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Länger als ein Leben

von

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Von Wünschen und Elfen

Es war nicht deine Schuld oder die von jemand anderen. Es war, wie man so schön sagt, ein Unfall, ein bedauerlicher Zufall, wie immer, wenn mehrere unglückliche Ereignisse zusammenlaufen und in einer einzigen schrecklichen Katastrophe gipfeln.

Wir waren auf den Weg zur Schule. Es war heiß, nur noch zwei Wochen von den Sommerferien entfernt, und dementsprechend warm war es schon am frühen morgen. Keiner hatte mehr Lust in die Schule zu gehen und dementsprechend spät dran waren wir auch an diesem Morgen.

Unsere klapprigen Fahrräder, die wir uns mit Vierzehn von unserem Taschengeld gekauft hatten, ganz egal, ob sie schon einige rostige Stellen hatten, oder nicht, ächzten, während wir schnell in die Pedale traten.

Es war ein Dienstag und wir waren bereits am Montag schon zu spät in der Schule erschienen und hatten keine Lust auf Strafarbeiten, so kurz vor den Ferien.

Bei dem Wetter geht man nach der Schule direkt ins Freibad und hockt sich sicherlich nicht am Nachmittag zu Hause ins Zimmer, um einen Aufsatz über was-auch-immer zu schreiben.

Wir versuchten, möglichst schnell voran zu kommen und hofften, es würde uns jetzt nichts mehr in die Quere kommen, so dass wir zumindest pünktlich zum Gong im Klassenzimmer stehen würden.

Das hätte sicher auch geklappt, wenn nicht das geschehen wäre, was wir so gar nicht gebrauchen konnten: Dein Reifen machte ein puffendes Geräusch und im nächsten Moment sprangst du vom Rad, ehe es strauchelnd umfiel. Ein Platten.

Sicher hätte das nichts weiter zur Folge gehabt, als eben doch eine Strafarbeit, wäre in dem Moment kein Auto aus entgegengesetzter Richtung gekommen.

Am Steuer saß Simone Büchner, eine junge Mutter, die fast selbst noch ein Kind war, als sie ihren Sohn bekommen hat.

In unserer kleinen Vorstadt – liebevoll als ‚Kaff’ bezeichnet – war das damals ein ziemlicher Skandal gewesen. Man hatte zwar immer davon gehört, dass Teenager schwanger wurden, aber wer hätte gedacht, dass dies hier geschehen würde.

Simone selbst hat das Drama sehr gelassen hingenommen, im Juni noch ihr Abitur geschrieben, ehe sie im Juli ihr Kind bekommen hat.

Das ist schon eine Weile her und mittlerweile ist der kleine Paul schon in der zweiten Klasse.

Sie kam also angefahren und hörte im Auto laut den „Pretty Woman“-Soundtrack. Eigentlich schon ein altes Ding, aber ihr schien er zu gefallen, so laut, wie sie mitsang. Dass sie mitsang hörte man schon auf Distanz, weil sie wegen der Hitze ihr Fenster herunter gekurbelt hatte.

Wir hatten mit Simone nicht viel zu tun, aber wir fanden, dass sie eine starke junge Frau war, die seit der Geburt ihres Sohnes alles tat, um ihm ein gutes Leben zu ermöglichen.

Simone wäre ohne Schaden ans uns vorbeigefahren, wenn in dem Moment nicht Emily, die vierjährige Tochter der Meiers, auf die Fahrbahn gerannt wäre.

Emily war ein kleiner Engel und überall besonders beliebt. Sie hatte Haare wie ein Rauschgoldengel: lang, blond, gelockt. Und sie hatte große blaue Augen, die einen anstrahlten, weil sie ein sehr liebenswürdiges Kind war, das auf jeden offen zuging.

Jeder war sich sicher, dass sie als Teenager einmal die Herzen aller Jungs brechen würde.

Doch mit vier Jahren dachte Emily noch nicht an Jungs und auch nicht daran, nach einem Auto Ausschau zu halten, ehe sie über die Straße ging.

Frau Meier bemerkte zu spät, dass Emily einfach losgelaufen war und konnte sie nicht mehr packen. So betrat Emily die Straße und lief damit genau vor Simones Auto.

Zum Glück erkannte Simone die Gefahr und während Frau Meier noch entsetzt nach Emily rief, riss Simone ihr Auto herum und lenkte es auf die Gegenfahrbahn, wich Emily gerade so aus.

Damit befand sich Simones Auto nun auf unserer Fahrbahn, was nichts gemacht hätte, wenn nicht in dem Augenblick dein Reifen geplatzt wäre. So aber sprangst du im falschen Moment vom Rad und landetest im falschen Moment auf der Straße neben dem Radweg.
 

Was danach folgte, werde ich niemals in meinem Leben vergessen. Wann immer ich daran denke, höre ich die Bremsen quietschen, höre den dumpfen Klang des Aufschlags, höre Emily weinen und höre den entsetzlichen Schrei, von dem ich bis heute nicht weiß, von wem er stammt. Ich schätze, er stammte von uns allen.

Glaube mir, Niklas, der Schrei war es, der mir bis ins Mark fuhr und den ich nicht vergessen kann. Die Bilder ziehen rauschend an mir vorbei, ohne dass ich sie richtig fassen kann. In dem Moment stand ich zu sehr unter Schock, um zu wissen, was wirklich geschehen war, aber der Schrei ließ mich wissen, dass etwas geschehen war.

Immer, wenn ich an diesen Moment denke, möchte ich wieder so schreien und immer dann, wenn ich nachts schweißgebadet aus meinen Alpträumen schrecke, tue ich es auch.

Was danach geschah nahm ich nur am Rande weg. Ich erinnere mich an die aufgeregten Stimmen, als Polizei und Notarzt eintrafen. Ich erinnere mich an die Decke, die man mir über die Schulter legte, was in gewisser Weise lächerlich war, weil es mittlerweile fünfundzwanzig Grad warm war. Ich erinnere mich daran, dass ich dennoch fror und ich erinnere mich daran, dass ich ewig auf das stetige Blinken des Blaulichts gestarrt hatte, bis meine Eltern kamen um mich abzuholen.

Diese waren damals einstimmig der Ansicht, dass eine Therapie am sinnvollsten für mich wäre um das geschehene verarbeiten zu können. Mittlerweile hatten sie mich auch soweit, dass ich es selbst glaubte und eingewilligt hatte, mit einer Therapeutin über mein Erlebnis zu sprechen.

Dann aber kam der Tag der Beerdigung und er veränderte alles.

Trauerfeiern sind natürlich nie ein freudiger Anlass, aber mir kam es vor, als wäre diese hier besonders schrecklich gewesen.

Die ganze Halle war voll und draußen, vor der Halle, hatten sich noch einmal mindestens genauso viele Menschen auf dem Friedhof versammelt und warteten darauf, dass dein Sarg zum Grab getragen wurde.

Der Pfarrer redete lang und versuchte sich daran, gefasst zu bleiben, aber auch für ihn war es schwer, einen so jungen Menschen zu verabschieden, den er bereits getauft und konfirmiert hatte und den er eher zu seiner Hochzeit als zu seiner Beerdigung wieder hatte sehen wollen.

Dann war es vorbei, die Orgel spielte und der Sarg wurde hinaus getragen. Deine Eltern liefen gleich hinter den Sargträger, genau wie der Rest deiner Familie. Ich hätte ebenfalls mit vorne laufen dürfen, immerhin hatte man immer gewitzelt, wie wären wie Brüder gewesen, aber ich lief bei meiner Familie.

Eigentlich wäre ich gerne näher bei deinem Sarg gegangen, aber ich hätte mich zu sehr alleine gefühlt, als das ich es hätte ertragen können.

So blieb ich bei meinen Eltern stehen und sah aus der Entfernung zu, wie dein Sarg ins Grab eingelassen wurde.

Deine Mutter erhielt an diesem Tag einen Zusammenbruch, noch ehe alle ein Häufchen Erde ins Grab geworfen hatten. Dein Vater musste sie stützend zum Auto schleppen und so verließen sie als erste die Beerdigung.

Meine kleine Schwester war noch zu jung, um zu verstehen, was eigentlich geschah. Aber sie sah meine Trauer und sie verstand meinen Schmerz. Während meine Mutter nur leise schluchzte und sich an meinen Vater lehnte, war sie so geistesgegenwärtig, meine Hand zu halten und so fest zu drücken, dass ich glaubte, sie würde gleich abfallen.

Ich hielt noch ihre Hand, als ich endlich vortrat, um eine Schaufel Erde auf dein Grab fallen zu lassen.

Als ich auf den weißen Sarg blickte, der in der Sonne dieses eigentlich so schönen Samstagmorgens glitzerte, erinnerte ich mich urplötzlich wieder an unsere Kiste, die seit vier Jahren unter den Wurzeln des Baumes ruhte, wie du es für immer hier auf diesen Friedhof tun würde.

In diesem Moment versprach ich dir, deine Liste für dich zu vollenden.

Das war das einzige, was ich zu dir sagte. Ich wollte nicht Abschied nehmen.

Du warst wie ein Bruder, ich hatte dich so sehr geliebt und ich war nicht bereit, dich loszulassen.

Zunächst musste ich deine Wünsche wahr werden lassen, ehe ich das Recht hatte, Abschied zu nehmen.

Als wir an diesem Tag nach Hause kamen, sagte ich meinen Eltern, dass ich doch keine Therapie wollte, dass mir die Beerdigung geholfen hatte, ein wenig loszulassen.

Danach versuchte ich mich daran, wieder ein wenig normaler zu wirken. Nicht fröhlich, aber auch nicht mehr depressiv.

Sie sollten sehen, dass alles gut war, denn es war auch alles gut. Ich wusste, was ich noch für dich tun konnte und ich war mir sicher, ich würde dich danach in meinem Herzen tragen können, in der Gewissheit, dass du nicht gehen musstest, ohne all das, was du für das Leben als wichtig erachtet hast, als erfüllt betrachten zu können.

Es ist das einzige, was ich für dich noch tun kann und ich habe dir an diesem Tag versprochen, es zu tun. Und koste es mich auch all meine Kraft.
 

Das Gewitter hatte sich schon zusammengebraut, als ich die Kiste ausgegraben hatte und als ich sie mit lehmverkrusteten Fingern ins Haus trug, fielen schon die ersten schweren Tropfen.

Sie fühlten sich sehr warm an, was mir sagte, dass dieses Gewitter sicher sehr heftig werden würde. Tatsächlich krachte der Donner kurz darauf so laut, dass man das Gefühl hatte, das Haus würde darunter erbeben und die Blitze erschienen wahnsinnig groß und mächtig.

Tatsächlich war es das bisher schwerste Gewitter des Jahres und wer es miterlebte, der hoffte, es würde nicht noch ein schwereres kommen.

Obwohl ich Angst davor hatte, der Blitz würde in die große Eiche hinter dem Haus einschlagen, versuchte ich, mich komplett auf die Liste zu konzentrieren, die noch immer ungelesen vor mir lag.

Diem eine beachtete ich nicht. Ich wusste genau, was darauf stand und ich wusste auch, dass ich bisher keinen dieser Wünsche erfüllt hatte und so schnell wohl auch nicht erfüllen würde können.

Ehrlich gesagt interessierte es mich auch nicht, die meine zu vollenden. Das hier war schon immer dein Ziel gewesen, Niklas, und so interessierte mich auch nur, was auf deiner Liste stand.

Als ich nun den Mut fasste, die Tränen wegblinzelte, die sich beim Anblick der Rolle immer wieder in meinen Augen sammelten, und las, war ich überrascht, dass meine Vermutung nicht stimmte. Bisher konnte ich nur einen deiner Wünsche streichen, in dem Wissen, dass wir jene Sonnenfinsternis schon vorletzten Sommer gemeinsam erlebt hatten.

Damals waren wir sehr aufgeregt gewesen, obwohl wir schon in einem Alter waren, in dem es uncool war, total aufgeregt zu sein. Wir waren Dreizehn. Dennoch hatten wir uns zuvor sehr mit dem Thema Sonnenfinsternis auseinander gesetzt, hatten viel darüber in Erfahrung gebracht, dass man einmal glaubte, die Welt würde untergehen, wenn der Mond sich vor die Sonne schob.

Obwohl wir wussten, dass es Quatsch war, hofften wir darauf, es würde etwas Großes passieren, wenn es nur endlich soweit war.

Doch als wir dann nebeneinander standen und sie beobachteten, passierte überhaupt nichts und als die Sonne wieder auftauchte, waren wir zwar um einen wunderschönen, eindrucksvollen Anblick reicher, aber auch ein wenig enttäuscht, dass tatsächlich nichts Spektakuläreres geschehen war.

Ich musste grinsten, während ich diesen Wunsch sorgfältig durchstrich und ihn somit als erfüllt markierte. Dann aber blickte ich wieder auf die anderen Wünsche und mir wurde bewusst, wie schwer es werden würde, diese zu erfüllen.

Zwar würde es kein Problem werden, ans Meer zu fahren, aber ob man dabei zwangsläufig ein Abenteuer erlebte, war schon wieder fraglich. Ebenso erschien es mir unmöglich, einfach so jemandes Leben zu bereichern, ganz zu schweigen davon, dass die wahre Liebe nicht einfach mal so vor der Tür stand.

Aber ich wollte es dennoch unbedingt tun, gleichwohl, dass die Wünsche alle sehr schwer umzusetzen wären, denn wer würde es sonst tun, wenn nicht ich?

Ich war dein Leben lang dein bester Freund gewesen. Unsere Mütter hatten sich im Kreissaal kennen gelernt und wir waren dadurch verbunden, dass wir am gleichen Tag – fast zur gleichen Zeit – das Licht der Welt erblickt hatten.

Seitdem trafen sich unsere Mütter regelmäßig, wir kackten synchron in unsere Windel, lernten zur gleichen Zeit krabbeln und später laufen, stritten uns um einen Teddy, spielten zusammen und kamen gemeinsam in den Kindergarten.

Von da an waren wir bis zu letzt unzertrennlich und wenn du nicht gestorben wärst, wären wir sicher für immer unzertrennlich gewesen.

Deshalb musste ich auch die Liste für dich abarbeiten.

Nicht nur, weil außer mir niemand davon wusste, sondern auch, weil ich der einzige war, der so ein dickes Band mit dir geflochten hatte, um die Kraft und den Willen zu besitzen, es zu tun.

Wer weiß, ob du vor vier Jahren, als du diesen Vorschlag gemacht hast, nicht bereits geahnt hast, wie es kommen würde und darauf vertraut hast, dass ich der einzige sein würde, der jene Liste für dich abarbeiten würde, gesetzt den Falles, du wärst irgendwann nicht mehr da.

Sicher hattest du darauf gehofft, wir würden einander die letzten Wünsche erfüllen, würde einer von uns sterben. Aber es wäre Unsinn, zu glauben, du hättest geahnt, so früh von uns zu gehen.

Dennoch hattest du Vorkehrungen getroffen und ich hatte sie verstanden.

Darüber dachte ich noch lange nach, während ich wach im Bett lag und draußen das Gewitter tobte.
 

Unsere Schule ist ein uraltes Gebäude, dessen Fenster so dreckig sind, dass die Putzfrauen sie kaum noch sauber bekommen, dessen Dach schon längst hatte neu gedeckt werden müssen und dessen äußere Fassade so sehr mit Graffiti besprüht wurde, dass der fahle Putz darunter kaum noch zum Vorschein kommt.

Alles in allem ist es ein trauriger Anblick, den unsere Schule macht. Vor allem, wenn man sie mit der Grundschule vergleicht, die vor zehn Jahren neu neben der unseren Schule gebaut wurde, als die alte für einsturzgefährdet erklärt wurde, und noch immer so strahlt, als wäre sie erst zehn Tage alt, nicht schon zehn Jahre. Ihr Putz ist weiß, ihr Dach ist frisch gedeckt und ihre Fenster strahlen regelrecht im Licht der Sonne.

Jeder, der die beiden Schulen so sieht und vergleich, würde unsere zum Abriss freigeben, aber würde er dann das Gebäude betreten, wäre er sicher überrascht.

Vor einigen Jahren, kurz nach dem Neubau der Grundschule, hat man begonnen, dass Innere unserer Schule komplett zu sanieren.

Nun sieht sie innen topmodern aus und neuer, als es die Grundschule jemals könnte.

Ich mag diesen Widerspruch, den dieses Gebäude ausstrahlt und bisher bin ich auch immer gerne hierher gekommen.

Natürlich war ich keiner dieser Teenager, die gerne in die Schule gingen. Ich hasste Lernen, Hausaufgaben machen, Referate halten und Prüfungen schreiben genauso sehr, wie jeder andere Jugendliche in meinem Alter.

Aber das Gebäude selbst, dass mochte ich. Ich mochte die meisten Lehrer, die sich immer Mühe gaben und die meisten Schüler, die mir immer mit Respekt begegneten.

Das ich auf diese Schule überhaupt gehen kann, verdanke ich meine Mutter, die meinen Grundschullehrer so lange belabert hat, bis er mir die entsprechenden Noten gab, um mir ein Ticket für das Gymnasium zu sichern.

Zugegeben, ich war damals kein besonders guter Schüler – wenn auch kein besonders schlechter – und kostete damit allen ziemliche Nerven, weil jeder das Potential erkannte, dass ich eigentlich mitbrachte. Meiner Mutter war verzweifelt und mein Lehrer wusste nicht, was tun.

Letztlich hat er mir tatsächlich ein paar gute für zwei Aufsätze eingetragen, die eigentlich einmal eine Strafarbeit gewesen waren.

Diese Aufsätze sorgten zwar nicht für bombastische Noten, aber zumindest durfte ich auf das Gymnasium.

Niemand glaubte daran, dass ich länger als ein Jahr dort bestehen würde, aber tatsächlich war ich damals so dankbar, mit Niklas auf eine Schule gehen zu können, dass ich alles tat, um auch weiterhin bei dir bleiben zu dürfen.

Sicher hätte unsere Freundschaft es überlebt, aber es erschien einfach falsch, dass wir Zwei auf verschiedene Schulen gehen sollten.

Wir gehörten einfach zusammen, wie Brüder.

Nun ist das nicht mehr so und deshalb kommt mir das Gebäude auch plötzlich viel zu groß vor, weil ich mich selbst plötzlich sehr klein und unbedeutend fühle.

Ich habe Angst, dass Klassenzimmer ohne Niklas zu betreten. Schon jetzt kann ich mir die mitleidigen Blicke meiner Klassenkameraden vorstellen, mit denen sie mich bedenken werden.

Letzte Woche, nachdem es geschehen war, war ich nicht mehr in der Schule, aber als die Beerdigung am Samstagvormittag vorbei war, da wusste ich, meine Schonfirst war nun vorüber.

Zwar waren alle unsere Klassenkameraden bei der Beerdigung gewesen – immerhin kamen wir alle gut miteinander aus und Niklas war sehr beliebt gewesen – , aber ich hatte sie an diesem Tag kaum wahrgenommen und war gegangen, ehe man etwas zu mir hätte sagen können.

Sie alle wussten ja, wie nahe wir uns standen, hatten uns täglich zusammen erlebt. Ich wollte mir nicht von ihnen irgendwelche Floskeln anhören, wo sie doch selbst nicht damit klar kamen, dass einer von ihnen so plötzlich nicht mehr da war.

Jetzt also betrete ich das Gebäude und der Weg zum Klassenzimmer kommt mir vor, als wäre es der Weg zu meiner eigenen Hinrichtung.

Als ich das Klassenzimmer betrete, richten sich tatsächlich sofort alle Blicke auf mich. Ich versuche, sie nicht anzusehen und warte darauf, dass einer etwas sagt. Ich bin sicher, jeder von ihnen möchte etwas sagen, aber letztlich sagt niemand ein Wort.

Auch ich schweige, obwohl es vielleicht an mir gelegen wäre, etwas zu sagen. Aber ich fühle mich nicht mal in der Lage, als würde ich ein „Hallo“ über die Lippen bringen, weil das klingen würde wie jeden Morgen, als wäre einfach alles so, wie immer. Aber das ist es nicht.

Deshalb lasse ich mich still auf meinen Platz nieder und vermeide es, den Stuhl neben mir anzusehen, weil ich fürchte, dass mich dessen Leere verschlingen würde, täte ich es doch.

Auch weiterhin sagt niemand etwas zu mir, alle reden sie nur leise miteinander – so leise, dass klar ist, dass es um mich geht. Am liebsten wäre es mir, sie würden mich ganz normal behandeln, wie sie es sonst auch getan haben.

Vielleicht käme mir die Situation dann nicht ganz so skurril vor, vielleicht könnte ich dann eher ertragen, dass der Alltag normal weiter geht, selbst dann, wenn jemanden einfach so daraus verschwindet.

So aber macht mich Niklas’ Tod von jetzt auf nachher zum Außenseiter und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.

Ich habe immer dazu gehört, war laut, witzig und beliebt und hatte mit niemanden Probleme. Unsere Clique galt als cool.

Jetzt aber bin ich der, der nur vor an die Tafel starrt, auf der noch die Mathegleichung von Freitag prangert, die mir gänzlich unbekannt ist, statt mit den anderen Schülern über die Party vom letzten Wochenende zu quatschen.

Ob sie alle auf einer Party waren? Ich glaube nicht, dass jemanden nach feiern zu Mute war, dennoch wäre es schön, irgendwer würde mir nun davon erzählen.

Ich frage mich, ob ich nicht noch einen weiteren Anlauf starten soll, auf jemanden zugehen soll und fragen, ob man mir den neuen Stoff erklären könnte. Ich würde damit das Signale geben, wieder den Alltag einkehren zu lassen, mich wieder aufzunehmen und gemeinsam um Niklas zu trauern.

Stattdessen finde ich mich lieber damit ab, für die letzte Woche vor den Ferien das schwarze Schaf der Klassengemeinschaft zu spielen.

Immerhin ist es nicht für lange, dass kann ich sicher gerade noch so ertragen – vor allem, wo es in letzter Zeit so viel schlimmere Dinge gibt, die ich ertragen muss.

Vielleicht bin ich deshalb so überrascht, als kurz bevor der Unterricht beginnt, die Tür noch einmal auf geht und Nathaniel den Raum betritt. Statt dass er aber, wie sonst immer, nach hinten zu seinen Platz läuft, bleibt er bestimmt neben dem meinen stehen und lässt sich auf Niklas’ leeren Stuhl nieder.

Er tut das mit jener Anmut, welche die Mädchen in unserer Klasse so manches Mal neidisch macht und welche er immer an den Tag legt, egal, was er tut.

Schon manches Mal haben wir darüber gewitzelt, er sei kein Mensch, sondern irgendein mystisches Wesen, weil er zu schweben scheint, wenn er leichtfüßig den Gang entlangläuft und weil alle die Dinge, die bei uns anderen Jungs eher plump und grobmotorisch wirken, bei ihm nahezu graziös aussehen.

Nun sehe ich ihn verwundert dabei zu, wie er seine Schultasche von der Schulter gleiten lässt, ehe er sich mir zuwendet. „Hallo,“ sagt er und ich erwidere den Groß und staune über mich selbst, dass ich doch nicht das Sprechen verlernt habe.

„Ich dachte mir, du fühlst dich vielleicht einsam,“ erklärt er mir und packt seine Schulsachen aus in einer Selbstverständlichkeit aus, als wäre es gänzlich undenkbar, dass ich ihn vielleicht verscheuchen könnte, weil ich meine Ruhe haben möchte.

Tatsächlich überlege ich kurz, ob ich ihm einfach so Niklas’ Platz überlassen kann, aber dann merke ich, dass es mir gut tut, wenn er hier sitzt.

Er befreit mich aus meiner Isolation, deshalb lasse ich ihn bleiben.

Nathaniel sagt nichts mehr, bis unser Lehrer kommt, aber das macht nichts, denn er ist da und das reicht mir.
 

David Walker, Nathaniels Vater, war ein Sohn einfacher Farmer aus Texas, welcher eines Tages nach New York City zog, um dort das große Geld zu machen. Es gelang ihm, einen guten Job bei einer großen Firma zu ergattern und dort im Außendienst tätig zu werden. Eine seiner zahlreichen Geschäftsreisen führte ihn nach Berlin, aber bereits auf dem Flug dorthin lernte er Linda kennen, eine Journalistin aus Frankfurt, welche nach Amerika gereist war, um dort über die Entstehung von Hurricanes zu berichten.

Für David war vom ersten Moment an klar, dass sie die Frau war, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte und tatsächlich heiratete er sie und blieb bei ihr in Frankfurt.

Kurz darauf kam Nathaniel zu Welt. Daraufhin zog die junge Familie in einen Vorort Frankfurts, in welchem kurz zuvor ich geboren worden bin.

Es macht jetzt sicher den Eindruck, ich wüsste viel von Nathaniel und seiner Familie, aber tatsächlich weiß ich kaum etwas über ihn sondern nur das, was sich eben so erzählt wird.

Nathaniel ist ein Junge, dem eine geheimnisvolle Aura umgibt – noch ein Grund, ihn eher als Elfen anstatt als Menschen wahrzunehmen – und der es einem nicht leicht macht, sich ihm zu nähern.

Er war schon als kleines Kind so, hat im Kindergarten immer alleine gespielt. Das hat sich auch nicht geändert, als wir in die Schule und letztlich aufs Gymnasium kamen.

Nathaniel war zunächst auf der Realschule und wir alle hatten ihn bereits vergessen.

Ich erinnere mich noch heute daran, als ich ihn nach einigen Jahren, die wir getrennt voneinander aufgewachsen waren, im H&M wieder traf.

Ich war dort, um einen Rock für meine damalige Freundin zu besorgen und reichlich genervt davon, dass die Verkäuferin mich einfach ignorierte und seelenruhig ein pummeliges Mädchen bediente, dass sich tatsächlich ein bauchfreies Oberteil kaufen wollte.

Als ich endlich an die Reihe kam, mustere sie mich ein wenig pikiert und erklärte mir wirsch, dass sie nicht für die Herrenabteilung zuständig war. Als ich ihr daraufhin erklärte, ich bräuchte ja auch nichts aus der Herrenabteilung, blickte sie mich nur abschätzig an und murmelte etwas von einem Trend, der wohl an ihr vorbeigegangen sein muss.

Als ich ihr wenig später schilderte, ich suche einen ganz bestimmten Rock für meine Freundin wirkte sie aber wieder freundlicher und zeigte ihn mir. Es war ein sehr hässlicher schwarzer Rock mit weißen Katzenprints darauf und ich fragte mich, wer zur Hölle sich nur so etwas einfallen lassen konnte. Neben dem Rock gab es von diesem Look noch ein Kleid und einen Pullover und ich schüttelte den Kopf, während ich ihn bezahlte und dafür eine Summe hinlegte, die sich sicher niemals für eine derartige Zumutung ausgegeben hätte.

Als ich gehen wollte, stieß ich mit Nathaniel zusammen. Ich habe nicht erkannt, er hatte sich stark verändert. Früher hatte er kurz strohblonde Haare gehabt, die sich wild auf seinen Kopf gelockt hatten, nun trug er sie lang, glatt und schwarz gefärbt.

In der Hand hielt er diesen scheußlichen Katzenpulli und ich lachte, entschuldigte mich und machte ein paar Witze darüber, welch grässlichen Geschmack unsere Freundinnen nur hatten, ehe ich mich endgültig auf den Weg machte.

Am darauf folgenden Montag trat Herr Aumüller gefolgt von Nathaniel ins Klassenzimmer und er erklärte uns, dass er in der Realschule so gute Noten hatte, dass man ihn aufs Gymnasium versetzte, weil er sonst unterfordert wäre.

Während alle anderen nur ein wenig irritiert von dem Katzenpullover waren, den er trug, ahnte ich bereits, was er wenig später bestätigte, als er sein Coming-out hatte.

Obwohl seine Homosexualität für niemanden ein Thema zu sein schien, blieb er der Außenseiter, was daran lag, dass er noch immer so unzugänglich wirkte, wie als kleines Kind.
 

Nachdem nun also ausgerechnet Nathaniel das Eis gebrochen hat, der Letzte, von dem man es erartet hätte, bin ich zur ersten Pause wieder einigermaßen integriert.

Während der Gruppenarbeit, die der alte Herr Aumüller uns aufgezwungen hat, haben die ersten wieder angefangen, mit mir zu reden. Zwar behandeln sie mich dabei wie ein rohes Ei und vermeiden es tunlichst, etwas zu sagen, was mich an Niklas erinnern könnte, aber wenigstens sprechen sie mit mir.

Leider ist nicht jeder der Meinung, man müsse über alles, was Niklas betrifft, einfach schweigen und so finde ich mich kurz vor der Pause in einer ruhigen Ecke des Klassenzimmers wieder und muss mir von Herrn Aumüller anhören, dass ich immer zu ihm kommen kann, wenn ich jemanden zum reden brauche.

„Ich werde alles tun, was in meiner Macht liegt, es für dich erträglich zu machen, Felix,“ beteuert er mir mehrmals und ich nicke einfach höflich und bedanke mich.

Natürlich möchte ich mit ihm kein einziges Wort über Niklas reden. Immerhin ist er mein Klassenlehrer, nicht mein Therapeut und um mit jemanden über die guten alten Zeiten zu sinnieren, brauche ich ihn auch nicht. Dafür habe ich meine Freunde.

Ehrlich gesagt ist mir bereits dieses Gespräch sehr unangenehm und am liebsten würde ich mich wieder auf meinen Platz setzen, vielleicht Nathaniel dekorativ neben mir platzieren, als wäre er ein kleines Pflänzchen, damit ich nicht so alleine bin und einfach schweigen.

Nathaniel würde es erträglich machen, den Raum freundlicher wirken lassen, weil jeder Raum freundlicher wirkt, wenn er sich darin befindet und so nett sein, einfach nichts zu sagen, während alle anderen reden würden, aus Verlegenheit, weil sie nicht wissen, wie sie sonst mit mir umgehen würden.

Tatsächlich bin ich mittlerweile froh, dass sich Nathaniel neben mich gesetzt hat. Obwohl er selbst der größte Außenseiter der Schule ist, hat er es geschafft, mich wieder zu einem Teil des großen Ganzen zu machen.

Herr Aumüller hingegen isoliert mich erneut von den anderen, als wäre ich von jetzt auf nachher zum Problemschüler geworden.

Dabei kann ich es ihm nicht einmal übel nehmen, denn er meint es ja nur gut.

Er ist nun schon etliche Jahre im Dienst, sicher mehr, als er müsste und er macht diese Arbeit wahrscheinlich nur, um nicht alleine zu Hause sitzen zu müssen, in dem Haus, in dem vor fünfzehn Jahren seien Frau ihrem Krebs erlag.

Dass ihr Tod ihn damals schwer getroffen hat, wird sicher keinen überraschen, vor allem, weil er sie jahrelang gepflegt hat.

Für sie hat er alles aufgegeben, was in seinem Leben zuvor eine wichtige Rolle gespielt hat: Seinen Job, sein Hobby, das Angeln, und seine Freunde und seinen Sohn, den er nach England zum studieren geschickt hat, damit er das Elend seiner Mutter nicht aus nächster Nähe beobachten musste.

Nach ihrem Tod waren die meisten seiner ehemaligen Freunde in Rente, er aber stürzte sich in seinen Job, um vergessen zu können, was er alles verloren hatte.

Weil er es mittlerweile gewohnt war, sich für andere aufzuopfern, fing er an, sich um bedürftige Schüler zu kümmern und wurde Jahr um Jahr wieder zum Vertrauenslehrer der Schule gewählt.

Auch ich gehöre nun wohl zu einen jener bedürftigen Schüler, obwohl ich mittlerweile selbst einen Weg gefunden habe, mit meiner Trauer fertig zu werden. Das sage ich ihm natürlich nicht, sondern bedanke mich nur noch einmal höflich, als es zur Pause klingelt und ich endlich das Zimmer verlassen kann.
 

Janosch und Julian sind fester Bestandteil von Niklas’ und meiner Clique, in gewisser Weise die einzigen, die wirklich dazu gehören. Alle anderen feiern zwar gerne mal mit uns, aber haben auch noch andere Freundeskreise.

Deshalb sind die Zwei auch die einzigen, die ich nach Niklas’ Tod sehen und sprechen wollte und auch die einzigen, die an jenem Abend zu mir kamen.

Sie hat sein Tod fast genauso hart getroffen, wie mich und wir haben an dem Abend lange zusammen gesessen, geweint und uns danach restlos betrunken. Das war vielleicht nicht der beste Ausweg aus all dem Schmerz, aber der einzige, der half.

Nun bedauere ich nichts mehr, als das sie nicht in meiner Klasse sind, sondern in der Jahrgangsstufe über mir. Sie hätten mir heute Morgen den Rücken stärken können, etwas, was ich wirklich hätte gebrauchen können.

Nun endlich kann ich zu ihnen flüchten und das tue ich auch und treffe sie wie jeden Tag vor dem kleinen Pausenverkauf unserer Schule an.

Dieser wurde eingeführt, als die Schule renoviert wurde und man uns ermöglichen wollte, auch endlich hier unser Frühstück kaufen zu können.

Ursprünglich war die Idee gewesen, so ein wenig Geld für die Schule einzunehmen, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass die Einnahmen des Pausenverkaufs gerade so die Ausgaben decken.

Deswegen ist die nette Verkäuferin Enni - keiner weiß ihren richtigen Namen, nur ihren Spitznamen – auch eine pensionierte Lehrerin, die vor vielen Jahren hier an der Schule unterrichtet hat und sich nun ehrenamtlich ein wenig nützlich machen möchte.

Sie ist genauso alleine, wie es Herr Aumüller ist, nachdem ihr Mann vor einigen Jahren gestorben ist.

Sicher war sein Tod auch der Grund, warum sie sich wieder mit jungen Menschen umgeben wollte. Oft sagt sie uns, wenn wir etwas kaufen, sie fände es beleben, von so viel jungen Menschen umringt zu sein und hätte das Gefühl, sie würde so ihren eigenen Tod ein wenig aufschieben können.

Manchmal stelle ich mir vor, Enni würde mit Herrn Aumüller zusammen kommen, weil sie beide alleine und einsam sind, aber wahrscheinlich haben sie beide schon mit der Liebe abgeschlossen – wenn nicht sogar mit dem Leben.

Als ich nun Janosch und Julian antreffe, hat sich Julian schon mit einem Schokobrötchen vom Pausenverkauf versorgt, dass er brüderlich mit uns teilt, als wäre er Jesus und wir seine Jünger.

„Hast du die Liste dabei?“, fragt Janosch mich und ich nicke.

Natürlich habe ich ihnen von der Liste erzählt und als ich meinte, ich wolle diese für Niklas in die Tat umsetzten, waren sie sofort Feuer und Flamme und versprachen, mir zu helfen.

Tatsächlich habe ich noch keine Ahnung, wie ich das schaffen soll, Niklas’ Wünsche innerhalb der Ferien abzuarbeiten, dann das war das Zeitlimit, das wir uns gesetzt haben.

Ich hoffte darauf, den Beiden würde etwas einfallen, aber als ich ihnen nun die Liste überreiche, merke ich schon nach kurzer Zeit an ihren Gesichtern, dass sie genauso ratlos sind wie ich.

„Scheiße, wie sollen wir das denn in sechs Wochen schaffen?“, flucht Julian und ich zucke nur mit den Schultern. Hätte ich darauf eine Antwort, hätte ich die letzten Tage auch mehr Schlaf abbekommen.

„Es sollte kein Problem sein, ans Meer zu fahren und daraus ein Abenteuer werden zu lassen, aber wie sollst du in sechs Wochen deine wahre Liebe finden?“

Janosch sieht mich zweifelnd an und ich muss ihm Recht geben. Es ist nahezu unmöglich, die wahre Liebe auf Kommando zu finden. Vor allem, weil ich erst sechzehn bin und somit so gar nicht ein Alter erreicht habe, in dem man seine Traumfrau findet, die man heiratet und mit der man dann fünf Kinder kriegt und ein schickes Häuschen kauft, in dem der Hund draußen im Garten herumtollen kann.

„Dann müssen wir für den Wunsch eben ein wenig mehr Zeit einräumen,“ wehre ich ungeduldig ab, weil ich mir das bereits selbst so überlegt habe.

So kann ich Janosch kurzfristig befriedigen, allerdings nur für kurze Zeit. Denn als Julian erneut das Brötchen teilt, fragt er schon wieder weiter: „Wie stellst du es dir vor, jemandes Leben zu verschönern?“

Mir bleibt erneut nichts anderes übrig, als die Schultern zu zucken. In der Tat hat Niklas uns vor eine Aufgabe gestellt, die so leicht nicht zu bewältigen ist. Ich habe mir bereits vorher gedacht, seine Wünsche hätten mehr zu bieten als materielle Dinge, die leicht mit Geld zu bezahlen sind, das ein Zwölfjähriger sich jedoch solcherlei große, tiefsinnige Dinge überlegen würde, hätte ich nie für möglich gehalten.

In solchen Momenten, in denen mir klar wird, wie besonders Niklas war, vermisse ich ihn umso mehr.

So manches Mal, wenn wir bei einem Bierchen beisammen saßen – und wir tranken sicher nicht erst mit sechzehn Bier, als es offiziell erlaubt war -, fing er damit an, von sehr tiefsinnigen Dingen zu reden. Er sprach davon, dass er die Welt verändern wollte, wenn er nur endlich sein Abi in der Tasche hatte.

Ich habe dazu nie viel sagen können, weil meine Pläne bescheidener waren. Ich wollte einfach nur studieren und einen guten Job an Land ziehen, irgendwann heiraten und sesshaft werden.

Niklas aber hat von den großen Dingen im Leben geträumt und deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass seine Wünsche genauso groß sind, wie die Dinge, die er offen vor mir ausgesprochen hat.

Ich bin sicher, wenn Niklas jetzt nicht tot wäre, dann hätte er es irgendwann geschafft, als diese Punkte abhaken zu können, die seine Liste zieren.

Umso ehrgeiziger muss ich nun an diese Aufgabe heran gehen, um sie für ihn wahr werden zu lassen.

Jener Entschluss steht fest, auch dann noch, als die Pause zu Ende ist und ich wieder zurück ins Klassenzimmer muss.

Auf den Weg dahin grüble ich noch immer darüber nach, wie ich diesen einen Wunsch, jemandes Leben zu bereichern, gerecht werden kann.

Mir wäre es ganz Recht, wenn sein Wunsch nur gewesen wäre, jemandes Leben zu verändern, denn das hätte er mit seinem Tod zur genüge getan.

Schöner ist allerdings nichts geworden, nur grausam, und deshalb muss ich nun dafür sorgen, dass ich irgendjemanden wirklich glücklich mache.

Aber die Frage ist schon allein, wer es verdient hätte, glücklich gemacht zu werden. Sicher gibt es Millionen von Menschen auf der Welt, die Hilfe nötig hätten und für die es ihr Leben schöner machen würde, wenn ich ihnen diese Hilfe anbiete.

Aber ich weiß, dass Niklas das damit nicht gemeint hat. Damit, Geld für ein verhungerndes Kind in Afrika zu spenden, hätte er sich niemals begnügt. Es ging ihm schon immer um Details und deshalb sollte ich nicht anfangen, darüber zu philosophieren, ob ich nicht vielleicht wie Superman die Welt retten soll, sondern mich in meinem Umfeld umsehen und mir jemanden suchen, der ebenfalls Hilfe braucht und diese einfach nicht bekommt.

Es konnte ja nicht so schwer sein, jemanden zu finden, dessen Leben gerettet werden wollte, oder?

Ich höre erst auf nachzudenken, als sich Nathaniel in einer einzigen fließenden Bewegung neben mir niederlässt und dabei erneut aussieht wie eine kleine Elfe.

Er sieht ein wenig pikiert aus und ich sehe ihn fragend an, aber er macht keinerlei Anstalten, es mir zu erklären und deswegen zucke ich nur mit den Schultern und wende mich ab.

Irgendwer hat das Fenster aufgemacht und uns weht ein lauer Lufthauch entgegen, der mir einen Geruch in die Nase treibt, der einer Mischung aus verschiedensten Gewürzen gleicht. Ich mag den Geruch irgendwie und frage mich, woher er stammt.

Zunächst denke ich, eines der Mädchen steht am Fenster, vielleicht Stefanie, die immer gute riechende Parfums aufträgt und auch noch blenden aussieht, was sie zur Wichsvorlage für viele von uns Jungs in der Klasse macht, um das Kind mal beim Namen zu nennen.

Aber sie steht nicht am Fenster sondern unterhält sich vorne mit Julia und wedelt dabei so mit ihren Händen, dass die riesigen Armreifen an ihrer Hand laut klimpern, wenn sie aneinander schlagen.

Ich brauche ein wenig, ehe ich endlich weiß, woher der Geruch kommt, auch wenn es mich wundert, weil ich immer dachte, er würde mehr wie ein Wald riechen.

Aber vielleicht war das unsinnig, weil meine Vermutung auch daher rührt, dass ich ihn mir manchmal als kleinen Elf mit spitzen Ohren vorstelle, der nach der Schule durch den Wald hüpft und mit plüschigen Häschen umher tanzt.

„Die riechst nach Chai-Tee,“ sage ich daraufhin zu Nathaniel und er blickt mich irritiert an und weiß nicht so recht, was sagen.

Manchmal tut er mir Leid. Er gehört so wenig dazu, obwohl ja eigentlich keiner gemein zu ihm ist. Er hat nur einfach keinen Anschluss. Und dabei hat er eigentlich ein großes Herz und würde sich jemand die Mühe machen, einmal hinter seine seltsame Fasse zu blicken, dann würde man ihn sicher sofort ins Herz schließen.

Seit er heute Morgen so viel einfühlsamer auf mich reagiert hat, als alle anderen, habe ich das eigentlich schon.

Bisher war er einfach der-komische-Junge-hinten-in-der-Ecke gewesen, aber nun nehme ich ihn endlich einmal als Menschen war.

Ich glaube, er war so lange alleine, dass er mittlerweile gar nicht mehr weiß, wie er genau mit anderen umgehen soll, obwohl er instinktiv alles richtig zu machen scheint.

Ich bin sicher, es hat ihn Überwindung gekostet, sich mir heute Morgen zu nähern und vielleicht hätte ich mich dankbarer verhalten sollten. Aber das habe ich nicht getan, ich habe ihn nur im Stillen gedankt und mich danach doch nur mit meinen anderen Klassenkameraden unterhalten.

Vielleicht wirkt er deshalb jetzt auch so missmutig.

Als mir das klar wird, blinzle ich ihn an und fühle mich mit einem Mal ein wenig schuldig. Er hat mir geholfen und ich kann noch nicht einmal meinen Dank ausdrücken, geschweige denn, mich erkenntlich zeigen.

Urplötzlich aber geht es mir, wie einer dieser Comicfiguren, über deren Kopf eine Glühbirne erscheint, wann immer ihnen eine gute Idee kommt.

Ich starre ihn grinsend an und Nathaniel sieht nur fragend zurück, ein wenig verstört vielleicht, weil ich so begeistert wirke von meiner Idee.

„Was ist?“, will er verunsichert wissen und ich grinse breit und frage: „Nathaniel, hast du Lust auf ein Abenteuer?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Herzloser
2014-08-09T22:38:56+00:00 10.08.2014 00:38
Awww *o*

Jetzt lass ich doch mal ein Kommi da :D
Gutes Chapter un so xD
Ich musste echt lachen, als Felix gedanklich meinte, dass er dachte, Nathaniel würde nach Wald riechen.
Ich mag deine Storys wirklich sehr. Ich freu mich schon auf das nächste kapitel :D

lg Riku_


Antwort von:  Jeschi
10.08.2014 10:17
Danke, das freut mich! :333
Von:  Valandriel
2014-07-27T19:17:16+00:00 27.07.2014 21:17
Oww!
Diese ff ist einfach toll!
Es ist leicht sich in die Geschichte einzufühlen. Diese direkte 'Denkweise' die der Hauptcharakter hat, mit dem du diese Story so liebevoll erzählst ist wirklich schön!
Ich mag die Charaktere und bin gespannt was Felix mit Nathaniel vor hat <3
Ich werde begeistert weiter lesen und wünsche dir viel Spaß beim weiter schreiben!
Antwort von:  Jeschi
28.07.2014 16:19
Vielen Danke für den Kommi und das Lob. :3
Freut mich, wenn du es magst. <3


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