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Zeit

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Zeit

„… oh, oh, und hier, fass das mal an Eren!“

„Aber das ist eine Brennnessel!“

„Ja, ich weiß!“

Ein Seufzen. „Okay …“

Levi schnaubte nur. Eines Tages würde Eren es sicher noch einmal bereuen, dass er Hanjis sogenannten Experimenten Folge leistete. Insgeheim zollte er dem Jungen dafür teilweise ja schon arg Respekt, er war sich nicht sicher, ob er freiwillig alle möglichen giftigen und stechenden Pflanzen anfassen würde und was auch immer Hanji sonst noch gerade an schmerzhaften Dingen einfiel.

Es war eine Sache Wunden schnell heilen zu können, aber eine gänzlich andere, sie sich selbst zuzufügen. Und, soviel wussten sie bereits, Eren hatte ein absolut normales Schmerzempfinden.

Levi schüttelte innerlich nur den Kopf. Hoffentlich war der Verrückten klar, was Eren da für sie durchmachte. Er warf einen kurzen Blick zu den beiden herüber, dann in den Himmel hinauf. Es war Nachmittag, sie waren auf einer Lichtung im Wald nahe des Hauptquartiers der Aufklärungslegion und eigentlich hatten sie nur einen Spaziergang machen wollen.

Es war Hanjis Vorschlag gewesen und Levi stimmte insofern überein, dass es eine gute Idee gewesen war. Natürlich hatte sie es als Vorwand genommen Eren ein bisschen weiter zu löchern (seit wann brauchte sie dazu überhaupt einen Vorwand?), aber in erster Linie war es eine Pause gewesen.

Und sicher keine unwillkommene.

Was Levi zusätzlich hatte zustimmen lassen, war die Tatsache, dass er durchaus merkte, dass Eren ruhiger wurde, je mehr Zeit er mit ihnen verbrachte. Die hektische Nervosität vom Anfang war so gut wie verschwunden und auch wenn er sich ganz offensichtlich noch nicht traute Hanji zu widersprechen oder ihr eine Bitte auszuschlagen, so war der Umgang doch deutlich lockerer geworden. Er zuckte nicht mehr, sobald ihn jemand ansprach und schien sich teilweise sogar ein wenig zu entspannen.

Sie waren auf dem richtigen Weg, auch wenn es vermutlich noch eine ganze Weile dauern würde, bis Eren wirklich verstand, dass auch Vorgesetzte nur Menschen waren und dass es einen Unterschied zwischen militärischem Gehorsam und zivilem, normalen Umgang miteinander gab. Nun, zugegeben, einige verstanden das nie, andere übersprangen Zwischenschritte, wie Hanji es in aller Regel tat, aber er wollte ja nicht gleich vom schlimmsten ausgehen.

Levi gähnte. Es war gestern Abend sehr spät geworden, weil Erwin unbedingt darauf bestanden hatte die neuen Gruppeneinteilungen noch am Stück durchgehen zu müssen. Dazu kam das Training heute Morgen und das Herumgerenne wegen einiger Akten heute Mittag und das Ergebnis war, dass er nichts gegen ein Nickerchen gehabt hätte.

Eigentlich wollten sie ja auch schon zurück sein, aber Eren hatte sich natürlich an diesem Dornenbusch aufkratzen müssen und Hanji war zu neugierig geworden. Levi hatte keine Ahnung, was genau sie gesehen zu haben meinte, für ihn hatte das ausgesehen, wie bei jedem anderen auch, aber da Hanji selbst der Meinung war vor einem Durchbruch zu stehen und sie Eren offensichtlich nicht mit zu gefährlichen Sachen aufspießte, ließ er sie gewähren.

Er hatte sich in der Nähe an einen Baum gelehnt und schloss nun ein wenig die Augen.

Mit dem kleinsten Ansatz eines Lächelns lauschte er ihren Stimmen und konnte nicht umhin zu denken, wie normal diese Situation war – immerhin musste er eigentlich fast immer anwesend sein, wenn Hanji eines ihrer Experimente an Eren vornahm – und er fragte sich ein wenig, ob dieses Normal wohl bedenklich war.

Wobei, vermutlich auch nicht bedenklicher als einige andere, die er hatte …

„Captain? Sollten wir nicht langsam zurück?“

Erens Stimme ließ ihn abrupt aufschrecken und blinzeln. Wie hatte er ihn so kalt erwischen können? Verdammt, war er etwa doch kurz weggenickt?

Schnell huschte Levis Blick nach oben zur Sonne und er biss sich unwillig auf die Unterlippe. Shit, Zeit verpasst. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt zu schlafen und dachte, Hanji würde schon ein Auge auf den Sonnenstand haben. Er hätte es wohl besser wissen sollen.

Mürrisch nickte er nur, stand auf und klopfte sich Blätter von der Hose, während er versuchte die verbleibende Zeit abzuschätzen.

Das Quartier war nicht zu weit weg, vielleicht eine knappe Viertelstunde auf dem direktesten Weg, aber die Sonne sank rapide, der Wald war jetzt schon mehr rot als grün. Das würden sie nicht mehr schaffen.

Wunderbar. Dabei hatte er eigentlich noch nicht vorgehabt Eren davon zu erzählen. Nun, ließ sich jetzt wohl nichts mehr daran ändern. Er unterdrückte ein genervtes Seufzen und marschierte zu Hanji, die in der Hocke neben ein paar auf dem Boden ausgebreiteten Pflanzen kauerte und sie mit einer roten Flüssigkeit in einer Spritze betropfte, die verdammt nach Blut aussah.

„Hanji, wir sollten zurück. Sofort.“

Sie blickte aus den Gedanken gerissen kurz zu ihm auf. Sie hatte diesen Blick drauf, der aussah, als wüsste sie überhaupt nicht, wo sie war, wer da vor ihr stand oder was gerade abging. Dann hellte sich ihre Miene auf. „Ah, Levi, wunderbar, gib mir mal deinen Arm, ich brauche eine Vergleichsprobe.“

Für einen kurzen Moment war er zu verdutzt, um darauf zu reagieren. „Bestimmt nicht, nimm dein eigenes Blut, du Verrückte!“

Sie schüttelte fast schon schmollend den Kopf. „Ich hab‘ aber eine andere Blutgruppe als Eren. Du nicht.“

Nun war es an ihm zu blinzeln. „Woher weißt du, welche …“, er unterbrach sich selbst. Nicht jetzt, eigentlich war es klar, dass Hanji jede Art von Probe untersuchte, egal, was sie in die Hände bekam. War es da wirklich verwunderlich, dass sie seine Blutgruppe kannte? „Scheiß drauf, Hanji, wir müssen zurück. Schau mal, wie tief die Sonne schon steht!“

Sie schmollte noch ein wenig mehr, sah kurz auf und zuckte die Schultern. „Das reicht schon noch, um die Proben zu untersuchen, keine Sorge.“

Er räusperte sich vernehmlich.

Und offensichtlich fiel endlich der Groschen, denn als sich ihre Blicke nun trafen, war Hanji ernst – und sie stand auf. „Ist es schon so weit?“

Er nickte düster, woraufhin sie übertrieben seufzte und Eren winkte, damit er ihr half die ganzen Pflanzen in eine Tasche zu packen, die sie irgendwo aus ihrer Hosentasche hervorzog. Levi warf einen kurzen Blick auf den Waldweg herüber und rieb sich die Schläfen. Wunderbar, es ging schon los.

Ein wenig ungeduldig wand er sich um und endlich waren auch die anderen beiden soweit, Hanji warf sich die Tasche über die Schulter und trat neben ihn. „Wollen wir?“

Sie tauschte einen kurzen Blick mit ihm und er sah für einen kurzen Moment einen Hauch für Besorgnis, den er mit einem Verdrehen der Augen kommentierte. Sie übertrieb. Mal wieder. Hanji konnte wirklich nur zwischen Extremen schwanken. Auch wenn er im Augenblick wirklich nicht böse darum war, wenn sie das ganze wenigstens halbwegs ernst nahm, es war ohnehin schon nervig und peinlich genug.

Er merkte den Unterschied, kaum, dass sie die Lichtung verließen. Wo es vermutlich sonst noch halbwegs hell gewesen wäre, schluckten die Bäume überraschend viel Licht und ließen den Wald bereits in einem Halbdunkel, dass ihn leise zischen ließ. Oder seufzen, da war er sich selbst nicht sicher, vielleicht auch beides.

Die ersten paar Meter lief er noch alleine, aber als er über die dritte Wurzel stolperte, gab er es schnell auf. Es hatte keinen Sinn, das Licht war viel zu schlecht, er konnte kaum noch die Umrisse der Bäume ausmachen, um ihnen auszuweichen. Der Waldboden, Äste, Büsche, Sträucher, alles, worüber man wunderbar fallen konnte, war längst zu einer einzigen, dunkelgrauen Fläche verschwunden, die zunehmend tiefer zu werden schien.

„Hanji.“

Sie gab einen nicht genauer definierbaren Laut von sich, der ihre Position verriet und Levi machte einen vorsichtigen, bedachten Schritt auf sie zu und streckte den Arm aus. Wie erwartet, berührte er dabei ihren Arm, den sie recht sicher in seine Richtung gestreckt hatte und ließ sich weiter vorwärts führen.

Das war Punkt eins, Punkt zwei lief auf seiner anderen Seite. Und mit recht hoher Wahrscheinlichkeit starrte er ihn gerade an. Nun, ließ sich nichts daran ändern, doch gerade, als Levi den Mund öffnen und eine sachliche Erklärung abgeben wollte, um aus dem ganzen möglichst keine große Sache zu machen, überraschte ihn Eren: „Captain? Sind Sie nachtblind?“

Für einen kurzen Moment stutzte Levi und wand den Kopf automatisch in Erens Richtung. Die allermeiste Zeit über machte der Junge nicht gerade den allerintelligentesten Eindruck und auch wenn er Eren nicht gerade für absolut dumm hielt, so hatte er nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet er überhaupt wusste, dass es so etwas gab.

„Ja.“, entgegnete er schließlich mit leichter Verzögerung und konnte nicht umhin verwundert nachzufragen: „Du kennst das?“

Er hatte das untrügliche Gefühl, dass Eren nickte, aber scheinbar erinnerte sich der Junge noch daran eine verbale Antwort anzufügen: „Ja. Eine Freundin meiner Mutter hatte das Problem auch.“, erklärte er in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass er dabei die Schultern zuckte und es nicht gerade als große Sache ansah, „Tatsächlich haben sie sich kennengelernt, weil mein Vater sie genau deswegen untersucht hat.“

Manchmal vergas Levi gerne, dass Eren der Sohn eines bekannten Arztes war. Auch wenn man es ihm nicht zu oft anmerkte, ab und an blitzte es in Kleinigkeiten durch. Er hatte schon gesehen, wie Eren ohne darüber nachzudenken Wunden verband, die in der Ausbildung sicher nicht durchgenommen wurden, wie er einmal ein scheinbar wahlloses Kraut aus dem Boden gerupft und auf einer anfangenden Entzündung zerrieben hatte, was sich hinterher als absolut richtig herausgestellt hatte. Oder das eine Mal, als Eren nach einem Sturz Jeans Knöchel abgetastet und ihm gesagt hatte, dass er nicht gebrochen war, noch ehe die Feldärzte das bestätigten konnten.

Eren war kein Mediziner, aber seine etwas willkürlich erscheinenden Grundkenntnisse – vermutlich einfach, was er mal aufgeschnappt hatte – waren doch ein wenig ausgeweiteter als bei den meisten Soldaten und sicher nicht unhilfreich. Dennoch rechnete Levi nie damit, dass er speziellere Sachen kannte und Nachtblindheit war zum Glück nicht allzu verbreitet.

„Er konnte ihr nicht helfen“, erzählte Eren währenddessen nebenbei weiter, „aber meine Mom und sie haben sich angefreundet und sie blieb abends öfter mal länger. Ich habe sie ein paar Mal nach Hause gebracht“, seine Stimme nahm einen leicht verträumten, fast etwas nostalgischen Tonfall an, als würde er über etwas sprechen, das lange vorbei war. Wobei, vermutlich war es das, immerhin waren über fünf Jahre seit dem Fall von Shiganshina und damit dem Tod von Erens Mutter vergangen. Für einen Teenager in seinem Alter war das eine lange Zeit.

Nun, für Levi eigentlich auch. Vieles war in den letzten fünf Jahren geschehen …

In seine Gedanken schob sich das Bild eines übermotivierten, hyperaktiven Jungen, der eine Frau durch die Straßen zerrte und fast hätte er amüsiert geschnaubt. Wahrscheinlich war Eren sich auch noch ganz stark vorgekommen und hatte extra gut aufgepasst. Kleine Kinder … Seine Mundwinkel zuckten kurz.

„Wie schlimm ist es bei Ihnen?“, folgte die dann die vermutlich zu erwarten gewesene Frage.

Levi unterdrückte das Seufzen gerade noch. Es war einmal weniger schlimm gewesen. Genau genommen hatte es erst vor etwa acht Jahren angefangen und anfangs hatte er es noch gut ignorieren können. Bis die Hungerstrecke kam und es richtig schlimm wurde. Irgendwer hatte mal was von Vitaminmangel geredet … Immerhin war es dabei geblieben, aber gerade wurde das Licht so schlecht, dass er quasi nichts mehr sah. Jetzt musste er sich auch schon bei den Bäumen auf Hanji verlassen und die waren wirklich kein kleines Hindernis.

Er versuchte nicht daran zu denken und erwog einen Moment lang gar nicht zu antworten. Andererseits, Eren wusste ohnehin Bescheid, dann wäre es wohl sicherer er kannte das gesamte Ausmaß, nicht?

Unwillig, aber nach wie vor möglichst sachlich erklärte er: „Schlimm genug, dass ich nur noch schwarz … was ist?“

Auf einmal blieb Hanji stehen, dabei war er sich sehr sicher, dass sie noch nicht aus dem Wald raus waren. Zum einen waren sie dazu nicht lange genug gelaufen, zum anderen hatten sie beinahe Vollmond. Sobald sie den Wald verließen, würde er zwar keinesfalls genug sehen können, aber zumindest ein heller Fleck sollte dort sein. Ganz abgesehen davon, dass er nach wie vor den weichen, Waldboden mit seinen Wurzeln und Blättern unter den Stiefel spürte und Blätterrascheln hörte.

Hanji gab keine Antwort, dafür verstummten nun auch Erens knirschende und knackende Schritte und er spürte, wie Hanji sich irgendwo herunterbeugte. Oh, nein, bitte nicht. Lass sie nicht schon wieder irgendwas …!

„Schau mal, sie leuchten!“

Er spürte eine Bewegung vor seinem Gesicht und im nächsten Moment stieg ihm ein sehr unangenehmer Geruch in die Nase.

„Hanji? Du hast zehn Sekunden um was-auch-immer-das-ist aus meinem Gesicht zu nehmen!“, knurrte er noch nicht wirklich böse, aber doch etwas genervt, „Dir ist schon klar, dass ich es sowieso nicht sehen kann, oder?“

Der Geruch wurde etwas schwächer, aber irgendetwas sagte ihm, dass Hanji das Ding (vermutlich eine Pflanze oder ein Pilz) noch immer in Händen hielt. „Aber … schau doch nur, wie sie schimmern, das muss irgendeine Art fluoreszierende …!“

Sie laberte noch ein wenig weiter und Levi verdrehte nur die Augen. „Hanji!“

„Soll ich Sie zurückführen?“, kam die überraschende Frage derweil von Eren. Levi gab den Versuch für einen Moment auf, wand sich um und schüttelte den Kopf.

„Noch nicht, Eren.“ So weit waren sie noch nicht. Es gab im Augenblick nur zwei Menschen, denen er genug dazu vertraute und Eren zählte nicht dazu. Auch wenn er den Vorschlag durchaus abspeicherte und ihm irgendwo auch anrechnete.

„Ich verstehe.“

Noch eine weitere Überraschung heute Abend, die Levi nickend zur Kenntnis nahm, ehe er Hanji unsanft in den Arm zwickte, bis sie aufquietschte.

„Hanji, bring mich zum Quartier, dann kannst du dein komisches leuchtendes Unkraut untersuchen …“

„Pilze!“, korrigierte sie fast schon empört, aber er spürte, wie sie sich wieder in Bewegung setzte.

Er schüttelte nur den Kopf. „Von mir aus auch Pilze …“

 

Es blieb der einzige Vorfall dieser Art für die nächsten Jahre. Dankbarerweise unternahmen sie selten Aktionen nach Einbruch der Dunkelheit und da insbesondere Erwin natürlich von Levis Problem wusste, konnte er es gut vermeiden spät unterwegs zu sein.

Dann und wann würde eine Besprechung einmal länger dauern, aber die Gänge im Hauptquartier waren auch nachts ausreichend mit Fackeln beleuchtet, dass Levi vielleicht nicht gerade viel sehen konnte, aber genug, um zu wissen, wo die Wände waren.

Abgesehen davon, dass er das Gebäude inzwischen gut genug kannte, dass er sich zur Not auch vollkommen blind darin zurechtfand und es nur in Ausnahmefällen einmal zuließ, dass Erwin ihn zu seinem Zimmer brachte. Es gab keinen Grund dazu.

Bis Levi sich an einem Tag im Spätherbst seltsamerweise in einem halben Déjà-vu wiederfand.

Diesmal war es nicht Hanjis Schuld. Er hatte mit Eren ein paar deutlich fortgeschrittenere Manöver geübt – Eren war inzwischen zwanzig, hatte seine Titanenform unter Kontrolle und zugegebenermaßen einiges dazugelernt, da konnte er solche Sachen problemlos bringen.

Zudem hätte Levi es niemals laut ausgesprochen, aber auch für ihn war es immer wieder interessant, wenn er mit Eren in dessen Titanenform trainierte – es eröffnete noch immer dann und wann neue Möglichkeiten, die es zu testen und zu erweitern galt.

Leider hatte dieses Training mehrere Nachteile. Sie mussten ein wenig abseits trainieren, denn ein Titan innerhalb der Mauern sorgte nach wie vor für Unruhe und Eren war alles andere als klein. Außerdem hatte all die Ausdauer und Übung der letzten Jahre nicht verhindern können, dass Eren diese Form viel Energie kostete.

Entsprechend hatte Eren nach über einer Stunde – was zugegeben auch für ihre Verhältnisse nicht gerade kurz war – dringend eine Pause gebraucht. Er war relativ schnell eingeschlafen, nachdem er sich gegen einen der Baumstümpfe in der Gegend gelehnt hatte. Levi hatte es ihm gleich getan und Hanji gähnend dabei zugesehen, wie sie irgendwelches grüne, schleimige Zeug aus dem nahegelegenen Tümpel fischte.

„Levi! Levi, sollten wir nicht zurück?“

Sie war es auch, die ihn irgendwann wachgerüttelt hatte, aber da war es schon zu spät gewesen. Hanji konnte es irgendwie nie wirklich einschätzen.

Levi rieb sich stöhnend die Schläfen. Er war nicht sicher, ob er sich darüber ärgern sollte, dass es wieder passiert war oder dass er immerhin fünf Jahre Pause gehabt hatte, aber diesmal würde es ein wenig unlustiger werden. Sie waren nämlich nicht mehr in Laufweite, die Pferde waren am Waldrand festgebunden und mit einem Teil von Hanjis Squad dort zurückgeblieben und von dort aus war es noch ein fast halbstündiger Ritt zurück.

Wie er sich doch darauf freute …

Aber es brachte ja alles nicht und da er nicht gerade scharf darauf war, hier zu übernachten, stand er auf, streckte sich und stieß Eren leicht mit dem Knie an.

„Uuuhhn?“

Levi schmunzelte kurz ein wenig amüsiert, ehe er den verschlafen gähnenden jungen Mann noch einmal leicht gegen die Schulter stupste. „Los, Schlafmütze, wir müssen zurück.“

Eren nickte nur und streckte sich gähnend, ehe er langsam aufstand und dabei weitere, seltsame Geräusche von sich gab.

Dabei warf er wohl einen Blick nach oben, denn mit einem Mal blinzelte Eren und schien wacher. „Wie lange habe ich geschlafen?“

„Zu lange“, gab Levi ohne Zögern zurück, zuckte dann die Schultern und verschwieg absichtlich, dass er genauso lange weg gewesen war. Stattdessen deutete er mit einer Kopfbewegung in Richtung des Trampelpfads, über den sie hergekommen waren.

Wenigstens bestand Hanji nicht darauf das eklige Unkraut mitzunehmen, das überall am Ufer des Tümpels verteilt lag und folgte sofort. Allerdings nicht, ohne wie üblich über ihre sogenannten Erkenntnisse ausführlich zu berichten.

„… und ich bin dafür, dass wir auch so etwas anlegen, das Ökosystem ist ein komplett anderes und darin leben Arten, die extrem selten sind und …!“

Levi blendete es – ebenfalls wie üblich – ziemlich aus, trat aber kaum, dass sie den Waldrand erreichten näher an sie heran. Hanji unterbrach sich nicht einmal, als er nach ihrem Arm griff, er hoffte bloß, dass sie wusste, was das bedeutete.

Dieser Wald war sehr dicht, hier drinnen herrschten schon am Tag Lichtverhältnisse, die stark in Richtung Dämmerung gingen, aber jetzt, ohne direkte Sonne von oben war es für ihn stockfinster.

Er lauschte auf Erens Schritte neben ihm. Sie wirkten ein wenig träge, aber das konnte sowohl seine übliche, gelangweilte Art zu laufen sein oder die noch immer anhaltende Erschöpfung. Sollte es nicht ersteres sein, konnte er sich auf jeden Fall auf ein paar weitere Ausdauereinheiten einstellen, soviel war klar.

Hanji zog ihn ruckartig nach links und Levi wäre um ein Haar gestolpert, fing sich aber gerade noch mit einem unwilligen Murren. „Hanji.“

„‘Tschuldige“, erwiderte sie, „War ein wenig abgelenkt.“

Ja, das war eindeutig das größte Problem an Hanji. Er wusste, dass sie es absolut nicht böse meinte und normalerweise sehr gut aufpasste, aber wenn ihre viel zu kurze Aufmerksamkeitsspanne mal wieder zuschlug … er machte sich eine gedankliche Notiz, sie das nächste Mal auch entgegen ihrer Proteste aus ihrer Erklärung zu reißen, bevor er fast gegen einen Baum, Stein, Strauch oder was auch immer lief.

Es war schlimm genug, dass er sich führen lassen musste, er brauchte es sicher nicht auch noch, dass er trotzdem irgendwo gegen knallte.

Ein wenig mürrisch schloss er automatisch die Augen und lauschte stattdessen. Hanji war inzwischen verstummt, was hoffentlich bedeutete, dass sie jetzt ein wenig aufmerksamer war, Eren schwieg ohnehin die ganze Zeit, aber auch der Wald war überraschend still, dafür, dass um diese Zeit eigentlich einige Tiere erst aktiv werden sollte.

Levi öffnete blinzelnd die Augen und wand den Kopf automatisch zur Seite, als direkt neben ihm ein lautes Brummen erklang, als würden da mehrere hundert Insekten auf einmal herumschwirren. Augenblicklich wich er nach links aus, in Hanji hinein, drückte sie mit weg. Er spürte, wie sie daraufhin stehen blieb und sich umwand.

„Was ist? Diesmal habe ich aber nichts überseh … wow!“

Ein geradezu entzückter Aufschrei und sie machte einen Schritt vorwärts, direkt auf die Geräuschquelle zu. Levi weigerte sich mitzugehen und hielt sie am Arm fest.

„Was ist da?“

Aber Hanji reagierte nicht, sie faselte bereits irgendetwas vor sich hin, zu schnell und unklar, um es zu verstehen und zog an seiner Hand. Er rammte die Fersen in den Boden und blieb, wo er war. Dafür verriet das Knacken einiger kleiner Äste, dass Eren näher gekommen war und so war Levi immerhin nicht überrascht, als dessen Stimme auf einmal recht direkt neben ihm erklang: „Woah, das ist zu viel Krabbelzeug …“

Es klang nicht eben begeistert. Wunderbar … „Was genau meinst du mit Krabbelzeug?“

Seine Augenbrauen wanderten ein Stück tiefer.

„Ich bin mir nicht sicher, aber es sieht aus wie Bienen oder Wespen, Ameisen und irgendwas … Größeres. Und alle haben einen Bau im gleichen Stamm …“

Für einen kurzen Moment weiteten sich Levis Augen ungewollt. Und da war er haarscharf dran vorbeigelaufen? Heilige Scheiße, Hanji! Wollte sie, dass er komplett zerstochen wurde, oder was?

„… unglaubliche Symbiose und …“

Typisch, der vermutliche einzige Mensch auf der ganzen Welt, der diesen Haufen an Stechviechern auch noch toll fand.

Levi atmete langsam und tief durch und ließ dann Hanjis Arm los. Augenblicklich lief sie ein Stück vor. Er hoffte einfach mal, dass sie wusste, wo die Grenze war.

„Eren.“

Er streckte eine Hand in dessen Richtung aus und winkte ihn kurz näher, als erstmal keine Reaktion und nur verdutztes Schweigen kam.

„Bring mich zurück zum Waldrand, wir schicken Moblit und den Rest ihres durchgeknallten Haufens her. Die dürfen sich dann gerne durchstechen lassen, wenn sie wollen.“

Wieder herrschte ein Moment schweigen, der Levi kurz zweifeln ließ, ob es eine so gute Idee war, dann aber spürte er, wie Eren seinen Arm gegen Levis Hand drückte und griff zu.

Er hatte gar nicht zu sehr darüber nachgedacht und er vertraute einfach mal darauf, dass sein Gefühl ihn jetzt nicht trog und Eren wirklich aufpassen würde.

„Meinst du wirklich, wir können sie da alleine zurücklassen, Captain?“, setzte Eren die Unterhaltung fort, als wäre nichts. Das war doch schon mal ein guter Anfang. Auch wenn Eren echt der einzige Mensch war, der auf die dämliche Idee kam ihn nach wie vor bei seinem Titel anzusprechen, obwohl er ihm schon vor über einem Jahr das „Sie“ hatte regelrecht verbieten müssen. Sturer Kerl …

„Sie wird es fünf Minuten überleben, wir sollten nicht mehr weit entfernt sein, oder?“

Eren gab ein zustimmendes Geräusch von sich.

„Stimmt, ich kann den Waldrand schon sehen. Woher wusstest  du – Achtung, Schritt nach oben … jetzt – das?“

Levi hätte fast kurz aufgelacht angesichts der mitten in den Satz eingeschobenen Info, aber er hob vorsichtig den Fuß und lief problemlos weiter.

„Ich kann schon noch abschätzen, wie lange wir unterwegs sind“, gab er mit einem Schnauben zurück, „Ich will eher für dich hoffen, dass du auf den Weg achtest.“

Der letzte Kommentar war neckend gemeint, Eren hatte ihm gerade bewiesen, dass er das tat. Manchmal musste er noch aufpassen, Eren verstand dann und wann seine Neckereien immer noch nicht und nahm ihn zu ernst, daher lauschte er sehr bedacht auf dessen Reaktion. Doch sie war ein leises Kichern, daher entspannte er sich wieder.

„Weißt du, Captain, ich war ein sehr … ähm … freches Kind.“ Okay? Was wurde das jetzt für eine Erklärung? „Als Mareike – das war die Freundin meiner Mutter, von der ich mal erzählt hatte, erinnerst du dich?“

Er nickte nur und Eren fuhr fort. „Also, als Mareike das erste Mal bei uns war, habe ich mich wohl etwas … naja, über sie lustig gemacht. Deswegen hat mein Vater beschlossen, dass ich sie in Zukunft nach Hause bringe.“

Levi hob eine Augenbraue. „Dämliche Idee?“

Eren lachte leise. „Versuchte Erziehungsmaßnahme. Aber er hat mich am nächsten Tag den Weg einmal mit einer Augenbinde laufen lassen, während er neben mir herging. Damit ich weiß, warum sie sich schwer tut und worauf ich achten muss.“

Das allerdings klang schon deutlich weniger nach einer dämlichen Idee.

„Ich war allerdings sechs, es ist also schon ‘ne Weile her“, über seinen Arm spürte Levi, wie Eren die Schultern zuckte, „Ich erinnere mich nicht mehr an zu viel, nur, dass Treppen blöd waren, von daher … tut mir leid, wenn ich was vergesse.“

Levi schüttelte in einer beruhigend gemeinten Geste den Kopf. „Ist schon okay, mach dir nicht zu viel Stress deswegen. Lass mich nur nirgends reinlaufen oder du kriegst den Wäschedienst für die nächsten zwei Monate“, fügte er wirklich rein scherzhaft an und doch zuckte Eren kurz, was Levi ein amüsiertes Schnauben entlockte.

Ehe er Eren aber weiter ärgern konnte, traten sie merklich aus dem Wald heraus und er hörte Stimmen um sie herum.

Ein paar kurze Erklärungen reichten und Moblit eilte mit einem Seufzen in den Wald hinein. Der Arme hatte es wirklich nicht leicht, Levi beneidete seine starken Nerven. Er ließ sich von Eren zu ihren Pferden bringen, dann ließ er los, strich seinem behutsam über die Flanke und stieg auf.

„Ähm, Captain? Und wie …?“

Doch er ließ Eren nicht ausreden und hob die Hand. „Reit einfach vor, ich kann dir folgen.“

Oder eher sein Pferd konnte es. Immerhin konnte es sehen. Aber hier draußen war es ein wenig besser als im Waldesinneren. Es war keineswegs so, dass er wirklich etwas erkennen konnte, aber das Schwarz war zu einem dunklen Grau geworden und dann und wann bewegten sich ein paar größere Schemen, die durchaus reichten, damit er eine Ahnung hatte, wo Eren oder die Pferde waren.

Der Ritt verlief auch ereignislos und ruhig. Er vermutete zwar, dass Eren sich ein paar Mal sichernd zu ihm umsah, er überraschte ihn aber erneut damit, dass er nichts weiter sagte und auch nicht auf die Idee kam ihm die Zügel abnehmen zu wollen. Egal, wie gut gemeint es damals von Erwin gewesen war, es war nicht nötig und es nervte.

Entsprechend eigentlich verhältnismäßig gut gelaunt erreichten sie die Ställe kurze Zeit später.

„Soll ich mich um die Pferde kümmern?“

Levi schüttelte den Kopf. Ebenfalls nicht nötig. Das war Routine, das sollte jeder Soldat mit verbundenen Augen können. Außerdem gab es hier Fackeln. Sie waren zwar verteilt und nicht hell genug, um viel zu sehen, aber sie waren Lichtpunkte und reichten vollkommen, um eine ausreichende Orientierungshilfe zu geben.

Er war fast versucht wirklich eine Probe aufs Exempel zum machen und Eren die Augen zu verbinden (oder einfacher noch ihm den Befehl zu geben die Augen geschlossen zu halten, er war einer der wenigen Menschen, der ihn vermutlich auch wirklich ausführen würde), entschied sich dann aber dagegen. Ein anderes Mal vielleicht.

Stattdessen fragte er Eren lieber, was er noch von seinem Vater gelernt hatte und auch wenn es nicht viel schien, so war es doch eine angenehme Unterhaltung nebenbei und es dauerte nicht lange, ehe sie fertig waren und vor den Boxen im Hof standen.

Er wollte sich gerade verabschieden, als ihn jemand rief.

„Levi! Ich habe mich schon gewundert, wo ihr bleibt. Oh, wo habt ihr Hanji gelassen?“

Erwins große, schwere Schritte kamen näher und Levi deutete mit dem Kopf in die geschätzte Richtung des Waldes.

„Sie wollte unbedingt noch Krabbelzeug untersuchen.“

Er hörte ein kurzes Lufteinziehen von Erwin, dann ein leises Rascheln, vermutlich also noch ein Kopfschüttel. Was erwartete er? Es war Hanji.

Das wurde dann wohl auch Erwin klar. „Nun, Moblit wird schon auf sie aufpassen. Ah, Eren, deine Freunde haben dich schon gesucht.“

Eine Bewegung neben ihm, dann Erens Stimme: „Ah, stimmt, wir wollten ja heute Abend noch was machen. Captain, Commander, ich wünsche eine gute Nacht.“

Ein leises, klatschendes Geräusch und dann eilige Schritte. „Kann er sich den Salut nicht endlich abgewöhnen?“

Erwin neben ihm lachte leise. „Nein, ich glaube nicht. Wollen wir in mein Büro gehen?“

Levi nickte nur, orientierte sich erneut kurz an den Fackeln und lief dann los. Erwin blieb dicht genug neben ihm, dass er ihn dann und wann berührte, aber er schob ihn nicht mehr vorwärts, wie er es früher so gerne getan hatte. Zum Glück, sonst hätte er Levis Absatz in den Fuß gerammt bekommen.

„Ich bin überrascht, dass du dich von Eren hast zurückbringen lassen“, merkte Erwin irgendwann leise an.

Natürlich hatte er das bemerken und ansprechen müssen, doch Levi zuckte nur die Schultern. „Der Grünschnabel ist kein Grünschnabel mehr. Manche Dinge geben sich wohl mit der Zeit. Und, ob du es glaubst oder nicht, er gibt einen besseren Blindenhund ab, als Hanji.“

Das nun brachte Erwin wirklich zum Lachen. „Also, das glaube ich dir ohne weiteres.“

Und wenn er ehrlich war, Levi hatte damit gerechnet, dass Eren irgendwann den Punkt erreichen würde, an dem er ihm vertraute. Aber er war ganz und gar nicht sicher gewesen, wie lange sie dafür brauchen würden und im Nachhinein konnte er auch nicht sagen, seit wann er das überhaupt tat.

Aber immerhin wusste er jetzt für die Zukunft eins: „Damit habe ich in Zukunft dann also drei Hündchen zur Auswahl“, kommentierte er grinsend, griff an Erwin vorbei nach der Tür, fand sie Sekunden später und marschierte nach drinnen, noch ehe dieser sich mit einem „Ey!“ beschweren konnte.



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