aber es war von Anfang an so, dass Alea aus diesem Alptraum wieder aufwachen MUSS. Das war auch für mich selber immens wichtig, ich konnte das nicht "so lassen".

Natürlich war die Geschichte auch [s]eine Liebeserklärung[/s] ein Mittelfinger an die Einöde Brandenburgs, die ich geselligen (oder sensiblen) Menschen echt nicht empfehlen kann.

Kleine Anekdote zum Schluss: Die Textzeile aus dem Refrain von „Wo Rosen blüh’n“ heißt natürlich „Ein Bett gemacht aus Steinen, dort, wo man schweigt usw.“, und wann immer ich, abgelenkt durch meinen Titel, falsch angefangen und mich mittendrin noch korrigiert habe, war ich schnell bei „Ein Bett gemacht aus Schweinen“ … ;)

Okay, ihr Lieben, das war’s jetzt. Danke an euch alle fürs Lesen!

Alles Liebe und Grüße
Caro Komplett anzeigen

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