Prolog: Charon
Kieran erwachte mit einem erschrockenen Ausruf, einem heftigen Einatmen und dem sofortigen Griff an seine Brust. Obwohl er erwartete, dass sich dort ein Messer oder zumindest eine Wunde befinden müsste, war nichts Derartiges zu spüren.
Und bei genauerem Betrachten von dem, was er sehen konnte, während er so auf dem Rücken lag, fiel ihm auf, dass es sich bei diesem Ort nicht um sein Haus handelte. Die Decke dieses Raumes schien endlos weit entfernt und in der Dunkelheit zu verschwinden, aber die Stufen der Wendeltreppe neben ihm waren deutlich zu sehen. Immerhin waren auf dem dazugehörigen Messinggeländer genug Kerzen angebracht, um sie erkennen zu können.
Während er sich noch zu orientieren versuchte, richtete er sich auf und achtete dabei weiterhin darauf, ob sein Körper schmerzen würde. Er traute dem Frieden noch nicht, weil er auch nicht so recht wusste, ob er sich nicht vielleicht im feindlichen Gebiet befand. Es war durchaus möglich, dass sein Tod lediglich die Illusion eines Dämons gewesen war und er sich eigentlich mitten im Kampf befand, selbst wenn er sich nicht an diesen erinnerte.
„Es gibt keinen Grund, so angespannt zu sein.“
Kierans Kopf ruckte herum, so dass er den unerwarteten Sprecher gleich in Augenschein nehmen konnte. Doch als er diesen tatsächlich entdeckte, fiel sämtliche Kampfbereitschaft sofort von ihm ab.
„Du bist ... der Leichenwärter.“ Kieran fand, dass seine eigene Stimme fremd klang; obwohl er sprach, konnte er nicht glauben, dass es wirklich er selbst war, der diese Feststellung machte.
Sein Gegenüber, der die ganze Zeit schon gelächelt hatte, schien von dieser Aussage derart amüsiert zu sein, dass sogar seine lavendelfarbene Augen zu glitzern begannen. „Oh, du erinnerst dich an mich.“
Kieran hatte ihn nie vergessen. Die femininen Gesichtszüge, das zusammengebundene dunkelbraune Haar, die feingliedrigen Finger, die wie Spinnenbeine anmuteten ... oft war er von dieser Gestalt, der er nur ein einziges Mal begegnet war, in seinen Träumen heimgesucht worden. Und je älter er geworden war, desto regelmäßiger waren diese Träume gekommen. Er konnte sich nicht mehr an den Inhalt erinnern, aber sie alle waren furchteinflößend gewesen, selbst für einen Lazarus. Deswegen hatte er sie wohl verdrängt.
„Wer bist du wirklich?“, fragte Kieran.
Es verwunderte ihn, dass er nicht im Mindesten angespannt war, aber als er tatsächlich versuchte, sich dem anderen gegenüber feindselig zu verhalten, gelang ihm das nicht. Es war, als machte eine unsichtbare Macht es ihm unmöglich, seinen Gegenüber zu hassen.
Vorerst verbannte er diesen Gedanken allerdings in seinen Hinterkopf und wartete auf die Antwort, die auch prompt kam: „Ich bin Charon.“
Kieran war wirklich froh, dass er gerade nicht sehen musste, wie sein Gesicht aussah. Die Überraschung und Verwunderung über diese Eröffnung, stand ihm sicher in selbiges geschrieben. Charon zumindest konnte darüber lachen. „Ja, genau, der Charon.“
Jeder in Király wusste, dass dies der Name des Wächters der Toten war, der die Verantwortung dafür trug, dass jeder Verstorbene seinen Weg ins Jenseits fand. Wenn man ihm gegenüberstand, gab es dafür nur eine einzige Erklärung.
„Dann bin ich wirklich tot“, stellte Kieran sachlich fest.
„Ich fürchte, dem kann ich nicht widersprechen.“ Sein Gegenüber neigte den Kopf ein wenig und wirkte dabei nicht im Mindesten so furchteinflößend, wie ihn seine fast vergessenen Träume glauben ließen. „Aber du siehst nicht so aus, als wärst du sonderlich traurig darüber.“
Kieran verschränkte die Arme vor der Brust. „Irgendwann wäre es ohnehin soweit gewesen, nicht wahr?“
Er machte sich keine Illusionen darüber, besonders als Lazarus wusste man immerhin, dass man sich mit dem Thema Sterben auseinandersetzen musste. Ihm war es bislang sogar angenehm lange gelungen, zu überleben. Nur die Identität seines Mörders ärgerte ihn noch immer und das spürte Charon offenbar deutlich: „Aber es muss doch so ärgerlich sein, dass du von Landis getötet werden konntest, oder? Ein so erfahrener Lazarus wie du, lässt sich von einem Dämon hereinlegen, der sich mit einem kleinen Jungen verbündet ...“
Kieran zeigte es nicht, aber das zu hören, erleichterte ihn ein wenig. Landis war also wirklich nicht aus eigenem Antrieb gekommen, um ihn zu töten, stattdessen hatte ein Dämon den Jungen – und vermutlich dessen Hass auf Kieran – genutzt, um die Barriere, die auf Cherrygrove lag, zu überlisten und sogar in sein Haus einzudringen.
„Es kümmert mich nicht“, erwiderte er. „Solange Nolan sicher ist ...“
Doch er stutzte, als ihm an dieser Stelle ein Gedanke kam, der ihm nicht gefallen wollte. „Ist Nolan denn sicher?“
Charons Gesicht schien aufzuleuchten, also hatte er eben wohl richtig geraten. Während sich das ungute Gefühl bereits in seinem Inneren ausbreitete, sprach der Wächter der Toten bereits wieder: „Da kommen wir endlich zu dem Punkt, wegen dem du hier bist!“
Für den Wächter der Toten klang er ungemein und fast schon entnervend fröhlich, wie Kieran feststellte. Er runzelte die Stirn und wartete schweigend auf eine weitere Aussage, die auch gleich darauf kam: „Genau genommen sind es zwei Punkte. Zum einen ist Nolan in diesem Moment natürlich nicht sicher. Dieser eine Dämon hatte es vielleicht auf dich abgesehen, aber du weißt genauso gut wie ich, dass es da noch ganz andere gibt. Von den Lazari, die ihn unbedingt auf seiner Seite haben wollen, gar nicht erst zu reden.“
Kieran dachte auch nicht sonderlich gern daran, dass nun eine ganze Organisation hinter Nolan her sein würde, dass sie versuchen würden, ihn zu töten, damit er wiederauferstehen und sich ihnen anschließen könnte. Dass die Dämonen ein ähnliches Ziel verfolgten, ohne den Teil des Anschließens, gefiel ihm noch weniger.
Das regte nun wirklich Panik in ihm. Wer sollte auf Nolan achten, wenn nicht er? Wer sollte ihn vor den Lazari oder den Dämonen schützen?
Aber er schuldete es dem Jungen auch, dass er zumindest versuchte, ruhig und rational zu bleiben.
„Gibt es einen Grund, warum du mir das sagst?“, fragte Kieran daher.
Charon nickte lächelnd. „Sogar einen sehr wichtigen.“
Dann hob er einen Zeigefinger. „Es gibt noch genau einen Dämon, der in Cherrygrove umgeht und Nolan zu schaden versucht. Bislang konnte er nichts tun, aber das bedeutet ja nicht, dass es so bleiben wird. Du musst ihn finden und unschädlich machen.“
„Das klingt in der Theorie ganz nett“, wandte Kieran ein, „aber ich bin tot, schon vergessen?“
„Und ich kann dich nicht zurückschicken“, bestätigte Charon, „allerdings trifft sich das hervorragend mit dem zweiten Punkt, wegen dem du hier bist.“
„Bin ich denn etwa nicht ganz tot?“
Gut, dieser Ort war wirklich nicht wie er sich das Jenseits vorgestellt hätte – schon allein, weil es in seiner Vorstellung nicht so einsam gewesen war. Egal, wohin er blickte, überall verlor die Umgebung sich in undurchdringbarer Dunkelheit, nur die erleuchtete Wendeltreppe war zu sehen und verriet damit eindeutig, dass er diese noch würde hinaufgehen müssen.
Aber vielleicht war er wirklich noch nicht tot, sondern befand sich nur in einer Art Koma und das hier war nur eine Möglichkeit, wieder zurückzukommen. Aber Charons folgende Aktionen und Worte zerstörten seinem flüchtigen Hoffnungsschimmer.
Er neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite. „Nun, natürlich bist du das. Aber ich bin der Wächter der Toten, nicht wahr? Ich geleite Seelen hinüber ins Jenseits, aber nur, falls sie soweit sind – und du bist es nicht. Nicht nur, dass du diesen Dämon töten musst, es ist wichtig, dass du die Tür am oberen Absatz dieser Treppe erreichst.“
Dabei deutete er hinauf, wobei Kieran seinem Fingerzeig mit den Augen folgte. „Und was soll dort drin sein?“
Da sich die Treppe trotz der Kerzen auch irgendwann im Dunkeln verlor, sah er wieder Charon an, der sich einen Finger an die Lippen hielt und ihm zuzwinkerte. „Das ist ein Geheimnis~.“
Ja, für einen Totenwächter wirkte er tatsächlich viel zu lebhaft für Kierans Geschmack, aber er wollte sich auch nicht darüber beklagen. Stattdessen hob er ratlos die Schultern. „Und wie genau soll ich das alles denn nun anstellen?“
„Na, ich schicke deine Seele zurück. Deinen Körper kann ich natürlich nicht wiederherstellen, schon allein, weil das zu einigen seltsamen Fragen führen würde, aber als Geist machst du dich bestimmt auch gut und das genügt, um nach Dämonen zu suchen.“
Das behagte Kieran nicht im Mindesten. Zum einen war er sich nicht sicher, ob seine Fähigkeiten selbst als Geist noch funktionsfähig wären und andererseits wollte er eigentlich nicht zurück und sich dabei nur ansehen, dass niemand ihn vermisste und wohl eher alle glücklich über seinen Tod waren, mit Ausnahme von Richard ... vielleicht.
Aber es ging immerhin um Nolan.
„Fein, ich mache es.“
„Perfekt“, kommentierte Charon. „Aber es gibt noch einen Haken an der Sache.“
Kieran runzelte die Stirn, am Liebsten hätte er geseufzt, aber er behielt seine Frustration für sich.
„Du hast nur eine Woche Zeit dafür.“
Das war in seinen Augen kein richtiger Haken. Er benötigte eigentlich nie so viel Zeit für das Aufspüren und Vernichten von Dämonen – und als Geist würde er sicher auch keine dieser weltlichen Bedürfnisse haben, die seine Jagd nur verzögerten. Außerdem musste er nicht gleichzeitig versuchen, sozial zu sein, denn wenn ihn ohnehin niemand wahrnahm, war es auch egal, wie er sich verhielt, was ihm gleich noch mehr Zeit verschaffte. Und eine Treppe zu besteigen war nun wirklich keine Sache, für die er sieben Tage brauchen dürfte.
„Geht in Ordnung“, sagte er daher. „Ich kriege das hin.“
Ein feines, offenbar ernst gemeintes, Lächeln breitete sich auf Charons Gesicht aus. „Das freut mich zu hören. Dann werde ich dich nun zurückschicken, damit du mit deiner Untersuchung anfangen kannst. Jeden Tag um Mitternacht wirst du für eine Stunde zurückkehren, um die Treppe in Angriff zu nehmen, der Rest der Zeit steht zu deiner freien Verfügung.“
Ein helles Licht tanzte auf Charons nach oben gerichteter Handfläche und hüllte bald auch Kieran ein. Doch bevor etwas mit ihm geschehen konnte, sah er noch einmal das Lächeln des Totenwächters, als er ihm eine Botschaft mit auf den Weg gab: „Es gibt im Übrigen eine Person in Cherrygrove, die dich sehen kann. Finde diese Person, um eine Verbindung zu den Lebenden zu besitzen.“
Kieran wollte bereits darüber nachdenken, wen er damit nur meinen könnte, aber das Licht vernebelte seine Gedanken, weswegen er sie nicht gänzlich festhalten oder sie gar gebrauchen konnte, um zu einem Schluss zu kommen.
Charons folgende Worte reichten aber bereits aus, um ihn zu beruhigen: „Denk immer daran, Kieran: Du bist nicht allein.“
1. – Tag I: Verleugnung
Dieses Mal erwachte Kieran wesentlich sanfter. Er öffnete blinzelnd die Augen, starrte einen kurzen Moment gedankenverloren an die vertrauten Deckenbalken seines Zimmers und legte sich dann eine Hand auf die Stirn. „Was für ein seltsamer Traum.“
Zu seiner eigenen Verwunderung erinnerte er sich noch äußerst gut an diesen Traum, in dem er durch Landis' Handeln gestorben und bei Charon erwacht war, nur um als Geist zurückgesendet zu werden, um einen Dämon zu fangen, der hinter Nolan her sein sollte. Es war geradezu lächerlich und je länger er darüber nachdachte, desto seltsamer wurde es.
Also verwarf er den Gedanken lieber und erhob sich von seinem Bett. Es überraschte ihn ein wenig, dass er vollständig angezogen war, aber er machte sich nichts weiter daraus – vielleicht war er am Vorabend nur zu müde gewesen, sich umzuziehen, das kam manchmal vor – und verließ sein Schlafzimmer, um nach Nolan zu sehen.
Bevor er dessen Zimmer erreicht hatte, hörte er bereits, wie die Haustür geöffnet wurde, gefolgt von Nolans Stimme: „Ganz sicher, Tante Asti. Mach dir keine Gedanken.“
„Ich bin ja nur ein wenig besorgt, wenn du hier jetzt ganz alleine lebst“, hörte er, Asterea erwidern; er konnte sich richtig vorstellen, wie sie dabei die Hände vor der Brust faltete.
An der Treppe angekommen, ging er einige Stufen hinunter, dann hielt er wieder inne, da sein jetziger Blickwinkel durchaus genügte, um zur Haustür hinüberzusehen. Tatsächlich stand Asterea mit gefalteten Händen da, während Nolan ihr gegenüber nervös von einem Fuß auf den anderen wippte.
„Es wird schon gehen“, versuchte der Junge es noch einmal. „Ich bin kein kleines Kind mehr.“
Mit einem Seufzen gab Asterea sich geschlagen. „Ich weiß, ich weiß. Aber falls irgendetwas sein sollte, kannst du jederzeit zu uns kommen, das weißt du doch, oder?“
„Natürlich.“ Nolan klang resigniert, ganz und gar nicht, wie sein sonstiges Ich, als hätte er dieses Gespräch in der letzten Zeit viel zu oft geführt.
Es rührte geradewegs an Kierans Herz, weswegen er die Treppe eilig hinter sich ließ, den seltsamen Fleck auf dem Boden ignorierte und dann ebenfalls auf den Eingang zuging. Doch bevor er etwas sagen konnte, verabschiedete Nolan sich bereits von Asterea und schloss die Tür, ehe er sich mit dem Rücken dagegen lehnte. Der Junge stieß ein Seufzen aus, das direkt aus den Tiefen seiner Seele zu kommen schien und das Kieran noch nie zuvor von ihm gehört hatte, weswegen er abrupt wieder stehenblieb.
„Was ist los, Nolan?“, fragte er mit seiner gewohnt kühlen Stimme, um sich die Sorgen nicht anmerken zu lassen. „Hast du dich mit Landis gestritten?“
Das würde zumindest seine düstere Stimmung erklären – aber er bekam keine Antwort.
Nolans grüne Augen, die sonst vor Leben sprühten, blickten stumpf direkt durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht anwesend. Es ließ ihn wieder an seinen Traum der letzten Nacht denken, aber noch schaffte er es, diesen erfolgreich zurückzudrängen und nicht zu nah an sich herankommen zu lassen. Noch wollte er nicht akzeptieren, was das alles bedeutete.
„Redest du jetzt nicht mehr mit mir?“, fragte Kieran stattdessen.
Nolan stieß sich von der Tür ab und strebte an ihm vorbei zur Treppe, wo er noch einmal innehielt. Dort starrte er auf den Fleck auf dem Holzboden, den jemand zu entfernen versucht hatte, nur um im Endeffekt daran zu scheitern. Die ursprüngliche Flüssigkeit mochte vielleicht nicht mehr zu sehen sein, aber der dunkle Umriss war noch immer deutlich erkennbar und rief jedem, der davon wusste, den Vorfall sofort wieder ins Gedächtnis.
Auch Kieran, der plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust spürte, weswegen er sich gedankenverloren an diese Stelle griff – nur um festzustellen, dass seine Hand, nein, sein ganzes Hemd sogar, plötzlich voller Blut war. Er spürte, wie er in Panik zu geraten drohte, wie die Schlussfolgerung daraus sich ihren Weg durch sein Gehirn bahnte und versuchte, gleichmäßig zu atmen, um sich wieder zu beruhigen.
Da ihm das nicht gelang, solange er seine blutige Hand anstarrte, schloss er die Augen und wiederholte immer wieder den Gedanken, dass dies nur ein Produkt seiner Einbildung war, dass es sich hierbei nicht um sein Blut handeln konnte, dass er das alles nur träumte, er war am Leben, verdammt!
„Papa.“ Nolans Stimme durchdrang seine finsteren Gedanken wie ein Lichtstrahl die Nacht und beruhigte ihn sofort wieder.
Als Kieran seine Augen öffnete, war das Blut verschwunden. Aber entgegen seiner Hoffnungen hatte Nolan ihn nicht angesprochen, stattdessen kniete der Junge nun auf dem Boden, seine Hand lag auf dem Fleck, als wäre dies die einzige Möglichkeit, noch mit ihm zu kommunizieren.
Kieran schüttelte den Kopf über so viel Unverstand, gratulierte Nolan aber gleichzeitig zu seinem Ehrgeiz, dieses Spiel noch weiterzuführen. Sicher hatten sie sich am Tag zuvor nur über irgendetwas gestritten, weswegen Nolan nun so tat, als wäre Kieran nicht mehr da, genau das musste es sein – und der Fleck spielte dabei sicher eine Rolle. So wie er es einschätzte, war dem Jungen einfach etwas auf den Boden gefallen. Das war die einzige Erklärung.
Ich lebe immerhin.
Diesen Schluss zog er zwar nur daraus, dass er sich nicht sonderlich wie ein Geist fühlte – wie auch immer sich das anfühlen mochte – und sein Gespräch mit Charon musste einfach ein Traum gewesen sein. Alles andere war einfach nur absurd, selbst für einen Lazarus.
Also streckte er die Hand aus, um nach Nolan zu greifen – und wünschte sich im selben Moment, er hätte es nicht getan.
Seine Hand glitt geradewegs durch Nolans Körper hindurch, als wäre dieser gar nicht vorhanden.
Es war ihm unmöglich, die Wahrheit weiter zu ignorieren, nachdem er das gesehen hatte. Egal wie sehr er sie nun immer wieder von sich wegschob, sie kroch wieder zu ihm herüber, schlang sich an ihn und starrte direkt in seine Augen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, den Blick abzuwenden.
Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein!
Ich muss das träumen! Das ist alles nur der Teil eines großen Traumes!
Es war die beste Erklärung, die er finden konnte und er empfand sie auch als nicht zu weit gegriffen. Immerhin stand er immer unter großem Stress und die eigene Sterblichkeit war ihm stets bewusst gewesen, also war es doch nur verständlich, dass er sogar davon träumte, verstorben, aber unfähig zu sein, Nolan allein zurückzulassen.
Doch noch während er sich dieses wunderbare Konstrukt baute, das ihm helfen sollte, seinen Verstand zu wahren, spürte er wieder, wie Blut aus einer Wunde auf seiner Brust zu fließen begann, als würde ihn ein kleiner Teil seines Gehirns daran erinnern wollen, dass er nicht träumte und wie es hierzu überhaupt gekommen war. Er müsste der Wahrheit ins Auge sehen, so schwer es ihm im Moment auch noch fiel und so wenig er das wollte.
Es kann einfach nicht sein! Wie konnte das passieren?
Ein plötzlicher Ausruf von Nolan holte ihn erneut in die Gegenwart zurück. Der Junge war aufgesprungen und rannte nun die Treppe hinauf, allerdings nicht, um in sein eigenes Zimmer zu gehen. Kieran folgte ihm rasch bis in sein eigenes Schlafzimmer, wo Nolan einfach nur bewegungslos dastand und auf das leere Bett starrte.
Instinktiv griff er noch einmal nach der Schulter des Jungen, um ihn zumindest ein wenig zu trösten, doch seine Hand ging erneut durch ihn hindurch, ohne den gewünschten Trost zu spenden.
„Es wäre auch zu schön gewesen“, murmelte Nolan, fuhr herum und lief durch Kieran hindurch, um nun tatsächlich sein eigenes Zimmer aufzusuchen.
Eigentlich wollte Kieran ihm folgen, aber eine andere Erkenntnis hielt ihn in diesem Moment an Ort und Stelle fest: Nolan vermisste ihn. Nolan, der sich eigentlich daran erinnerte, dass Kieran ihn gequält und misshandelt hatte, Nolan, der eigentlich froh sein sollte, dass Kieran tot war, vermisste ihn! Er trauerte um ihn!
Auch wenn das Ereignis eine traurige Sache blieb, stimmte diese Erkenntnis ihn irgendwie glücklich. Nach allem, was er getan hatte, um Nolan zum Heilbringer der Lazari werden zu lassen, liebte der Junge ihn immer noch – was ihn nur noch einmal in seinem Denken verstärkte, dass Nolan genau die richtige Person war, um die Lazari von ihrem Schicksal zu erlösen.
Und genau dieses Thema lenkte ihn wieder auf etwas anderes zurück: Ich muss die Person finden, die mich sehen kann. Ich muss dafür sorgen, dass Nolan auf jeden Fall sicher bleibt!
Er war davon überzeugt, bereits zu wissen, wen Charon gemeint hatte, weswegen er rasch das Haus verließ – praktischerweise ohne die Tür öffnen zu müssen – und sich auf den kurzen Weg zu Richards Haus machte.
Im Gegensatz zu seinem besten Freund kannte Kieran das Geheimnis hinter Asterea. Er wusste, dass sie die Sternennymphe war, auch wenn sie das vor jedem, besonders vor Richard, zu verheimlichen versuchte. Kieran war nicht ganz so naiv und leichtgläubig und er glaubte nicht an derart viele Zufälle, wie sie bei Asterea zusammenkamen. Sie war also ein Naturgeist, eine ähnliche Entität wie Charon, daher müsste sie ihn sehen können.
In Richards Haus, das er das erste Mal ohne zu klopfen betrat, fand er die Gesuchte schnell in der Küche, wo sie gerade damit beschäftigt war, Tee zu kochen. Kieran blieb in einiger Entfernung stehen, um sie nicht zu erschrecken und rief dann ihren Namen, um auf sich aufmerksam zu machen.
Doch sie wandte sich ihm nicht zu. Sie stutzte nicht einmal oder hielt für einen kurzen Moment in der Bewegung inne, also schien sie ihn nicht einmal gehört zu haben.
Er versuchte es noch einmal, aber sie reagierte wieder nicht. Unfähig, zu glauben, dass er sich geirrt hatte, trat er näher, sagte dabei wiederholt ihren Namen und griff dann auch nach ihrer Schulter. Aber nichts davon erzielte die von ihm gewünschte Wirkung.
Asterea wusste nicht einmal, dass er gerade hier war, sie bemerkte seine Anwesenheit nicht.
Er verstand nicht, weswegen eine Nymphe ihn nicht sehen konnte und dachte dabei nicht einmal im Mindesten daran, dass die ersten Falten in ihrem Gesicht ihm eigentlich verraten müssten, dass es sich bei ihr inzwischen nur noch um einen Menschen handelte.
Bevor er erneut in Panik abzugleiten drohte, wirbelte er herum, damit er das Wohnzimmer aufsuchen könnte. Richard schien ihm oftmals das zweite Gesicht oder zumindest einen sechsten Sinn zu besitzen, mit dem er, jedenfalls manchmal, in der Lage gewesen war, Geister wahrzunehmen. Wenn Kieran Glück hatte und die Verbindung zwischen ihnen nur stark genug war, wäre es ihm sicher möglich, mit Richard Kontakt aufzunehmen!
Sein Freund saß auf dem Sofa, den Blick auf eine Zeitung gerichtet, die auf seinem Schoß lag, aber er schien nicht zu lesen. Stattdessen sah es so aus, als würde er leiden. Auch wenn das kaum zu bemerken war, denn seine Stirn war gerunzelt, so dass jeder andere vermutlich eher darauf getippt hätte, dass er wütend war. Aber Kieran wusste es besser, dafür kannte er Richard bereits lange genug.
Um seinen besten Freund nicht länger in diesem Zustand sehen zu müssen, sagte er lächelnd Richards Namen – aber wieder erfolgte keine Reaktion. Urplötzlich fühlte Kieran sich, als müsste etwas in seinem Inneren zerspringen und wäre er nicht bereits tot gewesen, davon war er überzeugt, wäre er nun gestorben, so melodramatisch das auch klingen mochte.
Entgegen seiner sonstigen Art wollte er seinen Freund an den Schultern greifen und ihn schütteln, bis er seine Anwesenheit akzeptierte, doch seine Hände glitten auch hier einfach durch den anderen Körper hindurch. Kieran glaubte tatsächlich, ein verheißungsvolles Klirren zu hören, widmete dem aber keine weitere Aufmerksamkeit und erging sich bereits in seinen Gedanken.
Weder Nolan, noch Richard oder Asterea konnten ihn sehen. Zwei der wichtigsten Personen in seinem Leben und jene, von der er wusste, dass sie mythischen Ursprungs war, wussten nichts davon, dass er wieder hier war.
Er war nie jemand gewesen, der schnell aufgab, aber an diesem Tag, in diesem Augenblick, in dem er vor dem Scherben seines gesamten Lebens stand, konnte er einfach nicht mehr.
Er war tot und doch hier, aber niemand konnte ihn sehen, er musste jeden einfach seiner Trauer um ihn überlassen. Die Tatsache, dass es ihn ein wenig freute, dass man doch um ihn trauerte, war vollständig in den Hintergrund gerückt und machte der Ernüchterung Platz, dass er nicht im Mindesten auf diese Situation vorbereitet gewesen war.
Um ihr zumindest für den Moment auszuweichen, sich zu sammeln und dann noch einmal über alles nachzudenken, fuhr Kieran herum und verließ das Haus wieder. Dabei bemerkte er nicht, dass Richard aufsah und ihn tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen schien, bevor er durch die Wand aus dem Haus verschwunden war.
Richard selbst schüttelte nur rasch mit dem Kopf und rieb sich dann die Augen.
„Ich werde wohl wirklich langsam verrückt“, murmelte er leise, ehe Asterea hereinkam, um ihm einen Tee zu bringen.
Schweigend nahm er ihr diesen ab und starrte dann wieder auf seine Zeitung hinunter, im sicheren Wissen sich das eben einfach nur eingebildet zu haben.
2. – Tag I: Isolation
Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte. Bestimmt nicht, dass ganz Cherrygrove tagelang um ihn trauerte, dass die Kirschblüten sich weiß färbten oder dass eine der Personen, die ihn gekannt hatte, immer noch weinend zusammenbrach, wenn sie an ihn dachte.
Das alles hatte er nicht erwartet – und doch war er enttäuscht.
Das Leben in Cherrygrove ging seinen gewöhnlichen Gang. Man traf sich auf der Straße und unterhielt sich lachend miteinander, nur freute man sich gerade nicht darüber, dass Landis und Nolan nichts anstellten. Sobald das Thema auf die beiden kam, wurden die Gesichter für einen Moment ernst und verschlossen, bevor einer der Gesprächspartner rasch, mit einem falschen Lachen, wieder das Thema wechselte.
Frau Foster, die einen kleinen Bauernhof betrieb, auf dem Kieran oft ausgeholfen hatte, um Geld zu verdienen, scheuchte inzwischen eine neue Aushilfe umher, einen jungen Mann, den Kieran nicht kannte, der ihn aber auch nicht weiter interessierte.
Joshua und Faren gingen ungetrübt ihrer Arbeit nach, aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Als Jugendliche mochten sie einmal Freunde gewesen sein, aber in den letzten Jahren waren sie sich immer fremder geworden, nicht zuletzt, weil Kieran es bevorzugt hatte, sich von anderen fernzuhalten. Er war der Überzeugung gewesen, wie so viele Lazari, dass andere Menschen die Verzweiflung nur vorantreiben würden, dass man als Lazarus irgendwann gar nicht anders könnte, als nachzugeben und zu einem Dämon zu werden, wenn man sich mit Leuten umgab, die den eigenen Schmerz nicht verstehen konnten.
Kieran bereute nicht, es getan zu haben. Er war sogar froh darum. Es lag nicht daran, dass er Joshua und Faren nicht gemocht hatte, sondern weil er glaubte, den beiden damit zumindest die Trauer um seinen Tod erspart zu haben. Auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass es nicht zu seinem Wunsch passte, dass irgendetwas doch verändert sein musste, da er nun fort war.
Vielleicht hatte er auch noch nicht lange genug beobachtet. Aber eigentlich wollte er das auch gar nicht, er wusste nur nicht, was er sonst tun sollte.
Also saß er auf dem Ast eines Kirschbaums, unweit von Allegras Haus, den Rücken gegen den Stamm gelehnt und beobachtete das alltägliche Treiben in Cherrygrove, das keinerlei Notiz von seinem Tod zu nehmen schien und ihm damit vor Augen führte, wie ersetzbar er in dieser Gesellschaft gewesen war. Die Lazari hatten ihn nicht einmal gehen lassen wollen, hatten ihn Jahr um Jahr angefleht, wieder zu ihnen zurückzukommen, aber unter den Menschen war er nur einer von vielen, ein Tod, der keine weitreichende Bedeutung hatte, den man einfach vergessen und dann weiterleben konnte.
Für einen Moment fragte er sich, warum er einem von ihnen überhaupt noch helfen sollte. Er sollte zulassen, dass Dämonen Nolan verschlangen und dann sollten die Menschen selbst zusehen, wie sie nun zurechtkommen würden. Ohne jemanden, der ihnen beständig die Kastanien aus dem Feuer holte.
In Gedanken schalt er sich selbst für diese furchtbaren Überlegungen, die er da anstellte. Es sollte ihm vollkommen gleichgültig sein, wer um ihn trauerte und warum, stattdessen sollte er sich lieber auf die Suche nach dem Dämon machen und nach der Person, die ihn sehen könnte.
Aber es gelang ihm einfach nicht, die erforderliche Kraft dazu aufzubringen. Sein Ehrgeiz und sein Ziel schienen mit der Erkenntnis, dass er wirklich tot war, verschwunden zu sein und weigerten sich, zu ihm zurückzukommen. Nach Teyra und Aria, den beiden überirdischen Wesen, die in Cherrygrove hausten, hatte er erst gar nicht gesucht.
Hier, ganz allein in der Baumkrone, gefiel es ihm wesentlich besser, als unter irgendwelchen Menschen, die ihn nicht sehen konnten oder in Begleitung zweier Wesen, die wie kleine Mädchen anmuteten. Am Liebsten wäre er einfach verschwunden, endgültig ins Jenseits, Hauptsache er hätte hier nicht beobachten müssen, wie alle einfach so weiterlebten.
Die Stimme eines Mädchens lenkte seine Aufmerksamkeit auf diese. Als er den Kopf wandte, entdeckte er Oriana, die Tochter von Joshua und Bellinda. Mit einem genervten Seufzen strich sie sich durch das lange schwarze Haar und schüttelte dann den Kopf. „Oh Lan … ich habe dir gesagt, dass ich heute etwas mit Frediano unternehme.“
Ihr gegenüber stand tatsächlich Landis, eine Hand in die Hüfte gestützt, während er die andere einfach hängen ließ. Er blickte ein wenig leidend, weswegen Kieran nicht sofort vom Baum herabsprang, um ihn anzugreifen – außerdem konnte er keinerlei Dämon in Landis spüren. Der Junge war vollkommen er selbst, es gab keinen Grund, einzugreifen.
„Ich werde Fredi auch nichts tun“, sagte er, fast schon flehend, „ und auch nichts sagen. Ich will doch nur ein wenig bei dir sein.“
Doch Oriana blieb unerbittlich, selbst der bittende Blick seiner grünen Augen wirkte nicht auf sie. „Warum gehst du nicht lieber zu Nolan? Er kann dich viel mehr brauchen.“
Zwischen ihren Worten glaubte Kieran, etwas heraushören zu können, etwas, das sie niemals aussprechen würde, aber er war zu unerfahren im Umgang mit Menschen und zu unkonzentriert im Moment, um wirklich sagen zu können, worum es sich dabei handelte.
Ein wenig frustriert, so schien es, trat Landis in den Staub. „No möchte seine Ruhe. Er meinte, er will ein wenig allein sein, um nachzudenken. Uuuund seltsamerweise schließt mich das diesmal auch mit ein.“
Er seufzte laut auf. Kieran verstand, dass ihn das deprimierte. Wenn Nolan normalerweise von allein sprach, war Landis damit nie gemeint gewesen. Sein bester Freund schien für ihn quasi einfach nur eine Erweiterung seines eigenen Körpers gewesen und hatte immer bei ihm sein dürfen. Es war so schlimm gewesen, dass Kieran und Richard irgendwann sogar erlaubt hatten, dass die beiden auch zusammen den Hausarrest absitzen durften.
Dass Nolan aber gerade jetzt wirklich allein sein wollte, musste Landis natürlich treffen und sorgte dafür, dass Kieran sich fragte, was Nolan wohl in jener Nacht beobachten konnte. Wusste er, dass Landis im Haus gewesen war? Hatte er irgendetwas gesagt? Nein, in einem solchen Fall würde Landis sicher nicht hier herumlaufen und Oriana würde ihn nun nicht anlächeln.
„Davon lässt du dich abhalten?“, fragte sie lächelnd. „Du weißt doch, dass Nolan dich früher oder später trotzdem brauchen wird. Also solltest du dich lieber in seiner Nähe aufhalten.“
Darüber dachte er tatsächlich eine Weile nach, dann hellte sein Gesicht sich merklich auf. „Du hast recht! Wie konnte ich nur so dämlich sein? Danke, Ria!“
Damit hob er die Hand und lief eilig in Richtung von Nolans Haus davon. Kieran wusste genau, dass er sich dort neben die Tür sitzen und so lange warten würde, bis sein Freund endlich wieder herauskam, nur damit er sofort für ihn da sein konnte.
Sein ganzes Verhalten sprach noch einmal dafür, dass er von einem Dämon besessen gewesen war, immerhin schien er nicht einmal mehr zu wissen, dass er der Grund war, wegen dem Nolan gerade litt. Ansonsten wäre er gänzlich anders in seinem Verhalten, da war Kieran sich sicher.
Ich habe viel zu viel Zeit mit diesen Kindern verbracht, wenn ich sogar das weiß.
Orianas Gesicht hatte sich derweil verfinstert. Sie murmelte etwas, das Kieran von seiner Position aus nicht hören konnte und wandte sich dann ab, um weiterzugehen.
Weit kam sie allerdings nicht. Die Tür des Hauses der Caulfields öffnete sich und ein deutlich missgelaunter Frediano trat heraus. Seine Stirn war gerunzelt, die Augenbrauen zusammengezogen und seine Hände sogar zu Fäusten geballt. Hinter ihm folgte Allegra, die vermutlich auch der Grund für seinen Ärger war. Sie blickte allerdings so desinteressiert wie eh und je in die Welt, einen Wäschekorb in den Händen, mit dem sie direkt auf die gespannten Leinen zusteuerte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Oriana.
Statt einer Antwort nahm Frediano sie an der Hand und zog sie mit sich, fort von Allegra, dem Haus und auch dem Kirschbaum, auf dem Kieran saß. Er konnte ihnen nur hinterhersehen, bis er nicht einmal mehr Fredianos weißes Haar ausmachen konnte.
Er wusste von Allegra, dass sie sich oft stritten, meist aufgrund der seltsamsten Dinge, die eigentlich keine Auseinandersetzungen bewirken sollten. Aber sie war der Überzeugung, dass es etwas an Frediano gab, das sie wahnsinnig machte und umgekehrt galt für ihn bei ihr dasselbe. Was genau das allerdings sei, konnte sie nicht sagen.
Kieran entfuhr ein Seufzen, als ihm bewusst wurde, dass es ihm im Moment fehlte, mit Allegra reden zu können. Was auch immer die anderen von ihr hielten, ihm hatten die Gespräche oft geholfen, auf Dinge zu kommen, die ihm sonst nicht einmal eingefallen wären. Aber nun war es sicher nicht möglich, immerhin-
Ihr plötzliches Stutzen, nachdem sie den Wäschekorb abgestellt hatte, ließ nicht zu, dass er den Gedanken beendete. Sie starrte direkt zu ihm herüber, als wäre es ihr wirklich möglich, ihn sehen zu können, obwohl er bezweifelte, dass das funktionierte.
Als sie sich auch noch in Bewegung setzte und auf ihn zukam, wollte er instinktiv den Atem anhalten, was aber natürlich sinnlos war, da er ohnehin nicht mehr atmete.
Unterhalb des Baumes blieb sie stehen und sah immer noch zu ihm herauf. Aus dieser Entfernung war es ihm möglich, ihre rot-braunen Augen zu sehen, die ihn mit viel zu großer Neugierde musterten. Schließlich verzogen sich ihre Lippen zu einem fröhlichen Lächeln und in diesem Moment wusste er ganz sicher, dass sie ihn sehen konnte – nicht zuletzt durch ihre folgenden Worte: „Ich dachte mir doch, dass du nicht einfach friedlich sterben würdest, Kieran. Willkommen zurück.“
3. – Tag I: Allegra
Kieran konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt in Allegras Küche gewesen war. Aber er wusste noch genau, dass alles wie beim letzten Mal aussah, er erinnerte sich lebhaft an den Duft des Tees, der erfolglos versucht hatte, den Kupfergeruch zu übertünchen, der im gesamten Haus vorherrschte und von den beiden Bewohnern vermutlich nicht einmal mehr wahrgenommen wurde.
In diesem Moment roch er ihn ebenfalls nicht mehr, genausowenig wie den Tee, der vor Allegra stand. Dies war einer der Sinne, den er jenseits des Lebens wohl nicht mehr gebrauchen konnte, aber zumindest im Moment vermisste er ihn nicht.
Während Allegra mit einer Hand im Tee rührte und mit der anderen nachdenklich mit einer ihrer blonden Haarsträhnen spielte, versuchte er ihr, zu berichten, was geschehen war: „Als ich in jener Nacht ins Bett gehen wollte, traf ich Landis auf dem obersten Treppenabsatz.“
„Landis?“, unterbrach sie ihn irritiert. „Niemand hatte gesagt, dass er dort war.“
„Eigentlich sollte er da auch gar nicht sein. Aber es war auch nicht … Landis.“ Er empfand es als schwer, einer Außenstehenden das zu erklären.
Einem anderem Lazarus, einem anderen Dämonenjäger also, hätte er einfach gesagt, dass er sich nicht anfühlte, wie Landis, dass etwas Dunkles die Aura des Jungen überlagerte, weswegen er als besessen anzusehen wäre. In seiner ganzen Laufbahn als Lazarus war ihm eine wirkliche Besessenheit noch nie untergekommen. Gedankenmanipulation war verbreitet, aber kein Dämon hatte es dabei geschafft, wirklich die Aura des Originals derart zu überlagern, wie dieser in jener Nacht. Aber bekannt war ihm dieses andere Ich nicht vorgekommen.
Es wunderte ihn allerdings nicht, dass er mit einer solchen List angegriffen worden war. Auch wenn er die Lazarus-Gilde schon lange verlassen hatte, war es in den letzten zehn Jahren immer wieder vorgekommen, dass er zur Waffe gegriffen und seine Erfahrung genutzt hatte, um einen weiteren Dämon niederzustrecken. Selbst in aller Bescheidenheit hätte er sich ohne zu zögern als einer der großartigsten Lazari bezeichnet – der einzige, der ihn noch übertreffen könnte, würde eines Tages Nolan sein, sobald er erwachte. Das war wiederum ein Umstand, den Kieran unbedingt verhindern wollte, weswegen er den Dämon verfluchte, der für seinen Tod verantwortlich war.
Das geschah nicht, weil er es Nolan nicht gönnte, ihn zu überflügeln – er wollte ihn nur vor der Verzweiflung bewahren, die mit dem Dasein eines Lazarus einherging und er hatte ihn außerdem zu etwas wesentlich Größerem auserkoren.
Allegras Löffel klirrte ungewohnt laut, als dieser gegen die Tasse stieß, was ihm sagte, dass seine Pause zu lang und sie ungeduldig wurde, also fuhr er rasch fort: „Jedenfalls gerieten wir in einen kurzen Kampf, er stieß mir das Messer in die Brust, ich fiel die Treppe hinab – und das war es dann.“
In Kurzform erzählte er ihr, was bei Charon geschehen war und weswegen er nun wieder hier war. „Ich habe also sieben Tage, um diesen Dämon zu finden und damit Nolan zu retten, damit er nicht auch ein Lazarus wird.“
Kieran war überzeugt, dass ein Dämon ihn nicht gänzlich töten könnte. Nolan würde einfach wieder auferstehen und dann mit seiner natürlichen Kraft, die selbst zu seinen Lebzeiten spürbar war, diesen Dämon besiegen – auf welche Art und Weise das auch immer geschehen würde.
Bei Kieran war es immerhin genauso gewesen.
Zu schade, dass Lazari nur einmal wieder auferstehen, nachdem sie getötet wurden. Würden wir öfters von den Toten auferstehen, wäre ich jetzt nicht in dieser Situation.
„Warum gerade sieben Tage?“, fragte Allegra und nahm endlich den Löffel aus der Tasse und legte ihn daneben.
„Wenn ich das wüsste ...“
In seinem Elan, diesen Dämon zur Strecke zu bringen, hatte er nicht daran gedacht, Charon einfach danach zu fragen. Er müsste das nachholen, wenn er ihn – möglicherweise – um Mitternacht wiedertraf.
Allegra hob die Tasse, samt Untertasse – wie es sich gehörte, hatte sie ihm einmal erklärt – und nahm einen Schluck ihres Tees. Unwillkürlich wollte er selbst seine Tasse nehmen, aber als seine Hand ins Leere griff, wurde ihm wieder bewusst, dass das gar nicht möglich war.
„Glaubst du denn, dass der Dämon noch in der Stadt ist?“, fragte sie weiter und überging dabei seine Geste, wofür er ihr dankbar war.
„Laut Charon muss er noch hier sein. Ich habe mich aber noch nicht wirklich umgesehen.“
Dass er, in Selbstmitleid versunken, auf dem Baum gesessen war, fügte er nicht extra hinzu und auch sie ließ das einfach weg – auch dafür war er ihr im Moment dankbar.
Allerdings wusste er nicht, wie es nun weitergehen sollte und sie wohl genauso wenig: „Im Gegensatz zu dir kann ich keine Dämonen wahrnehmen oder gar sehen, Kieran. Ich kann dir also leider nicht wirklich helfen.“
Er war sich auch nicht sicher, weswegen Charon ihm überhaupt mitgegeben hatte, dass es eine Person gab, mit der er interagieren könnte, wenn diese doch eigentlich gar nicht in der Lage war, ihm bei der eigentlichen Sache weiterzuhelfen. Asterea wäre eine wesentlich bessere Alternative gewesen in dieser Hinsicht – aber er verstand sich mit Allegra wesentlich besser.
„Wie geht es dir derzeit eigentlich?“, fragte er auch sofort. „Schläfst du wieder besser?“
In den letzten Jahren war er zu der Überzeugung gelangt, dass Allegra wirklich krank war und nicht von Dämonen heimgesucht wurde. Das bedeutete aber keineswegs, dass sie besser dran war, im Gegenteil: Einen Dämon hätte Kieran einfach für sie töten können, eine Krankheit konnte er nicht heilen. Also musste sie sich weiter mit Wahnvorstellungen, Schlaflosigkeit und plötzlichen Anfällen von Suizidgedanken quälen, die Kieran niemals nacherleben wollte.
Er erinnerte sich, dass er einmal mit dem Arzt der Lazarus-Gilde, Jii, darüber gesprochen hatte, in der Hoffnung, dass diesem ein Heilmittel bekannt wäre. Doch seine Antwort war ein spöttisches Lächeln gewesen und der Rat, besser niemals mit Allegra zu schlafen – mehr hatte er bei diesem Mann nicht in Erfahrung bringen können und viel mehr Ärzte kannte er nicht. Als Lazarus begegnete man naturgemäß vielen Dämonen, keinen Medizinern.
Allegra legte beide Zeigefinger an den Rand der Untertasse und begann, hochkonzentriert, am Rand entlangzufahren. Dabei lächelte sie selig, blickte aber stur auf die Tasse. „Oh, mir geht es ganz gut, seit du tot bist – immerhin habe ich jetzt einen Konkurrenten weniger.“
Kieran rollte mit den Augen. So sehr er Allegra auch mochte, dieses Konkurrenzdenken war ihm schon zu Lebzeiten dezent auf die Nerven gegangen – vor allem, da es sich auf eine Person bezog, die ohnehin niemals in dieser Form Interesse an ihnen entwickeln würde, schon allein, weil Asterea immer noch da war. Solange es Asterea gab, war Richard für jeden anderen unerreichbar.
Und wenn nicht, hätte ich die besseren Chancen besessen – ich kenne ihn in- und auswendig.
Aber diese Überlegung war nun erst recht überflüssig. Er war tot, Asterea lebte und Allegra war keinen Schritt näher an Richard herangekommen, auch wenn sie das in ihrem Wahn, der stets erwachte, sobald es um ihn ging, vielleicht annehmen mochte.
Doch noch während er über all das nachdachte, wurde Allegra wieder ernst, ihre Finger verharrten in ihrer aktuellen Position. „Aber es war sehr hart für uns alle, als du plötzlich einfach fort warst. Ganz Cherrygrove war auf deiner Beerdigung und danach haben alle stundenlang darüber gesprochen, wie du damals meinen Vater vorgeführt hast, wie du überraschenderweise auszogst und mit einer eigenen Familie wiederkamst und auch darüber, dass du, egal wie seltsam du am Ende warst, ein guter Kerl gewesen bist.“
So ganz konnte er sich das nicht vorstellen, auch wenn es ihm durchaus schmeichelte und ihn gleichzeitig ein wenig verlegen machte. Man redete eher selten über ihn – glaubte er jedenfalls – und am Ende war ohnehin nichts Gutes mehr über ihn gesagt worden, aber dass es doch noch Leute gab, die das anders sahen, freute ihn. Selbst wenn es erst seinen Tod benötigte, damit sie das erkennen konnten.
„Aber ich habe direkt gesagt, dass du nicht einfach stirbst“, bemerkte sie munter. „Deswegen bin ich auch gar nicht überrascht, dass du jetzt in meiner Küche sitzt und ich mich mit dir unterhalte.“
„Ich könnte auch eine deiner Wahnvorstellungen sein“, wandte er ernst ein.
Endlich hob sie den Blick wieder, um ihn direkt anzusehen. Dabei lächelte sie so sanft, als wäre sie die Ruhe selbst und als wäre es das Normalste der Welt, sich mit einem Geist zu unterhalten.
„Du bist mein bester Freund, Kieran“, sagte sie. „Selbst wenn du wirklich nur ein Teil meiner Wahnvorstellungen wärst, könnte mich das absolut nicht kümmern, solange du bei mir bist.“
Für einen kurzen Moment konnte Kieran sie nur fassungslos anstarren, dann wandte er verlegen den Blick ab. „Sag doch nicht so einen Unsinn.“
So etwas war ihm noch nie gesagt worden, jedenfalls nicht so direkt, weswegen er nicht wirklich damit umgehen konnte. Es war, zumindest für Allegra, kein großes Geheimnis, dass er nicht sonderlich viel von sich hielt und seine einzige Qualität darin sah, dass er ein außerordentlich guter Dämonenjäger war. Deswegen war er selbst jetzt immer noch verlegen, wenn man so über ihn sprach.
„Es ist kein Unsinn“, erwiderte Allegra, wechselte dann aber sofort wieder das Thema, um ihm, wie er glaubte, einen Gefallen zu tun: „Ich glaube nicht, dass wir heute viel erreichen werden, immerhin wissen wir absolut gar nichts. Wenn du um Mitternacht zu Charon zurückkehrst, solltest du ihn darum bitten, dir noch einen Hinweis zu geben.“
„Das werde ich tun.“
Zufrieden nahm Allegra die Tasse wieder auf, um erneut einen Schluck zu trinken. Dabei hielt sie allerdings noch einmal inne. „Ich stehe dir die nächsten sieben Tage übrigens stets zur Verfügung, du darfst mich sogar wecken, wenn du nach deinem Besuch bei Charon wieder zurückkommst.“
Erst dann setzte sie die Tasse wirklich an ihre Lippen.
Kieran, der wusste, wie wichtig ihr das bisschen Schlaf war, das sie bekam – so sehr, dass es sogar einige ihrer Auseinandersetzungen mit Frediano auslöste – musste bei dieser Aussage sofort lächeln. „Ich danke dir, Allegra.“
Vielleicht gab es doch einen tieferen Sinn dahinter, dass es gerade sie war, die ihn sehen konnte – und Kieran war überzeugt, dass er diesen nun kannte. Auch wenn sie es vielleicht nicht verstand und er keinen großen Wert darauf legte, es ihr zu erklären. Schon allein deswegen, weil er nicht unbedingt gut darin war, anderen Leuten etwas zu erklären. Außerdem würde sie es eher verstehen, wenn sie es selbst begriff und es nicht vorgekaut bekam, dessen war er sich sicher.
Also ließ er das Thema fallen. Das einzige, worauf es nun ankam, war, den Dämon zu finden und diese Tür zu erreichen – und er würde beides in den nächsten sieben Tagen schaffen, davon war er, nach wie vor, vollkommen überzeugt.
4 – Mitternacht I: Sinn
Alles um ihn herum war in Dunkelheit getaucht. Er erinnerte sich nicht, wann dieser Zustand begonnen hatte, wusste nicht, wie er enden könnte. Es war ihm nicht möglich, sich zu bewegen, fast kam es ihm vor als stünde er in einer zähen Masse, die es ihm unmöglich machte, sich auch nur im Geringsten zu rühren. Selbst die Augen zu öffnen erforderte derart viel Kraft, dass er es einfach sein ließ.
Wie auch immer er hierher gelangt war, er glaubte, dass es so sein musste. Bei diesem Ort musste es sich um eine Strafe für ihn handeln. Wie oft hatte er es gewagt, sich über das Schicksal zu erheben? Wie viele Dämonen waren durch seine Hand gefallen? Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er die Strafe dafür erhielt.
Sein Tod musste ein Traum gewesen sein.
Dass er zurückgeschickt worden war, musste ein Traum gewesen sein.
Nichts von dem, woran er sich erinnerte, konnte wirklich geschehen sein. Er war in der Falle eines Dämons gelandet, daran glaubte er ganz fest.
„Bist du dir da so sicher?“
Die Stimme eines Mannes durchbrach die Stille, die bis dahin schwer auf seinen Ohren gelastet hatte. Sie nahm ihm etwas von der Einsamkeit, der er sich bis dahin nicht einmal bewusst gewesen war. Am liebsten hätte Kieran sich umgesehen, um herauszufinden, wer da mit ihm sprach, aber noch immer war er nicht in der Lage, seine Augen zu öffnen.
„Es war kein Traum“, fuhr die Stimme fort. „Du wurdest getötet. Und jetzt bist du hier, um einen Auftrag zu erfüllen.“
Wovon sprach die Stimme? Wer war das überhaupt? Und wo war er?
„Hast du es vergessen?“ Die Stimme klang enttäuscht. „Du musst die Treppe erklimmen. Deswegen solltest du langsam aufwachen. Du hast nicht ewig Zeit.“
Das war leicht gesagt. Es war nicht einfach, in dieser Masse die Augen zu öffnen, die Lider fühlten sich bleischwer an. Ungern ergab er sich seiner Machtlosigkeit, aber er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Die Tage seiner Dämonenjagd waren vorbei. Die Zeit, in der die Dämonen furchtsam seinen Namen gewispert hatten, aus Sorge, dass sie ihn damit aus Versehen beschwören könnten, waren vergangen. Er war tot und das hier war die Hölle. Seine Strafe. Die absolute Machtlosigkeit.
„Du willst einfach aufgeben?“ Die Enttäuschung der fremden Stimme ließ sein Herz schmerzen. „Dafür ist es noch zu früh. Du musst weitermachen. Nolan braucht dich. Das weißt du.“
Nolan. Der Gedanke an seinen Pflegesohn, der nun ganz allein war, der jedem Angriff feindlicher Dämonen schutzlos ausgeliefert wäre, gab ihm die Kraft, sich zu bewegen. Nacheinander ließ er jedes einzelne Glied seines Körpers seine Pflicht erfüllen, ließ das Gefühl wieder in jeden Quadratzentimeter zurückkehren.
Die zähe Masse um ihn herum lockerte sich auf, wurde flüssig und verschwand langsam, gab ihm damit die Möglichkeit zurück, sich endlich wieder so zu bewegen, wie er wollte – und er nutzte die Möglichkeit auch sofort.
Kieran schlug die Augen auf. Schon auf den ersten Blick erkannte er, dass er sich wieder an dem Ort befand, wo er direkt nach seinem Tod hingekommen war: Charons Aufenthaltsort.
Er saß auf einer der unteren Treppenstufen, den Oberkörper gegen den mittleren Stützbalken gelehnt.
Vorsichtig erhob er sich. Kaum stand er aufrecht, fiel sein Blick auf Charon, der mit verschränkten Armen vor ihm stand. Wie üblich zierte ein Lächeln sein Gesicht. „Willkommen zurück, Kieran.“
„Habe ich schon viel Zeit verschwendet?“
Ein amüsiertes Glitzern war in Charons Augen zu sehen. „Das ist typisch für dich. Aber nein, ich kann dich beruhigen, es waren nur ein paar Minuten, die du geschlafen hast.“
Unter anderen Umständen hätte Kieran nun zu erörtern versucht, ob Tote wirklich schlafen mussten, aber seine Gedanken waren bereits wieder bei der Stimme. Im ersten Moment war er davon ausgegangen, dass es Charon gewesen sein musste, den er gehört hatte, aber dem war nicht so. Es war eine andere Stimme gewesen, eine, die er auch kennen müsste, aber ihm fiel einfach nicht ein, woher und er hatte auch keine Zeit dafür.
Ohne jedes weitere Wort fuhr er herum und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Er hatte angenommen, das allein hinter sich bringen zu müssen, aber schon nach wenigen Stufen schloss Charon sich ihm an. Ohne jede Mühe lief der Wächter neben ihm her, obwohl Kieran immer zwei Stufen auf einmal nahm.
„Gibt es etwas?“, fragte Kieran.
„Ich dachte, wir könnten uns ein bisschen besser kennenlernen.“ Auch wenn seine Stimme bei diesen Worten ein wenig spöttisch klang, meinte er es ernst, dessen war Kieran sich sicher. „Bislang sind wir nie wirklich dazu gekommen, miteinander zu sprechen.“
„Warum sollte ein Totenwächter auch mit mir sprechen wollen?“, fragte Kieran ratlos.
Bislang hatte er sich immer vorgestellt, dass der entsprechende Wächter in einem Buch alles über jeden Verstorbenen lesen könnte, also auch über ihn. In diesem Fall wäre es überflüssig, Charon etwas über sich zu erzählen. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass der Wächter einfach nur sinnlose Konversation betreiben wollte.
„Es gibt Dinge, die ich nicht über dich weiß.“ Charon neigte den Kopf ein wenig. „Und Dinge, die du nicht weißt. Vielleicht nicht über mich, da gibt es nicht viel, aber über anderes, das dich interessieren sollte.“
„Und worum handelt es sich dabei?“
Kieran konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas Interessantes gab, das Charon ihm erzählen könnte. Jedenfalls nicht, solange es nicht etwas mit Nolan oder Aydeen zu tun hatte. Ersterer war sehr lebendig und trauerte um ihn, letztere war vor mehreren Jahren verstorben und vermutlich schon längst als eine von vielen Seelen untergegangen, so sehr ihn dieser Gedanke auch schmerzte. Deswegen ließ er auch nicht zu, dass er auch nur im Geringsten aufgeregt sein könnte.
„Worin siehst du eigentlich den Sinn des Lebens?“, fragte Charon sofort.
Darüber musste Kieran nicht lange nachdenken, denn er hatte schon vor einigen Jahren über diese Frage nachgedacht und war zu einem Ergebnis gekommen, mit dem er zumindest gut leben konnte: „Jemanden zu beschützen.“ Diese Antwort genügte Charon wohl nicht, deswegen erzählte er direkt noch mehr: „Ich denke, jeder hat in seinem Leben irgendjemanden, der beschützt werden muss. Körperlich oder mental. Ein Schild für diese Person zu sein, ist die Erfüllung eines Lebenszwecks.“
Er war Nolans Beschützer, selbst jetzt noch. Niemals würde er zulassen, dass diesem Jungen, den er als Erlöser der Lazari auserkoren hatte, etwas zustieß. Selbst wenn seine Seele bei diesem Versuch unwiederbringlich zersplitterte, würde er Nolan beschützen, um den Fluch der Lazari endgültig zu durchbrechen. Dann könnte er in Frieden ruhen.
„Mental, hm?“ Erstmals schwand Charons Lächeln, aber nur für einen kurzen Augenblick. „Kieran, glaubst du eigentlich, dass es da draußen noch andere Welten wie diese gibt?“
Wenn er das so fragte, musste das bedeuten, dass es wirklich andere Welten gab. Bei Charon geschah nichts ohne einen Grund, davon ging Kieran jedenfalls aus. Jedes seiner Worte musste gut durchdacht sein.
„Ich habe nie darüber nachgedacht“, antwortete Kieran. „Aber ich weiß zumindest, dass es eine andere Welt noch gibt, aus dieser kommen immerhin die Dämonen.“
Es sei denn, sie waren Lazarus-Dämonen. Aber Charons Worte ließen auf noch mehr Welten schließen, möglicherweise sogar unendlich viele.
Aber was sollte das mit ihm zu tun haben?
„Was, wenn ich dir sage, dass es dort draußen eine bestimmte Welt gibt, in der eine Person lebt, die du nicht kennst, die aber deinen Schutz benötigt?“
Kieran hielt inne und sah Charon an, der ebenfalls stehengeblieben war. Er wartete darauf, dass der Wächter ihm erklärte, nur einen Scherz gemacht zu haben, aber stattdessen lächelte er vielsagend.
„Wie soll ich jemanden beschützen, den ich nicht einmal kenne und der sogar in einer ganz anderen Welt lebt?“
„Es geht um einen mentalen Schutz“, sagte Charon. „Die Dämonen, die du bekämpfst, sind für diese Person gleichbedeutend mit jenen, die sie in ihrem Geist verfolgen.“
Unwillkürlich musste er an Allegra denken, an die Dämonen von denen sie sich verfolgt fühlte. War es bei dieser ihm unbekannten Person das gleiche?
„Je mehr von ihnen du besiegst, je mehr du allen Leiden widerstehst, desto besser fühlt sich diese Person“, fuhr Charon, den Blick in die Entfernung gerichtet, fort.
Inzwischen war der Boden nicht mehr zu sehen, jenseits der Kerzen, mit denen die Treppe beleuchtet wurde, versank alles in Dunkelheit. Aber Kieran hatte das Gefühl, dass Charon wesentlich mehr sehen konnte als er.
„Ist das so?“, hakte Kieran nach.
Charon nickte bestätigend. „Das ist ein Fakt.“
„Dann finde ich das gut. Es gibt meiner Existenz einen weiteren Sinn.“
Auch wenn er diese Person nicht kannte, ihr niemals begegnen würde, war es angenehm zu hören, dass es jemanden gab, dem er helfen konnte, indem er tat, was er am besten konnte. Wie auch immer diese Person gerade auf ihn gekommen sein mochte, er würde sich noch mehr Mühe geben, damit sie auch ein gutes Leben führen könnte.
Über diese Worte zufrieden, lächelte Charon wieder. „Das ist schön zu hören. Deine Entschlossenheit ist wirklich zu beneiden.“
War das wirklich so? Für Kieran war es ganz normal, deswegen konnte er nichts weiter dazu sagen.
Charon sah ihn wieder direkt an. „Deine Zeit ist jetzt leider vorbei.“
„Schon?“
Es war ihm nicht wie eine Stunde vorgekommen, das Gespräch hatte doch kaum ein paar Minuten in Anspruch genommen. Oder spielte ihm seine Wahrnehmung an diesem Ort nur einen Streich?
Statt zu widersprechen setzte er sich einfach wieder auf die Stufen und hoffte, dass er in der nächsten Nacht auch direkt hier weiterlaufen könnte.
Den Kopf gegen den zentralen Balken gelehnt, schloss er die Augen und sank fast sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
5 – Tag II: Wut
Als Kieran seine Augen wieder öffnete, zuckte er erschrocken zurück. Allegra saß ihm gegenüber auf einem Sessel und beobachtete ihn mit einem zufriedenen Schmunzeln. Es war dunkel, lediglich Mondlicht erhellte den Raum, weswegen er zuerst nur ihr blasses Gesicht sehen konnte, das aussah als leuchtete es. Es dauerte einen Moment, bis er auch den Rest ihres durch die Kleidung, wesentlich dunkleren Körper erkennen konnte.
Er setzte sich aufrecht hin und schwang die Füße auf den Boden. Dabei bemerkte er, dass er auf sich ihrem Sofa befand, konnte sich aber nicht erinnern, wie er hierher gekommen war. „Was ist passiert?“
„Du bist eingeschlafen“, flötete Allegra vergnügt. „Ich wusste gar nicht, dass Geister das können.“
„Ich auch nicht.“
Er spürte Erleichterung, dass es ihr trotz seiner Abwesenheit gut ging, hätte doch in er Zwischenzeit ein neuer Dämon auftauchen können, der es auf sie abgesehen hatte. Oder einer ihrer inneren Dämonen, der sie in den Wahnsinn trieb.
„Habe ich lange geschlafen?“
Sie warf einen kurzen Blick zur Uhr. Es war eine große Standuhr aus dunklem Holz, die in der Dunkelheit kaum von der Wand oder sonst etwas in diesem Raum zu unterscheiden war. Aber Kieran hörte das Ticken, sah die metallenen Zeiger, die im einfallenden Mondlicht von draußen zu leuchten schienen. Anhand ihrer Position sah er, dass es ein Uhr in der Nacht war.
„Nur eine Stunde“, antwortete Allegra schließlich. „Ist dir inzwischen eingefallen, was du machen könntest?“
Auch das Gespräch mit Charon war nicht sonderlich gut verlaufen. Jedenfalls hatte er keinen neuen Hinweis bekommen. Vielleicht sollte er in der nächsten Nacht daran denken, das Gespräch eher in diese Richtung zu lenken. Aber er glaubte, Charon gut genug zu kennen, um zu wissen, dass er das nicht einfach zuließe, wenn es erst einmal soweit war.
Kieran stand vom Sofa auf und trat ans Fenster, ohne einfach hindurchzugehen. Draußen war alles still, einige der Straßenlaternen waren noch entzündet, aber sicher würde das Mitglied der Wache, das den Nachtdienst ausübte, diese auch bald löschen, um kein weiteres Öl zu verschwenden.
„Ich sollte mich draußen ein wenig umsehen“, bemerkte er. „Vielleicht fällt mir etwas auf, das mich zu diesem Dämon führt.“
Allegra erhob sich ebenfalls. „Ich begleite dich.“
Er wollte ablehnen, aber sie kam ihm bereits zuvor: „Die Stadtwache ist es gewohnt, dass ich nachts unterwegs bin und mit mir selbst spreche. Also ist das schon in Ordnung.“
Da sie bereits in Richtung Tür strebte, wusste er, dass jeder Einspruch erfolglos wäre, also ergab er sich seinem Schicksal und folgte ihr. Vielleicht wäre es auch wirklich besser, sie bei sich zu haben, dann müsste er sich keine Sorgen um sie machen – und möglicherweise wäre sie auch in der Lage, etwas zu sehen, das ihm entging.
Außer ihnen war niemand gerade unterwegs. Unter Allegras Schuhen knirschte der irdene Weg, da man in einem Ort wie Cherrygrove keinen Bedarf für einen Straßenbelag hatte. So waren auch Fußspuren besser auszumachen – wenn man davon absah, dass die Wege alle so oft benutzt wurden, auch von Pferden, dass man keine eindeutige Spur mehr ausfindig machen konnte.
Hinter den Fenstern der anderen Häuser war alles dunkel. Er hoffte, das galt auch für Nolans Haus. Gerade nach einem solchen Ereignis sollte der Junge versuchen, genug Schlaf zu bekommen.
Als Kieran bemerkte, dass Wind durch die Bäume zog, fragte er sich, wie er sich wohl anfühlte. Dass er ihn nicht spüren konnte, war ungewohnt, fast schon … nervenaufreibend. Jederzeit erwartete er eine plötzliche Woge, ein Frösteln, aber nichts.
Allegra hatte sich ein graues Wolltuch um die Schultern geschlungen und hielt es mit einer Hand vorne geschlossen. Ansonsten ließ sie sich nicht von dem Wind irritieren.
„Du weißt also gar nichts über diesen Dämon?“, fragte sie plötzlich.
„Ich weiß nur, dass er noch irgendwo hier ist und dass er von Menschen Besitz ergreifen kann. Das ist aber auch schon alles.“
Nachdenklich legte sie ihre Hand an ihr Kinn. „Das ist wirklich nicht viel. Gibt es nicht ziemlich viele Dämonen, die so etwas können?“
Mehr als Kieran sich wünschte. Derartige Dämonen waren stets schwer zu vernichten, wenn man nicht gleichzeitig dem Menschen schaden wollte, von dem sie Besitz ergriffen hatten.
Aber im Moment kam es auch nur darauf an, dass sie diesen einen Dämon fanden, der noch immer hier war, in dieser Stadt.
Während Kieran noch darüber nachdachte, wie sie am besten anfangen sollten, hörte er das dumpfe Schlagen einer Axt, die auf Holz traf.
„Was ist das?“, fragte Kieran.
Allegra neigte den Kopf. Sie schien nicht darauf geachtet zu haben, da sie das Geräusch gewöhnt war, so wie er. Aber in der Stille der Nacht stach es derart unangenehm heraus, dass auch sie darauf aufmerksam wurde, nachdem er es erwähnt hatte. Sie deutete in die entsprechende Richtung. „Es kommt von dort drüben.“
Kieran folgte ihrem Fingerzeig und zog die Brauen zusammen. Es war Farens Haus, auf das sie deutete, und das erfüllte ihn nicht mit einem sonderlich guten Gefühl.
Zusammen liefen sie hinüber und entdeckten an der Stelle, an der die Familie ihr Feuerholz zu spalten beliebte, tatsächlich jemanden. Faren war damit beschäftigt, immer wieder einen Holzscheit aufzustellen, ehe er mit Wucht einen unsauberen Schlag ausführte, um ihn zu spalten. Was ihm mit dieser geringen Präzision natürlich nur selten gelang. Meistens schlug er nur kleine Streifen ab, die lediglich helfen könnten, das Feuer ein wenig zu füttern. Davon ließ Faren sich aber nicht beirren, sondern versuchte es immer weiter aufs Neue, bis es ihm gelang.
Kieran war sich nicht sicher, wie lange sie so dastanden und ihn beobachteten, aber irgendwann ließ Faren die Axt schwer atmend sinken, so dass der Kopf auf dem Boden stand. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die Stirn, ehe er sich ihnen zuwandte – aber natürlich sah er nur Allegra, weswegen er einen ablehnenden Gesichtsausdruck trug. „Was ist los?“
Kieran bemerkte besorgt die Schweißperlen auf seinem Gesicht. Es durfte nicht sonderlich gesund sein, bei diesem kühlen Wetter mitten in der Nacht in Schweiß zu geraten.
„Warum hackst du mitten in der Nacht Holz?“, fragte Allegra.
Farens abweisendes Gesicht deutete darauf hin, dass er eigentlich gar nicht antworten wollte, aber vermutlich hatte er sonst niemanden, mit dem er darüber reden könnte und ließ sich deswegen rasch dazu überreden: „Ich konnte nicht schlafen. Und ich dachte, es wird mir helfen, wenn ich mich ein bisschen abreagieren kann.“
Warum war Faren wütend? Das einzige, was Kieran dazu einfiel, wäre ein Streit mit Kenton, Farens Sohn, der vollkommen anders war als sein Vater. Machte er das hier dann öfter?
Allegra ließ ihn diesen Gedanken aber auch sofort wieder verwerfen: „Oh? Was könnte denn passiert sein, dass du nicht mal schlafen kannst? Sonst schläfst du doch sogar während des Diensts?“
Sie lächelte kokett, Farens Mundwinkel sanken nach unten, mehr als jemals zuvor. Kieran kannte Faren vor allem als den dauerlächelnden Kerl in seinem Freundeskreis, der die ernsten Seiten seines Lebens liebend gern ausblendete und sie durch gute Laune und Freude ersetzte. Ihn nun aber so zu sehen machte Kieran unsicher.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“
Faren schüttelte mit dem Kopf. „Nicht direkt. Aber mir gefiel dein allgemeines Verhalten gerade nicht. Kieran ist tot. Macht dir das denn gar nichts aus?“
Seine Stimme klang derart bitter, dass es Kieran vorkam als lege sich eine Kupferschicht auf seine Zunge, ja, er glaubte regelrecht, schmecken zu können, dass es Faren nicht gut ging.
„Natürlich macht es mir etwas aus“, erwiderte Allegra ruhig. „Kierans Tod ist tragisch. Aber ich habe schon so viele andere Personen in meinem Leben verloren, ich bin das gewohnt.“
Und außerdem war sie ohnehin kaputt und gequält genug. Jedenfalls war es mit Sicherheit das, was sie nun nicht erwähnt, aber zumindest gedacht hatte. Kieran sah es an ihrem undurchdringbaren Gesichtsausdruck.
„Tja, ich bin das nicht gewohnt“, erwiderte Faren. „Und ich möchte mich auch gar nicht daran gewöhnen, wenn ich ehrlich sein soll.“
„Du bist also wütend, weil Kieran tot ist?“
Faren schnaubte. „Natürlich bin ich das. Kieran war unser Freund, ohne ihn wird jetzt für immer etwas fehlen. Und dann auch noch die Art, auf die er gestorben ist ...“
Als Mitglied der Stadtwache hatte Faren natürlich die Einzelheiten erfahren und sie mussten ihm mehr zugesetzt haben, als Kieran je gedacht hätte. Es schmerzte ihn, dass Faren wegen ihm litt.
„Würde es dir helfen, wenn du wüsstest, dass es ihm gut geht?“
Faren zuckte mit den Schultern. Allegra warf Kieran einen kurzen Blick zu, worauf dieser zu seinem Freund hinüberschritt. Er stand noch immer da, mit einer Hand auf dem hölzernen Stiel der Axt, und sah direkt durch ihn hindurch. Kieran hob die Hand und legte sie behutsam auf Farens Schulter ab. Er glaubte, zu spüren, wie sein Freund ein wenig zusammenzuckte, aber er war sich nicht vollkommen sicher und wollte sich auch keiner falschen Hoffnung hingeben.
„Es ist alles in Ordnung, Faren“, hauchte Kieran. „Mir geht es gut. Ich bin immer noch hier.“
Die Gesichtszüge des anderen entspannten sich nicht, aber er wirkte durchaus ein wenig gefasster, seine braunen Augen waren nicht mehr so dunkel wie zuvor.
„Vielleicht hast du recht, Allegra“, sagte Faren, mit einer Überwindung, die ihresgleichen suchen dürfte. „Wenn ich daran glaube, dass es ihm jetzt gut geht, dann geht es mir auch besser. Aber ich werde noch eine ganze Weile wütend auf diese ganze Sache bleiben. Auch auf ihn.“
Das konnte Kieran gut verstehen und wollte er ihm auch nicht verbieten. Deswegen sagte er nichts dagegen, genausowenig wie Allegra.
Als weitere Reaktion lehnte Faren die Axt gegen den Holzklotz, der ihm als Unterlage für das Hacken diente. „Ich denke, ich sollte ins Bett gehen. Ich habe morgen früh Dienst.“
Kieran nickte und trat einige Schritte zurück, auch wenn er sich gerade nur ungern von seinem Freund entfernte. „Guten Nacht, Faren.“
„Gute Nacht, Faren“, echote Allegra.
Während er wirklich davonging, um ins Haus zu kommen, sah Kieran ihm mit einem bitteren Lächeln hinterher. Er hätte wirklich niemals geglaubt, dass sein Tod Faren so nahe gehen könnte, nicht einmal nachdem sie sich in der letzten Zeit zumindest ein wenig besser verstanden hatten – und immerhin war es Faren bewusst gewesen, dass er ein Lazarus war, also war für ihn doch immer mit einem derartigen Tod Kierans zu rechnen gewesen.
Und doch …
„Wie süß~.“
Kieran zog die Brauen zusammen und sah Allegra an. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Zwinkern. „Ihr beiden würdet wirklich süße beste Freunde abgeben – oder gleich ein Paar.“
An ihrem verträumten Blick erkannte er, dass er ihre Gedanken lieber nicht näher erläutert haben wollte. Also setzte er seinen Weg rasch fort. „Wir haben einen Dämon einzufangen, vergiss das nicht.“
Sie folgte ihm mit einem vergnügten Summen und auch einem lockeren Schritt. „Ich weiß gar nicht, warum du jetzt ablenken willst. Überleg doch nur mal, wie süß ihr zusammen wärt~.“
Während er den Weg fortsetzte, dachte Kieran betrübt darüber nach, wie gern er nun an Farens Stelle wäre, der hoffentlich einen ruhigen, traumlosen Schlaf hatte.
6 – Mitternacht II: Wohin
Noch bevor Kieran die Augen wieder öffnete, erinnerte er sich daran, wie spät es geworden war. Er und Allegra hatten den ganzen Tag damit verbracht, Cherrygrove nach ungewöhnlichen Erscheinungen zu durchsuchen. Kieran war überzeugt, dass der Dämon noch immer hinter Nolan her war, aber in dessen Nähe war nichts geschehen. Der Junge trauerte, aber es ging ihm gut. Kieran war froh, dass er sich deswegen keine Sorgen machen musste.
Ihm blieben noch einige Tage, um den Dämon zu finden, aber es machte ihn nervös, dass er bislang noch keine Spur hatte ausmachen können. Darüber müsste er sich aber erst am nächsten Tag wieder Gedanken machen. Vorerst war die Treppe wichtiger.
Deswegen öffnete er direkt seine Augen. Er saß tatsächlich auf der Wendeltreppe, möglicherweise sogar dort, wo er sie zuletzt verlassen hatte. Da er den Boden nicht mehr sehen konnte, war es ihm aber unmöglich, das wirklich festzustellen.
Charon stand bereits neben ihm. „Willkommen zurück, Kieran. Oh, du siehst unzufrieden aus.“
„So fühle ich mich auch.“ Er erhob sich, dabei wurde ihm ein wenig schwindelig. Er hielt sich an der Mittelsäule fest. „Ich bin das Gefühl nicht mehr gewohnt. Dabei sind es erst zwei Tage.“
„Menschen sind erstaunlich gut darin, zu vergessen, wie das Leben war, sobald sie tot sind.“ Charon klang bedauernd. „Aber das ist wohl der Lauf der Zeit, ich kann daran nichts ändern.“
Für einen flüchtigen Moment wirkte er sogar wirklich traurig, aber dann kehrte sein Lächeln zurück. Es sah nun hohl aus, nicht mehr so herzlich wie zuvor. Als müsse er sich dazu zwingen, etwas anderes als Schmerz zu empfinden. „Warum bist du denn unzufrieden?“
Kieran wartete einen kurzen Moment, atmete tief durch. Als sich endlich nichts mehr vor ihm drehte, stieg er die Stufen weiter nach oben. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihm, dass Charon sich ihm automatisch anschloss. Er sah wieder nach vorne, ehe er antwortete: „Ich habe immer noch keine Spur von dem Dämon. Den ganzen Tag haben wir danach gesucht.“
Darauf sagte Charon nichts. Deswegen schob Kieran eine Frage hinterher: „Bist du dir sicher, dass der Dämon noch da ist?“
Er erntete ein amüsiertes Lachen. „Zweifelst du etwa an mir? Du bist wirklich ein ganz eigenartiges Exemplar, Kieran Lane.“
„Das ist keine Antwort.“
Abwehrend hob Charon die Hände, lachte aber immer noch. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich schließlich beruhigt hatte und antworten konnte: „Es gibt wirklich noch einen Dämon in Cherrygrove. Und er hat es tatsächlich noch auf Nolan abgesehen. Aber natürlich kann er ihn nicht angreifen, während er zu Hause trauert.“
„Weswegen?“
„Dein Blut wurde dort vergossen. Und du hast dich immer um Nolan gesorgt. Derartiges Lazarus-Blut dient wie ein Schutzwall. Praktisch, oder?“
Das war für Kieran vollkommen neu. Aber er fühlte sich nun sicherer, was Nolan anging. Wenn ihm nun nichts mehr geschehen könnte, solange er zu Hause war …
„Aber irgendwann muss er auch wieder das Haus verlassen“, bemerkte Kieran. „Dann könnte der Dämon ihm etwas antun.“
Charon neigte den Kopf, zufrieden über diese Schlussfolgerung. „Deswegen wäre es vielleicht besser, wenn du ihn vorher zu fassen bekommst.“
„Aber wo soll ich ihn suchen?“
Er war nicht in Nolans Nähe gewesen. Nirgends war auch nur der Hauch einer Spur. Kieran wusste ja nicht einmal, wie er aussah.
Ein plötzliches Tippen gegen seine Stirn holte ihn zurück aus den Gedanken, ehe er sich in ihnen noch hoffnungslos verlaufen könnte.Charon lächelte warm, diesmal schien es wieder ehrlich zu sein. „Denk nicht so viel nach. Du neigst dazu, um Ecken zu denken, die eigentlich gar nicht notwendig wären.“
„Das ist nicht wahr“, erwiderte Kieran murmelnd, ohne große Überzeugung.
Es entsprach tatsächlich der Wahrheit, dass er in den einfachsten Dingen Fallen wähnte und deswegen zu Umwegen neigte. Auch in seinen Gedanken.
„Du musst einfacher denken“, forderte Charon ihn auf. „Wo war der Dämon, als er dich umgebracht hat?“
„In meinem Haus. In Landis' Körper.“ Er erinnerte sich noch an den leeren Blick aus den bekannten Augen. „Aber er ist nicht mehr in Landis.“
Den Jungen hatte er schon am ersten Tag gesehen. Da war er Oriana gefolgt, nichts an ihm war anders gewesen als sonst.
Konnte der Dämon sich innerhalb der Barriere frei bewegen? Dann könnte er in jedem sein. Oder in allem, was irgendwie lebendig war. Oder er könnte vielleicht auch ohne feste Form existieren.
„Auch wenn er jetzt wieder normal ist, solltest du möglicherweise versuchen, bei ihm anzusetzen“, schlug Charon vor. „Wäre es nicht logisch, dass von ihm aus Spuren zu finden sind?“
Das wäre vermutlich wirklich am besten, das sah auch Kieran ein. Wenn er dann mitbekam, mit wem Landis im Laufe des Tages Kontakt hatte, fand er vielleicht eine weitere Spur, die ihn endlich zum Dämon führte.
Er schielte zu Charon hinüber, doch dieser winkte ab. „Mehr kann ich dir nicht erzählen. Machst du es dir nicht ohnehin zu einfach, wenn du nur mich fragst?“
„Du weißt doch ohnehin alles, warum kann ich dann nicht dich fragen?“
Charon wedelte mit dem Zeigefinger. „Uh-uh, das wäre doch sonst viel zu einfach. Niemand will über einen Helden lesen, der sich von anderen alles vorkauen lässt.“
Kieran fragte sich, wovon er überhaupt sprach. Er sah sich weder als Held – nach derart vielen Gelegenheiten, bei denen er versagt hatte, konnte er sich nicht einmal mehr in seinen Träumen selbst als solchen bezeichnen – noch verstand er, wer überhaupt etwas über ihn lesen sollte. Und wie.
Charon wehrte aber noch einmal mit seinem Zeigefinger ab. „Ich habe schon zu viel gesagt. Wir sollten es daher dabei belassen, dass niemand darüber hören will, wie irgendwer dir alles einfach vorsagt. Du musst auch ein bisschen daran arbeiten.“
Kieran sagte darauf nichts mehr. Es brachte ohnehin nichts.
Inzwischen war er mehr als zwei Dutzend Stufen gelaufen. Wenn er den Kopf in den Nacken legte, konnte er aber immer noch kein Ende erkennen. Die Treppe schien geradewegs in die Unendlichkeit zu führen.
„Gibt es wirklich ein Ende? Das könntest du mir zumindest sagen, oder?“
Einen Moment lang herrschte Stille. Ihre Schritte echoten durch die dunkle Halle, deren Wände er nicht erkennen konnte. Obwohl der Totenwächter bei ihm war, fühlte Kieran sich außerordentlich einsam. Nie hatte er angenommen, jemals andere Menschen oder den Himmel zu vermissen. Schon allein der Wind in seinen Haaren wäre ihm nun wie ein Geschenk vorgekommen.
„Nun?“, durchbrach Kieran die Stille wieder.
„Du willst es wirklich wissen?“, fragte Charon. „Willst du dich nicht lieber überraschen lassen?“
Das klang wie eine furchtbare Idee. Er könnte natürlich einfach Vertrauen zu Charon aufbringen, aber nur weil er Totenwächter war, musste man das noch lange nicht.
„Nein, will ich nicht“, antwortete Kieran deswegen. „Ich will wissen, ob es sich überhaupt lohnt.“
Das Seufzen schien doppelt so laut zu sein wie es dürfte. „Dort oben ist auf jeden Fall eine Tür, die zu einem Raum führt, der sehr wichtig für dich ist.“
Was für einer mochte das sein? Warum war diese Treppe nur so lang?
Mit einem inneren Seufzen verdoppelte Kieran seine Anstrengung, die Stufen zu erklimmen. Charon blieb zurück, aber sein leises Lachen war dennoch zu hören. Kieran ignorierte ihn, während er schweigend weiter hinauflief, um in dieser Nacht so weit wie möglich zu kommen.