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Ich bin bereits tot

John-Cleaver-Reihe
von

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Kapitel 2: Tu das nicht ...

Ich war gerade einmal vier Jahre alt, als ich meine Heilkräfte das erste Mal entdeckte. Mit aufgeschürften Knien saß ich in der Auffahrt unseres Hauses, das Fahrrad, von dem ich gestürzt war, lag unbeachtet neben mir. Statt zu weinen betrachtete ich interessiert die schwarz-rote Flüssigkeit, die in der Wunde zu sehen war. Da ich bereits aus dem Fernsehen – bis dahin war ich nie verletzt worden – wusste, dass eine Verletzung eigentlich nur rote Flüssigkeit hervorbrachte, wusste ich, dass es nicht nur Blut war. Die Knie verheilten, bevor ich zu einem Schluss diesbezüglich kommen könnte, aber mein Vater nahm mich an diesem Abend beiseite und erklärte mir, dass es für mich normal wäre, dass meine Wunde heilten, für andere aber nicht, dass ich deswegen niemanden verletzen und auch niemanden davon erzählen durfte. Nachdem ich ihm das versprochen hatte, ließ er mich wieder spielen und ich dachte mir nichts mehr dabei.

Aber ich erinnere mich jedes Mal daran, wenn ich darauf warte, dass sich mein Körper wieder erholt. An jenem Abend saß ich auf dem Bett unseres Motelzimmers und starrte gedankenverloren auf den Fernseher. Es war ein altes Röhrengerät, der Bildschirm flimmerte bereits, aber mich interessierten ohnehin nur die Nachrichten an sich und nicht die Bildqualität. Die Kamera zeigte dasselbe Motel in dem wir uns befanden.

Eigentlich war das nicht unbedingt einfach zu erkennen, da ich zumindest fand, dass jedes Motel so ziemlich gleich aussah und es nur kleinere Variationen gab. Dieses hier war hufeisenförmig, mit dem Parkplatz in der Mitte, aber im Moment standen kaum Autos dort, ich erkannte unseren hellblauen Mietwagen auf Anhieb. Die Zimmer waren auf zwei Etagen verteilt, unseres war im Erdgeschoss, um einfacher fliehen zu können, falls es nötig sein sollte. Es gab kaum was Schlimmeres, als aus dem Badezimmerfenster eines ersten Stocks zu klettern, wenn man gerade von einem Feind verfolgt wird. Ja, das habe ich bereits ausprobiert.

Jedenfalls waren in diesem Motel und dessen Umgebung in den letzten Wochen immer wieder Leichen gefunden worden. Glücklicherweise noch lange vor unserer Ankunft, so dass wir nicht in den direkten Verdacht geraten waren, anders als vielleicht der ein oder andere Gast. Erst am Morgen noch hatte ich gehört, wie der Einwohner im Zimmer neben uns mit einem anderen Bewohner darüber gesprochen hatte, wie störend es war, nach jedem neuen Mordfall von den Polizisten nach seinem Alibi befragt zu werden. Faren hatte eine Grimasse gezogen und mir gegenüber kommentiert, dass es den Leichen ganz bestimmt leid täte, dass sie sein Leben verkomplizierten.

Meine Haut kribbelte noch ein wenig an den Stellen, die ich mir während des Bads wundgeschrubbt hatte, um auch nur jede erdenkliche Spur Marduks wieder loszuwerden.

Zumindest war mir wieder warm, während ich unter der Decke lag, die beißende Kälte des Schnees war nur noch eine finstere Erinnerung, vergraben unter dem Schutt, den das fremde Gedächtnis hinterlassen hatte. Es war mir nicht mehr möglich, auf die Erinnerungen zuzugreifen, sie lagen nur da und waren Fremdkörper, Abfall – auch wenn ich es nicht gern so bezeichnete, immerhin hatten sie einst zu einem Lebewesen gehört, aber sobald sie erst einmal in mir waren, handelte es sich um nicht viel mehr.

Als Faren, in T-Shirt und Jogginghose, aus dem Bad kam, lenkte er mit einem Seufzen sofort seine Aufmerksamkeit auf sich. „Schaust du schon wieder Nachrichten an?“

Sein Haar fiel ihm offen über die Schulter, durch die Nässe des Wassers wirkte es wesentlich dunkler, was ihn viel älter, reifer wirken ließ. Wenn ich ihn derart sah -

„Das ist jetzt doch unwichtig geworden“, fuhr er fort. „Wir haben diesen Marduk doch getötet.“

Wir. Als ob er mehr getan hätte, als nur im Auto zu sitzen.

„Ich wollte nur wissen, ob noch mehr Dinge vorfallen“, erwiderte ich ihm.

Außerdem versuchte ich stets herauszufinden, ob die Aufnahmen live waren oder doch Archiv-Aufnahmen – das Auto war kein Indikator, wir stellten es immer auf denselben Parkplatz, direkt vor unserem Zimmer und zumindest einmal war mir das Kamerateam auch aufgefallen. Aber um sicherzugehen hätte einer von uns ans Fenster treten müssen, aber das wollte keiner von uns.

In unserem alten Zuhause wurden wir immer noch gesucht, immerhin waren wir als vermisst gemeldet worden, möglicherweise im Zusammenhang mit einem Gewaltverbrechen, und wir wollten nicht riskieren, entdeckt zu werden.

Nachdem die übliche Berichterstattung (die Toten besaßen keine Verbindung zueinander, ihnen allen fehlten die Stimmbänder, die Polizei tappte nach wie vor im Dunkeln) vorbei war, wurde wieder ins Nachrichtenstudio geblendet, zu einer Reporterin, die ein falsches Zahnpasta-Lächeln zeigte, während ihre Stirn gleichzeitig gerunzelt war und ihr Blick eindeutig eines zeigte: Angst.

Ich verstand das gut. Als letztes Jahr in meiner Heimatstadt eine Reihe an Morden stattgefunden hatte, war das auch meine erste Reaktion gewesen. Dabei war ich nicht einmal um mich besorgt gewesen, schlimmer war mir der Gedanke vorgekommen, dass jemand, den ich kannte, ihm zum Opfer fallen könnte, möglicherweise Faren oder mein Vater – und dieser war schlussendlich der letzte Tote gewesen.

Die Nachrichten fuhren mit gewöhnlichen Neuigkeiten aus der Umgebung fort, was Faren als Anlass nahm, mir die Fernbedienung abzunehmen und den Fernseher auszuschalten. Dann warf er die Fernbedienung achtlos beiseite und legte sich neben mich auf das Bett. Von ihm ging eine angenehme Hitze aus, die mich einhüllte und vor Geborgenheit fast einschlafen ließ.

„Heute war ein erfolgreicher Tag“, sagte er zufrieden.

Ich überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass er nichts getan hatte, aber das wäre eine Lüge gewesen, wie mir selbst auffiel. „Danke für das Herumfahren heute ... und ...“

Er legte seine Hand auf mein Handgelenk und unterbrach mich damit.

„Schon gut“, sagte er. „Du musst doch nicht alles aussprechen, was zwischen uns vorgeht.“

Dann zwinkerte er mir zu, weswegen ich tatsächlich stillblieb. Da war schon immer etwas an ihm gewesen, das devotes Verhalten von mir einforderte – ich konnte nichts dagegen tun, aber es ärgerte mich schon lange nicht mehr. Zumindest in einem Teil der Beziehung sollte er ruhig einmal die Oberhand haben, wenn er sonst immer zurückstecken musste.

„Eigentlich haben wir jetzt keinen Grund mehr hier zu bleiben, oder?“ Er klang fast schon traurig.

„Eigentlich nicht.“

Genau genommen freute ich mich sogar, wenn wir diesen Ort endlich verlassen könnten. Zum einen störte es mich, Regale in Supermärkten einzuräumen – auch wenn ich jetzt schon wusste, dass es in der nächsten Stadt nicht großartig anders werden würde –, zum anderen wurde ich natürlich nervös, je länger wir uns an einem Ort aufhielten. Weniger weil ich befürchtete, dass die Polizei uns doch noch auf die Spur kam – Farens gefälschte Ausweise waren überraschend gut – sondern vielmehr, weil ich der sicheren Überzeugung war, dass wir eines Tages das Ziel anderer Verwelkten sein würden, wenn wir zu lange – besonders nach einer solchen Aktion – am selben Ort blieben.

Wer sah schon gern untätig dabei zu, wie jemand all seine Freunde umbrachte? ... Im schlimmsten Fall wurden wir vielleicht auch vom FBI erwischt und das wollte ich noch weniger. Nicht zwingend wegen mir, sondern eher wegen Faren.

„Schade“, seufzte dieser. „Es war eigentlich ganz nett hier. Es lag viel Leidenschaft in der Stadt.“

Der Biss auf meine eigene Zunge, um jeden Kommentar zu umgehen, war derart schmerzhaft, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Faren bemerkte das natürlich, er schmunzelte. „Awww, Trennungsschmerz?“

Ich rieb mir die Augen, um die Tränen wieder wegzuwischen. „Idiot.“

Er rutschte näher zu mir heran und schmiegte sich an mich. „Mhm, ich kann dich auch ablenken, wenn du willst.“

Bei der von ihm ausstrahlenden Hitze, die mich nun nicht mehr nur umhüllte, sondern auch erfasste, stand mir nicht mehr der Sinn danach, weiter mit ihm zu diskutieren, obwohl das durchaus möglich gewesen wäre, wenn er glaubte, mich derart einfach manipulieren zu können – allerdings gelang ihm das durchaus, wie ich zugeben musste.

Also schloss ich einfach die Augen und ließ ihn gewähren.
 

Mehrere Stunden später erwachte ich mit hämmernden Kopfschmerzen, die mich sofort in Alarmbereitschaft versetzten. Etwas war in der Nähe, ein Verwelkter, und sein Zerstörungsdrang, wenn ich von dem Grad der Schmerzen ausging, war enorm.

Ich stellte sicher, dass Faren noch schlafend neben mir lag, dann wandte ich den Blick in Richtung des Fensters und erschrak, als ich eine Silhouette hinter dem Vorhang erkennen konnte.

Für mich gab es keine Frage, dass diese ein Verwelkter war, der zum Fenster hereinstarrte, uns beobachtete. Ich erwiderte das Starren angespannt, hoffte aber, nicht kämpfen zu müssen, vor allem nicht mit diesen Schmerzen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte der andere sich ab und ging davon. Die Schmerzen ließen langsam nach, schwanden aber nicht gänzlich. Dennoch reiche das vollkommen, dass ich mich wieder bewegen konnte. In aller Hast richtete ich mich auf und zog mich an.

Die Schmerzen blieben auf demselben Niveau, Faren wachte nicht auf.

Ohne Mantel trat ich aus dem Zimmer direkt in die Kälte, die mich mit einer beißenden Umarmung begrüßte. Ich spielte mit dem Gedanken, wieder reinzugehen und zumindest einen Schal zu holen, verwarf das aber wieder, weil meine Neugier zu groß war. Im Nachhinein betrachtet war das natürlich dumm und eindeutig eine Falle, aber in jenem Moment erschien es mir wie das beste.

Der graduell ansteigende Schmerz führte mich zu einem weiteren Zimmer, vorbei an all den Fenstern, verhüllt mit grauen Vorhängen, hinter denen blaues Licht flimmerte oder leise Geräusche zu hören waren. Die Leuchtreklame des Motels flackerte, was meine Nervosität steigerte, die grellen weißen Lichter der Straßenlaternen schmerzten in meinen gerade empfindlichen Augen, die Eismaschine summte leise, als ich an ihr vorbeikam.

Die Tür des anderen Zimmers stand offen, der Raum dahinter lag im Dunkeln – und das Zentrum meines Schmerzes befand sich genau im Inneren.

Statt zurückzugehen und Faren zu wecken, was sicher vernünftig gewesen wäre, trat ich ein und betätigte den Lichtschalter. Das weiße, dämmrige Licht der Deckenbeleuchtung erhellte den Raum und zeigte mir, was ich nicht hatte sehen wollen.

Auf dem Bett lag eine Gestalt, eine Leiche, deren Geschlecht mir nicht sofort ins Auge fiel. Der Körper lag auf dem Bauch, der Rücken war mit unzähligen Stichen – mit einem Messer? – übersehen, das Blut war sogar bis an die Decke gespritzt, es war noch rot, also war es frisch.

Ich wollte in diesem Moment die Flucht ergreifen, fort von diesem Schauplatz des Grauens, doch die noch immer umherstreifenden Erinnerungen erfassten mich, bevor ich fliehen konnte. Widerwillig nahm ich das Gedächtnis dieser Leiche in mich auf, erfuhr das viel zu kurze Leben eines Jungen, das nicht von vielen Höhepunkten durchzogen war und dessen einziger Traum es gewesen war, eines Tages einmal ein Baseball-Profi zu werden. Ein Traum, der nun nur noch in meiner Erinnerung existiert.

Ich ging nicht in die Knie, dafür war die Intensität diesmal natürlich nicht stark genug, aber mich überkam der Drang, mich einfach übergeben zu wollen. Das war ... neu und überraschte mich deswegen so sehr, dass ich kurzzeitig sogar den Schmerz vergaß. Erst als dieser schlagartig derart heftig anstieg, dass ich glaubte, mein Kopf würde jederzeit platzen, sah ich ihn.

Ein junger Mann, etwa in meinem Alter, mit schwarzem Haar, etwa wie meines, das in diesem Moment wohl wirklich genauso ungekämmt aussah wie meines. Ich glaubte erst, in einen Spiegel zu sehen, aber nachdem ich die Tränen weggewischt hatte, wurde er klarer und ich erkannte das blasse Gesicht und die wie tot erscheinenden Augen besser, beides hatte nichts mehr mit mir gemein.

Er tat nichts, stand einfach nur da und sah mich an, doch in den neuen Erinnerungen sah ich ihn mit einem Messer, mit dem er immer wieder auf mich einstach, mit einem wilden Blick, der mich zusätzlich vor Angst lähmte und mir wieder neue Tränen, diesmal vor Verzweiflung, einbrachte.

„Bitte nicht“, flüsterte ich, obwohl ich schreien wollte. „Tu das nicht ...“

Meine Stimme war derart kraftlos, dass es mich wunderte, würde ich überhaupt gehört werden – aber er schaffte es tatsächlich.

„Ich mache gar nichts“, erwiderte er mit kalter Stimme, der jegliches Mitgefühl fehlte, als würde sie so etwas wie Empathie nicht einmal ansatzweise kennen. „Ich beobachte nur.“

Ich versuchte, an den Schmerzen vorbei, mir die Unterlagen meines Vaters ins Gedächtnis zu rufen, einen Verwelkten zu finden, auf den diese Beschreibung passte, aber alle Gedanken explodierten in meinem Kopf und verknoteten sich dann zu einem unentwirrbaren neuen Knäuel, das nur darauf wartete, dass ich noch einmal Feuer legte, damit es ebenfalls explodieren konnte.

Kraftlos sank ich auf die Knie, stützte mich mit den Händen, damit ich nicht gänzlich zu Boden stürzte. Ich würgte, ohne mich übergeben zu müssen.

Der Verwelkte vor mir blickte immer noch auf mich hinab, sein Blick bohrte sich regelrecht in meinen Schädel, so dass es mir wie eine Erleichterung vorkam, als er sich endlich von mir abwandte und an mir vorbeiging. Noch immer ohne mir etwas zu tun – aber meine Gedanken waren bereits bei Faren. Dieser Verwelkte wusste, in welchem Zimmer ich lebte, ganz sicher wusste er auch, dass ich nicht allein unterwegs war.

Ich wollte die Kette einsetzen, um ihn aufzuhalten, aber die Schmerzen verhinderten meine Verbindung zu ihnen, so dass ich nichts anderes tun konnte, als weiter untätig auf dem Boden zu knien und zu warten. Eine Woge von Selbsthass spülte durch mich hindurch, als ich mir meiner Kraftlosigkeit bewusst wurde. Faren vertraute auf meinen Schutz. Wenn ihm irgendetwas geschah, ihm auch nur ein Haar gekrümmt wurde, könnte ich mir das niemals verzeihen, das beherrschte in diesem Moment mein volles Denken und verhinderte, dass ich mich auf meine Umgebung konzentrieren konnte.

Langsam ließ der Schmerz wieder nach, die Kraft kehrte in meinen Körper zurück. Ich richtete mich auf, fuhr herum – und hielt sofort wieder inne.

In der Tür standen zwei schwerbewaffnete Polizisten, noch mehr von ihnen konnte ich durch das Fenster sehen, durch das auch das grelle Licht eines Scheinwerfers fiel und mich blendete – und sie alle hielten ihre Waffen auf mich gerichtet, rote Ziellaser waren auf meinem Oberkörper verteilt.

„Auf die Knie!“, bellte eine autoritäre Stimme, noch bevor ich die Situation gänzlich erfassen konnte. „Hände hinter den Kopf!“

Zu diskutieren – vor allem, dass ich der Meinung war, dass ich eigentlich erst die Hände hinter den Kopf legen und dann auf die Knie gehen müsste – erschien mir sinnlos. Natürlich hätte ich sie aus dem Weg räumen können, aber nicht alle auf einmal – was mir viel zu viele Kugeln in den Oberkörper eingebracht hätte – und geholfen hätte mir das in meiner Situation ohnehin nicht. Wenigstens war der Schmerz gänzlich verflogen, der Verwelkte war also fort und Faren hoffentlich außer Gefahr. Aber das würde ich nur herausfinden können, wenn ich lange genug überlebte und keine dummen Entscheidungen traf.

Also sank ich langsam wieder auf die Knie zurück und legte die Hände hinter den Kopf.



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