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Alice in Magicland

Die Geheimnisse von Taleswood
von

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Ein neuer Freund

Fleur trug selten etwas anderes, als ihre Dienstkleidung. Genau genommen war es das erste Mal, dass ich sie an diesem frühen Morgen in einem privaten Gewand sah, als wir uns an der Treppe begegneten: ein blaues Kleid mit Rüschen an Ärmel und Kragen, darüber einen grau melierten Wollmantel. Ihr langes Haar hatte sie kunstvoll zu einem dicken Zopf gebunden, wodurch es ein ganzes Stück seiner tatsächlichen Länge eingebüßt hatte und so gut über ihrer Schulter liegen konnte. Mit dem Weidenkorb in der Hand und einer zum Mantel farblich abgestimmten Baskenmütze auf dem Kopf, wirkte sie ein wenig wie ein französisches Blumenmädchen, das sich in der Jahreszeit vertan hatte.

„Guten Morgen, Fleur. Gehst du aus?“, begrüßte ich sie und gähnte kurz. Draußen am Fenster lag noch der morgendliche Reif, angeschienen vom kalten Licht der ersten Sonnenstrahlen, wodurch er wundersam glitzerte. Die Luft im Flur war kühl und meine nackten Füße froren etwas auf dem blanken Holz der Treppe. Im gesamten Haus herrschte eine entspannte Stille, die niemand zu stören vermochte. Hatte ich etwa verschlafen? So spät konnte es doch noch gar nicht sein...

„Guten Morgen, Miss Alice. Der werte Herr musste unerwartet außer Haus und kommt wohl erst gegen Abend wieder. Ich soll unterdessen ein paar Besorgungen in der Stadt machen. Er sagte, dass der Unterricht heute ausfällt und Sie sich ruhig ein wenig entspannen können.“

Ein kurzes, enttäuschtes „hmm“, war meine einzige Antwort. Ich verstand ja, dass ich noch nicht so weit war, aber wenn Fleur die Besorgungen machen konnte, dann konnte ich das wohl auch. So war ich wieder nur ein Klotz am Bein. Ob es wohl an der Nacht lag?

„Ich habe Ihnen bereits das Frühstück gerichtet, a-allerdings ist mir die Milch aus der Hand gefallen, also müssten Sie ihren Tee heute leider so trinken... Oh, und der Toast könnte etwas... dunkel sein...

„Ich sehe schon, wir hatten einen guten Start in den Tag“, murmelte ich grinsend, wissend, dass sie mich sicherlich verstanden hatte. Sie kratzte sich am Kopf und schaute verlegen zu Boden.

„Naja, ich bin dann erstmal weg. Zum Mittag bringe ich etwas vom Markt mit, wenn es recht ist.“

„Wenn es recht ist, würde ich lieber mitkommen.“

„N-nicht nötig, ich schaffe das schon. Entspannen Sie sich lieber“, winkte sie schnell ab.

„Entspannen? Allein, in diesem riesigen Haus?“

„Gefällt es Ihnen etwa nicht?“, fragte sie traurig. Es war mir während der ersten Woche schnell aufgefallen, wie akribisch Fleur versuchte, es mir mit allem so recht wie möglich zu machen – und genau deswegen etwas unbeholfen wirkte, bei allem, was sie tat. Aber das machte sie sympathisch, auf ihre ganz eigene Art.
 

Aber vielleicht sorgte sie sich auch um meine Gesundheit, immerhin waren nur wenige Tage seit dem... Vorfall vergangen. Auch mir saß der Schrecken noch tief in den Knochen, besonders weil niemand genau wusste, was mit mir passiert war.

Ich hatte Jack von meinen Erfahrungen erzählt. Laut ihm war mein Geist wohl in einer Parallelwelt gefangen gewesen, doch er konnte sich nicht erklären, warum ich auf einmal verschwunden war.

„Möglicherweise...“, gab er zu denken: “...Wurde dein Körper in diese Parallelwelt geholt, als du durch die Luke fielst. Oder er ist deinem Geist selbstständig gefolgt.“

Nur wer mich in diese Parallelwelt – Albtraumwelt wäre ein besserer Begriff gewesen – geholt hatte und zu welchem Zweck und wer der Geist im Raum war... all das konnte er mir auch nicht erklären. Doch es schien, als würde er mir nicht die volle Wahrheit sagen. Für einen Moment sah ich es... eine Art Aufleuchten in seinen Augen, als ich von dem Geist erzählte. Vielleicht hätte ich ihm von dessen Worten erzählen sollen. Konnte es sein? Konnte Magie das bewerkstelligen?

Wie lästige Kletten schüttelte ich meine Grübeleien von mir, denn für den heutigen Tag spielte es keine Rolle. Ich ließ mich sicher nicht in diesem goldenen Käfig einsperren, nicht von Jack und ganz sicher nicht von seinem Hausmädchen.

Fleur wippte unsicher auf ihren Sohlen und presste die Lippen zusammen. Ich erwartete nicht einmal eine Zustimmung, sie hatte sowieso keine Wahl und das wusste sie nur allzu gut. Doch es ließ mich nicht los, die Vermutung, dass ihr Zögern nicht nur auf eigener Sorge und irgendwelcher Befehle fußte. Viel eher erschien es mir, als sei es meine Anwesenheit, die ihr unangenehm sein könnte.

„Sag mal, Fleur...“, begann ich und lehnte mich an die Wand. „Kann es sein, dass du eifersüchtig bist?“

„Eifer... süchtig?“, fragte sie und schaute mich dabei an, als hätte sie das Wort gerade zum ersten Mal gehört.

„Ich könnte es dir nicht verübeln. Würde mir genauso gehen, wenn mein Hausherr plötzlich irgendeine dumme Straßengöre ins Haus lassen würde und ich mich um sie kümmern sollte.“

„Was? Nein!“ Entweder war sie eine verdammt gute Schauspielerin, oder ihre Bestürzung war echt. Nein, das stand nicht zur Debatte. Sie war definitiv bestürzt.

„M-Miss Alice, wenn es einen Punkt gab, an dem ich Ihnen das Gefühl gegeben habe, das Sie hier nicht willkommen seien, dann tut mir das wirklich leid. Es war nicht meine Absicht.“

Mit diesen Worten setzte sie eine fast schon lächerlich tiefe Verbeugung an, sodass ihre Mütze vom Kopf fiel. Ich verspürte eine Mischung aus peinlicher Berührung über ihre Reaktion und leichten Gewissensbissen, dass ich ihr eine Abneigung mir gegenüber unterstellt hatte. Dennoch konnte ich es nicht verleugnen, dass sie mir etwas auf Distanz blieb, insbesondere, wenn wir allein waren.

„Besorgt dich etwas anderes, bezüglich meiner selbst? Wenn dich etwas stört, sag es mir, ich kann mich nicht von Grund auf ändern, aber wir werden die nächste Zeit zusammenleben, also sollten die Fronten geklärt sein.“

Das Homunkulusmädchen wich weiter meinem Blick aus und strich sich über den Zopf, fuhr mit ihren Fingern die Strukturen entlang. Anscheinend beruhigte sie das. Dann erst schaute sie mich an, wenn auch nur schüchtern aus den Augenwinkeln.

„Haben Sie... Haben Sie denn keine Angst vor mir? Ich meine, weil...“

Was sollte das? Angst? Vor ihr? Das war lächerlich, wie konnte jemand bitte Angst vor dieser hübschen, zierlichen Frau haben? Doch zu meinem Erstaunen, schien sie das ernst gemeint zu haben. Ich prustete ein wenig Luft aus, schüttelte ratlos den Kopf und stieg wieder die Treppen hinauf.

„Geh nicht ohne mich los, ich bin in zehn Minuten fertig.“

Ob es wirklich Menschen gab, die vor ihr Angst hatten? Stellten Homunkuli etwa eine Gefahr da? Aber selbst wenn, was spielte das schon für eine Rolle?

Mir war nicht ganz klar, wieso, aber ich wollte einfach, dass Fleur und ich gut miteinander auskamen. Vielleicht, weil sie mich schon einmal sicher geleitet hatte, wenn auch nur als Katze. Sie strahlte einfach eine unfassbar sympathische Aura aus.
 

Schnell zog ich mir Bluse und Hose an und setzte mich an den Kosmetikschrank, um meine Haare zu kämmen, doch trotz des selbstgesteckten Zeitlimits, konnte ich nicht anders, als inne zu halten, als mein Blick sich mit dem meines Spiegelbilds kreuzte. War es nicht merkwürdig, wie schnell der Körper auf andere Gegebenheiten reagierte? Nach nur wenigen Tagen hatte mein Gesicht die altgewohnte Blässe abgelegt. Meine Haut war nicht mehr so trocken wie früher und sie wirkte straffer, gesünder... Ich seufzte. Dieser Ort, dieses neue Leben... Allen Vorzügen zum Trotz wusste ich noch nicht, was ich hiervon halten sollte.

Ein Schnippen und auf meinem Zeigefinger entbrannte eine kleine Flamme. Erst jetzt fiel mir auf, dass Jack damals auch als aller erstes diesen Trick angewendet hatte, als wir uns das erste Mal trafen. Und es waren Flammen aus meinen Händen, welche Dean in Brand gesteckt hatten.

Feuer war uns von allen Elementen am nächsten, hatte Jack mir erklärt. Aus Erde seien wir geschaffen, Luft und Wasser zirkulieren in uns, aber Feuer treibe unsere Seele an. Ob ich das wörtlich nehmen sollte, war mir nicht ganz klar, doch ich verstand seine Idee dahinter. Aber es änderte nichts daran, dass dieser Ort noch immer etwas Unwirkliches, etwas Unechtes an sich hatte. Als ich Fleur vor der Haustür begegnete, ließ ich diese Gedanken jedoch bei mir.
 

In der Nacht hatte es etwas geschneit. Weiß glitzernd wurde die Welt von einer dünnen Lage bedeckt, wie ein kaltes Laken, unter dem die Erde ruhte. Fleur schüttelte sich aufgrund einer Brise, die uns eine Ladung Eiskristalle direkt ins Gesicht blies. Ich hingegen genoss es richtig, die kalte, unverbrauchte Luft einzuatmen und den starren Wind um meine Ohren pfeifen zu hören.

„Macht Ihnen das Wetter nichts aus?“, fragte sie mich und knöpfte ihren Mantel weiter zu. Ein schönes Stück Stoff.

„In London ja, da ist es oft einfach nur kalt, nass und grau, das deprimiert einen mit der Zeit. Aber dieser Winter hat etwas... Idyllisches an sich.“

„Idyllisch? Inwiefern?“

„Er ist wie in Geschichten, kalt und hart, aber auch wunderschön. Außer einer handvoll Fußspuren bleibt die Schneedecke einfach unberührt. Außerdem überrascht es mich, wie pur das Weiß ist. Er ist einfach frei vom Ruß der Fabriken.“

Ich sah eine Spur auf halben Wege nach links von der Stadt weg und in den Wald hinein führend. Es waren die Füße eines großen Mannes gewesen. Wahrscheinlich Jacks... Ob er mir erzählen würde, was er dort im Wald zu tun hatte, wenn ich ihn am Abend sehen würde?

Fleur kicherte kurz. Sie fand es wohl amüsant, wie sich jemand für etwas begeistern konnte, dass in ihren Augen wahrscheinlich absolut nichtig war. Hieß das, sie machte sich über mich lustig? Wenn dem so war, störte es mich nicht. Sollte sie ruhig über mich lachen, dachte ich mir, so behütet wie sie aufgewachsen war, könnte sie die kleinen Freuden doch sowieso niemals verstehen.

Das Hausmädchen verstummte, als unsere Blicke sich trafen, murmelte nur noch eine verschüchterte Entschuldigung und ich fragte mich, ob sie vielleicht aus meiner Mimik eine gewisse Missbilligung gelesen hatte, auch wenn das nicht von mir gewollt war.

„Ich muss Ihnen leider ein wenig die Illusion zerstören. Der Schnee hier draußen ist wirklich sauber und unberührt, aber in der Stadt sieht die Sache schon wieder etwas anders aus. Dort werden selbstverständlich die Straßen freigeräumt“, sprach sie wieder etwas zurückhaltender und fing an, sich mit einer Hand über den Zopf zu streichen, so wie sie es schon zuvor tat. Doch diesmal lächelte sie dabei; nur schwach, aber selbst das schwächste Lächeln hob ein jedermanns Stimmung in ihrer Nähe. Langsam verstand ich, warum sie Jack so am Herzen lag, obwohl sie kein echter Mensch war.
 

Geschäftig ging es in der Hauptstraße zu, jene Straße, welche einmal quer durch Taleswood ging und von der sich wie Äste eines Baumes alle anderen Straßen abzweigten. Von den alten Bäumen in der Straßenmitte tropfte der angetaute Schnee auf Pflaster und Kutschen und glitzerte schwach in der Sonne.

Ein und aus gingen die Bewohner durch die großen Geschäfte, brachten Geld hinein und trugen gefüllte Taschen hinaus. Es war noch immer merkwürdig, ihnen ins Gesicht zu sehen – Tiere in Kleidern und Anzügen, die sich mit Menschen über das Wetter, oder den Alltag unterhielten und zum gemeinsamen Tee verabredeten – doch je häufiger ich es sah, desto mehr wurde es zur Gewohnheit.

Doch etwas war deutlich anders, verglichen damit, als ich am ersten Tag mit Jack unterwegs war. Auch an diesem Tage generierte unser Anblick eine gewisse Aufmerksamkeit, doch diese war deutlich geringer und wenn sie vorkam, dann spiegelte sich in den Augen der Leute nicht Freude und Bewunderung, sondern allenfalls Mitleid, oftmals aber eher Abneigung, oder gar... ja, man musste es als Angst bezeichnen.

Erst dachte ich, die negativen Emotionen waren gegen mich gerichtet; vielleicht hatte sich ja die Geschichte mit der Parallelwelt rumgesprochen, oder es war die normale Abneigung, die man nun einmal gegen Außenstehende anfangs empfand.

Doch schnell bemerkte ich, dass die Blicke und das Getuschel nicht gegen mich ging, sondern ... gegen meine Begleiterin. Ich hätte es niemals geglaubt, aber es gab tatsächlich Leute, die vor Fleur Angst hatten. Und langsam konnte ich unter dem unendlichen Stimmengewirr entschlüsseln, was die bösen Zungen über sie sprachen, oft nur Fetzen, eingestreute Lästereien, als sei es für manche ganz normal auf sie herabzusehen.

„Ist das nicht Jacks Hausmädchen?“

„Hat er sie noch immer nicht entsorgt? Er täte ihr sicher einen Gefallen.“

„So kann doch niemand leben wollen...“

„Sie gehört nicht ihm, wer sagt, dass er sie kontrollieren kann?“

Und dazu dann dieses unterdrückte Gelächter, mit vorgehaltenem Handrücken. Mehr noch fiel jedoch auf, von wem die Worte kamen: Nicht nur die üblichen Verdächtigen, die Schicki-Micki-Bürger in den teuren Mänteln, auch die einfachen Leute übernahmen diese, sonst für die Oberschicht typische, Geste. So lief der Hase in Taleswood also: Nicht woher du stammtest, sondern was du warst, darauf kam es an.

Wut entbrannte in mir. Fester ballten sich meine Fäuste in den Jackentaschen und ich hörte das Knirschen meiner Zähne. Es war wie ein Fass, das sich Tropfen für Tropfen füllte und ich wartete nur darauf, dass es überlief. Doch kurz bevor es soweit war, schöpfte ausgerechnet sie das Wasser ab. Fest umklammerte sie meine Faust und ließ ihre Finger zwischen die meinen gleiten. Sie war weich und warm.

„Nehmen Sie es denen nicht übel, Miss Alice. Sie haben doch nur Angst; wir alle haben vor irgendetwas Angst.“

„Wie kannst du das so einfach ausblenden? Sieht Jack darüber etwa auch hinweg?“, fragte ich sie und entzog mich ihrem Griff. In diesem Moment verspürte ich ein gewisses Unverständnis für ihr mildes Lächeln. Warum war sie denn nicht wütend, oder zumindest verletzt?

„Master Salem hatte sie zurechtgewiesen und in seiner Anwesenheit wagt es niemand, so über mich zu sprechen. Aber wenn er nicht da ist... Ich kann es ihnen ja doch nicht austreiben.“

„Und stattdessen schluckst du alles herunter?“

Fleur blieb geduldig mit mir und atmete ruhig durch. Dann schwenkte sie den Kopf, schaute sich die Passanten an und grüßte einige Leute, die ihr freundlich zunickten, mit einem schnellen Knicks.

„Sehen Sie? Die meisten sind nett zu mir und die die es nicht sind, tun auch nicht mehr als zu tuscheln. Kennen Sie das denn nicht auch?“

Beleidigt drehte ich meinen Kopf zur Seite und murmelte nur noch ein: „Das ist nicht dasselbe.“ Unterschiede in den Ständen, das kannte ich, aber davon war ja nicht nur meine Wenigkeit betroffen. Fleur hingegen... Selbst in dieser Stadt, in der doch für einen Außenstehenden selbst das Unmögliche möglich erschien, gab es niemanden wie sie. Sie war ganz allein. So allein, dass sie auch bei mir vom Schlimmsten ausgegangen war. Jetzt tat sie mir leid.

„Ich bin nicht allein“, sprach Fleur überzeugt, nahm mich bei der Hand und führte mich zielsicher in Richtung der Schneiderei, als hätte sie meine Gedanken erraten.

„Wir müssen sowieso ihre restlichen Kleider abholen, wie gut, dass er gerade auch dort ist.“

„Er? Von wem sprichst du?“

Doch das Hausmädchen antwortete mir nicht mehr, während sie mich aus der Kälte, hinein in den großen, fabrikartigen Bau zog, der noch immer wenig mit einer handelsüblichen Schneiderei zu tun hatte und die Größe der Verkaufshalle mit seinen verspielten Verzierungen überwältigte mich wieder einmal. Zeit zum Umsehen blieb mir jedoch nicht, denn meine Begleiterin zog mich schnurstracks zum Verkaufstresen und blieb vor jemandem stehen, bei dem ich im ersten Moment nicht sicher war, ob es sich bei der Gestalt in dunklem Anzug mit Priesterkragen wirklich um einen Menschen handelte.

Dunkelbraune Haut und pechschwarzes, krauses Haar, wulstige Lippen und ein paar kleine, dunkelbraune Augen, die uns überrascht, aber freundlich ansahen.

Man hatte uns Geschichten von ihnen erzählt, von den Wilden des südlichen Kontinents, aber ihre tatsächliche Existenz war für mich fast genauso Märchen, wie die eines jeden Fabelwesens – das hieß: Bevor ich Taleswood besuchte.

„Reverend Miller, guten Morgen“, begrüßte Fleur mit ihrem typischen Knicks den schwarzen Mann, der wohl ein paar Jahre jünger war als Jack. Nebeneinander wirkten die beiden nur noch verwunderlicher, denn ihre Hautfarben standen im absoluten Kontrast zueinander.

„Fleur, was für eine schöne Überraschung. Machst du wieder Besorgungen für den Hausherrn?“, erkundigte er sich freundlich. Ich hatte erwartet, dass seine Stimme rau und dunkel wäre, tatsächlich klang sie glockenhell und äußerst sanft.

„Master Salem hat heute schon früh das Haus verlassen, es gab wohl einen Notfall.“

„Also hat mein Gefühl mich heute morgen nicht getäuscht... Es wird doch immer schlimmer...“, murmelte er und legte seine Stirn in Sorgenfalten, was auch Fleur unsicher werden ließ.

„Sir?“

„Verzeih, ich war nur in Gedanken“, winkte er ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. Ich spürte den Kloß im Hals, als sein Blick den meinen traf, obwohl weder darin, noch in seinem Lächeln auch nur irgendeine Boshaftigkeit steckte. Hatte ich etwa... grundlos Angst?

„Und ich fragte mich schon, warum Jack die letzten zwei Gottesdienste verpasst hatte. Du musst dann wohl Alice sein, richtig? Desmond Miller, ich bin der Pfarrer der Gemeinde.“

Mit diesen Worten streckte er mir die Hand aus. Ich zögerte. Es gab keinen Grund, ihm nicht die Hand zu schütteln, dennoch hielt mich etwas zurück. Vorsichtig ergriff ich sie und überwand mich zu einem so schwachen Händedruck, dass ich bezweifelte, ob er ihn überhaupt gespürt hatte. Wie peinlich. Gott sei Dank, ging er auf mein Verhalten nicht durch irgendwelche schnippischen Bemerkungen noch ein.

„H-Hat er mich schon einmal erwähnt?“, druckste ich und wich seinem Blick aus. Warum war mir seine Nähe nur so unangenehm? Fühlten sich so etwa diejenigen, die ich gerade noch für ihr Verhalten gegenüber Fleur verurteilen wollte?

„Ab und an. Als ich dich zuletzt sah, warst du gerade erst geboren. Wie lange ist das her? 15 Jahre? Oder doch noch länger? War sicherlich nicht leicht für dich, ohne Eltern aufzuwachsen...“ Daraufhin bekreuzigte er sich und murmelte etwas, das nach „Ruhe in Frieden“ klang.

„Sie kannten meine Eltern?“

Er lachte kurz. „Ich möchte nicht von ihnen in der Vergangenheitsform sprechen.“

„Aber sie sind doch...“

„Du musst wissen, dass ich auch gewisse magische Fähigkeiten besitze – auch wenn sie mit Jacks nicht annähernd zu vergleichen sind. Meine Spezialisierung ist der Kontakt zum Jenseits.“

Ungläubig zog ich eine Augenbraue hoch. Ein Geistlicher, der mit Geistern sprach? Wobei es für seinen Beruf sicherlich nicht die unpraktischste Begabung war. Und wenn ich an meinen Vorfall dachte... Vielleicht sollte ich ihn fragen. Vielleicht könnte er mir besser erklären, was mit mir passiert war, als Jack.

„Wie...“, wandte sich der Reverend an Fleur, die gerade ein Paket von der Kassiererin annahm. Darin befanden sich meine restlichen Kleider, zumindest waren wir dafür hier, jedoch war das Paket seltsam klein, um die Menge an Kleidungsstücken zu fassen. Waren sie etwa doch noch nicht alle fertig?

„Wie geht es Doktor Engels? Ich... Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen...“ Seine Stimme klang seltsam unsicher, fast schon schüchtern.

„Master Salem sagte, dass sie ihre Geister nur schwer unter Kontrolle hat. Wenn sie viel Morphium zu sich nimmt, ist es schlimmer“, gab Fleur zu Bericht und sah ihn etwas mitleidig an. Konnte es sein...? Miller seufzte: „Wir können es ihr nicht verbieten, aber wie lange wird ihr Körper das noch mitmachen?“

„Ich weiß, dass Master Salem noch immer nach einem Heilmittel sucht, aber leider noch immer ohne Erfolg. Ohne die Information, was sie damals genau genommen hat, ist es 'die Suche nach der Nadel im Heuhaufen' – so nannte er es.“

„Und wie geht es ihr in Jacks Nähe?“

Fleur zögerte mit ihrer Antwort und ich konnte mir vorstellen, wieso. Der Doc lag Miller sehr am Herzen, wahrscheinlich mehr als Jack.

„I-ich war vor einigen Tagen bei ihr, wenn Sie etwas zu ihrem Zustand hören wollen“, mischte ich mich ein und sah, dass Fleur darüber sichtlich erleichtert war. Aber ich tat das nicht, um sie zu entlasten. Es war auch meine Chance, ihn nach den Ereignissen zu fragen – und auch meiner Unsicherheit ihm gegenüber entgegenzutreten, denn sie wurmte mich mehr, als ich zugeben wollte.
 

Dankend lud Reverend Miller mich dafür in ein kleines Café ein, direkt gegenüber der Schneiderei. Fleur zog unterdessen weiter, denn sie wollte die restlichen Besorgungen gern allein machen. Schweigend saß ich an dem kleinen, runden Tisch mit wirren Verzierungen aus Eisen und schaute durch das Schaufenster, während der Kellner uns einen frischen Kaffee brachte. Die kräftige Röstnote stieg mir in die Nase und versprach eine sehr gute Qualität und beruhigte meine Nerven. Ich wagte einen Blick zum Reverend, der immer wieder winzig kleine Mengen Zucker und Milch in seine Tasse schüttete, dann kurz nippte, bis er mit dem Mischverhältnis zufrieden war.

Wenn man sich an seine Hautfarbe gewöhnt hatte, war er auch nur ein Mensch. Seine Augen hatten etwas Ruhiges, Seelenvolles. Sein entspanntes Lächeln verstärkte diesen vertrauensseligen Ausdruck. Seine Gestik und Haltung hatten auch nichts von einem unzivilisierten Buschmann wie es einem in der Schule beigebracht wurde. Angst vor ihm zu haben, war genauso dumm, wie vor Fleur.

„Ich danke dir erst einmal für deine Zeit“, fing er demütig an. „Sicherlich hast du auch wichtiges zu erledigen, deswegen werde ich versuchen, dir nicht zu viel Zeit zu stehlen.“

„N-nicht doch“, winkte ich ab. „Jack hat mich für heute freigestellt, ich wollte aber unter Leute kommen, deswegen bin ich mit Fleur unterwegs. Übrigens, wissen Sie, was Jack tut?“

„Ich kann es mir denken. Seit einigen Jahren sind die Anomalien wieder stärker geworden.“

„Anomalien?“

Miller lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.

„Jack kann dir das sicherlich noch genauer erklären, aber hier mal die Kurzform. Magie durchfließt die gesamte Stadt. Ohne sie würde Taleswood in seiner Form nicht bestehen. Allerdings ist sie von Natur sehr eigensinnig und bringt gerne physikalische Gesetze durcheinander.“

„Aber ist Magie nicht genau dazu da?“

„Wenn man sie kontrolliert, ja. Aber ohne diese Kontrolle sorgt sie gerne für verdrehte Phänomene, die so nicht vorkommen sollten. Der Madcap River ist das beste Beispiel, allerdings noch völlig harmlos.“

Miller öffnete seine Hand und bildete durch Kreisförmige Bewegungen seines Fingers eine Art Kugel aus Luft, fast unsichtbar für das menschliche Auge, aber zweifellos da. Neugierig schaute ich mir das Modell näher an.

„Stell dir vor, diese Kugel sei Taleswoods Atmosphäre. Sie ist nach außen vor allerlei Gefahren geschützt und kann hier drin ihr eigenes Biotop aufbauen. Unter dem Schutz von Magie wachsen dort Pflanzen und leben Wesen, die es nirgendwo sonst gibt. Standorte für neue magische Städte werden nach der umgebenen Magiekonzentration ausgesucht. Aber diese Zivilisation existiert nur, solange Magier da sind, die diese Flüsse kontrollieren. Wenn sie fehlen...“

Er zog die Hand zurück. Nur wenige Sekunden lang konnte sich die Kugel aufrecht erhalten, dann bildeten sich pechschwarze Wolken, die sich dann jedoch glutrot färbten und in einem kleinen Feuerball explodierte das Gefäß. Heiße Luft blies mir entgegen und ließ mich zurückschrecken.

„... Dann zerfressen Anomalien die Struktur, wie Würmer einen Apfel, bis alles in einer Katastrophe untergeht.“

Ich schluckte.

„Und gegen so etwas kämpft Jack?“, fragte ich ihn unsicher. „Wie denn überhaupt?“

„Anomalien können viele Erscheinungen haben. In Form von Monstern und Kreaturen, aber auch als Illusion..:“

Illusion? Das war mein Stichwort. Schnell erklärte ich Miller meine Geschichte, bis zu der Stelle in dem Zimmer. Er hörte geduldig zu, ließ mich jedes Detail erklären, bevor er zu einer Antwort bereit war.

„Ich würde es weder bestätigen noch dementieren, zumal ich wenig über Anomalien weiß. Es hat Ansätze einer Anomalie, klingt aber zeitgleich sehr gezielt gegen dich gerichtet, was bedeuten würde, dass es ein Zauber war.“

„Da ist noch etwas. Ich entfloh dieser Welt durch ein kleines Fenster, das mich in ein seltsam leeres Zimmer brachte. Da gab es diese schemenhafte Gestalt, die mit mir sprach. Viel verstand ich nicht, außer einem Satz: 'Ich liebe dich... Mein Kind'. Ich habe einige Zeit darüber nachgedacht. Könnte es sein, dass...“

Der Pfarrer nickte und lächelte. Also stimmte es? War diese Gestalt wirklich meine Mutter?

„Es sieht Claire sogar sehr ähnlich, solche Grenzen zu überschreiten. Das Jenseits ist auch für mich ein großes Rätsel. Wie lange unsere Seelen dort landen und wie es dort aussieht, darüber spricht kein Geist. Viele bitten mich, die Geister ihrer verstorbenen Angehörigen zu kontaktieren, aber meistens bekomme ich keine Antwort. Vielleicht sind sie nicht im Jenseits, sondern an einem anderen Ort, vielleicht sind sie verhindert. Vielleicht wollen sie aber auch einfach nicht darüber sprechen.“

„Sind Sie deswegen Pfarrer geworden und nicht... Schamane?“

„Unter anderem, ja. Beistand zur Trauer ist aber nur eine meiner Aufgaben. Ich will den Leuten auch die anderen Seiten des Glaubens vermitteln. Die Hoffnung auf das Gute, die...“

„Schon gut, ich war lange genug im Saint Peter's, ich kenn' die Leier.“

Der Pfarrer lachte auf.

„Ob du es glaubst oder nicht, meine Dienste sind gefragt. Die Taleswooder sind äußerst gläubig.“

„Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass in dieser Welt Platz für die Lehren Christi wäre.“

„Ich glaube, Christus war selbst ein Magier und zwar ein sehr mächtiger. Deswegen ist mein Gottesdienst daran angepasst. Möchtest du ihn dir nicht auch einmal ansehen?“

Ich zögerte etwas. Normalerweise hasste ich die Kirche und die Predigten über Nächstenliebe, welche sie selbst auch nicht praktizierten. Aber Miller war nicht die Kirche. Und Jack ging doch auch dorthin, warum sollte ich nicht also mal mitkommen? Er freute sich sichtlich über mein langsames Nicken.

„Sind Sie und Jack eigentlich gut befreundet?“

„Naja, er würde mich weniger als Freund und vielmehr als neugierige Nervensäge bezeichnen, aber ich wage zu behaupten, dass er kaum jemanden mehr vertraut, als mir. Außer Fleur, aber die zählt nicht.“

„Warum?“

„Sagen wir einfach, sie hat ein besonders enges Verhältnis zur Ehrlichkeit.“

Mir war nicht ganz klar, was er damit meinte, doch ich beließ es mit meiner Fragerei, sonst wäre ich am Ende noch die neugierige Nervensäge. Zum Ausgleich erzählte ich von meiner Begegnung mit dem Doc, schilderte ihren Zustand und ließ auch Jacks Auftritt nicht aus. Es war gemein von mir, doch ich musste einfach seine Reaktion sehen.

Tatsächlich wirkte er ein wenig traurig, aber zeitgleich auch erleichtert.

„Das heißt, es gibt noch immer Hoffnung für sie...“, murmelte er und erhob sich. „Ich danke dir für das Gespräch, Alice. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Reverend“, antwortete ich und gab ihm die Hand. Diesmal ohne zu zögern.

„Darf ich dich noch um etwas bitten?“, fragte er mich mit ernster Miene. Vorsichtig nickte ich, gespannt, was er noch von mir wollen könnte. Doch dann lösten sich seine Stirnfalten und das gewohnte Lächeln kam zurück.

„Pass mir bitte gut auf Fleur und Jack auf. So lange hatten die beiden nur einander... Vielleicht hält mit dir nun endlich eine gewisser Frieden in ihr Leben Einzug.“

Trotz dessen, dass unser erstes Treffen nur etwa eine Stunde zurücklag, hatte der Reverend großes Vertrauen in mich. Sicherlich konnte er mir demnächst noch viel erzählen, aber bis dahin wollte ich sein Vertrauen nicht enttäuschen.
 

Das Tuscheln war natürlich nicht verschwunden, als ich mit Fleur die Stadt verließ und bis kurz vor den Stadttoren tat ich mein Bestes, dies zu ignorieren.

„Salem braucht sich nicht wundern, wenn seine hübsche Schülerin eines Tages aufgefressen wurde.“

Da platzte mir der Kragen. Fest umgriff Fleur meine Hand und zog mich an ihnen vorbei, doch ich riss mich von ihr los.

„Bitte, Miss Alice...“, versuchte sie noch mich aufzuhalten, doch ich war bereits bei der lästernden Dreiergruppe in gutbürgerlichen Anzügen angekommen. Unsicherheit waren in den Gesichtern der zwei Menschen und des Hasens in ihrer Mitte klar zu erkennen. Wahrscheinlich hatten sie Erfahrungen mit Jacks Reaktionen gemacht und ich konnte sie mir nur allzu gut ausmalen. Genau aus diesem Grund wollte ich es sein, die mit ihnen redet.

„Wissen Sie, ich hatte vorhin den Reverend kennengelernt. Das war mein erster Schwarzer. Ich hatte mich sogar gefürchtet, als ich ihn sah. Dachte wohl, er packt mich gleich über seine Schulter und entführt mich nach Afrika, oder so.“

Für einen Moment wollten die Herren darüber lachen, doch merkten, worauf ich hinauswollte und blieben stumm. Mit einem milden Lächeln sprach ich weiter.

„Sie sind herzlich zum Salem-Anwesen eingeladen. Fleur ist nicht das beste Hausmädchen, aber sie gibt sich große Mühe. Vielleicht verfliegen ihre Sorgen, wenn Sie sie einmal aus nächster Nähe erleben. Es würde mich freuen, wenn sie dem folgen würden. Noch einen schönen Tag, meine Herren.“

Und mit einem Knicks, wie Fleur ihn machen würde, verabschiedete ich mich und drehte mich um, ohne eine Antwort abzuwarten. Vielleicht würden sie niemals dieser Einladung folgen, insbesondere weil sie nur von mir kam. Aber als ich in ihr glückliches Gesicht sah, wusste ich, dass es dennoch die richtige Reaktion war.

Klanglos formten ihre Lippen ein „Vielen Dank“ bevor wir uns auf den Weg heimwärts machten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Phinxie
2017-01-08T10:02:12+00:00 08.01.2017 11:02
Also, das Kapitel ist eines der besten, die du bisher geschrieben hast!
Ich finde es super und zwar wegen folgenden Punkten:
-Die Beziehung zwischen Fleur und Alice erhält Anklang, eine Tiefe. Das ist eindeutig besser und der Leser fühlt sich mit beiden mehr verbunden, als vorher.
-Fleur. Fleur verdient immer Liebe.
-Die Umgebung und Taleswood an sich: Ich mag es, solche Kleinigkeiten zu erfahren, andere Personen kennen zu lernen, die Umgebung, damit man sie sich besser vorstellen kann. Einfach grandios.
-Fleur.
-Dein Schreibstil. Ich habe das Gefühl, er hat sich noch einmal um Längen verbessert! Und das, obwohl er ja schon vorher unheimlich gut was!
-Hatte ich schon Fleur erwähnt? :P

Das einzige, was mich zugegeben stört, ist die Sache mit der Religion...
Verstehe mich nicht falsch, aber für mich passt es einfach nicht in eine solche Fantasywelt wie Taleswood hinein, dass die Menschen an Jesu Christus glauben. Und dass sie ihn dann noch für einen Magier halten... Es kann sein, dass ich gegen so etwas generell eine Abneigung habe, weil ich Religionen liebe und ich mehr der Verfechter davon bin, sich bei Fantasywelten auch eine neue Religion zumindest ansatzweise auszudenken... Aber nun ja.
Das ist der einzige Punkt, der mir persönlich jetzt ein wenig bitter aufgestoßen ist, aber auch nicht allzu sehr. Da ich auch nicht glaube, das die Religion bei dir eine große Rolle spielen wird, kannst du es auch getrost so lassen^^

So, genug rumgestänkert xD
Dein Schriftbild ist wie immer klasse: Wäre aber nur lieb, wenn du noch einmal drüber lesen würdest, weil ich bemerkt habe, das du am Ende der wörtlichen Rede häufig ein ; anstatt eines Kommatar gemacht hast. Ist zwei mal so geschehen, die Stellen weiß ich jetzt leider nicht mehr. Es stört nicht, aber korrigieren kann man es ja trotzdem :3


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