Unheil
Keiko erstarrte und schüttelte kurz den Kopf. Sie deutete nach vorn und alle Anwesenden blickten in die Richtung, in die sie zeigte.
„Onee-chan!“ ertönte es lautstark und eine kleine, zierliche Person zwängte sich durch das Gedränge, ihre zwei Kollegen links und rechts an der Hand hinter sich herziehend.
Nanaki Haruno ließ ihre Freunde los, stürmte auf Keiko zu und umarmte sie.
„Endlich machst du mit, ich freu’ mich so!“ verkündete sie und Keiko begann sofort, an Nanakis schwarzen Zöpfen herumzuzupfen, da sie diese wohl selbst gebunden hatten – dementsprechend schief waren sie und ließen sie noch kindlicher aussehen als sie war.
Nanaki war die jüngste Teilnehmerin aus Konoha, mit gerade einmal vierzehn Jahren. Taeko kam dieser Altersunterschied riesig vor, obwohl sie selbst erst fünfzehn war. Es war nur diese gewaltige Kontrast von, beispielsweise Hitomis ruhigen, nachsichtigen Lächeln und Nanakis großen, schwarzen Kulleraugen.
„Morgen.“ meinte der einzige Junge unter den Anwesenden, Reis Zwillingsbruder Minato, ein wirklich lieber Kerl, der leider mit dem Gewicht seines bedeutungsschweren Namens zu kämpfen hatte. Er war nicht nur Sohn des Hokage und eines der mächtigsten Clans des Dorfs zugleich, nein, er trug auch noch den Namen einer Legende.
Minato Namikaze, der Vierte Hokage, war sein Großvater und obwohl er ihn nie kennenlernen durfte, überschattete sein Erbe das ganze Leben des jungen Genin.
Keiko wurde sofort rot, als Minato in Sichtweite kam und wandte den Blick ab, während Rei und Taeko kollektiv mit den Augen rollten. Es war im Team 16 allgemein bekannt, dass Keiko sich Hals über Kopf in Minato verliebt hatte, es aber nicht fertig brachte, ihm das zu gestehen.
Zwar hatte Rei sie damit besänftigt, dass Minatos Unfähigkeit, das zu begreifen, in der Familie lag und der Vater der Zwillinge, Hokage Naruto, am Ende seine heimliche Verehrerin Hinata geheiratet hatte, doch an Keikos Verhalten ihm gegenüber hatte sich nichts geändert.
Fast unbemerkt blieb das dritte Mitglied von Team 18, Izune Nara, die Älteste ihres Teams, sechzehn Jahre alt.
Sie war generell eine eher ruhige Person, weshalb sie die bereits Anwesenden nicht gegrüßt, sondern nur flüchtig gewunken hatte.
„Du siehst gut aus.“ meinte Yasu, der erste vollständige Satz, den sie heute sagte.
Izune zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß, ich war über’s Wochenende in Suna, deshalb bin ich wohl ein bisschen braun geworden.“ antwortete sie und Yasu nickte nur verstehend, um dann wieder in Schweigen zu verfallen.
Izunes Mutter, Temari, war die Schwester des Kazekage und war nicht umgezogen, als sie Shikamaru Nara geheiratet hatte. Obwohl Izune in Konoha aufwuchs, besuchten sie und ihr Vater oft Sunagakure, meistens an Wochenenden und in den Ferien.
„Oh richtig. Jetzt wo du’s erwähnst, Yasu, ich hab ein bisschen was für euch mitgebracht.“ erinnerte sich Izune und griff in ihre Umhängetasche, die sie wohl in Suna gekauft hatte. Sie holte ein kleines Päckchen aus Papier heraus und faltete es auf.
„Guckt mal, das sind diese süßen Fladenbrotkekse, die ihr letztens so gerne mochtet. Deshalb hab ich euch ein paar mitgebracht. Achtzehn Stück, für jeden von uns neun zwei.“
Sie streckte ihre Hand mit dem Päckchen aus und alle außer Yasu sprangen sofort auf, um sich ihre Ration zu holen. Hitomi nahm vier und brachte Yasu ihren Anteil.
„Seht es als Glücksbringer, den man essen kann.“ fügte Izune noch hinzu, während Taeko an ihrem Keks knabberte.
Das Gebäck war hartgebacken und gezuckert, diese spezielle Sorte, die Izune mitgebracht hatte, war zusätzlich noch mit Sanddorn-Marmelade gefüllt.
Eine sehr populäre Süßigkeit in Suna, besonders weil es keine Schokolade an sich hatte, die in der Hitze der Wüste schmelzen konnte.
Taeko atmete durch und lächelte.
Jetzt stand der Theorieprüfung nichts mehr im Weg!
-
Fast drei Stunden später hatten die neun Genin die Prüfung hinter sich gebracht.
Nanaki massierte ihr Handgelenk, da sie offenbar sehr schnell und sehr viel geschrieben hatte, während Minato sich seinen zweiten Keks in den Mund schob.
Taeko hatte ihn behaupten hören, er würde den zweiten erst essen, wenn er die Prüfung fertig hätte, um dann keine zwei Minuten später zu erfahren, dass man im Prüfungsraum nicht essen durfte.
Rei und Hitomi bombardierten Izune mit Fragen, was sie bei welchen Aufgaben geschrieben hätte, da sich jeder bei ihr sicher war, dass sie mit einhundert Prozent bestehen würde.
Yasu und Shiori saßen Rücken an Rücken auf dem Boden und sahen aus, als wollten sie auf der Stelle einschlafen.
Keiko hockte mit ihrem Taschenrechner in der Ecke und schien wohl einige der Aufgaben noch einmal durchzukalkulieren. Bei ihr machte sich Taeko kaum Sorgen, da sie vermutlich das intelligeneste Mitglied ihres Teams war.
Taeko selbst qualmten die Gehirnwindungen. Sie entschuldigte sich kurz bei ihren acht Freunden und verließ das Gebäude, um kurz frische Luft schnappen zu können, den Kopf freizubekommen.
Es war Frühling in Konoha.
Die Temperaturen stiegen zwar, aber es war noch nicht warm genug, schwimmen gehen zu können, dafür kühl genug, um sich draußen ein wenig zu erfrischen.
Der Prüfungsraum war doppelt so groß gewesen wie ein normaler Unterrichtsraum, hatte aber fast zweihundert Mann fassen müssen, weshalb nach einer Viertelstunde die Luft bereits so verbraucht und stickig geworden war, dass Taeko versucht gewesen war, ihre Kunai zu zücken und die Luft um sich herum in Scheibchen zu schneiden.
Nach einer halben Stunde war sie bereits völlig durchgeschwitzt gewesen und auf halbem Wege durch die Prüfung war ihr übel und schwindelig geworden.
Taeko war noch immer wackelig auf den Beinen und lehnte sich an die Außenwand des Akademiegebäudes. Sie atmete ein paar Mal tief durch und fühlte sich gleich etwas besser. Der Prüfer hatte erst gegen Ende die Fenster geöffnet und das hatte auch nicht mehr viel geholfen.
„Glückwunsch für die erste Etappe der Chuunin-Auswahlprüfungen!“ meldete sich eine Stimme neben ihr und Taeko hob überrascht die Brauen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich jemand zu ihr gesellt hatte.
„Danke.“ murmelte sie nur.
Neben ihr stand ein Mädchen, vielleicht ein wenig älter als sie selbst und lächelte sie zutraulich an. Sie hatte ellbogenlanges, schwarzes Haar und ebenso schwarze Augen, das Sonnenlicht spiegelte sich in ihnen und verlieh ihrem Blick etwas Warmes. An der linken Wange hatte sie eine schmale Narbe, wohl von einer Mission, wie Taeko aufgrund des Konoha-Stirnbandes um ihrem Hals vermutete.
„Bist du neu im Dorf? Ich hab dich hier noch nie gesehen.“ erkundigte sich Taeko und das Mädchen nickte.
„Ja, ich bin erst vor ein paar Wochen hergezogen.“ stimmte sie zu und reichte ihr die Hand. „Aki Takayama. Freut mich, dich kennenzulernen.“
„Taeko Kiyoyama.“ stellte sich Taeko vor und schlug ein, doch kaum berührte die Bandage ihrer rechten Hand Akis, verfinsterte sich der eben noch so freundliche Blick.
Aki hielt Taekos Hand fest, fast so stark, dass es wehtat.
„Takayama-san...?“ stammelte Taeko überrascht.
„Wusste ich’s doch. Gibt viele, die sich die Hände verletzen und Bandagen tragen müssen, aber ich spüre dein Kekkei Genkai durch die Bandage. Du bist also wirklich seine Brut, was?“ flüsterte Aki, nun mit einer eisigen, harten Stimmlage, die überhaupt nicht mehr an ihre freundliche Bergrüßung erinnerte.
„Was...? Wovon redest du?“ keuchte Taeko, während ihr Verstand noch versuchte, mit dem plötzlichen Wechsel der Stimmung mitzuhalten.
„Ich frage mich, kannst du überhaupt noch teilnehmen, wenn ich dir die Hand breche?“ fuhr Aki unbeirrt fort und ignorierte Taekos Fragen. „Tch. Näss dich nicht ein. Ich kann dich noch nicht verletzen, weil du sonst Beweise hättest.“
„Beweise wofür?“ fragte Taeko energisch und versuchte, ihre Hand aus Akis Griff zu befreien, der immer schmerzhafter wurde.
„Beweise dafür, was ich dir gleich erzählen werde, Taeko-chan.“ entgegnete Aki, die vertraute Anrede spöttisch betonend. „Hör gut zu, ich werde langsam reden, damit dein Hirn mitkommt, ja? Ihr Konoha-Kids habt’s echt gut, was? Kein Krieg mehr, alles paletti, hm? Sasuke hat ja ganze Arbeit geleistet, als er den bösen, bösen Bösewicht Itachi ermordet hat, hm?“
„Was hat Uchiha-san damit zutun?“ unterbrach Taeko sie alarmiert, als sie den Namen von Keikos und Nanakis Vater hörte. „Und wer ist Itachi?“
„Mein Vater, du Dorftrottel. Interessant, dass man hier nicht einmal mehr seinen Namen kennt. Fast, als hätte er nie existiert, hm?“ Aki spuckte verächtlich auf den Boden. „Ihr macht mich krank. Pass auf, Schätzchen. Dein friedliches Leben hat jetzt ein Ende, und weißt du auch wieso? Weil niemand hier denjenigen wertschätzt, der euch Drecksblagen diesen Frieden ermöglicht hat. Du denkst, du kannst fein Karriere machen und in dieser hübschen, kleinen Welt aufwachsen? Denk nochmal genau drüber nach, Taeko Kiyoyama.“
Sie ließ Taeko endlich los und setzte wieder ihr freundliches Lächeln auf.
„Ich freue mich schon, wenn wir in einem fairen Kampf im Wald des Todes aufeinander treffen, Kiyoyama-san.“ meinte sie, nun wieder in ihrem fröhlichen, sanften Tonfall. „Er trägt seinen Namen ja nicht zu Unrecht und außerdem sind sterbende Prüflinge keine Seltenheit. Mal gucken, wie viele es diesmal nicht schaffen, was?“
Mit diesen Worten ließ sie Taeko atemlos stehen und verschwand wieder im Gebäude.