Zum Inhalt der Seite

Natürliche Todesursache?

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Angst im Dunkeln

Irgendwann zwischen Dämmerung und Morgengrauen. Jeder schläft, nur du wälzt dich im Bett herum, scheinbar ganz allein auf der Welt, weil Kopfschmerzen dich wach halten. Und schwer drückt dir die Bettdecke auf die Brust, die Bürde der Nacht.

Nein, schau jetzt bloß nicht auf dein Handy. Es ist egal, wie spät es ist und dass du morgen um fünf raus musst, Zeitungen austragen, um dein Zimmer und alles andere zu finanzieren, und nebenbei was für dein Gewicht tun.
 

Es ist vor allem egal, dass ER an dich denkt.
 

Oje. Deine Finger sind schmierig; deine Nasenlöcher krustig, garantiert ist wieder ein kleiner Blutsee auf dem Kissen. Woher dieses nächtliche Nasenbluten kommt, müsstest du mal abklären lassen.
 

Bist selber dran schuld, dass du nicht einschlafen kannst. Was hast du dich auch in der Horrorabteilung der Bibliothek bedient! Ausgerechnet du Angsthase, du kriegst schon Alpträume nach dem Tatort im Ersten. Ein kleiner Turm aus Romanen liegt auf deinem Nachttisch. Statt der Bücher für die Uni, was bist du eigentlich für eine Studentin?! Und sie sind so alt und zerlesen, dass du dir eingebildet hast, zwischen den Seiten schon kleine winzige Tierchen krabbeln zu sehen, die wie Baby-Ameisen aussehen….
 

Tante Ines würde dich schallend auslachen und dabei ihre krummen gelben Zähne entblößen. Sie, die dir schon als Kind gruselige Geschichten aufgetischt hat, über alle möglichen Gestalten und Phänomene. Tante Ines, die nie geheiratet hat, sich nicht zum Zahnarzt traut aber als Kind bei Neumond immer in den Wald gelaufen ist, um dort nach Vampiren Ausschau zu halten. Um ihrer großen Schwester zu beweisen, dass sie mutig und furchtlos ist, und um die Blutsauger alles zu fragen, was sie schon immer über sie hat wissen wollen.
 

Sie war es, die dir erzählt hat wie der Mythos über die Vampire entstanden ist; von den gutgenährten, rosigen Leichnamen, die man exhumiert hat, weil sie sich in ihren Gräbern bewegt und seltsame Geräusche von sich gegeben haben.

Und du hast gebannt zugehört mit deinen neun Jahren, eine heiße Tasse Kakao trinkend an ihrem Esstisch gesessen, wo sie einen echte Schädel stehen hat.

Dass dieses „Schmatzen aus dem Grab“ die Leichenflüssigkeit ist, die durch sämtliche Körperöffnungen austritt; was durch verschiedene Verwesungsprozesse ausgelöst wird. Bakterien, die postmortal die Zellen zersetzen, Autolyse genannt, der letzte chemische Vorgang des Körpers; wodurch Fäulnisgase entstehen und den Bauch blähen. Und Fleisch, das vertrocknet und einfällt, weswegen Zähne, Knochen und Barthaare so aussehen, als ob sie noch im Tod weitergewachsen wären. Kein Wunder, dass die von Medizin sehr ahnungslosen Leute im Mittelalter den Toten für einen Untoten gehalten und kurzerhand geköpft, gepfählt oder verbrannt haben.
 

An jenem Abend hast du nichts mehr gegessen und bist früh schlafen gegangen, während dir der Kakao noch lange in den Gedärmen gegurgelt hat. Dich fragend, wie sich ihre Stimmen wohl anhören in diesen toten Körpern; blubbernd oder seufzend, oder mit einem Echo wie in einem leeren Raum?
 

Und du hast Tante Ines nicht mehr so gerne besucht. Auf ihrem Gutshof aus dem neunzehnten Jahrhundert, der so verfallen ist, dass er als Kulisse für einen Thriller herhalten könnte. Keiner aus der Familie weiß so recht, wo zur Hölle sie das Geld hatte, ihn zu kaufen, denn niemand in deiner Familie ist vermögend. Der Hof war immer schon außerhalb ihres Budgets – es sei denn, irgendwo hatte sie eine geheime Geldquelle entdeckt. Wer weiß.

Im verwilderten Garten hast du gespielt mit einer Handvoll Kieselsteine, die an Elfenbein erinnerten, als plötzlich Tante Ines lispelnd angerannt kam: „Kind, Kind, um Himmelf Willen, waf haft du mit meinen Zähnen angeftellt, bist du noch ganz bei Troft?!“ Und dann bist du schweißgebadet aufgewacht im Gästezimmer vom Krächzen der Raben draußen.
 

Mach die Augen zu. Gut. Und atme tief ein und aus. Gut. Und achte auf die Geräusche hier im Zimmer-

nein, nicht gut! Das ist kein Atemgeräusch, spinnst du! Wirklich nicht, du kannst weiteratmen, das solltest du sogar, um nicht blau anzulaufen – auch, wenn du mit jedem Atemzug eine Prise Herrenparfüm einatmest… Tabac, das bittere, das Opa immer benutzt hat?

Tote und Untote atmen nicht, und riechen auch nicht nach Moschus. Und es liegt auch kein Sterblicher unter deinem Bett, wie soll er auch, wenn sich die Latten schon durchbiegen unter deinem Gewicht, du Fettklops!
 

Ja es stimmt, das Fenster hast du weit aufgemacht, kurz bevor es dunkel wurde, länger als du geplant hast zu lüften, weil du den ganzen Tag im Bett gefaulenzt hast anstatt dich mal zu bewegen. Aber vor deinem Fenster im Erdgeschoss wächst doch dieser dichte Busch mit den roten Blättern, die immer im Wind rascheln. Durch ihn krabbeln so viele Käfer in dein Fenster-

Wusstest du eigentlich, dass ein Mensch in seinem Leben bis zu fünfzig Spinnen und anderen Insekten verschluckt? Der Grund, wieso du Campen hasst. Bon apétit, das fällt dir gerade zur rechten Zeit ein! Was, wenn sich gerade jetzt in diesem Moment im Dunklen eine dicke Spinne auf deiner Nase abseilt? Was dann so kitzelt, ist kein Haar. Zieh dir lieber die Decke über den Kopf!
 

Aber ein Mann kann doch nicht rein klettern, durch dein Fenster!

Nicht mal der immerzu blasse, schwarzgekleidete Nachbar, der dir immer so hinterher gafft und mit Ende dreißig noch bei seinen Eltern wohnt. Bei dem erst morgens um fünf das Licht ausgeht. Nie grüßt er dich; nie hast du seine Stimme gehört, aber Gerüchten zufolge soll er eine Stimme wie eine Frau haben, wieso auch immer. Er sieht jedoch nur so aus, als ob er davon träumt, bei dir einzusteigen, sich zu verstecken bis du schläfst um dich im Schlaf zu v… –
 

Nein, denke das Wort nicht einmal!! Nicht jetzt im Dunkeln.
 

Oder ist das schon passiert, im Sommer, als du mit offenem Fenster geschlafen hast und bloß einen pinken String anhattest? Hast du nicht gestern erst Bauchkrämpfe gehabt und morgens kotzen müssen? Dann wurde dir alles schwarz vor Augen, Schatten sahen aus wie Tintenkleckse auf Löschpapier, die sich immer weiter ausbreiteten, und du hattest dieses Piepen im Ohr. Warst ganz schwach, konntest dich gerade noch am Waschbecken abstützen. Und wann hattest du zuletzt deine Tage? Fast einen Monat bist du drüber! Das wärs ja noch. Jetzt schwanger, von einem Unbekannten, mitten im Studium!
 

Mach dich verrückt, du mit deiner kranken Fantasie! Sowas würdest du merken. Auf verräterischen Flecken; Blutergüssen, Schmerzen und an Dreckspuren am Boden… Kein Tatort bleibt steril! Nicht mal, wenn du selbst der Tatort bist. Trotzdem rast jetzt dein Herz, und du befühlst dein Handgelenk, wo dieser blaue Fleck ist, dessen Ursache du dir nicht erklären kannst.
 

Ist ER das, der dich anruft und auflegt; der dir leere Briefe ohne Inhalt oder Absender schickt; der dir in der Straßenbahn in den Nacken atmet und fort ist, sobald du dich umdrehst. Das alles ist keine Einbildung! ER weiß, wie du heißt und wo du wohnst. Und wovor du Angst hast. Oma und Mama wussten, wieso die Stadt gefährlich ist, und du wolltest feine Dame spielen und nicht auf sie hören. Die Quittung steht noch aus…
 

Die Großstadt verändert Menschen, Mel.
 

Hörst du denn nicht diese… Schritte? Hat Ben Besuch? Manchmal skypt er mitten in der Nacht mit seiner Freundin in den Staaten und läuft dann im Zimmer hin und her.

Ben, der so nett ist. Mal hat er dir gesagt, dass du gerne mit ihm reden kannst, wenn dich was bedrückt. Und wieso tust du es dann nicht?!

Weil er nicht denken soll, dass er sich eine Untermieterin geholt hat, die total meschugge ist? Irgendwas stimmt mit dir nicht. Das wussten sie schon immer.
 

Nein. Nicht das Licht anknipsen. Dann weiß ER, dass du wach bist… Aber du willst jetzt Licht, sofort, hältst es keine weitere Minute hier im Dunklen aus, schnapp dir den Schalter!
 

Scheiße.
 

Jetzt hast du es geschafft; die Birne ist durchgebrannt! Da kannst du knipsen, wie du willst, sie ist kaputt. Gerade dann, wenn du Licht brauchst! Denn die Nacht ist noch lang und erst morgen früh, ab dem ersten Sonnenstrahl, ist der Spuk vorbei. Dann zerfallen die Alpträume zu Staub wie alle Kreaturen der Nacht. Wieso sonst liegt immer eine dünne Staubschicht auf all deinen Möbeln, das meiste davon unter deinem Bett?! Papa hat dir oft den Gefallen getan, nach der Gute-Nacht-Geschichte nachzusehen unter deinem Bett, bevor du einschlafen konntest. Wieso hat er sich denn gebückt und nach Monstern Ausschau gehalten, wenn es doch keine gibt?
 

Kannst du dich noch an deine erste Sonnenfinsternis erinnern, wo du diese bunte Brille tragen musstest? Das war ein paar Tage, nachdem du Tante Ines besucht hast, noch immer in Gedanken bei den Schauergeschichten, doch du wolltest es nicht Mama petzen, weil sie und Tante Ines sich sonst wieder gestritten hätten. Du warst mit deinen Eltern draußen gewesen, auf dem Festplatz, mit vielen anderen Leuten. Da hat ein Mann in deine Richtung geschaut, kurz bevor sich der Mond komplett vor die Sonne geschoben und den Himmel verfinstert hat.

Doch der Mann hatte kein Gesicht! Er schaute drein ohne Augen oder Mund; als hätte er eine rosige Fleischmaske über sein Gesicht gestülpt; Mimik war gänzlich nicht vorhanden, doch trotzdem konntest du sie lesen wie eine Uhr, an der die Ziffern fehlen. ER wollte dich töten. Weil es dich gibt. Einfach, weil er dich aus der Masse herausgepickt hat. Wahllos. Du hattest keine Wahl.

Einige Schreckensminuten später zog der Mond weiter und du sahst den Mann nur noch von hinten gehen. Schlank, groß, dunkelhaarig, normal gekleidet, ein Durchschnittstyp, der sich von den vielen tausend Durchschnittstypen in der Stadt nicht unterscheidet. Der Herr Müller oder Meier im Telefonbuch, das Heu im Heuhaufen.
 

Der perfekte Mord ist der, der niemals aufgeklärt wird.

Denn dann hat es der Mörder geschafft, den Mord als natürliche Todesursache zu tarnen, deine Leiche wird niemals auf dem Sektionstisch landen und der Mörder nie gefasst.

Und wie schafft ER das, der Mann ohne Gesicht? Beispielsweise, indem ER seinem Opfer, also dir, so viel Angst einpflanzt, dass du vor Angst stirbst.

Bist du nicht auf dem besten Weg dahin? So wie dein Herz rast? Wie nach einem Sprint. Vielleicht solltest du das mal beim Arzt abklären lassen. Aber was wird der schon sagen? Dass du abnehmen sollst, und dann schauen wir mal. Und viel trinken nicht vergessen! Nein, das letzte halbe Jahr hast du keinen Arzt gesehen, und das ist vielleicht auch besser so.
 

Na los. Steh deine Frau und zeig ihm, dass du keinen Schiss hast, und schau unters Bett, denn irgendwas ist da. Jetzt sofort und im Lichtschein deines Smartphones. Licht ist bloß einen Finger-Touch entfernt. Wenn seine knöcherne, grabeskalte Krallenhand blitzschnell vorschnellt um dich zu packen, dann schrei so laut du kannst und hoffe, dass dein Mitbewohner dich vor ihm retten kann. Denn du als Frau, physiologisch unterlegen, mit höherem Körperfettanteil bei weniger Muskelmasse und somit Testosteron und Kraft, hast keine Chance. Als i-Tüpfelchen trägst du ein weites Nachtgewand, das unten offen ist und für ihn alles leichter macht.

Oh Gott. Zähl mal schnell die Nachkommastellen von Pi auf, die hast du früher auswendig gelernt. Drei Komma Eins Vier Eins Fünf Neun Zwei Sechs Fünf Drei Fünf Neun-
 

sag mal, hörst du jetzt etwa auch noch ein Ticken? Wie das einer Armbanduhr? Ja, wirklich, ein regelmäßiges Tick-Tick. Aber woher? Du hast im ganzen Zimmer keine Uhr, außer in deinem Handy, und die tickt nicht… Und Bens Uhr wird wohl kaum so laut sein, dass du sie bis hierher hören kannst! Dann könntest du ihn genauso gut atmen hören. Muss doch eine Erklärung geben, woher dieses Ticken kommt… Hör auf zu zittern, du doofe Gans. Schalt deine Angst gefälligst auf Sparflamme. Und nimm mal einen Gedankenentzug.
 

Frauenherzen schlagen schneller
 

Was? Wo hast du das denn her? Aus einem Schlager? Aus der Illustrierten? Oder aus einem Roman? Und wieso zum Teufel kommt dir der Satzfetzen ausgerechnet jetzt in den Sinn? Wo soll da im Kontext der Witz sein? Weil Männer der Grund dafür sind? Dass sie im Dunkeln von ihnen Angst haben, niemals umgekehrt?
 

Es ist kein Ticken; es ist ein Knarzen, wandelt sich in ein Quietschen, wird lauter, gedehnter, klingt so als öffne sich irgendwo ein verrostetes Gatter, das ein paar Quälgeister in die Freiheit entlässt; hässlich, schuppig, hungrig… Gleich wirst deinem Schöpfer begegnen.
 

Den Atem angehalten lauschst du, suchst panisch die Schwärze des Zimmers ab nach der Geräuschquelle und merkst wie dir Angsttränen in die Augen steigen. Das bildest du dir wirklich nicht ein. Deine Nackenhaare kräuseln sich und all deine Sinne spannen sich an. Die Finger in die Bettdecke gekrallt – sie ist dein Schutzschild, dein einziger Verbündeter im einsamen Dunkel.
 

Und jetzt hört es auf. Wie in diesen Filmen, wo die Musik immer bedrohlicher wird und sich der Axtmörder an die Frau heran schleicht, und schon ausholt- und an diesem Höhepunkt stoppt die Musik, und dann ist es doch nicht so, wie man dachte.
 

Musik.

CD-Player.

Der alte, der nur noch mit einem Streifen Tesa die Klappe hält. Ging von alleine auf, weil die Schwerkraft stärker als Tesa ist. Oh Mann. Alles paletti.

Oder doch nicht?
 

Dieses rote Licht an der Decke, das gerade aufgeblitzt ist, was war das? Wirklich nur der Rauchmelder?

Oder ist das die Wölfin, die aus dem gerahmten Bild gesprungen ist?
 

Als Geschenk zum Einzug hat es dir Ben geschenkt; eine weiße Wölfin, die auf einer Klippe den Mond anheult. Aus voller Kehle schreit sie den Weltenschmerz in den Nebel hinein – so, wie du es auch gerne mal tun würdest, mitten auf der Straße, aber ohne zwei Promille im Blut. Eine Sichel leuchtet rot auf ihrer Stirn, vielleicht wurde sie eingeritzt und glüht nun voller Rachedurst, begleitet sie zu den Friedhöfen dieser Welt, wo sie buddelt und sich an Leichenresten sattfrisst. Akkurat die Knochen abnagt wie deine Eltern an Sonntagen, wenn Grillhähnchen oder Haxe aufgetischt wird. Wundert es noch, dass du Vegetarierin geworden bist? Und am liebsten vegan leben würdest, wenn das nicht so verflixt teuer wäre.
 

Wieso glaubst du eigentlich, dass es eine Wölfin ist, und kein Wolf? Man sieht es nicht auf dem Bild. Du hast dich mit ihm identifiziert, mit diesem einsamen Wolf. Aber der traut sich wenigstens raus nachts, während du hier im Warmen liegst, frierst und schon bibberst und eine Wärmflasche in Betracht ziehst.

Aber dafür müsstest du barfuß im Dunkel durchs Zimmer laufen, über den Flur mit seinen knarzenden Holzdielen ins Bad, wo auf den Fliesen diese silbrig-grauen Würmchen umher flitzen, die dann vom Licht geschockt mitten in der Bewegung innehalten, ihre mickrigen Äuglein sicher ganz verwirrt blinzelnd, bis sie sich an die Helligkeit gewohnt haben – haben Insekten überhaupt Augenlider? Und dann stehst du da, starrst diese grauen, stromlinienförmigen Flecke an und fragst dich, ob sie sich vor einer Sekunde nicht doch noch bewegt haben? Und ob du verrückt wirst in diesem alten Haus.
 

Bist wohl doch nicht fürs Alleinsein gemacht. Wirst wahrscheinlich noch mit vierzig Schiss und Heimweh nach Mama und Papa haben. Umso älter du wirst, desto ängstlicher wirst du – deine kindliche Naivität immer mehr befleckt von der Ahnung, dass die Welt keinesfalls gerecht ist und das Gute immer siegt... Außerdem bist du momentan so sentimental, wie du es noch nie gewesen warst. Hast einfach weil du es spaßig fandest, dir letztens deine Zukunft von dieser Wahrsagerin auf dem Marktplatz voraussagen lassen.

Deine Gefahr kommt von innen, hast du dabei erfahren. Du hättest dein Schicksal selbst in der Hand.

Leere Worthülsen. Dieses Geschwätz war den Euro nicht wert.
 

Diese grässlichen Kopfschmerzen fangen wieder an, waren die ganze Zeit, wo du dich gefürchtet hast, verklungen, hatten pausiert. Du hast gar nicht bemerkt, dass du voller Angst, aber dafür frei von Schmerz warst.

Er ist da, pulsiert in deinem Kopf, irgendwo zwischen Auge und Stirn, auf der linken Seite; langsam, aber anschwellend. Wie eine glühend heiße Gabel, die sich in deine Gehirnwindungen bohrt. Quittung der Nächte, die du lernend oder vor dem Laptop verbracht hast? Wirtschaftsmathematik, aber den Aufwand hast du gnadenlos unterschätzt, sowas von unterschätzt, was hast du dir da zugemutet? Wie zum Teufel willst du das schaffen? Schon jetzt, im zweiten Semester, fühlst du dich kraftlos, matt und wie erschlagen. Mama wollte es dir von vornherein ausreden, du solltest lieber eine Lehre anfangen, denn so hast du was Handfestes und stehst bald auf eigenen Füßen.
 

Du hast schon fast die Zehenspitzen aus dem Bett, um dir im Bad eine Aspirin zu holen, natürlich hast du dir wieder im Schlaf die Socken ausgezogen, die jetzt irgendwo verteilt liegen. Aber jetzt meldet sich dieser beschissene Kleiderschrank zu Wort. Dieses laute, durchdringende Ächzen seines morschen Holzes; gratis und inklusive zum möblierten Zimmer. Das du immer nur in der Nacht hörst, so als wollte er dich verhöhnen. Außerdem ist die eine Tür morgens immer einen Spalt offen, obwohl du sie hundertprozentig zugeschlossen hast am Abend.

Immer nimmst du dir vor, Ben zu fragen, wieso das so ist, und ob er das Geräusch auch schon mal gehört hat, doch am Tag macht er das nie, sondern glotzt dich nur stumm an mit seinen beiden Knäufen und lacht sich einen. Und dann kommst du dir wie ein hysterisches Weib vor.
 

Aber jetzt, das Knacken eben, das war wirklich real! Vielleicht versteckt sich da drin etwas außer Holzwürmern? Dein schlimmster Alptraum? Was ist dein schlimmster Alptraum? Du? Oder Mama, die dir gesteht, dass sie nicht deine richtige Mutter ist, sondern Tante Ines, die dich mit fünfzehn bekommen hat und das vertuschen musste.

Vor jedem und allem kannst du davonrennen, nur nicht vor dir selbst und deiner Fantasie…
 

Homo homini lupus est
 

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Sagte Oma immer, und da ist in der Tat was dran. Früher als kleines Mädchen hast du das nicht verstanden, jetzt schon. Vor keinem Tier muss man sich so sehr fürchten wie vor dem Menschen.

Vor IHM.

Denn Menschen töten nicht nur, weil sie Hunger haben. Sondern aus purem Sadismus. Da erscheint dir die Aussicht, von einem hungrigen Wolf mit scharfen Zähnen in Fetzen gerissen zu werden und ihm als Nahrung zu dienen, hättest du die Wahl, eine bessere Alternative zu sein, als einem Psychopathen als Spielzeug zu dienen und dies auch nicht zu überleben.

Wieso heißt es eigentlich beim Schlachthof Soundso: Bei uns wird human geschlachtet. Freut sich da jede Sau auf den Schlachter und kann Tag X nach kaum erwarten? Um nach der blutigen Prozedur in den eigenen Darm oder eine Dose gestopft und an Familien verkauft zu werden, die Wurst zum Abendbrot wollen, die das Gewissen beruhigt.
 

Hunger.
 

Oma hat immer diese Pfannkuchen gemacht, mit der selbst gemachten Johannisbeermarmelade. Du kannst sie riechen, als würde ein Teller davon unter deinem Bett stehen. Nach Zimt und Zucker und Vanille, das ganze Haus hat danach gerochen, das Wasser läuft dir im Mund zusammen...

Du wirst doch nicht um diese Uhrzeit ans Essen denken?! Schäm dich was. Bist schon fett genug. Wickel dich lieber fester in die Decke ein, ist scheiße kalt. Ja, zieh sie dir bis über die Nasenspitze hoch. Und wasch morgen mal wieder die Bettdecke. Sie stinkt schon nach deiner Angst.
 

Ein Knallen wie von einem Pistolenschuss.

Hilfe!

Du fährst richtig aus dem Bett hoch und dir versagt für eine Sekunde das Herz.

Was? Was kann nachts um diese Zeit so knallen? War das draußen, oder in deinem Zimmer? Unter deinem Bett?! Oh Gott, wirklich, das ist kein Scherz, stell dich schlafend, verdammt noch mal! Bete um deinen Arsch! Wenn doch nur die Nachttischlampe nicht kaputt gegangen wäre.
 

Leg dich wieder zurück! Zieh die Decke über deinen Kopf! Atme ein, aus, ein, aus.

Oma. Was würde Oma dazu sagen, dass du dich fürchtest? Ohne Opa allein im Schlafzimmer gegruselt sie sich doch bestimmt auch, oder? Das will sie nur nicht zugeben.
 

Wieso hat sich Opa nicht verbrennen lassen. Wieso bevorzugte er es, in einem mit Seide ausgekleideten Sarg aus Eiche in die feuchte, kalte Erde gelegt zu werden; ein klaffendes Loch im Boden. Unter einer schwarzen Steinplatte, wo sein Name in Goldbuchstaben steht. Und der Spruch Seinen Ewigen Frieden bei Gott gefunden.

Darauf abzielend, dass der Sarg von der Last des Erdreichs einkracht, er von Mikroorganismen und Insekten zersetzt wird, bis nur noch schwarze Knochen übrig sind. Ein Skelett in erdverkrustete Kleidung gehüllt, ein grinsender Totenschädel, in dessen leeren Höhlen sich Maden winden; seine Arme zur Seite gekippt, vom aufgeblähten Leib. Und das neben anderen Leichen in verschiedenen Verwesungsstadien. Auf dem Friedhof, wo ein großer Kirschbaum steht mit Pilzen um seinen Stamm herum; sein Wurzelgeflecht gespeist von den Nährstoffen im Boden, in den Gott weiß welche Säfte gesickert sind. Im Winter hocken schwarze Vögel auf seinen kahlen Zweigen und im Sommer hängen seine Zweige tief von der Last seiner Früchte, die angeblich eine Delikatesse sein sollen. Du hast diese prallen, blutroten Kirschen nie probiert, magst aber deren Blüten im Frühjahr.

Vanessa, die neben dem Friedhof wohnt, hat davon einen Kirschkuchen gebacken und ihn dir in der Pause zu essen gegeben. Kaum dass du erfahren hast, woher die kommen, hast du dir auf dem Klo die Finger in den Hals gesteckt.
 

Hunden ist der Zutritt untersagt. Das war das erste, was du gelesen hast an der Friedhofspforte, als du sieben Jahre alt warst und schon lesen konntest, hast Mama gefragt, ob das auch für Windhunde gilt. Windhunde sind Hunde, hat sie dir geantwortet. Und was ist mit Wölfen? Wie du auf so einen Blödsinn kommst. Dann später, am Grab, hast du aber doch noch mal etwas gefragt, was Mama ziemlich sauer gemacht hat: Was, wenn sie ihn lebendig begraben haben und er nun da unten scheintot eingesperrt ist und nicht mehr rauskommt? Mit dem Tod ist der Horror noch lange nicht vorbei…
 

Wie willst du mal bestattet werden? Es ist nie zu früh, sich darüber Gedanken zu machen. Niemand weiß, wann das Licht des Lebens erlischt. Deine Lampe ist vorhin durchgebrannt. Das kann nur ein böses Omen sein…
 

Vielleicht solltest du mal was trinken, fühlt sich komisch an im Mund. Das ist die Angst, die so bitter schmeckt.

Trinken.

Aus der billigen Einweg-Plastikflasche. Die auf deinem Schreibtisch steht und eingedrückt war! Dieses Knallen kam von dieser Flasche!
 

Apropos Durst.
 

Diese schreckliche Halloween-Party am Samstag bei Carmen, wieso bist du überhaupt hingegangen? Thorolf in seinem bodenlangen Ledermantel und dem Stachelhalsband hat dich nicht mal mit dem Arsch angeschaut, aber wundert es dich? Steht eben nicht auf Fette, auf fette Studentinnen, die ihr rostbraunes Haar flechten, schon gar nicht. Du Breitarsch, so wie du rumquabbelst bei jedem Schritt! Sobald du nur einen Finger rührst, schwabbelt das Fett überall. Statt leichtfüßig über den Boden zu schweben, erzittert er unter dir und alle starren dich an, dich fette Tonne, und deine Röllchen, denen du Namen geben solltest, weil sie ihr Eigenleben entwickeln.

Sie lachen hinter deinem Rücken, warten nur darauf, dass die Nähte deiner Kleidung aufplatzen, weil sie dein Fett nicht mehr in Form halten können. Nur deswegen hat Carmen dich doch eingeladen. Im Grunde ist sie eine Bitch wie die anderen, und sie lügt dir auch noch dreist ins Gesicht und sagt, du wärest nicht fett, sondern viel zu dünn, ist klar. Weswegen du dich verkrümelt hast, noch bevor die Häppchen aufgetischt wurden.

Was kannst du überhaupt noch anziehen außer sackhaften schwarzen Klamotten, die deine Rettungsringe verstecken. Ans Freibad gar nicht mehr zu denken. Da, wo die Pommes so knusprig-lecker sind und fast wie Kartoffelchips schmecken… Weil Geschmacksverstärker drin sind, wie in fast allem, was es zu kaufen gibt. Damit du immer mehr davon isst. Frisst und frisst und frisst. Lebensmittel sind Todesmittel, Bissen für Bissen. Man kann gar nichts mehr essen, außer das was man selbst anpflanzt.
 

Wie aufs Stichwort: Magenknurren. So rebellisch laut und tief, dass es weh tut. Röhrend, wie ein brunftreifer Hirsch; der Hirsch, der lebendig in Tante Ines´ Wand eingemauert wurde, so dass nur noch sein Geweih herausschaut, wie sie immer behauptet.

Fühlt sich an, als hättest du innen einen kleinen Staubsauger, der die letzten Speisereste rückstandslos einsaugt; hier ein Mohnkörnchen, da eine Spaghetti-Nudel, dort ein Joghurtbecher, alles schön säuberlich in seiner dafür vorgesehen Ecke, so lustig hast du es dir als Kind immer vorgestellt. Luft anhalten, Hände auf den Magen pressen und warten, bis es aufhört. Es dauert eine ganze Weile. Dir ist schon richtig schlecht vor Hunger.
 

Wär das nicht schön, morgen früh in einem ganz anderen Körper aufzuwachen? Der einer schlanken, fitten, gesunden jungen Frau gehört. Richtig sexy und androgyn, mit definierten Sehnen und Knochen. So wie Audrey Hepburn oder Rooney Mara zum Beispiel. Der niemand „fette Sau!“ hinterher ruft.

Wenn du es dir ganz fest wünscht, wird das passieren. Du wirst sterben, aber irgendwie auch nicht. Sondern jemand ganz anderes werden; deinem jetzigen Leben Lebewohl sagen. Und vielleicht hast du Glück und für die andere ist der Tausch auch eine Verbesserung. Dann sind alle mit dieser Seelenwanderung zufrieden. Falls es aber nicht klappt, bist du tot, soviel ist sicher.

Aber sowas gibt es eh nur im Märchen. Schlaf jetzt ein. Lass dich treiben. Spüre deinen schweren Kopf auf dem Kissen und das Kitzeln an der Schwelle zum Traumland. Lass alle quälenden Gedanken los…
 

+ + +
 

„Herzinfarkt aufgrund von Organversagen, möglicherweise verursacht durch eine Anorexia Nervosa, Todeszeitpunkt gegen vier Uhr dreißig“, schrieb der Arzt am nächsten Tag in den Totenschein der Studentin. Die nicht mal mehr vierzig Kilo auf die Waage brachte. Er seufzte schwer über dieses Schicksal.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Seranona
2016-02-29T08:17:08+00:00 29.02.2016 09:17
Hab durch Zufall deine Story gefunden und mich ein wenig gefragt, warum du noch keine Kommis hast...
Es war zwischendurch schon etwas verwirrend...die ganze Paranoia...
aber zu guter Letzt war es ja aufgeklärt....
Psychisch krank...unterernährt und dem Wahnsinn dadurch schon verfallen, ohne es zu wissen.
Ein trauriges Beispiel einer jungen Frau, die nur durch den Zwang der Gesellschaft zu dem Wrack wurde, welches letztendlich zu grunde ging.
Faszinierende Geschichte.
Wirklich.
Und endlich mal keine 'Friede/Freude/Eierkuchen'-Story die nur belustigend oder unterhaltsam wirkt. :3

Liebe Grüße
Nona


Zurück