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Die Wander-Geisha

von

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Wander-Truppe

Fassungslos stieg Zaku am nächsten Morgen in den Trümmern ihres Tempels herum und sah sich an, was davon noch übrig war. Überall bot sich ein Bild beispielloser Verwüstung und des Elends. Der Tempel war in der Nacht von einer Räuberbande überfallen worden. Sie hatte das schon vorher gewusst und die 14-köpfige Theater-Truppe nicht grundlos über Nacht hier einquartiert. Ihr selbst waren die Hände gebunden. Zaku hatte ihren Tempel nicht eigenhändig verteidigen dürfen. Zu kämpfen stand ihr nicht an. Ihr Aufgabenfeld war ein anderes. Aber offensichtlich hatte es auch das gute Dutzend Männer nicht geschafft, ihren Tempel gegen die Banditen zu verteidigen. Die Orakelhalle war zur Hälfte abgebrannt, ebenso das Häuschen der alten Dienerin Chirobi. In der Asche lagen drei totgeschlagene Schauspieler. Die, die sich hatten retten können, waren in alle Himmelsrichtungen geflohen. Die Bühnenrequisiten lagen zerstört und verstreut über dem halben Gelände oder schwammen im Teich. Hier und da wehten zerfetzte Stoffbahnen im Wind. Zerbrochene Zeltstangen waren wie Pfähle durch die Papierwände gerammt worden. Was nicht niet- und nagelfest war, war geplündert worden, allen voran natürlich das Tempelgold, Räucherwerk und die Gebetskerzen, aber auch die Habseligkeiten der Theater-Leute. Zaku bereute es, diese armen Männer da mit reingezogen zu haben, die eigentlich unter ihrem Schutz hätten stehen sollen. Was ihr aber am bittersten zu schaffen machte, war die Tatsache, daß ihre Priesterin Natsuo geschändet und getötet worden war. Tot! Ihre Freundin, ihr Orakel Natsuo war tot! Es dauerte eine ganze Weile, bis die Gottheit sich das so richtig zu Bewusstsein geführt hatte. Was hatte das arme, sanfte, immerfröhliche Ding denn verbrochen, um das zu verdienen? Einen Tempel zu entweihen und auszurauben, okay, das war schon dreist genug. Aber wie brachte man es fertig, eine Priesterin zu ermorden?

Neben Ryuka blieb sie stehen, der mit einigen blutigen Striemen und einer Platzwunde auf der Stirn auf den Steinstufen vor der Orakelhalle lag, eine Holzkeule noch in der Hand. Er hatte versucht, die Eindringlinge zurück zu schlagen und war dabei wohl bewusstlos geprügelt worden. Jedenfalls lebte und atmete er noch. Einen Moment schaute Zaku auf ihn herab, dann bückte sie sich herunter und berührte ihn an der Schulter. „Ryuka, wach auf“, forderte sie. Als er nicht gleich reagierte, schüttelte sie ihn.

Mit einem Stöhnen kam der junge Mann endlich wieder zu sich und griff sich an den schmerzenden Kopf. Er setzte sich vorsichtig auf.

„Ryuka, was ist hier geschehen?“

Er hatte einen Moment damit zu kämpfen, die Augen auf zu bekommen. Dann sah er sie nachdenklich an, als müsse er selber erstmal überlegen, wer er war und was hier vor sich ging. Plötzlich blitzte sichtlich eine Erinnerung in seinem Kopf auf. „Natsuo!“

„Sie ist tot.“

„Was!?“

„Sie ist tot, Ryuka. Sag mir, wer das gewesen ist!“

„Wart' mal, woher kennst du meinen Namen?“

„Bei allen Göttern, es ist also wahr!“, rief jemand aus dem Hintergrund. Einige Bauern aus dem Dorf waren erschienen, um sich zu vergewissern, was hier passiert war. Die Nachricht, daß der Tempel ihrer lokalen Schutzgöttin zerstört worden war, hatte sich im Dorf bereits herumgesprochen wie ein Lauffeuer, auch wenn den eigentlichen Brand in der Nacht niemand mitbekommen hatte, da der Tempel zu weit außerhalb lag. Sonst wären die Dorfbewohner sicher eher zu Hilfe geeilt.
 

Zaku schaute in die polierte Bronze-Platte, die ihr als Spiegel diente, und trug rote Farbe auf ihre Lippen auf. Als letztes Highlight für ihr neues Aussehen. Sie hatte sich aus dem zerstörten und verteilten Ramsch der Theater-Leute einen blaugrünen Kimono gekrallt, und weiße Gesichtsfarbe. Die Haare hatte sie zu einer Kürbis-Frisur hochgesteckt. Nun sah sie aus wie eine Geisha. In dieser Gestalt gedachte sie fortan durch die Welt zu ziehen. Sie hatte Pläne.

„Du siehst aus, wie eine billige Nutte“, kommentierte Ryuka hinter ihr mit träger, lallender Aussprache. Er hatte sich das Blut abgewaschen und sah nun wieder einigermaßen gut aus. Irgendwo in dem Chaos hatte er noch ein paar Keramik-Fläschchen mit Sake ausgegraben, die er jetzt eine nach der anderen leerte.

„Hör auf, dich zu betrinken! Davon wird es auch nicht besser!“, nörgelte Zaku ihn voll.

„Und du glaubst, dein Aufputz macht irgendwas besser, Mädchen?“, gab er nur zurück und deutete vage auf ihr weiß bemaltes Gesicht. Sie hatte sich ihm gegenüber noch nicht als Gottheit zu erkennen gegeben. Noch hielt Ryuka sie für eine Maiko, ein gewöhnliches Tempelmädchen.

„Chirobi, wir verlassen jetzt diesen Tempel“, wandte sich Zaku an die alte Dienerin, die aus heiterem Himmel wieder aufgetaucht war und von dem nächtlichen Überfall und dem Abbrennen ihres Bretterschuppens keinerlei Verletzungen davongetragen zu haben schien. Wer weiß, wo sie sich all die Zeit verborgen gehalten hatte, um der Räuberbande zu entgehen. „Nimm jetzt wieder deine wahre Gestalt an“, trug Zaku ihr auf.

Die Alte nickte nur und wurde augenblicklich zu einem Pandabären.

„Heiliger ...!“, fluchte Ryuka schockiert, als er das sah, und warf seine Sake-Flasche in hohem Bogen davon, als wäre der Alkohol daran Schuld, daß er langsam den Verstand verlor. „Sie ist ein Tiergeist!?“, jappste er fassungslos.

„Sie ist harmloser als sie aussieht“, versicherte Zaku ihm. Auch als Panda war Chirobi unübersehbar alt. Eines ihrer Augen war eingetrübt und blind, sie hatte kaum noch Zähne, ihr Fell war schütter und sie schleppte sich mit schweren, trägen Schritten dahin. Die Narbe quer über dem Unterarm, die von vergangenen Kämpfen zeugte, blieb auch auf der Pfote ihrer Tiergestalt sichtbar zurück.

Zaku und der Panda-Tiergeist marschierten zielstrebig los und ließen die Tempelruine hinter sich. Sie hielt jetzt nichts mehr hier. Und wenn man einst über diesen Landstrich sagen würde 'Unsere Göttin hat uns verlassen.', so war ihr das auch egal.

„Äh ... he, warte doch mal!“, rief Ryuka ihr nach und hechtete hinterher. „Wo willst du jetzt hin, Kind? Wo willst du ... Ich meine, wo willst du mit einem Tiergeist hin?“

„Ich gehe die suchen, die das hier getan haben. Ich werde diese Mörder jagen, bis der Gerechtigkeit Genüge getan ist. Ich werde Natsuos Tod rächen. Ich werde die finden, die meinen Tempel niedergebrannt und meine Priesterin geschändet haben. Das lasse ich nicht auf mir sitzen.“

„Alleine?“

„Ich habe Chirobi“, erklärte Zaku, immer weitermarschierend, ohne sich aufhalten zu lassen. Die Formulierung 'mein Tempel' und 'meine Priesterin' konnte durchaus auch aus dem Begriffsumfang einer Maiko stammen. Zaku ließ ihn in dem Glauben, daß sie nur ein Tempellehrling war.

Ryuka stapfte ihr ebenso entschlossen hinterher. „Und was machst du, wenn du sie gefunden hast, Kleine? Wie willst du sie überhaupt finden?“

Zaku blieb stehen und überlegte. Diese Frage war in der Tat berechtigt. Wie sollte sie die Verbrecher wiederfinden? Als Göttin konnte und wusste sie eine Menge, aber bei weitem nicht alles. Schon gar nicht Sachen, die nicht ihrem Aufgabenfeld entsprachen. Und ihre Aufgabe war nunmal die Förderung der schönen Künste, wo das Brandschatzen beileibe nicht dazu gehörte.

Der Schauspieler blieb neben ihr stehen und schaute sie wartend an. Er wollte seine Antwort sichtlich noch haben. „Also?“

„Du weißt, wer das war, oder? Du bist dabei gewesen, als das passiert ist. Kannst du mir helfen, sie zu finden?“

Ryukas Augenbrauen rutschten ein wenig nach oben. Jetzt wollte sie ihn also in die Sache mit reinziehen? Da hatte er sich ja was schönes eingebrockt. Auch wenn er nicht abstreiten konnte, daß es mit seinen eigenen Interessen konform ging. Er hatte seine gesamte Theater-Truppe verloren, und alles was sie als solche besessen hatten. Und er war als Künstler absolut nicht damit einverstanden, wenn die Priesterin seiner persönlichen Schutzgöttin einfach dahingemeuchelt wurde. Er hatte selbst den starken Drang, diese Kerle abzustrafen. Ryuka seufzte hinnehmend. „Gut, ich helfe dir. Lass uns nur eben zum Tempel zurückgehen und retten, was von meiner Theater-Ausrüstung noch zu retten ist, einverstanden?“

„Einverstanden.“

„Ich weiß, wer die Brut war. Und ich weiß auch, wo wir sie wiederfinden dürften. Sie werden die Beute und das Tempelgold unter sich aufgeteilt haben und sind dann in verschiedene Richtungen gezogen, um es zu veräußern.“

„Von wievielen reden wir?“

„Es waren drei.“

„DREI!?“, keuchte Zaku ungläubig. „Ihr wart vierzehn Männer und konntet es nicht mit DREI Halunken aufnehmen!?“

„Hey, sie waren schwer bewaffnet und sie haben uns förmlich im Schlaf überrascht! Die meisten meiner Männer waren im brennenden Tempel eingeschlossen, als es passiert ist! Wir sind nur einfache Theater-Leute, keine Kämpfer“, verteidigte er sich.

Zaku blies die Backen auf und ließ die Luft dann langsam wieder entweichen. Der Panda an ihrer Seite gab ein zustimmendes Quäken von sich. Der Kampf war wirklich anders vonstatten gegangen als die Göttin sicher glaubte. Zwischen entgeistert und sauer schwieg Zaku und begnügte sich mit einem leichten Kopfschütteln.
 

In der Tempelanlage trafen sie auf einen großen, muskelbepackten Kerl mit dichtem Bart, der sich gerade abmühte, den Holzkarren der Theater-Truppe wieder aus dem Teich zu ziehen, und damit erstaunlich erfolgreich zu sein schien.

„O-Shikara, du bist zurückgekommen?“, grüßte Ryuka das Kraftpaket von einem Mann, während er im Vorbeigehen seine herumliegende weiße Holzmaske mit der langen Nase vom Boden aufklaubte.

„Du lebst noch!?“, gab der Angesprochene zurück, zog akut ein Gesicht als würde er vor Freude losheulen wollen, und ließ den Holzkarren los, der klatschend zurück in den Teich rollte. „Ich fühl mich schlecht. Ich bin in dem ganzen Chaos letzte Nacht auf und davon gerannt wie ein Feigling.“

„Das war dein Glück. Von denen, die geblieben sind, hat keiner überlebt. Nicht einmal die Priesterin haben sie verschont“, meinte Ryuka nachsichtig.

„Ein Mist.“

„Hast du noch andere meiner Männer gesehen? Weißt du, wo sie alle hin sind?“

O-Shikara schüttelte den Kopf und hatte jetzt wirklich Tränen in den Augen. Die ganze Sache nahm ihn furchtbar mit. Fahrig strich er sich den Bart mit einer Hand glatt. „Ich weiß von keinem. Sie sind alle weg.“

Ryuka schaute auf die Maske in seiner Hand. Es war eine Tengu-Maske. Der Tengu war auf der Bühne immer seine Paraderolle gewesen, die er am meisten geliebt und in der er sich am wohlsten gefühlt hatte. Die Tengu waren unglaublich schlaue, gerissene Viecher, bis hin zu Gedankenlesern. Damit konnte sich Ryuka gut identifizieren. Er zog eine Schnur durch die Augenlöcher der Maske und band sie sich um den Bauch, so daß die Maske seitlich auf seinem linken Hüftknochen ruhte. Wer weiß, ob er jetzt jemals wieder als Schauspieler auf einer Bühne stehen würde. Aber dieses Andenken an sein bisheriges Leben wollte er auf jeden Fall mitnehmen. Immerhin war diese Maske hier etwas besonderes. Tengu-Masken waren für gewöhnlich rot. Seine Rolle als weißer Tengu war ein Alleinstellungsmerkmal gewesen, mit dem er einigermaßen bekannt geworden war. Nur damit hatte er es schaffen können, seine eigene Theater-Truppe zu gründen, deren Kopf er war.

„Was wirst du jetzt tun, Ryuka?“, wollte der Muskelprotz wissen.

„Ich ziehe weiter. Das Mädchen will die Mörder finden, die diesen Tempel niedergebrannt haben. Und, bei Zaku, der Göttin der Kunst, das will ich auch!“

Erst jetzt nahm O-Shikara das Mädchen im Kimono so richtig wahr, das ein wenig entfernt in den Trümmern und dem Chaos herumwühlte, gleichfalls auf der Suche nach irgendwas, was noch zu gebrauchen war. „Eine Geisha?“

„Nein, den Kimono hat sie aus unserer Theater-Ausrüstung. Horibe wird ihn nicht mehr brauchen, er ist tot. ... Bist du mit mir, O-Shikara? Willst du mir folgen?“

Das weinerliche Gesicht des Riesen wurde wieder entschlossen. „Das werde ich! Ich bin dir immer gefolgt, und ich werde es auch weiterhin tun!“

„Gut. Dann lass uns den Karren aus dem Wasser ziehen und sehen, was wir von unseren Sachen noch verwenden können.“

„Wie heißt denn deine neue, kleine Geisha-Freundin?“, bohrte O-Shikara nach.

Ryuka grinste schief. „Ich weiß nicht. Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie zu fragen. Aber nimm dich in Acht vor ihrem Panda.“

„Panda? Welcher Pan-...“ Der Hüne kreischte erschrocken auf, als im gleichen Moment der gewaltige Kopf eines schwarz-weißen Bären durch die Wasseroberfläche des Teiches brach. Das Tier stemmte sich diensteifrig gegen den Karren und half, diesen wieder ans Ufer zu wuchten. Die beiden Theater-Leute sprangen auseinander, um nicht überrollt zu werden.
 

„Willst du nicht essen?“, fragte O-Shikara besorgt nach und deutete auf die Schale mit geschnittenem Gemüse, die Ryuka noch nichtmal angerührt hatte. Der saß nur mit leerem Blick herum und regte sich nicht. Es war inzwischen später Abend. Sie hatten ein gutes Stück Weg zurückgelegt und dann ein Lager aufgeschlagen. Das Lagerfeuer strahlte durch die Zeltplane und sorgte selbst hier drinnen für ausreichendes Licht. Von Zeit zu Zeit hörten sie den Panda-Tiergeist gähnen, der gemütlich am Feuer lag und sich wärmte. Im Zelt war ungewohnt viel Platz. Es war sonst für sechs Leute gedacht, nicht für zwei. Es wirkte regelrecht trostlos.

Ryuka schüttelte leicht den Kopf. „Ich krieg nichts runter“, hauchte er matt und schob die Schüssel von sich. „Iss du, wenn du magst.“

„Nein, ich möchte auch nichts mehr. Lass es uns aufheben. Sicher können wir es auf unserer Reise noch brauchen“, gab der Muskelprotz zurück.

Ryuka starrte weiter Löcher in die Luft.

„Was hältst du von dieser Geisha?“, versuchte O-Shikara das Gespräch am Laufen zu halten, und deutete durch den Zeltausgang nach draußen. Das Mädchen hatte ein eigenes Zelt, um den Anstand zu wahren.

„Was meinst du?“

„Naja, allgemein. Weißt du irgendwas über sie? Ich meine, wir sollen sie 'Zaku' nennen. Sie behauptet, von ihren Eltern nach der Gottheit der Kunst und der Darsteller benannt worden zu sein. Und dabei rennt sie mit einem Tiergeist durch die Gegend. Schon ein echter Panda als zahmes Haustier wäre der Knüller. Aber das ist ein Tiergeist! Du musst doch zugeben, daß das alles sehr eigenartig ist.“

„Ich kann es doch auch nicht ändern“, murmelte Ryuka leise und sein Gesicht verzog sich ein wenig ins Wehleidige. „Ich wünschte, ich könnte irgendwas ändern. Irgendwas ungeschehen machen. Aber ich kann nicht.“ Ein Hochziehen der Nase, dann brach er endgültig in Tränen aus. Jetzt übermannten ihn die Ereignisse endgültig.

O-Shikara rutschte mit einem gutmütigen Brummen heran und schloss seinen Chef und Freund fest in die Arme, um ihn zu trösten. „So habe ich das nicht gemeint.“

„So hab ich´s auch nicht verstanden. ... Aber trotzdem. ... Mein Gott, all unsere Kameraden. Tot. Alle tot. Oder mittel- und heimatlos in alle Winde zerstreut. In einer einzigen Nacht. Wie konnte sowas passieren?“

O-Shikara strich ihm mit einer seiner großen Pranken über die Haare und drückte Ryukas Kopf gegen seine Brust.

„Bin ich daran Schuld?“

„Unsinn“, meinte der Riese.

„Ich hab meine Leute ins Verderben geführt. Zaku bestraft mich für irgendwas. Wir werden als Gäste in ihren Tempel eingeladen, und ein paar Stunden später sind wir alle tot. Irgendwas habe ich als Kopf dieser Theater-Truppe falsch gemacht. Was nur, O-Shikara? Was nur?“

„Gar nichts. Du warst ein guter Anführer. Es war weder deine noch Zakus Schuld. Wäre es Zakus Wille gewesen, hätte sie wohl kaum ihr Orakel und ihren ganzen Tempel geopfert. Hätte sie dir eins auswischen wollen, hätte sie das einfacher haben können. Unsere Göttin Zaku wurde genauso betrogen wie wir.“

Ryuka schniefte und wischte sich mit den Fingern die Wangen trocken, machte aber keine Anstalten, sich aus dem aufmunternden Klammergriff des Muskelprotzes befreien zu wollen. Er war dankbar für diesen Halt, die Wärme und die Nähe. Dadurch fühlte er sich nicht mehr ganz so elend. Schön zu wissen, daß er noch jemanden auf seiner Seite hatte, der zu ihm hielt.

„Wenn es dich beruhigt, ich vermisse die anderen auch“, fügte O-Shikara noch an. Jetzt klang er selbst schon etwas trübsinnig. Er legte seine bärtige Wange oben auf Ryukas Schädeldach ab. „Ich vermisse sie sogar ganz furchtbar. Jeden einzelnen.“ Kurz herrschte Schweigen, dann fuhr er doch fort: „Kenji hätte jetzt sicher draußen am Feuer gesessen und uns Geschichten erzählt. Fast ein Jahr war er bei uns. Und nie sind ihm die Geschichten ausgegangen. Erinnerst du dich an seine Geschichte von dem Kappa? Die wollten wir eigentlich irgendwann auf der Bühne aufführen.“

„Ich entsinne mich.“

„Und Hakane hätte über dem Feuer wieder ihren wundervollen Reiskuchen gebacken.“

„Ach komm, jetzt hör schon auf damit!“, verlangte Ryuka missmutig. „Das trägt gerade nicht dazu bei, daß ich mich besser fühle.“

„Entschuldige“, murmelte der Hüne kleinlaut und drückte Ryuka noch etwas fester. „Ich vermisse sie nur so.“

Dann wurde es wieder still zwischen ihnen. Nur hier und da wehten leise Gitarrenklänge herein.
 

Drüben auf der anderen Seite des Feuers saß Zaku in ihrem eigenen Zelt und spielte auf einem dreiseitigen Shamisen. Es war nicht Natsuos Shamisen. Das hatte den Brand in der Orakelhalle leider nicht überlebt, was die Gottheit sehr ärgerte. Ihrem Gemüt hätte es gut getan, wenn sie als Andenken an ihre Freundin und Priesterin wenigstens noch deren Shamisen hätte retten können. So musste sie nun auf ihr eigenes zurückgreifen, das sie als Göttin der Kunst willkürlich überall her aus dem Nichts beschwören konnte, und das auch um einiges sphärischer klang als ein gewöhnliches. Ihr anfänglicher Zorn, der sich in unüberhörbar derben, flotten Anschlägen auf dem Instrument entladen hatte, war längst einer kraftloseren, sentimentaleren Trauermelodie gewichen. Zaku fühlte sich leer. Sie sollte es sich endlich abgewöhnen, sich mit ihren Priesterinnen so sehr anzufreunden. Es war immer das gleiche. Irgendwann starben sie, früher oder später. Und sie, Zaku, die als Gottheit nicht alterte und keines natürlichen Todes starb, blieb trauernd und alleingelassen zurück. Sie fühlte sich erst wieder etwas besser, wenn sie ein neues Orakel für sich gefunden hatte. Und das dauerte für gewöhnlich eine Weile. Letztes Mal hatte ihr Tempel fast ein Jahr leergestanden, nur von der alten Chirobi in Schuss gehalten.



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