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History Maker - The beginning

Viktor Nikiforovs BG-Story
von

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Es vergingen Sekunden, in denen Viktor sich ernsthaft fragte, ob er noch immer träumte. Er kniff sich kurzerhand in den Oberarm und verspürte einen zähen Schmerz, aber die Umgebung änderte sich nicht.

Das war real. Seine Mutter und Erzeugerin stand vor dem Eingang der Akademie. Um ca. 5 Uhr morgens. An dem Ort, von dem sie wohl nie mehr irgendwas wissen wollte.
 

‚Hat sie mich gesehen?‘ Panisch wuselte Viktor weiter, seine Gedanken überschlugen sich, die innere Schranke hatte mächtigen Druck, die Gefühle vom Zerbersten zurückzuhalten. Er prallte gegen die Wand und stolperte in die Jungentoiletten rein, machte schnell das Licht an und pflanzte sich in eine leere Kabine. Hier fühlte er sich sicher. Einigermaßen.
 

Warum ist sie hier?
 

Hatte sie ihn gesucht? Warum hat sie es zuvor nicht getan? Er ist immerhin schon 5 Wochen hier und ihm kam es zugute, dass diese Frau anscheinend so wenig Interesse an ihrem Sohn noch hatte, dass sie ihn nicht mal suchen wollte. Er hatte an besagtem Tag X im Handgemenge zu ihr gesagt, dass er an die Akademie gehe, es waren die Worte, die ihren Berserker-Modus erweckten. Viktor wäre es am liebsten gewesen, wenn er sie einfach nie wieder hätte sehen müssen. Aber es war nicht der Fall…
 

Auf der Toilette hockend nickte er wieder ein und bemerkte das nicht. Er lehnte dabei mit dem Kopf hinten an der Klospülung. Seine Arme rutschten nach unten und ein bisschen Klopapier verbreitete sich auf den Boden.
 

„Viktor…?“

Laut hörte er seinen Namen. Eine alte Männerstimme, die nach Yakov klang. Er zuckte hoch und fiel fast von der Kloschüssel, ehe er registrierte, wo er sich befand. Ihm war kalt, sofort fing er an, leicht zu zittern. „J-Ja?“
 

„Kommst du raus da? Wir müssen was besprechen!!“
 

Streng wie immer. Und peinlich genug, dass er ihn hier fand. Auf der Toilette. Anderthalb Stunden waren vergangen, und sofort kam Viktor wieder das Bild seiner Mutter in den Sinn. Ob Yakov deswegen mit ihm reden wollte? Der Herzschlag des Jungen beschleunigte.
 

„Unglaublich. Die Jungs haben sich schon Sorgen gemacht. Ist es so schrecklich in deinem Bett, dass du hier schlafen musst?“
 

„Die haben sich sicher keine Sorgen gemacht! Aber… sorry, das wollte ich nicht!“
 

Im gleichen Moment entfloh Viktor ein heftiges Niesen.

Sie gingen aus dem Raum, der Jüngere bekam etwas wärmeres zum Anziehen. Zudem einen warmen Kakao und ein Hustenbonbon. In seiner Nase kribbelte es und er bekam leichte Kältewellen. Keine besonders guten Vorzeichen. „Ich hätte es fast nicht erwartet… aber Nora… deine Mutter ist hier.“
 

Da war sie, die Bestätigung, bis grade eben hatte Viktor noch gehofft, dass sie nur eine Einbildung war.

Sofort drehte sich sein Magen um.
 

„Sie ist bei Igor. Ich ging davon aus, dass sie gar nicht mehr hier lebt, seid ich dich gesehen habe, und weiß, dass du ihr Sohn bist, hat sich doch einiges geändert.
 

Was ich mitbekommen hatte aus dem Gespräch unten… sie wirkte aufgewühlt, dass sie nach alledem nach Jahren wieder diesen Ort aufsuchte. Sie… nun ja, sie möchte auch mit dir sprechen“
 

„Sie will mich doch nur hier wegholen!!“ prustete es aus Viktor, kurz danach folgten zwei Röchler. „So wirkte es nicht direkt. Aber gehen wir am besten mal mit runter in Igors Gesprächszimmer.“
 

Viktor wollte sich fast weigern, da ihm bei dem Gedanken, mit diesem Menschen zu kommunizieren, anders wurde. Zum Glück fühlte sich seine innere Wut und Verzweiflung gut unterdrückt, sonst hätte er vielleicht geschrien oder den Tisch umgeworfen. Er konnte den Grad der innerlich brodelnden Funken nicht ganz einschätzen.
 

Er folgte seinem Trainer doch. Immerhin war das nochmal eine Gelegenheit, dieser Frau die Meinung zu geigen und seinen Verbleib zu sichern. „Viktor… ich nehme für dich Sachen in Kauf, die ich eigentlich nicht durchgehen lasse. Ich sorge auch dafür, dass die anderen weitestgehend nichts mitbekommen. Bitte benimm dich einfach. Ich weiß, es ist nicht leicht. Aber wenn du hier bleiben willst, musst du auch mal gehorchen“
 

Diese übliche strenge Art brachte den Jungen nur zum Seufzen. „Ja...“ Scharf auf die Sache war er nicht grade…

Sie standen schließlich vor Igors sperriger Tür. Eine Art Klopfzeichen folgte. Dann der Einlass. Viktors Herz setzte kurz aus. Aber ansonsten waren seine Gefühle erstaunlicherweise verstummt. Er sah nicht hin, er schaute zu Boden und vernahm ein nervöses Klappern vom Tisch. „Nora, bitte...“
 

Nun sah der Junge doch auf. Diese Frau, deren Haare dunkel gefärbt waren, hatte gefühlt noch mehr Falten bekommen, als ohnehin schon. Sie starrte ihr Kind eindringlich an. Viktors Lippen bebten, er wollte ihr am liebsten soviel Unheiliges an den Kopf werden, aber die innere Schranke hielt ihn ab. Stattdessen setzte flache Atmung ein, er wurde von Yakov auf den Stuhl gegenüber geleitet und versuchte, irgendwie nicht aus der Fassung zu geraten.
 

Diese Stille nahm bedrohliche Formen an. Fünf Minuten hielt sie. Das Trainergespann sah sich vielsagend an. Mit einer Familienfehde hatten sie hier wohl selten zu tun. „Nora, was wolltest du Viktor denn mitteilen?“ unterbrach Igor die einschneidende Stille.
 

„Es… es… tut mir leid“ krächzte sie und starrte dann ihre Handtasche an.
 

„Was… was tut dir leid? G-Glaubst du… nach alledem… reicht mir das?!“ gab Viktor fuchsig zurück.
 

„Ich… ich bin einfach schrecklich...“
 

Die beiden älteren Semester hielten sich bewusst zurück und mischten sich zunächst nicht ein.

„Ja… du hast… du hast mich immer behandelt wie Dreck… wie ein Ding, was so funktionieren muss, wie du es gern hättest… und du hast Nezhny...“ Trotz der inneren Schranke fiel es dem Jungen noch immer schwer, darüber zu reden, vor allem, wenn die verantwortliche Person direkt gegenüber sitzt. Er schluckte, zitterte leicht und spürte inneren Druck. Er konnte dieser Frau nicht in die Augen sehen. Er starrte auf die zappeligen, schwitzigen Hände von ihr. Mitsamt den dreien abgebrochenen Nägeln. Zittrig griff sie nach einem Tuch.
 

Schließlich vernahm Viktor ein Schluchzen.
 

„Er wusste nicht, dass du hier mal Schülerin warst“
 

„I… Ich konnte es ihm nicht s-sagen. Zu viele… schreckliche Erinnerungen...“ Es war ihr anzumerken, wie unsagbar schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Sie traute sich auch nicht, zu Viktor zu schauen. Nach einem Jahrzehnt und noch länger, wie sie ihren inneren Frust über den Verlauf des Lebens einfach gefressen und quasi gelebt hat, war es langsam Zeit für die Wahrheit. Aber Viktor verstand nicht und ihm kam das mehr als seltsam vor. Er wünschte sich, er könnte in diesem Moment wirklich all seine Wut aus seiner verkorksten Kindheit aussprechen. Die Wut ist in ihm und der innere Druck ist stark, das Gefühl will sich aber nicht hundertprozentig einstellen und das kann nur an diesen Tabletten liegen, die er seit dem letzten Gespräch mit Igor genommen hatte.
 

Gleichzeitig erschreckte der Junge sich, in welche Richtungen er in seinem Alter schon denkt und wie sehr er sich irgendwo auch mal wünschte, endlich Kind sein zu dürfen.
 

„V...Viktor… ich… bin untröstlich… du hast nie auf… das gehört was ich dir gesagt habe… ich… mir war nicht bewusst, dass du… so sehr schon einen eigenen Willen hast…“
 

Natürlich habe ich das, dachte sich der Silberhaarige recht trocken, während sein inneres Brodeln seltsam abkühlte. Die Tablette, die er vorhin bei Yakov im Büro genommen hatte, sie schien richtig einzuschlagen nun. Igor lächelte Viktor indes vielsagend zu, als hätte er nur drauf gewartet, dass die Zerknirschtheit etwas aus dem Gesicht des Jungen wich.
 

„Ich wollte, dass du erfolgreich bist. Dass du ein eigenes und sicheres Leben führen kannst. Ich hatte e-einfach immer die Vorstellung, wie stolz ich auf dich sein könnte, wenn du einen ganzen Konzern anführst, reich wirst und einflussreich bist! Ich hatte mir gewünscht, d-dass du nicht die Fehler machst wie ich und Instinkten folgst… die nur Elend herbeiführen...“ sprudelte es aus ihr heraus und Viktor war sich plötzlich sicher, noch nie solche ehrlichen Worte aus ihrem Mund gehört zu haben. Doch noch traute er dem Braten nicht ganz und wartete schon darauf, weggeschleift zu werden. Jetzt mischten sich wieder die Trainer ein.
 

„Nora, du warst ein hervorragendes Talent, wir haben es wirklich bedauert, was damals passiert ist und dass du niemals den Mut hattest, zurückzukehren auf die Eisfläche. Wir dachten, du seist untergetaucht, weggezogen, es war nicht mehr möglich, dich zu erreichen. Bis wir hörten, dass du einen Sohn hast.“ erzählte Yakov erschreckend betreten.
 

Eleonora schniefte noch etwas herum. „Verbirgst du noch irgendwas vor mir?“ fragte Viktor dann trocken. Die Tabletten wirkten immer mehr ein. Igor stellte sich hinter den Jungen und legte seine Hand auf dessen Schulter. Genauso hatte er es konzipiert. Dass ihr eigenes Kind sie so ausfragte, ließ die seelisch zerstörte Frau schwer seufzen. „Ja… ich habe mir in der Öffentlichkeit, grade in der Zeit, in der ich mein Geld auf dem Strich verdiente, einen anderen Namen gegeben.“ „Und welchen?“ Viktor knetete seine Faust, die immer noch leicht geballt war. „Ich war… einfach Elena“
 

Verrückt. Viktor wusste also nicht mal, dass sie für ihre nächtlichen Ausflüge einen Decknamen angenommen hatte. Der Junge saß etwas perplex dort.
 

Ohne Rücksicht darauf, dass da immer noch ein Zehn, fast Elfjähriger im Raum saß, erzählte die Frau ein paar Details aus dem Doppelleben, welches Sie führte. Über Affären, über die Angst, geschwängert zu werden, über furchtbare Männer und vielen schrecklichen Szenen, die… man getrost als sexuellen Missbrauch sprechen kann. Da war es wieder, das Thema, welches der Junge nicht nachvollziehen konnte – die Anziehung des männlichen Geschlechts gegenüber Frauen. Oder die sexuelle Anziehung überhaupt. Er möchte es verstehen aber wie immer wurde ihm direkt an den Kopf geworfen, dass er einfach noch zu jung für das alles sei. Yakov hatte auch nicht mit einer derartigen, plötzlichen Offenheit von seiner damaligen Schülerin gerechnet. Viktor musste sich irgendwo eingestehen, dass er auch niemals etwas von dem Schrecklichen geahnt hätte, was sie da erzählte, aber der Alkohol wurde dadurch immerhin erklärt. Kein Verhalten aber rechtfertigte eine Attacke wie auf Nezhny.

„V..Viktor… es tut mir leid, ich konnte das alles nicht erzählen. Ich bin einfach in meinem Frust versunken und als ich dich mit den Schlittschuhen gesehen habe, wie du spät heimkamst, war das ein Schlag ins Gesicht für mich. Ich verlor die Kontrolle. Deswegen ist mir die Hand so ausgerutscht..“
 

Eine Rechtfertigung war nicht das, was der Silberhaarige hören wollte. Er seufzte. „Bist du deswegen hier? Weil du denkst, dass ich dir verzeihe für alles?“ Er schaute an die Decke. Nicht in der Lage, die Gefühle hinter seinen Gittern zuzulassen.

„Nein… d-das nicht...“ Da waren sie doch wieder, die Tränen in den Augen von Eleonora. „Aber ich war… ich stand unter Schock, als ich realisierte, dass du abgehauen bist. Ich dachte, du kommst abends wieder. Aber… du kamst auch die nächsten Tage nicht wieder und i-in der Stadt habe ich dich auch nicht finden können..“
 

Dramatisch berichtete sie von ihrer Suchaktion, fürchtete sich aber, die Polizei und die öffentlichen Behörden einzuschalten, da sie um das illegale Geschäft ihres Doppellebens fürchtete. Sie hatte durchaus mitbekommen, dass Viktor angekündigt hatte, auf das Eiskunstlaufinternat zu wechseln. Sie hatte es ihm aber nicht glauben wollen und sich auch nicht in die Nähe des Ortes getraut, an dem ihr damals eine glorreiche Karriere bevorstehen hätte können. Sie wehrte sich einige Tage dagegen, genau hier zu suchen. Sie gab zu, dass sie Viktor doch sehr vermisste, und in dem Moment fiel es ihr wie die Schuppen von den Augen:
 

War sie eigentlich irgendwie mal für ihn da? Hatte sie sich eigentlich mal drum geschert, wie es ihrem Jungen ging? Würde er wirklich glücklich werden, wenn sie ihn in die wirtschaftliche Spitze auf den Chefsessel drängeln würde?
 

In all dem Frust und dem Alkoholrausch bemerkte sie seltenst, dass sie mit ihm nicht grade zimperlich umging, dass sie ihn schlug und ohrfeigte und ihr mehrfach die Hand einfach ausrutschte. Sie war emotional so oft außer Kontrolle und hat vieles davon an ihrem eigenen Kind ausgelassen.
 

Es war ein Schock an dem Tag neulich, als Nora in ihrem Wohnzimmer, sich einsam fühlend an all das entsinnte und ihr klar wurde, was sie mit ihm angestellt hatte. Und nebenbei ein Tier auf dem Gewissen hatte.
 

Dies war letztendlich der Grund, dass sie sich doch überwand und die alte Nummer von Yakov raussuchte, welche in ihren Dokumenten noch irgendwo herumlag. Der Trainer hatte noch immer die gleiche Haustelefonnummer. Es kostete sie vieles, wieder mit ihm zu reden. Genauso kostete es sie einiges an Nerven, diesen Ort wieder aufzusuchen. Sie kam mit mulmigen Gefühl zum heutigen Termin, war Stunden zuvor schon in der Kälte gestanden und hatte das schicksalhafte Gebäude betrachtet. Deswegen hatte Viktor sie heute morgen auf der Straße entdeckt. Und sie ihn hinter dem Schleier wohlgemerkt auch, was ihr den letzten Anstoß dazu gab, den Schritt ins Gebäude herein zu wagen.
 

Viktor schüttelte sich nach alledem. Würde das ‚Antidepressivum‘ nicht wirken, würde er vermutlich mit irgendwas um sich schmeißen. So aber nahm er das schockiert, aber reserviert auf. „Ich möchte nichts weiter, als einmal ein erfolgreicher Eiskunstläufer sein. Daran wirst du nichts mehr ändern können. Du hast damals nicht den Mut gehabt, weiter an dem festzuhalten, was dich glücklich macht, sondern dich verstellt und komisches, illegales Zeug gemacht. Und immer schön nach Alkohol gestunken, das war mir immer zuwider. Aber ich werde das niemals tun, egal ob ich mal stürze oder mir wehtue.. ich liebe diesen Sport und ich werde es immer tun“
 

Das war mal eine Ansage des Jungen, dessen Pubertät normalerweise noch vor ihm lag und sie brachte sogar die Augen der Trainer zum Weiten. Seine Mutter nahm ein Tuch und wischte sich die Tränen weg, weil sie spätestens jetzt realisierte, wie ernst ihrem Sohn diese sportliche Karriere war.
 

„Nora wird sich jetzt einer Entzugskur und einer psychologischen Behandlung unterziehen. Das habe ich im Vorfeld besprochen und sie hat zugestimmt. Vielleicht wird sie dann in der Lage sein, deine Karriere zu akzeptieren und dir womöglich Rückhalt zu geben.
 

Ich weiß, das bringt dein geliebtes Tier nicht zurück. Aber du kannst endlich loslassen von dem, was dich über Jahre erschüttert hat, Viktor. Damit du den Weg gehen kannst, den du gehen möchtest“
 

erklärte Igor weise und informativ. Für die beiden Nikiforovs war die Situation schwer zu meistern. Sie sagten sich nichts mehr und schluckten gewaltig. Aber nach einiger Zeit konnten sie beide sich endlich ins Gesicht schauen.
 

„V...Vitya“

Noch nie hatte sie ihn so angesprochen. Nora erhob sich langsam und zittrig. Viktor sah auf und war offen überrascht über diese Reaktion. Das Trainergespann wartete ab, was die Frau vorhatte.
 

Sie beugte sich ein wenig, kam vor Viktor zum Knien, der etwas zurückwich, womöglich war da immer noch eine Alkoholfahne. Dann atmete die Frau tief durch, breitete vorsichtig ihre Arme aus und legte sie leicht unbeholfen um den Körper des Zehnjährigen. Man spürte, wie viel Überwindung sie es kostete, ihr eigenes Kind zu umarmen.
 

Etwas, was für so viele Menschen so selbstverständlich erschien, passierte bei den Nikiforovs grade das allererste Mal seit langer Zeit. Viktor war sichtlich überfordert, und glaubte erst, dass sie ihn einfach von hier wieder fortbringen möchte, dementsprechend nahm er zunächst eine starre defensive Haltung ein. Nach einer Minute spürte der Silberhaarige ein kleines Erweichen in seinem Herzen.
 

Diese Umarmung war echt. Sie war nicht gespielt, sie wollte ihm ernsthaft Körperwärme und Nähe schenken. Viktor legte irgendwann auch seine Arme vorsichtig um sie. Es war ein seltsames Gefühl und sicher nichts, womit die Frau all ihre Taten verzeihlich machte. Aber der Junge hatte sich insgeheim immer gewünscht, mal von ihr in den Arm genommen zu werden.

Er schloss seine Augen und genoss diese gefühlte halbe Stunde, in der sie ausharrten und Nora inzwischen mit weiteren Tränen kämpfte.
 

„Bitte… versprich mir, dass du das beste aus dir machst… und aufpasst… und den Fehler nicht machst den ich getan hab…“

Viktor realisierte langsam, dass sie ihn nicht wegholen möchte. Das musste er erst mal schlucken. „Ich bin krank und… habe es lange nicht gemerkt, deswegen lasse ich mich behandeln… du gehst deinen Weg“
 

Yakov legte eine Hand auf ihre Schulter. „Versprichst du es, Vitya…?“ murmelte die Frau leise. Nicht nur, dass der Kosename in ihm einen Hüpfer auslöste, sondern auch, dass sie eine Seite von sich zeigte, die er bisher nicht kannte. Sein Herz raste etwas schneller und insgeheim fragte er sich wieder, ob er träumte. „Ja...“
 

Nach einigen Minuten der Umarmung verabschiedete sich Eleonora mit Igor, die endlich begriffen zu haben schien, was sie Viktor angetan hatte und wie sie ihn behandelt hatte, nur weil sie selbst mit schweren Traumata zu kämpfen hatte. Die Wirkung der Tabletten ebbte auch wieder etwas ab sodass der Junge die turbulenten Emotionen in sich auch wieder mehr wahrnahm.
 

‚Sie ist doch nicht so böse? Wollte sie Nezhny nicht wehtun…? Aber…‘

„Viktor, geh bitte ein bisschen trainieren, damit du deine Leistung wieder verbesserst, ja?“ wies ihn Yakov streng, aber sogar selbst ein wenig mitgenommen.
 

Der Junge, der sich zwischendurch kurz die Nase putzte, tat nichts lieber als das. Was könnte ihn jetzt besser von dem Ganzen ablenken als das Eislaufen? Vermutlich nichts.
 

Diverse Formalitäten wurden in den darauffolgenden Stunden geklärt, ehe das finale Gespräch der Vorsitzenden mit Nora stattfand. Sie hatte einen Platz in einer Psychotherapie sicher und sie könnte alsbald, wenn sie sich gut entwickelte, auch einen vernünftigen Arbeitsplatz bekommen.
 

„Viktor hat wirklich unglaubliches Talent von dir geerbt. Ich kann es nicht oft betonen.“ Erzählt Yakov gegen Abend. Dessen Mutter hatte sich etwas berappelt. Es würde wohl noch ein bisschen dauern, bis sie wirklich all ihre Taten aufarbeiten und Viktors Wünsche vollends akzeptieren könnte. „Er ist grade erst professionell gestartet und schon auf einem höheren Stand als diejenigen, die wir bereits seit Kleinkindalter betreuen. Sein Charakter macht manchmal etwas Probleme“ Igor übernahm. „Obwohl er noch nicht in der Pubertät ist, rebelliert er manchmal. Wie ein kleiner Sturkopf das eben macht. Eine interessante Entwicklung. Ich kann positiv aber sagen, dass er sehr früh weiß, was er will und was er ablehnt. Und auch wenn seine mathematischen Leistungen unzureichend sind und ich bei ihm eine Rechenschwäche vermute… er ist auf seine Art ein sehr kluger Kerl. Er wird seinen Weg machen, auch wenn es noch viel Arbeit braucht“
 

Nora hatte sich etwas Wasser zu trinken gemacht und ein Kaugummi genommen, um dem Drang nach Alkohol nach einem harten langen Tag abzugelten. Es wird anfangs wirklich schwer sein für sie. Aber sie war bereit, noch ein bisschen mehr aus Viktors Vergangenheit zu erzählen, zumindest das was sie wusste. Es sollte in den darauffolgenden Tagen und Wochen immer mal wieder neue Infos von ihr geben, Ballast, den sie loswerden musste. Einsicht, dass sie sich wirklich nicht so kümmern konnte und es nicht geschafft hat, Viktor zu greifen und sich ihren eigenen Ängsten zu stellen. Sie beschrieb ihn in ganz jungen Jahren, in der Zeit, bevor er den Eiskunstlauf für sich entdeckte, als sehr aufgedrehten kleinen Jungen, der vor allem sehr probier-freudig war und sie damals auf diese Weise immer gerne zur Weißglut gebracht hatte. Da landete gerne mal ein Finger auf einer Herdplatte, nachdem er grade laufen gelernt hatte und sie ihn einmal auf dem Arm hatte beim Kochen. Die Schreie waren schmerzhaft und ein Teil der Narbe sah man heute noch. Im Alter von 4 Jahren begann er wie von selbst, auf Dinge zu klettern, fiel dabei nicht selten hin. Er begann in Büchern zu blättern, versuchte wohl, sich selbst das Lesen beizubringen, dachte sich, nachdem er grade Sätze brabbeln konnte, Namen für Gegenstände aus. Und jedes mal, das hatte sie bereits gemerkt, als er nicht mal 3 Jahre alt war, dieses unbändige Funkeln in den kristallblauen Augen, wenn er irgendwas geschmeidiges, schönes, leuchtendes sah. Dasselbe Leuchten in seinen Augen, immer dann wenn er Melodien wahrnahm. Kurz darauf änderte sich aber vieles. Dieser Moment, als er einen Eiskunstlaufwettbewerb sah, da schien es um Viktor geschehen.
 

Ab da änderte sich das bis dato noch recht elterliche Verhältnis zwischen ihm und Nora drastisch. Ihre Schwarzarbeit, die sie betrieb, war noch gut zu verbergen und Viktor bekam davon nie etwas mit, bis zu besagtem Zeitpunkt. Der Junge zog sich urplötzlich zurück, wirkte so, als würde ihn etwas bedrücken. Er wirkte zunehmend desinteressierter, unnahbarer für die alltäglichen Freuden, lustloser und vor allem auch müder wegen seiner nächtlichen Ausreißer. Nora wusste nicht, was mit ihm los war. Wenn sie mal wieder mit ihm reden konnte, erzählte er vom Eislaufen, wie sehr er es sich wünschte, auch so was zu können und in Anbetracht ihrer eigenen Tragödie kam sie nie mit solchen Aussagen zurecht. Sie erzählte, wie sie richtiggehend Angst hatte, dass Viktor allen Ernstes eine Eiskunstläuferkarriere anstreben wollte. Diese Angst führte zu vermehrt unkontrollierten Ausbrüchen, zu vermehrtem Alkoholkonsum und zur Talfahrt ihrer seelischen Verfassung. Nebenbei erwähnte sie, dass die silbernen Haare von Anfang an gewachsen sind und sie nicht weiß, wie diese auf natürlichem Wege bei ihm entstehen konnten. Und sie beschrieb, dass Viktors Vater vor langem schon ausgezogen sei und seinen Sohn nicht wirklich kannte.
 

Sie verlor den Draht zu Viktor und letztendlich zu sich selbst. Dass es einen Hund gab, dem der Junge mehr Liebe zuwandte als ihr, gab dem ganzen den Rest. Sinnbildlicher konnte man es kaum darstellen, wie die Familie gänzlich zerbrach.
 

Für Yakov und Igor waren diese Informationen mehr als wertvoll und es würde ihnen vielleicht leichter fallen, noch besser an Viktor und dessen Seelenleben heranzukommen. Dieser Junge hat mehr durchgemacht, als man es sich bei einem Jungen in seinem Alter wünschen könnte.
 

Viktor durfte die Wochenenden im Internat bleiben und diese Zeit, in der er relativ alleine da war, war mehr als genugtuend für ihn. Er konzentrierte sich auf sein Training, auf die Stunden auf dem Eis und er gewann mehr und mehr Sicherheit. Nachdem seine Mutter aufgetaucht war, legte ihn eine Erkältung ein paar Tage flach. Eine Zeit, die sehr anstrengend war und Jungen wie Andrej und Ivan zu diversen Schikanen anstiften konnte. Mal schoben sie ihm Salz in den Kaffee oder versuchten, seine Schlittschuhe zu manipulieren, aber keiner der Streiche ging letztendlich durch und davon abgesehen wirkte Viktor weniger empfindlich zu reagieren. Es war, als wäre bei der Umarmung mit Nora etwas in ihm aufgeflammt, als hätte er innerlich einen Dämonen bezwungen.
 

Weihnachten stand vor der Tür und mit Weihnachten auch der Jahreswechsel. Vor alledem aber stand am 25. Dezember noch Viktors Geburtstag auf dem Plan. Ein Tag, den der Junge nie besonders feierte. Was ihn wohl dieses Jahr erwarten könnte…?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2018-02-07T16:55:48+00:00 07.02.2018 17:55
Ich hab eher damit gerechnet das seine Mutter eventuell gar nicht mehr auftaucht, oder halt nur mal gesehen wird, aber so richtig, mit reden und so.... deshalb hat es mich etwas schockiert ^^'

Auf der Kloschüssel einpennen, der arme, kein Wunder das er sich dann verkühlt hat

mir würde es auch sehr schwer fallen zu diesen Gespräch aufzukreuzen
und wie wäre wohl das ganze abgelaufen, wenn Victor keine Tabletten genommen hätte...

Also einerseits kann man ja seine Mutter verstehen, aber wie du geschrieben hast, das rechtfertigt ihre schlimmen Handlungen dadurch nicht, und die ewige Ausrede, der Alkohol ist Schuld, kann man ja auch schon nicht mehr hören. Aber immerhin will sie sich ändern, und mit einer Therapie ist ja schon ein großer Schritt getan. Und etwas "näher" ist er ihr ja auch gekommen. Das war wichtig.

Aber ziemlich viele Infos die Victor da über seine Mutter erfahren musste, eigentlich viel zu viel für ein Kind, die sind nicht so schnell zu verdauen. Wird seine Zeit brauchen um das mal zu verarbeiten.
Bin ja mal gespannt ob seine Mutter in dieser Geschichte noch ein paar mal auftaucht, also noch mal eine größere Rolle spielen wird, oder ob es sich damit hat^^

Es war interessant zu lesen, wie so seine Vergangenheit als Kleinkind war =)
und Victors Haare, ein Wunder der Natur XDDD

Geht es dann nächstes mal um den Geburtstag von ihm? ^^
Antwort von:  Wei_Ying
07.02.2018 18:55
Das mit der Mutter war auch son Spontanding, die sollte gar nicht wieder auftauchen, eigentlich sollte ihr was viel tragischeres passieren, aber ganz so dramatisch wollte ich es dann doch nicht kommen lassen. Und Viktor wird laaaaange brauchen, um ihr einigermaßen zu vergeben x'D (Ich mein im Anime wird seine Familie nicht einmal erwähnt und er redet ja auch davon, dass er nie zuvor eine Art Familie um sich hatte, dieses Love & Life bei Yuuri nun, das lässt eben davon ausgehen dass er von seiner eigenen Familie nicht so viel hält oder so....)

Sie war eben psychisch krank und was das mit Menschen macht, ist manchmal gruselig, verbunden mit Alkohol sind sie sich dann gar nicht mehr im Klaren, was sie ihren Mitmenschen antun und Viktor musste jahrelang drunter leiden qq
Viktor möchte halt frei sein, Kind sein, das tun, was er tun möchte. Er lernt es halt und bis zum Anime hat er sich letztendlich auch durch den sportlichen Erfolg ein großes Selbstbewusstsein erkämpft, was er hier noch nicht so hatte. Aber die stärksten und erfolgreichsten Menschen gehen teilweise auch im RL durch die Hölle und werden dadurch stark, da lass ich mich gerne inspirieren ^^; und ich habe noch viel vor mit Viktor in seiner Laufbahn, sei gespannt.

Ja, die Haare werden immer mal wieder wichtig, genauso sein Kleinkinderleben. ^^

Genau, da plane ich auch etwas bestimmtes, aber ich verrat noch nicht zuviel :P


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