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Arachnida

von

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Das Licht zweierlei Teelichter schwimmt durch den Raum und drängt die Dunkelheit in die Ecken zurück. Die Zeiger der Wanduhr vermitteln mir durch ihr regelmäßiges Ticken, dass die Zeit wohl noch nicht stehen geblieben zu sein scheint. Hölzerner, rauchiger Geruch tanzt durch die Luft, der von den Räucherstäbchen abgesondert wird.
 

Noch hat mich die Traumwelt nicht eingeladen, ihre Türen geöffnet und mich willkommen geheißen. Ich bin noch nicht müde genug, die Augenlider nicht auch nur ansatzweise schwer und mein Körper noch voller Energie.

Letzte Nacht erst hatte ich wieder einen solchen Traum. So einen Traum von besonderer Bedeutung, völlig anders von Art und Weise, wie man sie sonst gewohnt ist. Den ersten solcher Träume bekam ich vor ein paar Monaten schon und von dort an beschloss ich, ein Alptraum-Tagebuch zu führen. Wieso Alptraum? Nun, diese Träume, die ich habe, sind nicht gänzlich von negativer Natur, aber sehr abstrakt und surreal. Sie lassen sich nicht erklären und ich kann nicht genau deuten, woher sie kommen oder was der Auslöser für sie ist. Womöglich sind sie reines Produkt meines Unterbewusstseins und meiner Fantasie, eine süße und doch gefährliche Mischung.
 

Das Tagebuch liegt unter meinem Kopfkissen.

Es ist nicht sonderbar auffällig, eher schlicht gehalten. Auf dem Nachttisch, in greifbarer Nähe, immer ein Kugelschreiber. Schwarz, manchmal auch blau, wenn ich den Schwarzen verschlampe.

Bisher sind gerade mal vier Einträge vorhanden, aber alle von diesen sind sich sehr ähnlich. Wenn ich sie hintereinander durchlese wirkt es sogar so, als wären die Träume einzelne Kapitel, die sich zu einem Buch zusammen fassen lassen wollen. Seltsam, nicht?
 

Ein paar Stunden liege ich noch wach, dann bin ich endlich eingeschlafen.
 

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Es ist kalt. Unerträglich kalt. Unter mir befindet sich kaltes Gestein, das sich grob seinen Weg in mein Fleisch sucht und sich durch meine Haut ritzt, wenn ich mich bewege. Kühle Luft zieht über meinen Körper hinweg und ich vermute, dass ich nackt bin. Jedes Härchen an meinem Körper richtet sich auf und eine bemerkbare Gänsehaut breitet sich auf mir aus. Ein schriller Schrei frisst sich mir durch Knochen und Mark und es fühlt sich so an, als würde sich mein Magen augenblicklich zusammen ziehen, sowie auch jedes andere Organ, dass sich in meiner Körpermitte befindet.

Ich höre Schritte - wenn man das, was ich höre, als Schritte bezeichnen kann... Es ist kein massives Geräusch, drängt sich aber trotzdem wie ein Hammerschlag immer und immer wieder durch mein Gehör.

Ein Blick auf meine Hände verrät mir, dass ich gefangen bin. Feinste Fäden aus edlem Weiß haben sich um meine Finger geschlungen und fressen sich in mein blasses Fleisch, damit ich nicht fliehen kann.
 

Sieht wohl so aus, als wäre ich schon wieder in diesem Netz gefangen...
 

Nur für einen kleinen Moment schließe ich die Augen, fühle, wie ein Schauer durch meinen gesamten Körper jagt, und atme tief ein und aus. Mein Brustkorb hebt und senkt sich in einem massiven Tempo und ich höre meinen rasanten Herzschlag in meinem Kopf, der sich nicht mehr verlangsamen möchte.

Erst traue ich mich nicht, meine Augen wieder zu öffnen. Soll ich es wagen? Ich weiß, dass er hier ist. Hier, bei mir. Wie in jedem Traum. Er ist mein ständiger Begleiter und lässt nicht mehr von mir ab. Es ist, als hätte er sich einen Kokon in meinem Innersten gebaut, inmitten des Rippengebildes, und sich dort fest verankert. Wenn ich bei vollem Bewusstsein bin ist es, als sei er gar nicht da. Kein ach so kleines Anzeichen davon, dass er existiert, aber wenn ich träume, dann, ja dann, dann ist er mehr als real.
 

Es zieht mir die Luft aus den Lungen, als ich eines seiner Beine auf meiner Schulter spüre, welches mich fester gegen das Gestein unter mir drückt. Berstender Schmerz durchdringt meinen Körper, ich schreie, will mich hin und her wälzen, dem Schmerz entkommen, doch er lässt es nicht zu. Das ist es immerhin, was er will.

Mit einem Schlag öffne ich meine Augen und erblicke die mächtigen Cheliceren, die man auch von gewöhnlichen Webspinnen kennt. Massive Kieferklauen, die nach ihrer Beute greifen wollen. Es sind nicht Mal mehr als geschätzte fünf Zentimeter, die zwischen mir und diesen Prachtstücken meiner absurden Fantasie herrschen. In meinem Bauch fühle ich ein Kribbeln, ich werde nervös, seltsam euphorisch, und meine Zähne graben sich in meine Unterlippe. Vor lauter Faszination ist es mir kaum möglich an den Cheliceren vorbei zu blicken, aber ich möchte mehr von ihm sehen. Mehr, so viel mehr.

All seine Augen sind auf mich gerichtet. Schwaches Licht schafft es, sich in solchen zu reflektieren und schürt meine ungemeine Nervosität nochmals mehr und-
 

Das Geräusch von Fingern, die die Saiten eines Instrumentes spielen und ich höre eine Melodie, die mir bekannt vor kommt. Ich erlebe eine Art von Schwindelgefühl und mein Körper droht in die Tiefe zu stürzen, obwohl ich liege und sich unter mir festes Gestein befindet. Mein gesamter Leib beginnt wieder zu zittern und will nicht mehr damit aufhören. Ich japse nach Luft, abermals, und meine Augen weiten sich vor Entsetzen, als sie nichts weiter als ein gleißendes Licht wahr nehmen, nicht mehr IHN. Er ist weg, verschwunden, nicht mehr bei mir! Da waren doch eben noch diese hinreißenden Kieferklauen, die mich als Beute packen wollten! Ich sah bereits seine scharf anmutenden Zähne, die sich sicherlich danach sehnten, sich in mein Fleisch zu drücken und mich zu zerreißen! Und nun ist all das... fort?

Bin ich noch immer im Traum gefangen oder schon wieder auf dem Weg in die Realität?

Ich bin erschöpft, enttäuscht, verärgert.

Ich habe genug von Schlaf und Träumen.
 

Letzten Endes bin ich wieder wach. Ein flüchtiger Blick um mich herum bestätigt, dass ich mich in meinem Zimmer befinde. Ein paar Lichtstrahlen schleichen sich durch die Gardinen in den Raum und werfen Lichtpunkte auf verschiedene Gegenstände, die somit quasi ins Rampenlicht gestellt werden. Mein Körper fühlt sich seltsam an. Eine Mischung aus noch immer anhaltender Euphorie und der darauf gefolgten Enttäuschung.

Ah!

Bevor meine Erinnerungen an den Traum verblassen, muss ich ihn aufschreiben und einige Notizen machen, also angele ich nach meinem Notiz-Buch unter dem Kopfkissen und greife nach dem Kugelschreiber.

Als ich mich aufsetze, spüre ich, wie mein Körper sich verkrampft. Kein Krampf in Form von Schmerz, nein, ein Krampf in Form von seltsamer, aber süßer Erregung. Die Gedankenfetzen und Bilder, die mir von diesem Traum noch durch den Kopf jagen, lassen meinen Körper so immens reagieren, dass es mich verwirrt.

Lange Zeit lang dachte ich, dass ich asexuell sei. Viele Jahre lang zeigte mein Körper keinerlei Anzeichen von irgendwelchen Lustgefühl und so etwas wie eine Libido schien nicht vorhanden zu sein. Egal, was ich ausprobierte, egal, was ich mir ansah... da tat sich einfach nichts. Ich schob diese Tatsache auf den Umstand, dass ich mit meinem Körper einfach absolut nicht im Reinen war, und dann war die Sache auch schon für mich gegessen. Allerdings entwickelte sich all dies so, dass selbst die Testosteron-Spritzen, die man mir aufgrund meines Problems verabreichte, keinerlei Auswirkungen zeigten, obwohl dies eigentlich der Fall gewesen sein sollte. Es gab einfach Nichts, was mich erregte. Zumindest glaubte ich das, bis zu einem gewissen Punkt...

Dank diesen Träumen reagiert mein Körper mit Verzückung und Erregung und überfordert mich damit maßlos. Ich habe kaum bis keine Erfahrungen, was sexuelle Dinge angeht, und ich scheue mich davor, mich selbst zu berühren. Ich überlegte sogar darüber, mich mit meinem Problem - wenn man es als Problem bezeichnen konnte - an Jemanden mit Profession zu wenden, einen Therapeuten vielleicht, aber da sind natürlich immense Hemmungen vorhanden, die ich nicht einfach so übergehen kann. Wenn ich daran denke, daran, mich Jemanden anzuvertrauen, denke ich sofort an die unverständnislosen Blicke und die Fassungslosigkeit über die Tatsache, dass ich von Insekten-Monstern träumte, die mich vergewaltigten und dass mich das auch noch erregte. Man würde meine Psyche dann wohl auseinander nehmen wollen, um zu ergründen, aus welchem Abgrund meiner Kindheit das wohl stammen mag.

Wenn ich selbst darüber nachdenke... nun, es gibt nichts, was mir in den Sinn kommt, was mich in meiner Kindheit so dermaßen hätte verstören können, dass dort etwas der Auslöser für diese Träume sein könnte. Aber ich bin auch kein Psychologe oder Ähnliches und so unbewandert in diesen Hinsichten, dass ich das sowieso gar nicht beurteilen kann.
 

Im Grunde gibt es Niemandem, dem ich von meinen Träumen erzählen kann. Nur meinem Tagebuch, das mir nicht antworten kann, mich nicht verurteilt, in Stille hinnimmt, was ich zu berichten habe. Manchmal bin ich dann doch froh darüber, dass es nicht dazu in der Lage ist, mir eine Antwort auf all das zu geben, was ich auf seine Seiten meißle. Einmal beging ich die Dummheit, dass ich dieses für mich so wertvolle Buch mit an einen Ort nahm, wo ich es nicht als sicher erachten konnte. In die Schule. Ich versteckte es in den tiefsten Ecken meines Rucksackes und behielt diesen an diesem Tag besonders im Auge. An sich bin ich so schon Niemand, der seine Sachen unachtsam irgendwo liegen lässt, aber dieses Mal war ich noch vorsichtiger als sonst. Ich vermutete, dass man mir irgendwann Streiche spielen wollen würde, diese typischen, primitiven Spielchen, wo man seinen Mitschülern Rucksäcke und Taschen stahl, um deren Inhalt aus reiner Belustigung auf den Tischen zu verbreiten, um Andere bloß zu stellen. Der einzige Grund, aus welchem ich an diesem Tag das Notizbuch mit mir mitnahm, war einfach nur der gewesen, dass mein Vater gerne Mal in meinem Zimmer herum schnüffelte, wenn er einen freien Tag hatte und ich nicht zu Hause war. Ohnehin ist mein Vater ein komischer Kauz - das habe ich wohl von ihm geerbt. Er hat nicht sonderlich viele Freunde und verbringt seine Freizeit lieber damit, sich zu Hause im Wohnzimmer zu verschanzen und sich den halben Tag über damit zu beschäftigen, sich Dokumentationen über alle möglichen Dinge anzusehen. Wir leben alleine. Meine Mutter hat uns schon vor über einem Jahrzehnt verlassen und von diesem Zeitpunkt an zog mich mein Vater alleine groß. Seine Erziehungsmethoden sind nicht unbedingt üblich, aber auch nicht schlecht, jedenfalls kann ich darüber nicht klagen. Hinsichtlich meiner Besonderheit spricht er nicht viel mit mir. Wir versuchen es zwar ab und an mal, aber richtige Gespräche kommen dabei nicht wirklich zu Stande. Ich glaube, dass es ihn belastet, dass er überfordert ist, aber ich kann ihn auch nicht dazu zwingen, mir seine Sorgen zu berichten, auch wenn ich das manchmal gerne tun möchte. Immerhin ist er mein Vater, die einzige Person, die mir vertraut ist und ich stelle mir hin und wieder vor wie befreiend es wohl sein mag, wenn wir über unsere Probleme und Sorgen sprechen könnten.
 

Zurück zu diesem Tag in der Schule, von dem ich erzählen wollte. Aus reiner Befürchtung, dass man mir gerade an diesem Tag meinen Rucksack weg nehmen wollte, drückte ich diesen umso fester an mich und überprüfte ganze sechs Mal die Minute, ob er auch gut verschlossen war. Wenn ich etwas heraus kramte achtete ich mit Fürsorge darauf, dass mein Notizbuch in seiner dunklen Ecke blieb. Nervöse Blicke durch den gesamten Klassenraum, Zusammen zucken, wenn man mir irgendwie zu nahe kam. Es fühlte sich an, als hätten sich sämtliche Muskeln in meinem Körper angespannt und ich war sogar, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam, dazu bereit einen Angriff mit einem der unzähligen Bleistifte aus meiner Federmappe vorzunehmen - wie ich diesen verwenden musste, um jemanden zu verletzen, konnte ich mir denken. Nichtsdestotrotz...

Glücklicherweise gab es keinen Zwischenfall, der mich zu solch einer Aktion getrieben hätte. Eine meiner Klassenkameradinnen gesellte sich in einer der Pausen jedoch zu mir und fragte mich, ob ich in Ordnung sei. Ich würde angespannten als sonst wirken und das hätte sie irritiert. Mich hingegen irritierte der Umstand, dass mich Jemand zu beobachten schien, wenn auch nur mein Verhalten. War es denn überhaupt eine Beobachtung oder nur ein zufälliges Bemerken von Verhaltensstörungen? Das geht mir bis heute noch durch den Kopf. In diesem Moment war ich so überfordert, dass ich erst den Kopf schüttelte, dann nickte, und dann wieder den Kopf schüttelte. War ich denn in Ordnung? Für meine Verhältnisse schien ich in Ordnung gewesen zu sein, aber ich hatte Angst. Angst um mein Notizbuch und die darin kostbaren Einträge, die für mich das Wertvollste sind, was ich besitze. Mein Gedankengut, meine Erinnerungen an diese fabelhaften Träume, die mich in ein anderes Universum beförderten.

Nach meiner durchaus seltsamen Reaktion blinzelte sie für einige Sekunden irritiert, lächelte dann und ging wieder. Ich starrte ihr wohl verblüfft nach, weil ich damit gerechnet hatte, dass sie nicht locker lassen würde. Für gewöhnlich zog man mich wegen meiner Andersartigkeit auf, aber dieses Mal wurde ich scheinbar verschont. Konnte es sogar sein, dass sie mich lustig fand? Ich weiß es einfach nicht.

Lange nachdem die Glocke zum Pausen-Ende geklingelt hatte saß ich noch dort, auf einer Bank, auf der ich in jeder Pause saß, alleine, unter einer großen Eiche platziert. Einige Sonnenstrahlen machten es sich auf dem schon alten Holz der Bank bequem und leisteten mir Gesellschaft, während ich die Stille genoss. In den Pausen war es furchtbar laut und ich hatte keine Möglichkeit um mich zu entspannen - die ersten Wochen, als ich noch knapp eine halbe Stunde alleine, und vor allem nach der Pause, dort sitzen blieb, waren Lehrkräfte zu mir gekommen, um mich zurück in den Unterricht zu schicken. Nachdem man mich zu einer Art Sozialpädagogin gezerrt hatte und diese nach gerade Mal zwei Gesprächen den Lehrern mitteilte, dass ich dort ruhig noch bleiben durfte nach der Pause, war ich baff. Sie stellte wohl fest, dass ich zu massiver Überforderung neige, wenn zu viele Menschen in meiner Gegenwart waren und war der Überzeugung, dass dies eine gute Methode für mich sei, um entspannen zu können und meine Konzentration, die ich immerhin für den Unterricht brauchte, wahren zu können. Meine Mitschüler hatten für diese Sonderbehandlung natürlich nicht so viel Verständnis über wie die Lehrkräfte, aber das kümmert mich inzwischen gar nicht mehr so sehr. Anfangs knabberten all die Sprüche, die man mir an den Kopf warf, doch sehr an mir, aber inzwischen kann ich sie einfach überhören und ignorieren.

Ein paar Minuten Zeit hatte ich noch für mich allein, bis ich ebenfalls wieder in den Klassenraum zurück und am Unterricht teilnehmen musste. Ich machte mir schon wieder Gedanken darüber, wie ich mich und vor allem mein Notizbuch am besten verteidigen könnte, dachte daran, wie sie mich wohl wieder alle ansehen würden, wenn ich die Tür öffnete und den Raum betrat und dachte auch an die verächtlichen Blicke, die auf mir lasteten, während ich den Weg zu meinem Platz suchte. Die Aufreihung der Tische war kompliziert, zu komplex, und ich wollte vermeiden auch nur ansatzweise mit den Schuhen an Taschen, Stühle oder Tische zu stoßen, weswegen der Weg zu meinem Platz jedes Mal wieder eine Art Hindernislauf war. Ich konnte nicht begreifen, wie einfach dieser Weg für meine Klassenkameraden war, der Weg zu ihren Plätzen! Einige hielten es sogar noch für besonders lustig, mir gemeinerweise extra noch Dinge vor die Füße zu werfen, damit ich stolperte und mich einer Blamage auslieferte.

Manchmal hasse ich es, zur Schule zu gehen.

Ich mag die Bücher, das, was die Lehrkräfte einem vermitteln, ich mag Wissen, Wissenschaft, ich will lernen und meinem Gehirn Futter bieten, welches mit gierigen Klauen nach Buchstaben und Zahlen schnappt, um sie zu verschlingen. Wären da nicht meine Mitschüler, die all das nicht so zu schätzen wissen, wie ich es tue...

Nachdem ich es zu meinem Platz geschafft hatte und mich erschöpft auf meinen Stuhl sinken ließ, kicherte es hinter mir. Das Mädchen hinter mir, deren Namen ich mir bis heute nicht merken kann, weil er so seltsam klingt, flüsterte ihrer Banknachbarin etwas zu. Irgendetwas, was ich nicht verstehen kann, weil sie flüsterten. Ab und an glaubte ich meinen Namen hören zu können, aber das konnte auch Einbildung gewesen sein. Ich bildete mir ebenfalls ein, dass sie über meinen Rucksack sprachen. Wussten sie etwa von meinem wertvollen Schatz, den ich bei mir trug? Wussten sie von der Existenz meines wundervollen Parallel-Universums? ...Nein. Nein. Unmöglich. Das konnten sie nicht. Wie auch?

Mit Mühe starrte ich an die Tafel und versuchte die dort mit Kreide, feinsäuberlich geschriebenen Sätze, zu einem sinnvollen Text zusammen zu fügen, aber es gelang mir nicht. Ich war abgelenkt, hin und her gerissen von dem Wortfetzen-Gefecht hinter mir und dem Angebot an Wissen, was sich mir auf dunkelgrünem Schiefer bat. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und es war mir unmöglich zu schlucken. Kleines Anzeichen von Überforderung. Weiteres Anzeichen dafür war, dass eines meiner Beine begann unkontrolliert zu zittern, sowie meine Finger nervös auf die Platte des Tisches klopften, in einem so dynamischen Rhythmus, dass es fast meinem Herzschlag glich.
 

Ich hielt es nicht mehr aus und verließ den Raum. Ich wollte nach Hause und in Sicherheit sein, fern von diesen ganzen potentiellen Gefahren, die an jeder Ecke auf mich lauerten.
 

Seitdem ist gerade Mal eine Woche vergangen. Nachdem ich erschöpft nach Hause gekommen war, weil ich den ganzen Weg über gerannt bin, hat mein Vater einen Arzt kommen lassen, der mich dann für ein paar Tage krank schrieb. Mir kam das ganz gelegen, denn ich wollte für eine Weile nicht mehr an den Ort namens Schule zurück. Doch, ich würde dorthin zurück wollen, wenn ich dort alleine sein könnte. Alleine mit den Lehrkräften, die ich zumindest noch als Menschen betiteln konnte, und den unglaublichen Mengen an Wissen, was fort auf mich wartete. Ein Jammer aber auch...
 

Der letzte Traum hat mich so dermaßen überwältigt, dass ich kaum ein Wort nieder schreiben kann. Die Miene des Kugelschreibers setzt auf dem Papier an, schreibt aber nicht von alleine. Noch immer schießen Bilder durch meinen Kopf, die sich mit Vergnügen in meinem Gehirn fest brennen dürfen, aber keine Worte, keine Beschreibung für das, was ich in diesem Traum empfand, kommen mir in den Sinn. In diesem Moment wünsche ich mir, dass ich das, was sich vor meinem inneren Auge abspielt, auf Leinwand projizieren und aufzeichnen könnte. Moment - wenn ich das tun würde, wäre das dann auch eine Art von Porno? Immerhin handelt es sich dabei um Material, was bei mir Lustgefühle hervorruft und mich erregt. Komischer Gedanke.

Ich seufze, starre noch ein paar Minuten auf die beinahe leere Seite und schließe das Buch dann, um es wieder unter mein Kopfkissen zu schieben. Mein Körper ist noch immer außer Rand und Band, aber das versuche ich zu ignorieren, auch wenn das Pochen in meinem Unterleib sich, zugegebenermaßen, doch irgendwie ganz gut anfühlt...
 

Letzten Endes entschließe ich mich dazu, mich nicht anzufassen. Es bedarf einiges an Mühe meinen Kopf jetzt wieder frei zu bekommen und vor allem einige Reaktionen meines Körpers zu ignorieren, der sich nach so einigen Dingen sehnt, aber ich schaffe es doch immer wieder.

Vor einigen Monaten hat sich mein Vater eine Schildkröte angeschafft, die er liebevoll mit dem Namen Pi segnete; Pi deswegen, weil seine Liebe für Mathematik zu offensichtlich ist. Ein Mal erwischte ich ihn sogar dabei, wie er mit einem kleinen Stück Kreide das Zeichen für Pi auf den Panzer der Schildkröte zeichnete und dabei lächelte. Es ist selten, dass mein Vater lächelt, aber in diesem Moment hatte er gelächelt, Pi über den kleinen Kopf gestreichelt und seinem besten Freund ein paar Stücke Salat vor das Maul gelegt, welche die Kröte in erstaunlichem Tempo verschlang.

Manchmal vertrieb ich mir meine Zeit ebenfalls mit Pi. Er ist die einzige Gesellschaft, die wir in unserer Wohnung schätzen, und ich glaubte, dass dieses Tier mir ein besserer Freund gewesen war als so manche Mensche, der mir bisher in meinem Leben begegnet sind. Wenn mein Vater nicht zu Hause war verkrümelte ich mich manchmal ins Wohnzimmer, gesellte mich zu dem kleinen, offenen Aquarium, wo Pi es sich meist auf einem Stein inmitten von verschiedenen Pflanzen und kleinen Wasserquellen gemütlich gemacht hatte und erzählte ihm im Flüsterton von meinen Sorgen. Große, schwarze Augen mit einem leichten Schimmern blickten mich an, von denen ich glaubte, dass sie eigene Welten beherbergten.

Auch dieses Mal suche ich das Wohnzimmer auf, gehe vorher sicher, dass mein Vater nicht anwesend ist, und mache es mir neben dem Aquarium auf einem großen, gemütlichen Sitzkissen bequem. Ich lasse mich zurück sinken, lege den Kopf in die weichen Polster zurück und blicke zu dem Aquarium direkt neben mir. Pi weilt gerade Mal nicht auf einem seiner Steine, sondern paddelt durch das glasklare Wasser, den Kopf an der Oberfläche haltend. Für einen Augenblick suchen seine Augen nach mir, dann richten sie sich wieder nach vorn.

Knapp eine Stunde lang beobachte ich ihn, auch wenn es sicherlich spannendere Dinge gibt, als eine Schildkröte zu beobachten, aber es entspannt mich. Mein Körper hat inzwischen aufgegeben, mich endlich in Ruhe gelassen, und mich beschleicht das Gefühl von Hunger. Mit einem Krächzen quäle ich mich aus dem bequemen Sitzkissen heraus und gehe in die direkt anliegende Küche, wo ich den Kühlschrank inspizierte. Wie ich es schon erwartet hatte, war nicht mehr sonderlich viel da, aber dieser Anblick war nichts Neues für mich. Für gewöhnlich geht mein Vater einkaufen, aber da dieser heute womöglich erst später nach Hause kommt, werde ich das wohl übernehmen. Irgendwo hat er sicherlich einen Einkaufszettel hinterlegt, den er für sich selbst als Gedankenstütze anfertigte, und nachdem ich ein bisschen herum gekramt habe, habe ich ihn auch prompt gefunden. Sonderlich viel steht nicht drauf, aber genug, um einen zum Einkaufen gehen zu bewegen.

Ich gehe also ins Bad, mache mich fertig, ziehe mir einen weiten Pullover und eine Jacke über, angle nach einem Schirm und meinem Rucksack, den ich noch rasch ausräume, werfe den Schlüssel und die Geldbörse hinein und überprüfe mein Spiegelbild nochmals, bevor ich die Wohnung verlasse. Nachdem ich mir die Kapuze meines Pullovers über den Kopf gezogen und meinen Schal höher ins Gesicht gezogen habe, kann ich mich nach draußen begeben.

Ein Blick zum Himmel genügt um zu erkennen, dass es nur ein wenig nieselt, der Schirm war also nicht nötig. Die Wolken über mir ziehen sich zu einem großen, dunkelgrauen Feld zusammen, dass bedrückend wirkt und mich mit Unbehagen erfüllt. Als Kind empfand ich solch ein Wetter immer so, als ob mich der Himmel verschlingen wollen würde, als wären diese dunklen Wolken wie Schwämme, die mich mit magischen Kräften in sich aufsaugen würden. Das haben sie bis heute nicht getan. Manchmal denke ich, dass das sogar sehr schade ist.
 

Etwa zehn Minuten zu Fuß und ich erreiche den nächsten Supermarkt. Frage mich immer noch, warum diese Läden eigentlich Supermarkt genannt werden, obwohl sie gar nicht so super sind. Dämliche Bezeichnung; da war Jemand nicht sehr kreativ.

Anstatt mir einen Einkaufs-Korb zu nehmen, hieve ich mir alles auf die Arme. Vater schrieb nur wenige Dinge auf den Zettel, aber im Vorbeigehen entdecke ich einige Kleinigkeiten, denen ich nicht widerstehen kann, darunter einige Süßigkeiten, die ich meist eh nicht aß, sondern meinem Vater dann überließ. Er mag Süßigkeiten bei Weitem mehr als ich, aber ich mag die Verpackungen und hebe diese in einer kleinen Kiste auf. Nach der letzten Zählungen waren es weit mehr als Fünfzig, was mich mit Sammler-Stolz erfüllt.

An der Kasse rutscht mir alles aus den Armen, beinahe auf den Boden, gerade so noch auf das Laufband. Ehrlich gesagt habe ich Skrupel davor, das Laufband zu berühren, immerhin ist es mit einem Mechanismus ausgestattet, der mir nicht ganz Geheuer ist, und ich erahne auf seiner Oberfläche unendlich viele Lebensformen, die mir schaden können. Vater hat mir das von klein auf eingetrichtert - und er hat Recht!

Die Kassiererin rollt mit den Augen, zieht ohne ein Wort die Produkte über das seltsame Piep-Gerät und hält mir anschließend die offene Handfläche entgegen, auf welche ich das Geld legen soll. Ich bin so bedacht darauf, nicht ihre Haut zu berühren, dass ich eine Weile für die Übergabe brauche. Ein Gefühl von Erleichterung sucht mich Heim, als ich es ohne Berührung geschafft habe und ich räume alles schnell in meinen Rucksack hinein. Zum Glück habe ich bis auf den letzten Cent passend gezahlt, damit ich kein Wechselgeld mehr bekomme.
 

Inzwischen regnet es, kein Nieseln mehr, und die Wolken haben sich in pechschwarzes Schwarz gewandelt, was umso bedrohlicher auf mich wirkt. Ich sattle mir den Rucksack auf den Rücken, ziehe die Gurte um meine Schultern fest und verschließe ihn vorsichtshalber nochmals mit einem Sicherheitsgurt vor der Brust und öffne dann den Schirm. Die Last auf meinem Rücken zwingt mich jetzt schon leicht in die Knie und ich verstehe in diesem Moment wieder, warum mein Vater sonst die Einkäufe erledigt - weil er im Gegensatz zu mir um einiges kräftiger gebaut ist, was man von meiner Konstruktion des Körpers wirklich nicht behaupten kann.

Ein Mal tief durchatmen, den Schirm über meinen Kopf schwingen und dann nach Hause laufen!

Auf den Gehwegen haben sich schon einige Wassermengen zu kleinen Pfützen gesammelt und ich versuche mit Mühe, diesen auszuweichen. Teilweise sind sie so groß, dass ich kaum um sie herum komme, und remple dabei aus Versehen einige Leute an. Ich bin jedes Mal so erschrocken über die körperliche Kollision, dass ich kein Wort zur Entschuldigung heraus bringe, was man mit einem zornigen Gemurmel kommentiert.

Der Weg kommt mir wie ein ewiger Hindernislauf vor und ich bin so glücklich, als ich wieder zu Hause bin. Ich bin völlig außer Atem, schaffe es nur mit Mühe die Sicherheits-Verschlüsse meines Rucksackes zu lösen und lasse diesen von meinem Rücken herunter rutschen. Den Schirm lasse ich im Hausflur stehen, da dieser sowieso völlig nass ist, und meine Schuhe schiebe ich schnell wieder auf die Fußmatte vor der Haustüre. Mein Vater mag es nicht, wenn man mit dreckigen - und vor allem nassen - Schuhen die Wohnung betritt. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass es noch knapp zwei Stunden dauern wird, bis er wieder nach Hause kommt, solange kann ich noch ein paar Dinge im Haushalt erledigen und ihm eine Kleinigkeit zu Essen zubereiten, damit er sich darum nicht selbst noch kümmern muss, nachdem er erschöpft und nach etlichen Überstunden nach Hause kam.
 

Gesagt, getan. Nachdem ich mir ein paar Minuten Verschnaufspause gönnte, räumte ich im Wohnzimmer und in der Küche auf, kochte Reis und bereitete ihm ein paar Kleinigkeiten zu, die er dazu essen konnte und stellte dieses, bereit zum Verzehr, schon Mal auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer, wo er meistens aß.
 

Ich ging zurück auf mein Zimmer. Inzwischen liege ich im Bett, wie so oft; und hoffentlich dauert es nicht mehr lange, bis ich wieder einschlafe...



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  jackal
2013-11-06T21:56:42+00:00 06.11.2013 22:56
Yeah damit hier ein Kommentar ist schreib ich nochmal, dass ich die Idee sau interessant finde und du das alles so gut umschreibst, dass man sich richtig reinversetzen kann :D
Ich bin mal wieder totaler Fan und freu mich aufs nächste Kapitel °u°
Antwort von:  Kuran
07.11.2013 16:10
Nochmals Danke! Mich freut es so, dass ich mich in Umschreibungen scheinbar gebessert habe und geb mir Muehe, die Quali in den naechsten Kapitel auch beizubehalten! B''D


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