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Alice in Magicland

Die Geheimnisse von Taleswood
von

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Erwachen

Die brüchige, in Abendlicht getauchte Decke war das Erste, was ich sah, als ich erwachte. Die verworrenen, tiefen Risse ließen sich anfangs nur schwer erkennen und es dauerte einen Moment, bis sich meine Sicht scharfstellte. Meine Kehle war staubtrocken und mein Magen knurrte so gequält, als läge meine letzte Mahlzeit schon mehrere Tage zurück. Frischer, frühsommerlicher Wind zog unter meine Decke, krauchte mein Bein hoch und kitzelte meine nackte Haut. Scheinbar hatte ich letzte Nacht vergessen, mein Nachthemd anzuziehen. Letzte Nacht? Welchen Tag hatten wir eigentlich? Mein Kopf fühlte sich so leer an, als hätte ich eine monatelange Erinnerungslücke. Es waren verschwommene Bilder, wie Gemälde die im Regen ausgewaschen wurden: unklar, blass und somit unmöglich zu erkennen, was sie einst mal darstellten. Und ganz gleich, wie lange ich mich konzentrierte, es fühlte sich an, als hätte ich die letzten Tage nicht einmal existiert... Mir war unwohl, aber sicherlich gab es dafür eine einfache Erklärung. „Am besten frage ich Thomas, was vorgefallen war“, flüsterte ich. „Dann kommen die Erinnerungen sicherlich wieder.“
 

Doch gerade als ich mich streckte, zuckte meine rechte Hand zurück, denn sie hatte etwas – oder jemanden - in meinem Bett berührt. Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht einer hübschen, jungen Frau, mit seltsam grauem Haar. Verdammt! Schlagartig war ich hellwach und fuhr hoch.

Mit einem leichtem Räkeln reagierte sie auf meine Bewegungen, blieb jedoch schlafend und zu meinem Glück entblößte die verrutschte Decke, dass sie selbst zumindest irgendeine Kleidung trug – zu meinem Erstaunen sah es fast aus, wie ein Dienstmädchenkostüm. Das bedeutete zwar nicht, dass zwischen mir und der Fremden nichts in der Nacht gelaufen war, verringerte aber zumindest die Wahrscheinlichkeit.

Doch war sie wirklich fremd? Es war, als hätte ich sie schon einmal gesehen, etwa so wie bei einem Déja-Vu. Bei näherer Betrachtung fiel mir auf, wie eben, gleichmäßig und rein ihre Haut war, als sei sie aus feinstem Porzellan. Vorsichtig strich ich ihr über Haut und Haar. Wie weich... Wenn wir beide wirklich miteinander geschlafen hatten - aus welchem Grund auch immer - dann war es nichts, wofür man sich schämen müsste - abgesehen von der Tatsache, dass wir beide Frauen waren.

Trotz ihres sonderbaren Aussehens konnte ich nicht verleugnen, dass sie wirklich schön war. Fast schon betörend schön. Je länger ich das Mädchen anschaute, desto mehr machte sich das Gefühl in mir breit, dass ich sie kannte und desto mehr verstärkte sich meine Neugier, ob wir uns näher gekommen waren. Wie sich solch zarte Lippen wohl anfühlten zu küssen...?
 

Zeichen, dass sie langsam aufwachte, ließen mich zurückweichen und mein Herz schneller schlagen. Ich hatte das sonderbare Mädchen vielleicht für einen Albino gehalten, doch soweit ich wusste waren deren Augen rot. Ihre hingegen leuchteten in einem ruhigen, durchdringenden Violett, so unwirklich pur, dass ich ernsthafte Zweifel hegen musste, hier einen Menschen vor mir zu haben. Aber was sollte sie denn sonst sein?

Ein beruhigtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie mich erblickte und sie richtete sich langsam auf. Sie schien etwas größer als ich zu sein – in mehr als nur einem Zusammenhang – woraus ich schloss, dass sie ein wenig älter als ich sein musste, vielleicht 18 oder 19 Jahre alt.

„Du bist wach, ich bin so froh. Als wir heute morgen hier ankamen, warst du sofort in Ohnmacht gefallen und hast dann den ganzen Tag durchgeschlafen. Ich dachte schon, du würdest diesmal wirklich nicht mehr aufwachen...“

Ich hatte einen ganzen Tag durchgeschlafen? Das erklärte zumindest, wieso mein Magen mir bis zu den Kniekehlen hing... nein Sekunde!

„W-was soll das heißen, diesmal?! Und wer bist du überhaupt?!“

Nun war es eindeutig das wir uns kannten, war es doch unübersehbar, wie überrascht und zeitgleich verletzt das seltsame Mädchen über meine Frage war. Doch der Ausdruck verflog binnen Sekunden.

„Ist schon okay, Alice. Du bist sicherlich nur ziemlich durcheinander. Wen wundert das, du musst ja komplett dehydriert sein. Bleib du liegen und ich bringe dir etwas zu trinken.“

Es war wohl kaum ihre Absicht, dennoch überkam mich ein extremes Gefühl des Schams, als sie mich wieder ins Bett drücken wollte und dabei die Decke zurückfiel, welche ich zum Bedecken meiner Brust benutzt hatte. Hitze stieg in ihre Wangen, so wie auch in die meinen.

„T-tut mir leid, das war keine Absicht. Und bevor du fragst: I-ich habe dich ausgezogen, um dir deine Bandagen abzunehmen und dich mit einem kühlen Lappen abzuwaschen, weil du so geschwitzt hast... Aber ich habe nichts unanständiges gemacht, das schwöre ich! N-Naja, ich habe schon hingeguckt u-und ich musste dich zum Waschen auch anfassen, aber in keiner belästigenden Absicht, oder so!“

Eine fiebrige Hitze fuhr wie ein Blitz von meinem Rückgrat bis in meine Brust und zog ein leichtes Schaudern mit sich. Leider hatte ich eine sehr bildliche Fantasie und ihre zusätzliche Bemerkung verstärkte nur die Vorstellung, wie sie mir über Brust und Glieder strich, meine Haut mit ihren zarten Händen massierte... die schwachen Berührungen mehr und mehr einem lüsternen Grapschen gleichkamen... sie nach und nach meinen ruhenden Körper mit ihren Händen erforschte, bis sie beim Schritt ankam und vielleicht doch meine Wehrlosigkeit ausnutzte... dann langsam stöhnend ihre Finger in mich schob und gleichmäßig rhythmisch bewegte, bis ich in meiner Ohnmacht unbewusste Laute der Lust von mir gab und... verdammt, warum erregte mich der Gedanke nur so? Und was fiel mir ein, dem Mädchen, das alles sofort zu unterstellen? Wer sagte denn, dass sie überhaupt so tickte? Mehr noch, irgendwie war ich mir gewiss, dass sie die Wahrheit sagte, warum auch immer...

Es war zum Haare raufen. Da fiel mir etwas ein:

„Wie hattest du mich genannt?“

„Alice“, antwortete sie ohne zu zögern, doch ich sah, dass sie sich langsam ernsthafte Sorgen um meine geistige Gesundheit zu machen schien, so sehr wie sie ihre Stirn in Falten legte. Nur woher hatte sie diesen aufgeschnappt und warum - nebst allem anderen - wirkte er so vertraut? In jedem Falle war er besser als mein Echter, aber dennoch...

„Hör mal, ich heiße Sarah und nicht Alice. Vielleicht habe ich dir gestern den falschen Namen gegeben, das tut mir leid. Auch dafür, was vielleicht gestern vorgefallen war, nachdem wir uns kennengelernt haben...“

„Gestern? Wir kennen uns seit mehreren Monaten!“, kam es von ihr erzürnt rüber, denn es musste für sie wohl so wirken, als spielte ich ihr einen üblen Streich.

„Hör zu, ich habe mir die letzten Tage fast ununterbrochen Sorgen um dich gemacht und habe dementsprechend keine Lust auf solche...“

„Ich weiß nicht, wovon du redest!“

Sie glaubte mir nicht, das sah ich ihr an. Wer konnte es ihr verdenken, schien es doch so, als stünden wir uns tatsächlich nahe... seit Monaten? Warum nur konnte ich mich seit meinem Geburtstag an keinen Tag mehr klar erinnern? Stärker strengte ich mich an, doch selbst die banalsten Dinge waren wie weggeblasen und das führte dazu, dass ich anfing vor Frust an der Decke zu zerren und laut mit den Zähnen zu knirschen. Nur eine Kleinigkeit, irgendwas...
 

„Warte... du... kannst dich wirklich nicht erinnern?“ Ihre Stimme klang entschuldigend, doch gleichzeitig so, als würde sie das zutiefst verletzen. Als hätten wir zusammen viel erlebt, was man niemals vergessen würde und ich... ich habe es dann doch vergessen.

„Es ist schwer zu erklären. Dein Gesicht ist mir vertraut, dennoch kann ich es nicht zuordnen und wenn ich an all die Dinge denke, die in den letzten Wochen vorgefallen sein könnten, ist es, als wäre einfach nichts erinnerungswürdiges passiert. Da ist einfach... nichts...“

Ein kleiner Schrecken entfuhr mir, als das Mädchen sich schnell zu mir setzte und mir mit nervöser Miene tief in die Augen blickte.

„Verflucht, das ist schlecht... das ist sehr schlecht...“, murmelte sie aufgeregt. Sie packte meine Hände und besah sie sich genau, dann drückte sie mir eine Kette in die Hand. Es war ein hübsches goldenes Medaillon mit aufwendigen Verzierungen aus hochwertigen Steinen – ein unbezahlbares Schmuckstück.

„Erkennst du das hier wieder?!“

„Ich... nein, das wüsste ich“, lachte ich verunsichert. Doch kannte ich es wirklich nicht? Genau wie das Mädchen vor mir, dessen Name mir noch immer partout nicht einfallen wollte, strahlte die Kette eine gewisse Vertrautheit aus, als habe sie mal einen hohen persönlichen Wert für mich besessen.

„Schnippe mit den Fingern!“, befahl sie mir darauf und blickte mich noch dringlicher an.

„Was, wieso?“

„Bitte tu es einfach und stell dir dabei vor... stell dir dabei vor, du würdest dadurch Feuer machen wollen!“ Mir war klar, dass mit mir etwas nicht stimmte, doch anscheinend saßen auch bei meinem Gegenüber einige Schrauben locker. Doch in ihrer Stimme lag eine solche Dringlichkeit, dass es schien als würde davon das Schicksal der Welt abhängen. So schlug ich Daumen und Mittelfinger schnell aneinander und stellte mir dabei vor... naja,was eigentlich? Ich stellte mir vor, dass vielleicht ein Funke kommen würde, oder die Reibung meine Finger entzünden könnte, aber erwartungsgemäß passierte nichts davon.

„So, zufrieden?“ Nein, zufrieden war sie sicherlich nicht. Die junge Frau geriet in Panik, sprang vom Bett und stapfte im Zimmer auf und ab.

„Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein...“, murmelte sie. „Was haben wir nur getan, warum ist das denn nur passiert...?“

„Beruhig dich doch erstmal!“, bat ich sie energisch, da ich endlich eine Erklärung haben wollte.

„Ich sagte dir doch, ich kann mich an nichts erinnern. Ich verstehe nicht, was passiert ist und wer du bist, also hilf mir doch zunächst damit auf die Sprünge!“
 

Ich wünschte, ich hätte dies nicht verlangt. Langsam und unnötig umständlich erzählte mir Fleur - so nannte sich das sonderbare Mädchen - was mir angeblich in den letzten Monaten widerfahren war. Von einer Stadt inmitten eines Waldes, voller Fabelwesen und Magiern und ich mittendrin, als Schülerin eines Mannes, der mein leiblicher Vater sein sollte, bis die Sache eskalierte und sie mit mir von dort fliehen musste und nun hatte ich alles vergessen.

Jeder andere hätte kein Wort geglaubt, doch es war mir, als stimmte dies alles. Als hätte ich all das erlebt, dennoch kamen keine Bilder zum Vorschein, die es hätten belegen können. Und so war es dennoch nur ein Märchen, so ernst ich es auch nehmen wollte. Doch es erklärte zumindest, warum sie so merkwürdig aussah.

„Aber was genau bist du?“

„...Ich...“, begann sie zögernd und es schien, als hätte sie Angst davor, wie ich reagieren könnte. „Ich bin kein echter Mensch. Ich wurde nicht geboren, sondern aus chemischen Zutaten mithilfe von Magie gebraut. Ich altere nicht und entwickle mich auch geistig niemals weiter. Man nennt meine Art Homunkulus. Wir sind künstliche, menschenähnliche Wesen, oftmals benutzt für niedere Arbeiten, oder - wie in meinem Fall - um im Namen der Wissenschaft unser kurzes Leben zu geben. Master Salem - dein Vater - hatte mich davor gerettet und ich war aus Dankbarkeit als Hausmädchen bei ihm geblieben.“

Sie machte eine kurze Pause bevor sie weitersprach. Ich wagte es nicht sie zu unterbrechen, verstand ich doch sowieso nur die Hälfte von dem, was sie erzählte.

„Für ihn und auch für dich war meine Herkunft bedeutungslos. Ihr habt mich behandelt wie einen echten Menschen und wir zwei... ich weiß nicht, wie ich das sagen soll... wir waren ineinander verliebt.“

Mehr als ein verunsichertes Lachen konnte ich mir nicht abgewinnen. Fleurs Schönheit war über jeden Zweifel erhaben und sie schien eine gute... Person zu sein, aber verliebt? Das konnte ich mir nicht vorstellen, so war ich doch gar nicht...

„Ist das etwa auch alles weg?“ Fleur schaute mich mit großen Augen an und schien den Tränen nahe zu sein. Ich konnte mir nur in Ansätzen vorstellen, wie es sich wohl anfühlen musste, an der Seite von jemandem zu stehen, der sich nicht einmal an deinen Namen erinnern konnte – und nun sogar die Liebe, welche beide einst angeblich verband, verleugnete. Und tatsächlich kullerten zwei dicke, klare Tränen aus ihren verwaschenen Augen.

Doch wer sagte, dass alles, was sie mir erzählte, auch der Wahrheit entsprach? Wenn es Magie doch wirklich gab, wäre es dann nicht auch ein Leichtes, mich von dieser Geschichte zu überzeugen? So oder so waren meine echten Erinnerungen versteckt, doch ich spürte, dass sie nicht gänzlich verloren waren. Es schien eher so, als würden sie schlummern... Eine schaurige Vorstellung. Ich brauchte frische Luft nach der ganzen Geschichte, doch als ich gerade aufstehen wollte, hielt Fleur mich fest.

„Ich flehe dich an, Alice“, schluchzte sie. „Bitte sage mir, dass ein kleiner Teil von dir sich noch an unsere Zeit erinnert. Bitte sage mir, dass es einen Teil in dir gibt, der mich noch immer liebt.“

Ein Stück weit tat sie mir ja leid, aber ich musste ihre Bitte mit einem Kopfschütteln beantworten, auch wenn dies bedeutete, sie nur noch trauriger zu machen. Ein klägliches Quieken kam aus ihr und ich wischte ihr die herunterlaufenden Tränen von den Wangen. Sie erschien so zerbrechlich, dass ich mich in ihrer Nähe besonders vorsichtig verhielt.

„Verzeih Fleur. Ich glaube dir deine Geschichte - vorerst - aber das bringt nicht die Alice zurück, die ich vielleicht einst war. Vielleicht waren wir in Taleswood ein Paar, aber in meinem Hier und Jetzt... ich kann deine Gefühle nicht vollends erwidern. Ich muss nun erst einmal den Kopf frei kriegen, ein wenig spazieren gehen oder so.“

Es bedurfte einer kurzen Bedenkzeit, bis ich fortsetzte:

„Und zwar allein. Aber wenn du möchtest kannst du gern hier warten.“

„Du vertraust mir?“

„Ich denke schon. Ich glaube nicht, dass du mich anlügst, maximal weißt du es nicht besser. Mitnehmen kann und will ich dich nicht, dafür bist du zu auffällig, aber wie gesagt, es steht dir frei, hierzubleiben. Fühl' dich wie zuhause... erwarte nur nicht allzu viel.“

„Gibt es denn nichts, was ich für dich tun kann?“

Was für ein merkwürdiges Mädchen. Sie schien komplett auf mich fixiert zu sein und obwohl ich doch gerade ihre Gefühle verletzt haben musste, hielt sie das nicht davon ab, mir beizustehen. Selbst wenn ich sie gerade erst kennengelernt hatte, gab es mir ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich jemanden auf meiner Seite wusste.
 

Kühles Wasser ließ ich meine ausgetrocknete Kehle hinunterlaufen, bevor ich mich anzog. Fleur drehte sich beschämt zur Seite und auch mir machte es mehr aus, nackt vor ihr zu stehen, als ich zugeben wollte. Ob es daran lag, wie sie für mich empfand? Ironischerweise empfand ich weniger Scham als viel mehr Erregung darin, mich ihr so zu präsentieren und ihre flüchtigen Blicke zu erhaschen, derer sie sich bei aller Disziplin nicht erwehren konnte.

Sie war süß, keine Frage. Ihre schönen Rundungen und das liebliche Gesicht, in Kombination mit ihrer ungewöhnlichen Erscheinung, hatten einen ganz eigenen Charme. Noch dazu duftete sie so verflucht gut. Nichtsdestotrotz konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, mich irgendwann mal in sie verliebt zu haben. Aber wenn dem so war... ich musste ihn sehen. Es würde mir dann sicher wieder besser gehen. Immerhin liebte ich Thomas... oder?

„Wie geht es deinen Beinen?“, fragte sie schließlich.

„Du meinst wegen des Unfalls, den ich laut dir hatte?“ Tatsächlich schmerzten sie ein wenig, wenn ich Druck auf sie ausübte, doch ich konnte laufen. „Ich glaube es geht, danke.“

„Der Doc hat wirklich ein gutes Händchen. Hoffentlich ist sie okay...“

„Du machst dir Sorgen um die Menschen in Taleswood, nicht wahr?“

„Taleswood ist meine Heimat, auch wenn sie nicht immer gut zu mir war. Aber ich will trotzdem helfen! So gut ich kann... Deswegen müssen wir wieder zurück! Du musst ihnen helfen! Du musst deinem Vater helfen!“

„Ich muss gar nichts, Fleur!“ Es ging mir auf die Nerven, wie sie mich dazu drängte zurück in dieses Taleswood zu gehen, von dem ich doch nichts wusste.

„Du weißt nicht, wie wir dorthin kommen, ich weiß es nicht, also WAS WILLST DU TUN UM UNS DAHIN ZU BRINGEN?!“

In dem Moment in dem ich laut wurde, bereute ich es auch zeitgleich. Fleur zuckte zusammen doch blieb ruhig und entspannt. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie losweinen würde, aber stattdessen atmete sie kurz durch und machte einen kleinen Knicks.

„Du hast Recht. Solange du deine Erinnerungen nicht wieder hast, sitzen wir hier fest. Es ist nur... ach egal. Bitte verzeih, wenn es dir hilft, dann lasse ich dich jetzt allein. Ich... werde einfach hier warten...“ Ich wartete keine weitere Antwort mehr ab, sondern zog mich an und verließ das Zimmer so schnell es ging.
 

Meine Kleider rochen muffig, als hätte ich sie schon lange nicht mehr angezogen. Doch es war das einzige, was ich hatte, was blieb mir also übrig? Big Ben schlug sechs, als ich aus der Pforte der Ruine auf die gepflasterte Straße trat. Die letzten warmen Strahlen kitzelten meine Nase und tauchten die sonst so verruchte Straße in ein freundliches, orangenes Licht. Noch waren die Gaslaternen nicht erhellt, doch das würden sie gleich. Die letzten Arbeiter kamen von ihrer Schicht heim, waren auf den Weg in den nächsten Pub, oder sprachen mit den Huren in der Gosse. London bereitete sich langsam auf sein Nachtleben vor und beinahe hätte ich gesagt, es wäre alles beim Alten, doch da fiel mir noch nicht auf, wie unnatürlich finster und leblos die Fenster gegenüber mir waren.

Rußbefleckt, stand die Tür zur Steamed Rat offen - nein, sie war komplett aus den Angeln genommen - und präsentierte ein mattes, pechschwarzes Innenleben. Die Fenster waren zu abstrakten Formen verdreht, die keiner echten Struktur zugeordnet werden konnten, das Glas geschmolzen und zersplittert. Die Luft im Inneren war schwer und trocken und es roch nur noch leicht nach verbranntem Holz. Es war wohl schon länger her, seit das Feuer ausgebrochen war. Warum konnte ich mich daran nicht mehr erinnern...?

Schnell stürmte ich auf die Straße und suchte nach einem bekannten Gesicht, das ich darüber ausfragen konnte, doch auf einmal war mir jeder in der Stadt fremd. Niemand sah so aus, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Müssten nicht Deans Jungs zu dieser Zeit auf den Straßen sein? Tatsächlich! Groß, breitschultrig... keine Frage, das war einer von Deans Bodyguards... allein?

„Hey!“, rief ich und lief auf ihn zu. Seinem Blick nach zu urteilen, musste er einen Geist vor sich stehen haben und trotz dessen, wie ausgelaugt ich mich fühlte, war ich mir ziemlich sicher, dass ich quicklebendig war. Bleich wurde sein Gesicht, als er mich sah und es bildeten sich Schweißtropfen auf der Stirn. Eine Sekunde noch schien er zu überlegen, ob er weglaufen sollte, doch ich war ihm schon zu nahe. Warum nur hatte dieser Fleischbrocken so viel Angst vor einem kleinen Mädchen wie mir?

„S-Sarah? Scheiße, ich dachte fast du wärst tot...“

„Tot?“

„N-nach der Sache mit Dean... Ich schwöre dir, wir sind Tom nicht mehr zu nahe gekommen, also bitte tu mir nicht weh!“

„Wovon redest du?“, versuchte ich ihn zum Reden zu bekommen, doch mit jedem Schritt den ich ihm näher kam, ging er einen zurück und fing langsam an zu wimmern. Aber das konnte ich auch zu meinem Vorteil verwenden, also packte ich ihn am Ärmel.

„Was ist mit der Steamed Rat passiert? Lebt Tom noch?!“

„Thomas? Der ist doch daran schuld! Seit du weg bist, hat der Kerl einen totalen Schuss!“

Unmöglich... Mein Tom sollte für all das hier verantwortlich sein? Mein lieber, schüchterner, zurückhaltender Thomas, der keiner Fliege was zur Leide tun könnte?

„Willst du mich eigentlich verarschen?!“, knurrte ich ihn an, denn von allem, was ich heute gehört hatte, glaubte ich diesen Mist am allerwenigsten.

„Ich schwöre, es ist die Wahrheit. Frag ihn doch selbst, wenn du mir nicht glaubst! Aber bitte lass mich in Ruhe...“
 

Endlich ließ ich von dem heulenden Gorilla ab. Die Sache mit Dean... Was das wohl bedeutete? Ich bezweifelte, dass ich noch etwas Vernünftiges aus ihm bekam. Hoffentlich kannte Tom die Antworten. Und hoffentlich... hoffentlich erkannte ich ihn noch wieder.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Phinxie
2016-10-17T16:44:25+00:00 17.10.2016 18:44
Hm, solche Gedächtnisverlustsachen sind immer gut. Sie geben der Geschichte oftmals eine Wendung, die der Leser zuerst nicht erwartet... habe ich nämlich jetzt auch nicht ;)
Wobei ich Alice' Gedankengänge ein wenig blöd finde.
Um es grob auszudrücken: "Ich konnte nicht glauben, dass wir ein Paar gewesen sind, aber der Gedanke, dass sie mich angefasst haben könnte, erregte mich" - das sind absolut widersprüchliche Gedanken, meiner Meinung nach. Klar, ich weiß, das Alice einen eigenen, doch stark ausgeprägten Charakter hat, aber sie ist ein intelligentes Mädchen und könnte doch die Beziehung zu Fleur zumindest in Betracht ziehen - vor allem, wenn ihre eigenen Gefühle so stark sind.
Aber das nur so am Rande, ein kleine Sache, die mich persönlich einfach nur gestört hat beim Lesen.

Jetzt zu dem anderen:
Thomas soll eine Wendung um hundertachtzig Grad gemacht haben?
Na, ich weiß ja nicht... ich bin ein wenig arg skeptisch für das nächste Kapitel, aber gleichzeitig auch gespannt, was du darin alles beschreiben wirst - vor allem, warum aus Dean plötzlich ein jammernder Gorilla (übrigens, super Beschreibung :D ) geworden ist, und das angeblich dank Tomas. Charakterentwicklung finde ich zwar immer super, aber zu krass darf sie auch nicht sein ;)

Dein Schriftbild ist top.
Wenig bis keine Fehler (zumindest habe ich jetzt keinen entdeckt ^^) und alleine schon deine Beschreibungen... hach, ich liebe sie einfach. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Du beschreibst gerade Alice' Gedanken so gut, dass man sie als Leser nachvollziehen kann. Zumindest ich baue zu Alice langsam eine kleine, emotionale Verbindung auf ^^
Die Sache mit Fleur tut mir Leid und irgendwie passt sie so gar nicht in das heutige London rein... aber sie ist nun mal da und jetzt ganz alleine in dem Hotel... D:
Sie tut mir richtig leid :/
Fleur ist ja einer meiner Lieblingscharaktere geworden... ^^

Ich hoffe, dass alles ein gutes Ende für die beiden nimmt (obwohl ich ja auch ein Fan von Dramen bin... XD)
Antwort von:  Lazoo
17.10.2016 20:14
Erstmal Danke für das ausführliche Feedback. Es freut mich, dass mein Schriftbild nach wie vor deinen Qualitätsaansprüchen gerecht wird :)

Zum ersten Punkt: Dass das für dich widersprüchlich ist, kann ich so nicht ganz nachvollziehen, es kam hierbei einfach zu einem Konflikt in Alices Innerem, da ihre sexuelle Präferenz noch immer in ihr Steckt, sie aber keine aktiven Erinnerungen an diese hat. Man könnte es vergleichen mit einem Programm, dessen funktionen zwar mehr oider weniger aktiv sind, abert dessen Dateipfad man nicht findet... oder so ähnlich, keine AHnung, ob diese Umschreibung das verständlicher gemacht hat.^^

Damit du nicht durcheinanderkommst, stell ich das hier auch noch einmal für dich klar: Dean ist tot.

Der Kerl, den Alice verhört hat, war einer seiner Bodyguards, einer der Gorillas, die in der Nacht von Alice Geburtstag mitangesehen haben, wie ALice Flammen aus ihren Händen zauberte und damit Dean Hart bei lebendigen Leibe verbrannt hat. Der Mann hatte in diesem Moment keine Angst vor Thomas, sondern vor Alice, hält sie wahrscheinlich für ein Monster, oder ähnliches. Außerdem sind seine Aussagen als sehr subjektiv zu bewerten. Ein Unterdrückter, der sich wehrt, kann in den Augen eines UNterdrückers als Psychopath rüberkommen. Also ohne dich massivst zu spoilern: Wieg das Wort des Gorillas nicht mit Gold auf. ;)
Antwort von:  Phinxie
17.10.2016 20:29
Zum ersten Punkt: Na gut, lasse ich gelten^^ Ich bin da halt ein bisschen penibel, das ist auch keineswegs böse gemeint ^^ Ich hätte es anders beschrieben, aber jedem das Seine :)

Zum zweiten Punkt: Ups, entschuldige ^^'' Da bin ich dann wirklich etwas durcheinander geraten, wobei ich auch zugeben muss, dass ich die Sache mit den Flammen auch wieder vergessen hatte... wenn die Kapitel manchmal lange auf sich warten lassen, dann weiß ich nicht mehr so genau, was ganz am Anfang stand, als wenn ich alles in einem Rutsch durchlese D:
Das tut mir jetzt wirklich leid... vergiss diesen Punkt einfach und das nächste Mal versuche ich, nicht mehr durcheinander zu kommen ^^''
Von:  Darkdragon83
2016-10-04T22:28:13+00:00 05.10.2016 00:28
Mmh ich hab ja für solche Gedächtnisverlust Geschichten immer nicht sooo viel übrig... mir tut Fleur gerade so unendlich leid, sie ist mir als Charakter richtig ans Herz gewachsen, ich hoffe Alice erholt sich schnell wieder.


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