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ein Anfang

Die Tage vergingen, und ich hatte langsam das Gefühl, ich würde in meinem neuen, alten Leben ankommen. Ich schaffte es, die meisten Prüfungen zu bestehen, und unternahm nach wie vor viel mit Marie, auch wenn sie seltsam misstrauisch mir gegenüber geworden war- etwas, das ich ihr nicht übel nahm.

Jesaia, Simon und ich freundeten uns während der Zeit vorsichtig an, und wir trafen uns ab und zu, um abends an der Donau zu sitzen, Radler zu trinken und mehr über uns zu erfahren. Von Jakob hörte ich nichts mehr.

In der Schule begann ich, von Hannahs unglaublicher Aufmerksamkeit zu profitieren, ihr entging nichts. Wirklich nichts, kein Satz, keine Fußnote, keine Formel. Aber auch nicht die abfälligen Blicke ihrer Mitschülerinnen.

Irgendwann bat ich Marie, mit mir einkaufen zu gehen, und erklärte meinen Eltern, die mit dem Gedanken spielten, wieder nach Argentinien zu gehen, und jetzt häufig dort waren, mein Vorhaben, als sie in der Stadt waren. Meine Mutter bot sofort an, mit mir zu gehen, aber ich wies dezent darauf hin, dass ich Maries Gesellschaft bevorzugen würde. Sie willigte ein und gab mir Geld.

Meine neue, alte, beste Freundin und ich schafften zwei Säcke voll Kleidung zu einem Flüchtlingswohnheim, um Hannahs Anpassung an mir wenigstens einen sinnvollen Anstrich zu geben, und ergründeten die zahllosen Möglichkeiten, die Wien bot.

In einem Second-Hand-Shop fanden wir billige T-Shirts, in einem Outlet Röcke, in einer Boutique reduzierten Schmuck, in einem Ausverkauf Schuhe, und schließlich war meine Garderobe um einige Töne ausgedunkelt, hatte hier und da Löcher bekommen, und war auch tauglich, um fort zu gehen. Alte Stücke wurde mit neuen gemischt, und als ich am nächsten Tag in die Schule ging, hatte ich das Gefühl, irgendeinen gesellschaftlichen Test bestanden zu haben.

Am gleichen Abend rief Jesaia an, und fragte, ob ich mitkommen wollte, er und Simon würden etwas trinken gehen. Ich nahm gerne an.
 

Es war spät, als wir in Simons geheimer Wohnung ankamen, die er wohl von seinem Taschengeld bezahlte. Eigentlich interessierte es mich nicht. Er hatte Geld. Er zahlte. Ich war müde.

Aus einem Bier waren schnell mehrere Drinks geworden, und Simon hatte mir angeboten, ich könnte bei ihm übernachten, da ich mir so den langen Heimweg sparte.

Ich gähnte. Meine Eltern würden früher oder später bemerken, dass ich so häufig nicht daheim war wie vor, nun ja, ein paar Wochen, aber dafür hatte ich gerade keinen Kopf. Ich war betrunken, sehr, aber noch immer nüchtern, im Vergleich zu Simon und Jesaia zumindest. Letzterer torkelte zum Lift, drückte den Knopf und zog mich zu sich, lehnte sich zu mir, und flüsterte, als wäre es ein Geheimnis, dass Simon nie erfahren durfte: „Wir müssen leise sein, die Nachbarn mögen keine lauten Rich Kids die im Morgengrauen heimkommen.“

Morgengrauen war übertrieben, ich schätzte es auf drei Uhr. Etwas unbeholfen tippte ich die Adresse in mein Handy ein, und rechnete aus, dass ich spätestens um halb sieben aufstehen musste, um pünktlich zur Schule zu kommen. Meine Kleidung roch nach Rauch, aber erfahrungsgemäß merkten die meisten Mitschüler das ohnehin nicht, und jene, die es bemerkten, würden mich für eine Raucherin halten, nicht mehr.

Während ich meinen Begleitern die schlechte Nachricht meines baldigen Abschieds verkündete fuhren wir nach oben. Erst jetzt fielen mir Details auf. Es war ein Altbau. Simon sperrte auf, eine hohe, weiße Tür, schmal und hölzern. Eine stumme Führung folgte- Badezimmer, Wohnzimmer, in dem eine Matratze lag, mein Bett für die nächsten drei Stunden, eine kleine Küche, ein Schlafzimmer, mit einem großen Bett, welches sich Simon und Jesaia teilten.

Ich wurde gebeten, die beiden nicht aufzuwecken, sie hatten am nächsten Tag die ersten zwei Stunden frei. Sie gaben mir eine Decke und zogen sich zurück.

Doch der Schlaf blieb fern. So bequem ich lag, so angenehm die Brise war, die durch das offene Fenster hereinkam, so ungewöhnlich ruhig es war, so sah ich immer wieder Hannah vor mir. Nicht ihr Gesicht, welches nun mir gehörte, sondern die Idee, die ich von ihr hatte.

Meine Erinnerungen brachten ungefragt Szenen mit Marie hervor. Wie Hannah wieder umgezogen war, wieder die Schule gewechselt hatte, und dann auch noch mit der flatterhaften Marie zusammenarbeiten musste, die so anders war, und Hannah ohne weitere Fragen in ihr Herz schloss, ihr alles zeigte, alles mit ihr teilte, ihre Freundinnen, ihre Sprache und ihren Tee. Maries Eltern, die fast nie da waren, Marie, die von Hannahs Eltern ebenso herzlich aufgenommen wurde wie Hannah von ihr.

Es blieb nicht bei den schönen Erinnerungen. Mitschülerinnen, die fragten, warum Hannah ein Gay Pride Armband trug, und sich abwandten. Eine Großmutter, die erst wieder mit ihrer Enkelin sprechen wollte, wenn sie normal wäre. Eltern, die selten da waren. Der häufige Wohnortwechsel. Alkoholvergiftungen. Die lagen nicht einmal weit zurück. Eine Flasche, der Donaukanal, Marie. Liebeskummer. Mehr brauchte es nicht.

Hannah hatte es trotzdem geschafft, glücklich zu bleiben. Etwas zumindest. Eine flüchtige Erinnerung an die Pride Parade im letzten Jahr, einige Monat nachdem sie nach Wien gezogen war, ein Mädchen, mit dem sie den Abend verbracht hatte, als ihr einziger Begleiter zum Speeddating gegangen war. Die Offenheit dort, die Stunden voller Glück.

So sehr mich die Erinnerungen faszinierten, ich konnte nicht schlafen. Und ich brauchte Schlaf: ich hatte noch zwei Stunden, bis ich gehen musste. Am nächsten Tag hatte ich eine Prüfung, die erste, für die ich vollkommen selbst lernen musste, ich hatte gedacht, der Abend würde nicht so lange dauern, und gehofft, dass ich daheim schlafen würde. Aber das stand ohnehin nicht mehr zur Debatte. Es war Biologie, die chemische Wirkung von Drogen auf das Gehirn. Das würde ich wohl noch hinbekommen. Mit etwas Ruhe.

Aber daraus wurde nichts. Ich döste immer wieder ein, aber ich kam nicht zum Schlaf. Um fünf gab ich mich geschlagen, das Zimmer war bereits hell erleuchtet.

Langsam zog ich mir meine Weste über, fuhr mir ein paar Mal durch das wirre Haar, entwirrte ein paar widerspenstige Strähnen, flocht das Haar, so gut es ging, steckte mir einen Kaugummi in den Mund, und zog leise die Schuhe an. Vorsichtig öffnete ich die Tür, um Jesaia und Simon nicht zu wecken, und wollte sie schließen. Es funktionierte nicht. Simon hatte eine Tür, die einen davor schützte, sich aus Versehen auszusperren, sollte man sie offen lassen und sie aufgrund von Zugluft zufallen. Ich fluchte stumm, versuchte es noch einmal. Ich hatte keinen Erfolg.

Auf Zehenspitzen schlich ich in das Schlafzimmer, wo sie lagen, von einander abgewandt, tief schlafend.

Ich erklärte die Situation, Simon meinte, ich solle die Tür nur fest zuknallen, und es würde schon funktionieren. Ich war skeptisch, aber er hatte sich schon wieder umgedreht und war eingeschlafen. Ich versuchte, Jesaia nicht aufzuwecken, und ging wieder vor die Tür.

Der erste Versuch scheiterte, die Tür ging nicht zu, es hallte nur durch das ganze Haus. Ich fühlte mich schuldig, war nun aber entschlossen, zu gehen.

Erneut schlug ich die Tür zu, und es funktionierte. Erleichtert nahm ich die Treppen hinuntern, noch immer etwas alkoholisiert, noch immer etwas orientierungslos. Aber ich trat bald zur Tür hinaus, atmete frische Luft ein, navigierte zur nächsten Bushaltestelle.

Zwei andere Personen warteten, grau vor Müdigkeit. Ich beachtete sie nicht, versuchte, zu überlegen, wie ich die nächsten Stunden am besten verbrachte. Wohl mit Kaffee. Der Bus kam, und brachte mich zur U-Bahn, wo ich, bevor ich in den Zug stieg, noch einen Kaffee kaufte, schwarz, ohne Zucker. Mir war noch immer übel von dem Alkohol, und auch wenn ich wusste, dass ich später Hunger haben würde, konnte ich mich nicht dazu bringen, etwas zu essen zu kaufen. Marie würde mir sicher ein Stück ihres Brotes abgeben, obwohl...

Ich kaufte kurzentschlossen zwei Crossaints vom Vortag, zum halben Preis, und stopfte sie in meinen Rucksack, in dem ich praktischerweise Kopfhörer fand. Ich setzte sie auf, und fand eine Playlist einer ehemaligen Freundin im Internet. Sie begleitete mich.

Während ich auf die U-Bahn wartete, flößte ich mir den Kaffee schluckweise ein, mir wurde vom Geschmack übel, aber das tat nichts zur Sache, ich kannte das Gefühl.

Der nächste Schluck Kaffee war noch bitterer. Natürlich kannte ich das Gefühl. Ich. Julia. Hannah hatte keine Ahnung davon. Wenn sie getrunken hatte, dann immer so, dass sie oder Marie dann gemeinsam übernachtet hatten, und in der Früh keine Schule hatten.

Hannahs Leben. Ich zerstörte es. Stück für Stück.

Mit der U-Bahn kam ich in die Nähe der Schule, eine Station davor stieg ich aus, ging den Rest des Weges, und hatte das Gefühl, ich müsse mich gleich übergeben.

Das tat nichts zur Sache. Weiter.

In der Schule angekommen, fast zwei Stunden vor offiziellem Beginn, erfreute ich mich der Tatsache, dass Schulen hier so selten abgeschlossen wurden, und man eigentlich immer hinein konnte, so lange ein Schultag war. Ich stieg ins Klassenzimmer, ging den Stoff der Prüfung kurz durch, und holte Hannahs Sportsachen aus dem Spind, zog mich auf der Toilette um, legte ihre Kleidung auf ein Fensterbrett, damit sie nicht mehr so stark nach Rauch rochen, und trat wieder nach draußen.

Dort begann ich zu laufen.

Es war schwer, ich war müde, mir war übel, der Alkohol war noch nicht aus meinem Blut verschwunden, ich fühlte mich hundeelend. Aber ich gab nicht auf.

Eine Playlist auf Hannahs Handy wurde gewählt, und ich lief einige Runden in dem nahe gelegenen Park.

Hannahs Muskeln stöhnten, ich war nur unregelmäßig, wenn überhaupt, laufen gegangen. Aber am Ende fühlte ich mich besser.

Ich nahm die Möglichkeit wahr, an der Schule zu duschen, schüttelte Hannahs Kleidung vom Vorabend aus, welche deutlich schwächer nach Rauch roch, sprühte etwas Parfum auf Hannahs Hals, welches ich in weiser Voraussicht eingepackt hatte, und ging in den Klassenraum, wo ich einige meiner Mitschülerinnen fand. Sie nickten mir zu.

Ein Anfang.



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