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Sonne, Mond und Sterne

Löwenherz Chroniken III-0
von

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Heimat ohne Sterne

Nach kurzer Zeit war Stellaris aus der unmittelbaren Nähe der Wesen entkommen. Er konnte sie nicht mehr spüren, nicht mehr riechen, sein Kopf gehörte wieder ganz allein ihm. Leider half ihm das aber nicht, während er durch den schlecht beleuchteten Gang lief. Es gab Ecken, um die er gehen musste, aber keine Abzweigungen und auch keine Türen. Außer ihm gab es nur diese viel zu grellen Halogen-Leuchtstoffröhren, die bereits in seinen Augen schmerzten. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und ein wenig geschlafen, aber in diesem verlassenen Gang traute er sich das nicht.

Er hoffte, Solaris und Lloyd waren wieder zusammen und suchten bereits nach einem Weg zu ihm. Ansonsten wüsste er nicht, wie sie jemals wieder zueinander finden sollten.

Sein Mund fühlte sich trocken an, seine Kehle schmerzte bereits. Wie gern hätte er nun einfach ein Glas Wasser oder etwas anderes Flüssiges bei sich gehabt.

Ich sollte das Positive sehen: Wenigstens habe ich keinen Hunger.

Aber der Gedanke rang ihm selbst nur ein müdes Lächeln ab.

Erst als er schon gar nicht mehr glaubte, jemals einen Ausgang zu finden, kam er schließlich an eine einfache Metalltür. Er ignorierte die Warnung, dass es sich hierbei um eine Feuerschutztür handelte (wie sollte eine Tür auch vor Feuer schützen?), öffnete sie und ging hindurch.

Statt in einem Gang, befand er sich nun – endlich – in einem offenen Bereich. Im ersten Moment glaubte er sogar, wieder im Freien zu sein, aber als er den Kopf in den Nacken legte, sah er keinen Himmel. Es war dunkel, was an der Asphaltdecke über ihnen liegen mochte. Zahlreiche ausrangierte Waggons und Wohnwägen standen hier zwischen Zelten, Stoff-Pavillons und notdürftig aufgehängten Decken, um sich von anderen abzugrenzen. Licht existierte nur aufgrund einiger blauer Lampen, teilweise wegen mit Generatoren betriebene Scheinwerfern und auch wegen einer Tonne, in der ein helles Feuer loderte. Dort hatten sich einige Personen versammelt, die er nur als Silhouette wahrnehmen konnte. Aber sie unterhielten sich so sorglos und friedlich, dass er jegliche Vorsicht vergaß und sich ihnen näherte. Vielleicht, nur vielleicht, könnten sie ihm auch etwas zu trinken geben. Diese Hoffnung war genug, um ihn jegliche Angst vergessen zu lassen.

Sich nähernd, konnte er entdecken, dass die Personen um das Feuer zerlumpte und verschmutzte Kleidung trugen. Ihre Haare waren fettig, sofern sie nicht Mützen trugen, um sie zu verstecken, aber die Wunden in ihren Gesichtern, die roten Äderchen auf den Nasen oder im Weiß ihrer Augen und die aufgerauten Hände konnten sie nicht verstecken. Doch trotz des im ersten Moment furchterregenden Anblicks, fühlte er eine Woge von Freundlichkeit von ihnen ausgehen.

Als er aus der Dunkelheit in den Feuerschein trat, verstummte das Gespräch, alle Blicke richteten sich auf ihn. Er wusste nichts zu sagen, deswegen lächelte er so harmlos wie möglich, während er die wertenden Augen auf sich ertrug. Aus der Nähe konnte er sagen, dass sie alle freundlich aussahen, es war lediglich gesundes Misstrauen, das an ihren Blicken hafteten.

Schließlich trat eine ältere Frau aus der Gruppe heraus. „Wie siehst du nur aus, mein Junge? Wo kommst du her?“

Ihre Stimme klang wirklich besorgt, so dass er ihr bedenkenlos antwortete: „Von da hinten, aus der Tür. Ich war in diesem langen Gang und da-“

„Ich verstehe schon, Junge“, unterbrach sie ihn. „Du hast bestimmt Durst. Ja, das wusste ich doch, das sehe ich dir an.“ Sie trat zurück ans Feuer und bückte sich nach etwas, dann kam sie mit einer hellen Lampe wieder zum Vorschein. „Komm mit mir, Junge, ich gebe dir etwas zu trinken.“

Stellaris bedankte sich direkt, nickte den anderen zu und folgte schließlich der Frau, die sich von den anderen löste und mit bestimmten Schritten davonging. Im Licht ihrer Lampe konnte er einen noch besseren Blick auf diese kleine Siedlung werfen. Verängstigte Menschen huschten zwischen den Zelten und anderen Einrichtungen umher, blieben aber immer lange genug stehen, um ihn interessiert zu mustern. Er erwiderte jeden einzelnen neugierigen Blick mit einem Lächeln, worauf sie wieder beruhigt schienen und weiter ihrem Alltag nachgingen. Jeder von ihnen war in alte Kleidung oder Lumpen gehüllt, die Gesichter und Hände schmutzig.

„Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte Stellaris.

Die Frau lachte, aber es klang ein wenig spöttisch und ungläubig. „Weißt du das wirklich nicht, Junge? Das hier ist der einzige Ort, an dem man Leute wie uns noch duldet. Hier muss man uns ja nicht sehen.“

Also waren sie wohl wirklich immer noch im Untergrund. Aber es roch hier wesentlich besser als in der Kanalisation, deswegen konnte er sich nicht wirklich mit sich selbst einigen. Weitere Fragen dazu empfand er aber auch als sinnlos, deswegen ging er zu einer anderen über: „Was bedeutet, Leute wie ihr? Was seid ihr denn für Leute?“

Sie lachte wieder. Offenbar waren seine Fragen wirklich ungewöhnlich. Vielleicht hätte man ihm doch noch ein paar Dinge mehr beibringen sollen, ehe er das Waisenhaus verlassen hatte.

„Entweder bist du der dümmste Junge, der mir je untergekommen ist, oder der naivste. Wir sind Obdachlose. Nun schau nicht so fragend. Leute, die alles verloren haben, sogar ihr Dach über dem Kopf und jetzt zusehen müssen, wie sie überleben.“

Das stellte er sich anstrengend vor. Aber gleichzeitig: „Warum geht ihr nicht einfach dorthin zurück, wo ihr aufgewachsen seid?“

Er glaubte, er könnte jederzeit nach Peligro zurückkehren. Er würde es nicht wollen, aber er war überzeugt, dass Master ihn auch nicht ablehnte, wenn er eines Tages wieder vor der Tür stand. Menschen wuchsen normalerweise in Familien auf – also müssten sie doch einfach wieder zu diesen zurückgehen können, oder?

„Das ist nicht ganz so einfach. Manche von uns haben keine Familien mehr, deswegen sind sie hier. Und andere sind zu stolz, um zu ihnen zurückzukehren.“

Stolz konnte also hinderlich sein. So hatte er das noch nie gesehen. Traf das vielleicht auch auf Lloyd zu? Er müsste ihn genauer beobachten, wenn sie wieder zusammen waren. Hoffentlich trafen sie sich auch wirklich irgendwie wieder.

„Ist es nicht traurig, hier unten leben zu müssen?“

Bei einem Wohnwagen blieb sie wieder stehen. „Warum sollte es traurig sein? Wir sind hier doch alle zusammen, keiner ist allein. Wir könnten uns kaum mehr wünschen.“

Er musste wieder an das Waisenhaus denken, daran wie einsam jeder dort war, obwohl sie alle im selben Haus, teilweise sogar im selben Schlafsaal lebten. Aber keiner vertraute dem anderen, sie waren alle auf sich allein gestellt und dadurch unglücklich, ohne es wirklich zu wissen.

Die Frau verschwand im Inneren des Wohnwagens und kam nach wenigen Sekunden schon wieder heraus. Sie hielt ihm eine Flasche Wasser entgegen, die er ihr unter großem Dank abnahm. Noch nie in seinem Leben hatte sich das kühle Nass derart gut und erfrischend angefühlt. Seine Kehle dankte ihm inbrünstig, er trank so schnell, dass er sich fast daran verschluckte. Schließlich war die Flasche leer – und er zufrieden. „Ah, das habe ich wirklich gebraucht.“

Wie lang mochte er in diesem Gang gewesen sein? Wussten die Menschen hier von diesen Zombies in ihrer Nähe? Hatten sie keine Angst?

Er fragte nicht nach den Wesen, aber doch nach der Furcht.

Die Frau hatte sich inzwischen auf die Stufen ihres Wohnwagens gesetzt und beäugte ihn nach dieser Frage wieder mit einem eher mitleidigen Blick. „Du bist mir vielleicht ein kleiner Simplici.“

Er hakte nicht nach, was das war, denn sie klang eher amüsiert denn bösartig, als sie das sagte.

„Jeder Mensch hat Angst vor irgendetwas, sogar vor dem Leben selbst manchmal. Und natürlich haben wir Angst, aus irgendeinem Grund zu sterben. Aber wir haben auch Hoffnung und die ist es, die uns immer weitermachen lässt.“

„Hoffnung?“

Das einzige Mal, dass er sie wirklich empfunden hatte, war bei seinem Bruder gewesen, der friedlich in seinem Krankenbett schlief. Er hoffte, dass er aufwachte, dass er Teil des Lebens wurde. Teil seines Lebens. Seine Hoffnung war komplett egoistisch.

„Egoismus ist eine gute Sache“, erwiderte sie ihm, nachdem er ihr das mitgeteilt hatte.

„Wie kann es eine gute Sache sein? Es bedeutet doch, nur an sich zu denken.“

„Es ist gut, die anderen im Kopf zu behalten und ihnen auch Gefallen zu tun. Aber wenn du in manchen Situationen lieber an dich denkst statt dauernd nur an andere, dann lebst du im Idealfall länger. Und die Leute, die dir etwas bedeuten, werden ebenfalls länger leben, weil dein Egoismus auch ihnen dient.“

War das wirklich der Fall? Er war sich da nicht so sicher, aber vielleicht fehlte ihm die Erfahrung. Sein Leben hatte bislang nicht viele Gelegenheiten geboten, um diese zu sammeln.

Er gab ihr die Flasche zurück. „Ich hoffe, mein Egoismus kann da wirklich helfen. Bislang bin ich mir da nicht so sicher.“

„Leben bedeutet auch, hin und wieder Fehlschläge einzustecken. So sind wir im Endeffekt hier gelandet. Und nun machen wir das Beste daraus und sind den Umständen entsprechend glücklich.“

Waren sie das wirklich oder redeten sie sich das nur ein, um nicht unter den jetzigen Umständen zu leiden? Oder war es wichtig, auch dann glücklich sein zu können, wenn das Leben nicht so verlief, wie man es wollte? Er wagte nicht, danach zu fragen.

Wichtiger war im Moment doch etwas anderes: „Wie komme ich von hier wieder in die Stadt zurück?“

Im Untergrund nach Solaris und Lloyd zu suchen, kam ihm wie vergeudete Lebenszeit vor. Deswegen hielt er es für intelligenter, zurück in ihr Zimmer zu gehen. Dorthin würden sie schließlich auch irgendwann kommen, wenn sie wieder klar wurden. Selbst wenn er sich nicht in der Stadt auskannte, gab es dort die Möglichkeit, Leute nach dem Weg ins Hotel zu fragen.

Die Frau stand wieder auf und ersetzte die leere Flasche in ihrer Hand durch die Lampe. „Ich bringe dich zur Treppe. Wir gehen nur selten raus, sonst würde ich dich bis nach Hause begleiten.“

Während er ihr folgte, fragte er sich, weswegen sie es bevorzugten, hier unten zu leben und nicht einmal täglich hinauszugehen. War es Furcht? Oder bevorzugten sie es einfach, unter sich zu bleiben? Auch das fragte er nicht, weil er nicht glaubte, dass sie ihm eine gute Antwort darauf liefern könnte.

Je weiter sie liefen, desto leiser wurden die Stimmen, desto unscheinbarer die Lichter, bis alles von der Dunkelheit verschluckt wurde. Die Lampe war im Moment das einzige, was ihn noch sehen ließ, wohin sie gingen, und ihre von den Wänden widerhallenden Schritte waren das einzige, was er hörte. Es ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.

Umso glücklicher war er, als er irgendwann das Geräusch von tropfendem Wasser vernahm. Bald darauf sah er auch einen schwachen Lichtschein in der Entfernung, dem sie sich rasch näherten.

Dort angekommen bemerkte er, dass das weißliche Licht durch einen vergitterten Schacht in der Decke fiel. Durch diesen tropfte auch Wasser herab, das von einer großen Wanne aufgefangen wurde. Deren Boden war vollkommen mit schmutzigem Wasser bedeckt.

„Damit waschen wir unsere Wäsche. Es ist nicht das beste Mittel dafür, aber besser als sie nie zu waschen.“

Dem musste er zustimmen. Aber mit den Vorzügen der modernen Wasserleitungen, konnte er noch weniger verstehen, warum jemand lieber hier war als oben.

„Vielleicht ist es auch eine Art von Flucht“, gab sie schließlich zu. „Hier unten sind die Anforderungen geringer als oben. Aber ich denke nicht, dass man jemandem einen Vorwurf daraus machen kann. Jeder wird auf seine eigene Weise glücklich.“

Die Worte berührten etwas in seinem Inneren, dessen Anwesenheit ihm bislang nicht einmal bewusst gewesen war. Sobald er wieder in seinem Zimmer war, nahm er sich vor, würde er eingehender darüber nachdenken.

Sie öffnete ihm die Stahltür, dahinter kam eine Treppe zum Vorschein. Das hereinfallende helle Licht blendete ihn, so dass er mehrmals blinzeln musste. In dieser Zeit schob sie ihn sanft zur Tür hinaus. „Sei vorsichtig auf deinem Heimweg, mein kleiner Simplici. Du willst ja nicht, dass dich die Monster der Realität fressen, oder?“

Ehe er darauf reagieren konnte, fiel die Tür hinter ihm zu. Er starrte auf den weißen Lack, unsicher, ob die Frau wirklich existiert hatte oder ob zumindest manches an ihr nur seiner Einbildung entsprungen war. In diesem Moment kam es ihm jedenfalls vor, als wäre er der letzte Mensch auf der Welt. Selbst der Blick in den Himmel machte ihm nun ein wenig Sorge. Vielleicht verstand er ja doch ganz gut, weswegen sie lieber dort unten blieben. Aber er gehörte eben hierher.

Er lief die Treppe hinauf. Sie führte ihn in den Hof einer Firma, in der offenbar gerade nicht gearbeitet wurde. Kein Rauch kam aus den Kaminen, kaum ein Auto befand sich auf dem Hof. Allerdings bedeutete das auch, dass das Tor geschlossen war. Oberhalb davon waren scharf aussehende Spitzen angebracht, er bezweifelte also, dass er einfach darüber hinweg klettern könnte.

Er lief am Gebäude entlang, um einen anderen Weg zu suchen, warf einen Blick durch die Fensterscheiben, konnte aber nur Büroräume entdecken. In manchen standen Familienfotos auf den Tischen, in anderen hingen Motivationsposter an den Wänden. Aber diese Normalität wirkte auf ihn plötzlich viel gestellter, nachdem er dort unten gewesen war. Er hoffte nur noch, dass die beiden anderen schon im Hotel waren.

An der Ecke führte ein Weg nach rechts, der, wie er hoffte, ihn zurück auf die Straße bringen könnte. Er bog um diese Ecke – und sah sich einer Person gegenüber, mit der er hier nicht gerechnet hätte: „Kata? Was machst du denn hier?“

Sie antwortete ihm nicht, sondern sah ihn nur an. Ihre Anwesenheit, fern von allen Menschen, wirkte so deplatziert, dass er glaubte, sich das nur einzubilden. Deswegen wollte er auf sie zugehen, nach ihrer Hand greifen, aber ihr plötzliches unheimliches Lächeln ließ ihn innehalten.

„Hinter dir~“, flötete sie mit süßlicher Stimme.

Er blinzelte irritiert, drehte sich um – und spürte einen heftigen Schmerz, als würde sein Kopf geradewegs bersten. Er fühlte noch, wie er zu Boden stürzte, hörte Kata leise lachen, dann wurde er von vollkommener Dunkelheit eingehüllt, in der es nicht einmal mehr Sterne gab.



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