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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Halblinge

Kapitel 55

Halblinge
 

Zwar hatte Tyiasur ihn auf dem Laufenden gehalten, dennoch war er unruhig einige Kreise über der Stelle geflogen, in der seine Freunde verschwunden waren. Niemand konnte vorhersagen, ob die Stimmung nicht doch kippen würde.

Auf dem Plateau wurde es immer unruhiger. Die Puppe, die der Wasserdrache ihnen gebracht hatte, blieb unangerührt an der Klippe liegen, und man spürte ihr Unwohlsein über die Gegenwart von Drache und Geflügelten. Was der Magier dort unter der Wasseroberfläche trieb, konnte auch niemand bestimmen. Aber er trieb sich in ihrem Dorf herum.

Als Lulanivilay die alte Frau und den Magier aus dem Wasser zog, gab es Geschrei. Sie waren nun eindeutig wütend und doch wandelte es sich schnell in Unglauben. Sie bewegte sich. Ihre Todgeglaubte lebte noch. Wie war das möglich?

Als der Drache endlich landete und seine Last vorsichtig absetzte, war die dunkel gelockte Frau mit der Peitsche die erste, die zur Stelle war. Auch wenn sie wusste, dass sie nie eine Chance gegen dieses Wesen haben würde, drängte sie sich zwischen die Alte und ihre Gegner, die halb aufgerollte Peitsche drohend erhoben.

„Er ist ein gutes Kind, Xaira. Lass ihn.“ Sanft legte sich eine vom Alter gezeichnete Hand auf die Schulter der jungen Frau. Der entschlossene Blick der Angesprochenen wurde unsicher. „Er wird mir helfen.“ Die Hand wanderte hinab und legte sich auf den Stiel der Peitsche. „Es ist gut.“ Mit einem trockenen Schluchzen zerbrach ihre Fassade und die junge Frau nahm die Alte in den Arm, die Tränen liefen ungehindert. Es traten noch mehr hinzu und berührten die Alte.

Nach einigem Zögern entschloss sich Mimoun abseits davon zu landen und zu seinen Freunden zu gehen. „Gut gemacht.“, lobte er seinen Magier.
 

„Noch bin ich nicht fertig. Ohne Vilays Hilfe ist das wirklich schwierig.“, schüttelte Dhaôma den Kopf. Vorsichtig nahm er Mimouns Hand und wartete einfach ab. „Aber ich glaube, jetzt haben wir bessere Chancen auf ein Gespräch.“ Schließlich war das bei den Hanebito auch so gewesen, dass sie mit ihm geredet hatten, weil er Mimoun geholfen hatte. Nur dass die Freundschaften, die er hier schloss, niemals so eng werden würde, wie die mit Mimoun. Das hier war etwas Besonderes und war niemals zu wiederholen. Was sie beide verband, das war viel mehr. „Nicht wahr?“, fragte er und strahlte ihn an.
 

„Ja.“ Sanft strich er ihm ein paar nasse Fransen aus der Stirn und nickte lächelnd. Dann glitt sein Blick wieder über die Gruppe der Halblinge. Unbemerkt von allen schlich sich ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen zum Rand der Klippe und griff sich die Puppe. Allein ihre schneeweißen Haare und die hellen kleinen Flügel waren schon ein faszinierender Anblick, doch als sie sich zu ihnen umdrehte und mit einem strahlenden Lächeln ihre Puppe an sich drückte, war er von ihren Augen gefangen, die in einem intensiven Rot leuchteten. Kurz darauf war sie wieder zwischen den Erwachsenen verschwunden.

„Was meinst du? Während sie sich freuen, organisieren wir noch etwas Essbares, was hältst du davon?“
 

„Sähe das nicht nach Flucht aus?“, fragte Dhaôma vorsichtig. „Wenn wir einfach so verschwinden und dann wiederkommen, könnten sie es als Bedrohung ansehen.“ Dann fiel sein Blick auf die alte Frau, die äußerlich einem Winterapfel ähnelte. Sie war klein und runzelig und gebeugt. Unglücklich warf seine Stirn Falten. „Außerdem bin ich noch nicht fertig.“
 

Lachend stimmte Mimoun zu. „Einverstanden. Ich hole deine Samen, organisiere noch ein wenig Fleisch und du kümmerst dich um unsere neuen Freunde. Tyiasur wird dir dabei helfen, ist das okay? Er wird dir sagen, wenn du besser gehen solltest.“

„Vielleicht sollte er euch auch sagen, dass es nicht nett ist, in anderer Menschen Köpfe herumzustreunen.“ Mimoun wirbelte herum und schaute das weißhaarige Mädchen verblüfft an, die sich unauffällig genähert hatte. „Es sind schließlich unsere Gedanken und es ist entblößend zu wissen, dass sie jemand ohne unsere Zustimmung liest.“

„Entschuldige.“, murmelte Mimoun betreten. Sie hatte ja Recht. Dennoch vereinfachte es die Sache ungemein, da der Wasserdrache schneller und gefilterter die wahren Gefühle und Absichten eines Gegners wiedergeben konnte. „Tyiasur mag zwar in den Gedanken lesen, aber er nimmt auf die Gefühle der Person Rücksicht. Geheimnisse behält er für sich und er gibt nur das an uns weiter, das sich für uns sonst als nachteilig erweisen würde.“

„So wie das hier?“ Sie drückte die Puppe fest gegen ihre Brust.

„Er hat uns nichts davon gesagt. Er hat selbst darauf reagiert.“
 

Das Mädchen schien diese Puppe wirklich zu lieben, denn obwohl sie nass war, hielt sie sie an ihrem Herzen. Ihre Brust war ganz nass. Und eines der Beine der Puppe tropfte noch.

Dhaôma sah das Kind zum ersten Mal. Sie war noch jünger. Jünger als er, bevor er gegangen war, aber sie schien sie nicht so misstrauisch zu beäugen, wie es die anderen taten. Weich lächelte er. „Und wer bist du?“, wollte er wissen.
 

„Keithlyn.“ Sie erwiderte das Lächeln. „Aber ist es nicht höflicher sich selbst vorzustellen, bevor man fragt?“
 

„Ich dachte, dass hätten wir bereits. Vor ein paar Wochen. Ich bin Dhaôma und das ist Mimoun. Und dann haben wir da noch Lulanivilay und Tyiasur.“ Letzterer betrachtete das weißhaarige Mädchen aufmerksam, ersterer ließ sich gerade zur Seite fallen und legte den Kopf auf die Pfoten, die Flügel weit aufgespannt, um sich vom Wind trocknen zu lassen. Die Schwüle machte ihn schläfrig und träge.

Ihm fielen ein paar Leute auf, die sie mit einer Mischung aus Vorsicht und Neugier und Misstrauen beäugten. Es war wirklich immer das gleiche. Die Kinder waren mutig, die Erwachsenen nicht. Aber eines war seltsam. „Bist du das einzige Kind hier?“, fragte er und runzelte erneut die Stirn.
 

„Ich bin die Jüngste hier, wenn du das wissen wolltest. Und ja, ihr habt euch vorgestellt, aber glaubt ihr wirklich, man lässt uns in die Nähe von Fremden? Man hat es nicht leicht, wenn man so ist wie wir. Nicht jeder hat eure Namen gehört unten in den Höhlen, schließlich habt ihr mit Xaira geredet.“

„Und das sollte auch so bleiben.“ Gleichzeit beschützend wie auch drohend legte die Frau einen Arm um die Schulter des Mädchens, die ihr nur ein Lächeln zuwarf. Lange betrachtete sie die beiden jungen Männer vor sich. „Je länger wir euch beobachten, umso seltsamer finde ich euch.“ Kurz schüttelte sie den Kopf und lächelte dann zögerlich. „Danke, dass du Thenra geholfen hast. Und bitte hilf ihr auch weiter.“
 

„Ich finde uns eigentlich nicht seltsam.“, bemerkte Dhaôma, aber er erwiderte das Lächeln trotzdem. „Aber wenn du meinst. Und ich halte meine Versprechen. Ich habe gesagt, ich helfe ihr, dann tue ich das auch.“ Er wollte einen Schritt in die besagte Richtung tun, da hielt er inne und drehte sich zu Mimoun um. „Meinst du, es ist die richtige Zeit?“ Noch immer konnte er Situationen, in die viele Menschen verwickelt waren, nicht richtig einschätzen, da war es besser, auf Mimoun zu vertrauen.
 

Himmel, manchmal war der Magier unglaublich niedlich und unbedarft. Wie zu der Zeit, als er ihn kennen lernte. „Ich hab nicht ganz zugehört. Hat sie dich gerade um deine Hilfe gebeten?“
 

„Ai? Hast du doch gehört.“

Rote Augen weiteten sich, dann begann Keithlyn zu lachen. „Gefürchteter Magier. Alles klar!“ Den Rest ihrer Worte konnte man unter dem Lachen nicht mehr verstehen. Selbst der bitterböse Blick Xairas änderte nichts mehr daran.

Dhaôma war gekränkt. Man fürchtete ihn? Mit welchem Grund? Aber wahrscheinlich hatten sie schlechte Erfahrungen gemacht. „Darf ich jetzt zu ihr gehen oder nicht?“

„Geh schon. Thenra wartet doch.“

Nickend machte Dhaôma einen Schritt in die Richtung der alten Frau, verharrte dann aber noch einen Moment. „Sie ist toll. Sie erkennt an meiner Stimme, wer ich bin.“, teilte er Mimoun mit. „Sie ist fast wie Addar. Ich wette, sie würde ihn mögen.“

Dann eilte er die paar Meter zu ihr hinüber. Die beiden Halblinge, die an ihrer Seite waren, machten Anstalten, zu ihren Waffen zu greifen, aber Dhaôma ignorierte sie, als er vor ihr stehen blieb. „Ich bin wieder da. Lulanivilay ist auch in der Nähe, deshalb würde ich gerne fortsetzen, was ich angefangen habe.“

Sie gab mit einem Nicken ihr Einverständnis und Dhaôma legte ihr die Hände auf die Stelle über ihrem Herzen und unterhalb ihres Halses. Es gab Empörungsrufe über diese Unsittlichkeit, aber weder die Alte noch Dhaôma reagierten darauf. Der Braunhaarige schloss die Augen und tauchte abermals in das Gefühl ein, das ihr Körper ihm vermittelte. Seine Finger bewegten sich noch einmal, dann erglühten die Zeichen in seinem Gesicht und auf seinem Rücken. Es fügten sich zerrissene Muskeln zusammen, Sehnen und Knorpel wurden von Feuchtigkeit durchdrungen, die Lunge regenerierte sich so, dass das Rasseln beim Atmen erstarb.

„Deine Augen kann ich nicht mehr heilen.“, sagte Dhaôma schließlich leise, als das Leuchten erlosch. „Ich dachte, es ginge, aber diese Verletzung ist schon zu alt, als dass ich noch etwas dagegen tun könnte.“
 

„Das ist schon in Ordnung. Ich habe mich daran gewöhnt. Man lernt viel, wenn man nicht mehr auf seine Augen angewiesen ist.“

Mimoun war dort stehen geblieben, wo er war. „Ich bitte dich, ihn nicht mehr auszulachen. Auch er hat sehr gelitten und er versteht vieles nicht. Solche Fragen resultieren aus seiner Unsicherheit, seiner Befürchtung jemanden zu verletzten oder zu verärgern. Er weiß nicht, wie weit er gehen kann, und er scheut sich auch davor, Grenzen auszutesten. Und seine Unbedarftheit lässt ihn vieles falsch verstehen. Sei also bitte nachsichtig mit ihm.“

Das Mädchen sah ihn nur verständnislos an und nickte schließlich zum Zeichen ihres Einverständnisses.

„Warum seid ihr hier?“, mischte sich wieder Xaira ein und der Geflügelte wandte sich ihr zu.

„Unser Lager hat sich in eine Insel verwandelt und wir wollten sichergehen, dass euch nichts passiert ist.“

Keithlyn prustete los, bevor sie hastig ihre Faust gegen ihren Mund presste. „Und der Magier ist unbedarft? Na dann Mahlzeit.“

„Warum seid ihr in diesem Land?“, wurde die Frage präzisiert, ohne auf den unqualifizierten Kommentar des Mädchens einzugehen.

„Ah.“, gab Mimoun von sich. Nun verstand er. „Dort, wo wir herkommen, liegt Schnee und unsere Freunde vertragen die Kälte noch schlechter als Dhaôma. Wir haben einen Ort gesucht, wo sie es angenehm haben, und durch Zufall euch gefunden. Mein Magier hat einen ausgeprägten Helferdrang. Er wünscht sich Frieden zwischen allen und jedem.“
 

„Dann ist er hier genau richtig. Wir leben in Frieden.“, freute sich Keithlyn, doch Xaira war nicht so einfach zufrieden zu stellen.

„Und was ist mit dir? Bist du sein Herrchen, das ihn gezähmt hat?“ Ihre Stimme klang so bissig, dass man glauben mochte, sie würde Mimoun gleich an die Kehle gehen.
 

„Weder bin ich sein Herr, noch er der meine. Ich verdanke ihm mein Leben und das mehr als einmal und umgekehrt. Wir sind Freunde und er bedeutet mir alles.“ Er wandte sich völlig der Frau zu und sah ihr offen ins Gesicht. „Tyiasur kann nicht nur Gedanken lesen. Er kann auch in Erinnerungen blicken. Mit seiner Hilfe wird es dir möglich sein, meine gesamten Erinnerungen zu durchsuchen. Suche nach etwas, das euch schadet. Wenn du etwas findest, kannst du uns für immer von hier verjagen.“
 

„In Erinnerungen kann man so etwas nicht finden, schließlich kann man sich nicht darauf verlassen. Wenn in deiner Vergangenheit etwas Schreckliches passiert ist, du dich davon aber gelöst hast, wirst du uns nichts tun, wenn du dich allerdings jetzt entschließt, uns anzugreifen, obwohl du vorher niemals daran gedacht hast, wirst du uns vernichten. Beruht darauf dein Frieden? Auf Gewissheit und Absicherung? Verlässt du dich deswegen auf diesen blauen Wurm?“
 

„Ja.“, antwortete Mimoun und seine Hand schnellte gerade noch rechtzeitig vor, um Tyiasur am Schwanz zu packen, als dieser sich auf die Frau stürzen wollte. Die wütend aufgestellten Stacheln drangen durch die Haut, was ein leises Zischen bei seinem Reiter auslöste. „Ich verlasse mich auf ihn. Nicht weil ich ein Drachenreiter bin und es seine Aufgabe als mein Drache…“, betonte er das Wort. „… ist, mich zu unterstützen, sondern weil er mein Freund ist. Ich kann ihm bedenkenlos mein Leben anvertrauen.“ Leicht neigte sich der Kopf des Geflügelten, als er die Frau sich gegenüber musterte. „Aber wenn ich es recht bedenke, stützt sich euer Frieden auch darauf. Bevor ihr uns auch nur ansatzweise Vertrauen entgegen bringt, werdet ihr euch doch auch erst Gewissheit verschaffen, nicht wahr? Deshalb habt ihr uns beobachtet. Um euch abzusichern.“ Er ließ seinen Drachen wieder auf seiner Schulter Platz nehmen und reuig glitt die Zunge des Schuppentieres über die kleinen Wunden.
 

In dem Moment kam Dhaôma auf Mimoun zu und flog ihm um den Hals. „Wir können zum Essen bleiben! Wir können mit ihnen reden!“ Zum Glück für den Magier hatte Tyiasur das Vorhaben vorausgesehen und sich in Sicherheit gebracht.

„Was?“, fuhr Xaira auf. „Das ist doch nicht wahr! Wir haben nicht mal genug für uns selbst, wie…“

„Kein Problem!“, fiel ihr Dhaôma ins Wort. „Wir holen schon was, dann werden alle satt.“ Und schon wirbelte er zu Lulanivilay und klopfte ihm hinter dem stacheligen Kopf auf den glatten Hals. „Los, wir gehen jagen. Und heute musst du sie packen, nicht einfach drauflegen, sonst können wir es nicht mehr essen, ja?“

„Du bist übermütig, Freiheit.“, kam eine verschlafene Antwort. „Man kann es schon essen, wenn ich mich drauflege. Dann ist es nicht so schwer, sie zu jagen, wenn sie Haken schlagen.“

Dhaôma lachte. „Bist du nicht eigentlich ein sehr gewandter Flieger?“

„Das ändert nichts an der Tatsache, dass es einfacher ist.“

„Was ist denn los?“ Irgendetwas stimmte mit dem grünen Drachen nicht. „Bist du krank?“

„Da ist so viel Wasser, aber es gibt rein gar keine Fische da drin, die groß genug sind, dass ich sie mit meinen Krallen packen kann.“, kam die Antwort, während der massige Leib sich erhob. „Mir gefällt dieses Land nicht.“
 

„Wenigsten ist es warm genug. Stell dir vor, du müsstest jetzt im Schnee auf Addars oder meiner Insel ausharren.“, stand Mimoun dem Magier bei. Schon breiteten sich seine Schwingen zum Start aus. „Soll ich deine Samen holen?“
 

„Mach das. Und wenn du findest, Holz. Oder esst ihr euer Fleisch auch roh?“

„Wir sind doch keine Barbaren!“, knurrte Xaira.

Keithlyn schüttelte den Kopf. „Du bist so engstirnig. Das hat doch damit nichts zu tun.“ Den wütenden Blick der Frau beantwortete sie mit einer gebleckten Zunge. Sie grinste und wandte sich an den Drachen. „Nimmst du mich mit zum Fliegen? Ich wollte das schon immer mal machen, aber diese Stummel hier taugen nicht dafür.“ Und sie wackelte ein wenig mit den weißen Flügelchen.

„Keithlyn, das kommt überhaupt nicht in Fra…“

„Sicher. Du wiegst nicht mal halb so viel wie Freiheit.“

Dhaôma lachte über den entgeisterten Blick Xairas, als das Albinomädchen furchtlos auf den Rücken des Drachen kletterte. „Soll ich jetzt hier bleiben?“

„Du bist bei der Jagd sowieso keine Hilfe.“, kam die gewohnt unverblümte Antwort und kichernd gab ihm Dhaôma Recht. Nicht mal mit dem Bogen konnte er von dem Drachenrücken aus treffen.

„Dann viel Spaß.“

Lulanivilay startete und jauchzend streckte das Kind die Arme in die Luft, die krallenbewehrten Füße in den Haltegurt geklemmt. Xairas Gezeter wurde von allen ignoriert. Bis sie Dhaôma am Kragen packte und ihn ganz nah zu sich heranzog. „Sollte ihr irgendwas passieren, gnade dir das Schicksal!“
 

Eine Hand schloss sich um ihren Hals. „Und solltest du Dhaôma noch einmal so angreifen…“ Mimoun lächelte böse und ließ den Satz unbeendet. Nur Sekundenbruchteile später ließ er sie wieder los und befreite Dhaôma aus ihrem Griff. „Sieht so aus, als würdest du mal wieder mit mir fliegen.“, lächelte er seinen Freund an. Nichts war von der kurzzeitig aggressiven Grundstimmung seinerseits übrig.
 

„Ich würde lieber hier bleiben.“ Dhaôma hatte nicht einmal Zeit gehabt, einzugreifen, aber diesmal hatte Mimoun sich wenigstens besser unter Kontrolle. Er lächelte sanft und strich ihm beruhigend über die Wange. „Mach dir keine Sorgen um mich. Das gerade war doch nur aus Sorge um das Kind.“
 

Also wirklich. Als wenn ihm das nicht bewusst gewesen wäre. Wie nebenbei legte sich ein Arm um Dhaômas Bauch und er schob seine Nase kurz durch die braunen Haare. Dann schickte er der Frau einen drohenden Blick, vom Magier ungesehen. „Jeder hat etwas, dass er beschützen will.“ Und schon hob er ab und strebte ihrem Lager zu.

Tyiasur hatte in der letzten Zeit nichts mehr gesagt, nun brach er sein Schweigen. „Er mag es nicht, wenn du Verletzungen vor ihm verbirgst.“

Mimouns Blick glitt über die kleinen Schrammen und er lächelte sanft. „Du brauchst dich nicht entschuldigen. Ich kann dich verstehen und du hattest ein Recht darauf böse zu werden.“ Der Kopf des kleinen Schuppentieres drückte sich an seinen Hals.
 

Während Dhaôma Mimoun nachblickte, beobachtete Xaira ihn. Sie fand es seltsam, dass er sich nach diesem Angriff von ihr so schutzlos an sie auslieferte. War das ausgleichende Gerechtigkeit, weil sein Drache Keithlyn mitgenommen hatte oder war er einfach dumm?

„Sag mal, Magier, seid ihr euch etwa ‚so’ zugetan?“, fragte sie, denn die Stimmung zwischen den beiden war einfach zu offensichtlich. „Lasst das lieber bleiben. Daraus entsteht nichts Gutes.“ Ihr Blick war schmerzerfüllt und Dhaôma konnte es sehen.

„Warum ist es so schlimm, wenn Hanebito und Jagmarr einander mögen? Freundschaft kann es doch zwischen allen geben.“

„Ja, das was ihr da nach außen tragt, geht aber über einfache Freundschaft längst hinaus. Liebe zwischen den Völkern ist etwas, das es besser nicht geben sollte. Sieh dich um und du weißt, was daraus entsteht.“

„Ist es so schlimm, ein Mischling zu sein?“

„Du hast ja keine Ahnung!“, fauchte sie. „Ein Kind, das einer solchen Verbindung entspringt, kann niemals glücklich sein! Es wird niemals geliebt werden, denn alle sehen es als grotesk an, jeder betrachtet es mit Abscheu, selbst die eigene Mutter!“

„Ich nicht.“

„Du bist ja auch ein Idiot! Du wünscht dir Frieden und wartest hier mit unbezwingbarer Magie auf, die jeden einschüchtern muss!“

„Ich meine, ich werde keine Kinder von ihm kriegen. Erstens bin ich keine Frau und zweitens ist es bei ihm anders. Diese Zuneigung ist bei den Hanebito normal. Es ist einseitig. Aber selbst wenn ich ein Kind von ihm bekäme, wäre es ein Teil von ihm und ich würde es lieben.“

Sie starrte ihn an, ihre schwarzbraunen Augen funkelten, bevor sie tief seufzte. „Du bist ein Idiot.“, sagte sie und wandte sich ab. Hinter ihr stand eine streng schauende Thenra.

„Sprich nicht so zu ihm.“, tadelte sie sanft. „Du kannst Menschen nicht nach einem einzigen Tag beurteilen. Und du solltest anderen auch nicht deine Ansichten aufzwingen. Dhaôma hat sicher seine Gründe, wenn er einen solchen Traum hegt, und er beweist eine Menge Mut, wenn er versucht, die Konventionen zu beugen.“

„Das ändert nichts daran, dass er ein Idiot ist.“, knurrte sie und wandte sich ab, um den anderen dabei zu helfen, Feuer zu entzünden. Sie würdigte ihn keines Blickes mehr.

„Verzeih ihr bitte.“

„Da gibt es keinen Grund für. Sie hat offensichtlich Schlimmes erlebt. Und sie kann ja nichts dafür.“

Sie lachte leise, keckernd. „Bist du nicht ein wenig zu weich?“

„Meinst du, das ist schlimm?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber sei nicht zu vertrauensselig. Es gibt immer solche und solche.“

„Wie Kekaras. Aber für den Frieden bin ich bereit, viel zu riskieren.“

„Komm mit, Dhaôma Jagmarr. Ich stell dir unsere Anführer vor.“ Sie deutete auf ein Paar mittleren Alters, die unterschiedlicher gar nicht aussehen könnten. „Und dann erzählst du uns, was es Neues gibt aus dem Volk der Magier.“

Als Mimoun zurückkam, saß Dhaôma bereits am Feuer und hatte ihnen erklärt, dass er von den Magiern nichts wusste. Auch von den Hanebito hatte er wenig erfahren, also konnte er lediglich erzählen, was er mitbekommen hatte, dass sich die Lage zuspitzte, weil irgendjemand eine Entscheidung erzwingen und diese offenbar mit der Auslöschung des anderen Volkes besiegeln wollte. Er erzählte auch, was er und seine Freunde bereits erreicht hatten, was offenes Erstaunen und massiven Unglauben auslöste.
 

Da er nicht einschätzen konnte, wie sie reagieren würden, wenn er direkt in ihrer Mitte landete, berührte er den Boden ein wenig außerhalb und streunte umgehend zu seinem Freund, den Beutel freudig in der Hand baumeln lassend. Es nahm einen ungeheuren Druck von ihm, dass der Magier mitten unter ihnen am Feuer saß und ohne Zwang mit ihnen reden konnte.

„Am besten etwas, das sich hier lange hält.“, schlug der Geflügelte seinem Freund vor.
 

„Was denn, keine Erdbeeren?“, fragte er erstaunt zurück.
 

Missmutig verzog sich das dunkle Gesicht. „Du warst vorhin im Wasser. Du hast sie geheilt. Wie ich dich kenne, wirst du wieder einen halben Garten anlegen. Vilay ist doch nicht hier.“
 

„Dann dauert das eben noch ein wenig.“

Von der Seite mischte sich Mihara, die weibliche Anführerin, ein: „Kannst du ohne den Drachen nicht zaubern?“

„Doch.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Aber er erleichtert es mir.“

„Aha.“ Sie wandte sich an Mimoun. „Du bist also Mimoun Hanebito. Es tut mir Leid, dass ich den Rest deines Namens vergessen habe, aber hier legt sowieso keiner großen Wert auf Anreden.“ Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern.

„Setz dich zu uns.“, schlug Jii vor, der männliche Anführer. „Du kannst uns aus deiner Perspektive von eurer Welt und dem Krieg berichten. Wenn ich ehrlich bin, kennen wir die Lebensweise der Hanebito kaum, und es interessiert uns.“
 

Zögerlich ließ er sich nieder. „Ich lege auch keinen Wert auf Anreden. Der da…“ Ein bezeichnender Wink zu Dhaôma begleitete seine Worte. „… hat mir das eingebrockt, weil er damit anfing, als wir die ersten Magier besucht haben. So etwas existiert bei uns nicht. Eine bestimmte Person lässt sich leicht durch die Position seiner Insel finden. Ich wäre euch also durchaus dankbar, wenn ihr bei Mimoun bleiben könntet.“
 

„Kein Problem.“, wurde ihm zugesagt, dann ging das Gespräch weiter, bis Lulanivilay rücksichtslos mitten auf dem Platz landete und mit seinen Flügeln so viel Wind machte, dass einige dabei von den Füßen gefegt wurden. Von seinem Rücken sprang jauchzend und ganz Glück trunken Keithlyn und fiel einem Mann um den Hals. Die nächsten Minuten bewegte sich ihr Mund ununterbrochen, während alle mit anpackten, die drei Gnus auseinander zu nehmen. Als sie dem Drachen einen Teil der Beute anboten, schlief dieser wieder und das Mädchen erzählte ganz glücklich, dass er die erste geschlagene Beute beinahe im Ganzen geschluckt hatte. Und diese hatte er mit einem Bauchklatscher gefangen.

Fachgerecht wurde das Fleisch in Streifen geschnitten und über das Feuer gehängt. Dhaôma erbat für Mimoun Leber und Herz, da er wusste, wie dieser zu gegrillter Nahrung stand. Teilweise fasziniert, teilweise angewidert beobachteten sie das blutige Schauspiel, obwohl der Geflügelte es meisterhaft beherrschte, nicht zu kleckern.
 

Ein wenig geknickt begegnete der Geflügelte diesen Blicken. Also hieß es wieder zu gesittetem Verhalten überzugehen. Egal. Vielleicht bekam er heute doch noch Erdbeeren. Obwohl man den großen Grünen erst dafür wecken musste. Mit einem Lächeln verschob er das auf den nächsten Tag. Es war nicht wichtig. Er hatte heute mehr Freude daran, den Menschen hier bei der Arbeit zu helfen und gemütlich um das Feuer herumzusitzen und Geschichten zu erzählen. Da sie auch Wissen über sein Volk erbeten hatten, versuchte er ausschweifend ihr Leben auf den Inseln zu beschreiben. Tyiasur unterstützte ihn dabei, nachdem sie die offizielle Erlaubnis eingeholt hatten.
 

Als es dunkel wurde, verabschiedeten sich die vier Reisenden. Zwar wurde ihnen angeboten, bei den Halblingen zu bleiben, aber auch wenn Keithlyn keine Bedenken zu haben schien, es gab durchaus auch solche, die dem Frieden nicht recht trauen konnten. Und diese wollte Dhaôma nicht beunruhigen.

„Wir haben genug Zeit, dass sich alle an den Gedanken gewöhnen können.“, erklärte Dhaôma Thenra, als sie nachfragte, und sie ließ ihn mit einem knittrigen Lächeln gewähren.

„Danke noch einmal für deine sanften Hände. Sie haben mir tatsächlich neuen Lebensmut gegeben.“

„Das freut mich.“ Enthusiastisch ergriff Dhaôma ihre Hand und grinste. „Weißt du, eine Großmutter wie dich hätte ich gerne gehabt. Es ist wirklich schade, dass ich nicht in deiner Nähe geboren wurde.“

„Ich freue mich über deine Zuneigung.“, meinte sie und ihr Lächeln wurde schwächer. „Aber ich kann keine Kinder bekommen, also kann ich auch keine Großmutter werden.“

„Ich habe es gespürt.“, gab Dhaôma zu. „Aber das macht nichts. Ich und Mimoun sind Väter einer Magierin, die gleichzeitig die Tochter zweier Hanebito ist. Wir haben sie adoptiert.“

Ihre blinden Augen schlossen sich, dann nickte sie. „Erzähl mir beim nächsten Mal davon.“, bat sie. „Von einer solchen Geste habe ich noch nie gehört.“

Wieder nickte der Braunhaarige, dann stieg er auf den Drachen, der sich schwerfällig erhob und genauso schwerfällig mit den Flügeln schlug, um abzuheben. Noch bevor sie im Lager waren, begann es wieder zu regnen.
 

Es war beides: angenehm und störend. Es erschwerte das Fliegen und gleichzeitig wusch es ihm den Schweiß vom Körper. Mimoun hatte versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, aber die Schwüle des Tages machte auch ihm zu schaffen. Aber er wollte nicht, dass sein Freund sich Vorwürfe machte. Schließlich hatten sie ja nun einen Platz gefunden, an dem die Drachen bleiben konnten. Aber solange dieses Wetter anhielt, würde sich der Geflügelte hier nicht wohl fühlen können.

Kaum war er gelandet, zog er sich in die Baumhöhle zurück. Dort war es angenehmer als davor und er streckte sich lang aus. Seine Gedanken begannen zu kreisen. Um die Halblinge und die derzeitige Situation. Auch wenn das Zusammentreffen nun doch etwas überstürzt war, hatte man ihnen dennoch die Möglichkeit gegeben, ihre Friedfertigkeit unter Beweis zu stellen.

„Und? Bist du glücklich, dass sie jetzt mit sich reden lassen?“, wollte er von Dhaôma wissen und breitete einladend einen Arm aus. Auch wenn es beinahe zu warm war, verspürte er derzeit dennoch ein dringendes Bedürfnis nach Nähe.
 

„Bin ich.“, nickte Dhaôma. „Du hast dich heldenhaft verhalten.“, kicherte er dann. „Hast mich beschützt und ihr nicht wehgetan. Und du hast mir vertraut. Das hat mir gefallen.“ Schmusig lehnte er seinen Kopf gegen Mimouns Arm und kuschelte sich dann an ihn. Sein ganzer Körper schrie förmlich nach Schlaf. Er hatte definitiv zu viel Magie gewirkt an diesem Tag und auch wenn er inzwischen reichlich Übung darin hatte, irgendwann war es einfach genug, selbst mit Lulanivilays Hilfe. Leicht zog er die Beine an und rollte sich zusammen.
 

Sanft spielten die Finger mit den Strähnen des Magiers. „Natürlich vertraue ich dir. Und du hast mich noch nie enttäuscht. Dafür danke ich dir.“ Umständlich drehte sich der Geflügelte auf die Seite und schlang nicht nur den zweiten Arm sondern auch seinen Flügel um seinen Freund. Und weil er gerade dabei war… „Ich danke für alles. Du bist das Beste, was mir je passiert ist.“
 

Vor lauter Glück wusste Dhaôma gar nicht, was er sagen oder tun sollte. Er hatte das dringende Bedürfnis, Mimoun zu küssen, aber das letzte Mal hatte ihm das nicht gefallen, also drückte er die Hand, die er erreichen konnte und strich mit der Wange darüber. „Ich bin auch froh, dass es so gekommen ist.“, teilte er ihm leise mit.
 

Mimoun fing die streichelnde Hand ein und drückte seine Lippen gegen die Innenfläche. Leises Kichern schwang durch die Höhle. „Gib es zu. Das war eiskalte Berechnung von Anfang an.“ Die Stimmlage war zu amüsiert um anklagend zu klingen.
 

„Wie kann das sein?“ Ein Gähnen ließ all seine Muskeln sich anspannen. „Am Anfang wollte ich mich mit dir anfreunden, aber dann hatte ich nur noch Angst, dass du mich tötest, wenn ich dich nach Hause gebracht habe. Du oder deine Familie. Du warst total gruselig und hast immer böse geguckt.“
 

Etwas krampfte sich in ihm zusammen. Einerseits war es gut zu wissen, dass er Furcht verbreiten konnte, sollte es notwendig sein. Andererseits hatte Dhaôma Angst vor ihm gehabt. Das wollte Mimoun nicht. Niemals sollte Dhaôma ihn fürchten. Niemals würde er seinem Magier etwas antun können. Der Tag, an dem das geschah, war der Tag, an dem er sich umbrachte.

„Verzeih mir.“, nuschelte er in die braunen Strähnen des Magiers.
 

Wieder gähnte Dhaôma herzhaft, dann seufzte er. „Schon geschehen.“ Der Schlaf holte ihn ein. Mimouns Wärme, die Aufregung des Tages und tiefe Zufriedenheit forderten ihren Tribut. Seine Hand ließ Mimouns aber auch dann nicht los. Viel zu sehr hatte er sich daran gewöhnt, sie zu halten.
 

Minuten vergingen in Bewegungslosigkeit und Schweigen. Als der Geflügelte sich sicher war, dass Dhaôma schlief, hauchte er ihm einen federleichten Kuss auf die Lippen. „Du bist viel zu gut zu mir.“, flüsterte er, bevor er sich zurücksinken ließ und den Geräuschen um sie herum lauschte. Dem Rauschen des Regens, dem Rauschen der Blätter, dem Rauschen des sie umgebenden Flusses. Kurz schnaubte Mimoun belustigt. Sehr einseitige Geräuschkulisse. Schließlich schlief auch er ein, eingelullt vom stetig gleichen Geräusch.
 

Am nächsten Tag regnete es immer noch und wegen der schwülen Luft war Lulanivilay nicht gewillt, das Wasser zu verlassen. Wie eine gigantische Leiche lag er in der braunen Brühe und kühlte sich ab. Auch der Gedanke, jetzt zu den Halblingen zu fliegen, passte ihm nicht, also bat Dhaôma Mimoun, sie überzusetzen. Er wollte Thenra erzählen, wie das mit Fiamma war.

Wie erwartet, wurden sie von Keithlyn begrüßt, die zwischen drei Wachen stand und als einzige winkte. Sie war mächtig enttäuscht, dass Lulanivilay nicht dabei war, aber sie verstand natürlich, dass ihm zu warm war. Das kannte sie auch. Dabei erfuhren die Freunde auch, dass es wahrscheinlich noch schlimmer wurde. Besorgt blickte Dhaôma zu dem schwarzhaarigen Hanebito. Wenn es noch mehr Wärme gab, mussten sie weiterziehen und das, obwohl sie endlich Freunde gefunden hatten, die ihm vielleicht helfen konnten. Auch wenn sie am Vortag wenig von sich erzählt hatten, er hatte es im Gefühl, dass sie etwas wussten. Sie kamen von den Magiern, dabei hatte er noch nie etwas von ihnen gehört.

Xaira kam zu ihnen. „Heute ohne Leibwache?“, murrte sie zur Begrüßung. „Ihr seid ja ganz schön mutig.“

Nachdenklich sah Dhaôma sie an, dann lächelte er. „Ich habe fast das Gefühl, dich schon zu kennen.“, sagte er und kicherte amüsiert.

„Was soll das heißen?“, fragte sie misstrauisch mit zusammengekniffenen Augen.

„Ich kenne ein Mädchen, das mich auch nicht leiden kann. Sie sagt auch immer so abfällige Dinge über mich.“

Xaira sperrte Mund und Nase auf. Wie konnte jemand so etwas ohne die geringste Regung von Enttäuschung, Wut oder Hass sagen, wo er doch schon festgestellt hatte, dass er nicht gemocht wurde? Machte es ihm denn gar nichts aus, wenn man ihn so behandelte? „Das heißt nicht, dass du mich kennst!“, fauchte sie wütend, ohne eigentlich zu wissen, warum. War es, weil es diesen Magier nicht kümmerte, dass sie ihn nicht mochte, oder weil er sie als unleidlich abstempelte, ohne ihr eine zweite Chance zu geben? Nein! Das war, weil er einfach ein absoluter Idiot war! Wer sagte denn jemandem ins Gesicht, dass man durchschaut hatte, nicht gemocht zu werden?

„Ich weiß. Ich sagte ja auch ‚fast’.“ Seine Aufmerksamkeit glitt von ihr wie ein Wassertropfen von ihren Flügeln abperlte. „Thenra! Wir sind wieder da!“ Und schon lief er winkend auf sie zu.

Keithlyn griff Mimouns Hand und zog ihn mit sich. Sie erzählte, dass sie sich gerne ansehen würde, wie seine Flügel gebaut waren, und drückte ihn auf einen Stein. Kurz darauf klappte sie die olivfarbenen Schwingen auf und zu, tastete über die Knochen und die weiche Haut und nahm ein halbes Dutzend Mal Maß mit einem kleinen Stöckchen, um die Zahlen dann in einem kleinen Buch zu vermerken.

Währenddessen berichtete Dhaôma von Fiamma und Seren und Addars Familie. Er schwärmte so sehr, dass die Alte immer wieder breit und fast zahnlos grinste. Sie sah diese Hanebito vor sich, als wären sie bei ihr. Dhaôma schien sie wirklich zu schätzen.

Dann kamen Rufe, dass der Drache sich nähere, und wirklich landete Lulanivilay kurz darauf direkt neben Dhaôma, nachdem er zwei gestreifte Esel abgeworfen hatte. Ganz dicht hinter ihm rollte er sich zusammen und schloss wieder die Augen.

„Vilay?“, fragte Dhaôma besorgt, weil sich der große Grüne so seltsam verhielt.

Die Antwort war ein Bauch erschüttendes Seufzen. „Ich will nicht mehr alleine sein.“

Weich lehnte sich Dhaôma zurück und während er weitererzählte, kraulte er seinen Freund am Hals. Keithlyns Enttäuschung, als sie feststellte, dass der Drache nicht mit ihr fliegen würde, weil er schlief, endete darin, dass sie Mimoun anbettelte, mit ihr zu fliegen.
 

Widerstandslos und lachend hatte der Geflügelte die ganze Prozedur über sich ergehen lassen. Kurz wies er sie an, nicht allzu grob zu sein und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Gespräche um sich herum. Als das Mädchen mit ihrem Anliegen kam, wurde Mimouns Gesichtsausdruck unglücklich.

„Du hättest niemals mit Vilay fliegen dürfen. Ich kenne beide Gefühle. Das berauschende, wenn die Winde unter deinen Schwingen dich über das Land tragen. Und auch das bedrückende, wenn verletzte Flügel dich an den Boden fesseln.“ Sanft strich er eine weiße Strähne hinter ihr Ohr. „Ich musste eine lange Zeit auf meine Flügel verzichten und es war quälend, denn ich hatte keine Hoffnung, jemals wieder fliegen zu können. Wir werden nicht hier bleiben können. Du weißt, was wir uns wünschen und woran wir arbeiten. Wenn wir gehen, wird dir die Möglichkeit genommen, den Wind zu spüren. Ich sehe deine Begeisterung und ich teile sie, aber umso größer wird der Schmerz, wenn wir weg sein werden. Bitte nicht mehr darum. Ich mag dich und möchte nicht, dass du dich quälst.“
 

„Aber ich habe bereits davon erfahren! Und ich will auch nicht missen, was ich jetzt kenne! Bitte!“ Sie zog an seinem Hemd und Tränen traten in ihre roten Augen. „Bitte. Ich weiß doch, dass ich irgendwann darauf verzichten muss, aber bis dahin… Und vielleicht kann ich es lernen, wenn ich mir ein Gerät baue, das so aussieht, wie deine Flügel. Aber dafür brauche ich doch Erfahrung!“
 

Grüne Augen folgten den krallenbewehrten Fingern, die erneut die weiße Haut streichelten und von Haaren befreiten. Wenn es ihr tatsächlich gelang, sollte sie den Wind kennen lernen. Aber wenn es nicht funktionierte…

„Bete darum, dass es funktioniert, sonst werde ich mir auf ewig Vorwürfe machen.“, seufzte der Geflügelte ergeben. Unnachgiebig sah er ihr in die Augen. „Ich bin ein strenger Lehrer. Und wir haben nicht viel Zeit, also streng dich an.“
 

„Natürlich!“ Sie strahlte ihn an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und lief wieder zu dem Mann, der als ihr Ersatzvater fungierte. Sie redete mit Engelszungen auf ihn ein, bis er nachgab. Er würde ihr helfen, einen weiteren Versuch mit dem Gleiter zu machen. Der erste war vor einigen Monaten abgestürzt und sie hatte es nur knapp überlebt. Diesmal war sie in der Luft nicht alleine. Es war jemand da, der sie leiten konnte und sie notfalls rettete.
 

Ein leises Gefühl von Entsetzen beschlich Mimoun. Sie war ohne Kenntnisse und vernünftige Voraussetzungen in der Luft gewesen. Und sie hätte es wahrscheinlich erneut alleine getan, hätte er ihrem Drängen nicht zugestimmt.

„Regel Nummer eins.“, knurrte er dunkel, als er an ihre Seite trat. „Keine Alleingänge. Niemals. Und sei es noch so verlockend.“

Und schon wandte er sich ihren Plänen und dem Rohbau zu. Es dauerte ein wenig, bis er dahinter gestiegen war, wie die Zeichnungen zu deuten waren, und sie war eifrig dabei, ihm alles zu erklären. Es gab viele Macken in ihren Vorlagen, die es auszubügeln galt. Das Holz war zu schwer, die künstlichen Schwingen nicht auf ihre Größe angepasst und es war fraglich, ob es ausbalanciert sein würde, würde es bespannt werden. Doch das waren Dinge, die sich im Laufe der nächsten Tage herausstellen würden und die es dann zu beheben galt. Den ganzen Tag arbeiteten sie daran. Nichts konnte sie daran hindern.

Als es gegen Abend kühler wurde und es dem Geflügelten leichter fiel, sich zu bewegen, trat er hinter das Kind und umfasste ihre Hüften. „Schließ die Augen. Ich will, dass du dem Wind lauscht, ihn auf deiner Haut spürst. Verlass dich nicht auf deine Sehkräfte, denn sie können dir dort oben nicht helfen. Du musst lernen, den Wind mit allen Sinnen zu lesen.“

Und schon stieß er sich ab und strebte dem Himmel entgegen. Er zog Kreise über dem Lager der Halblinge, damit sich diese keine allzu großen Sorgen um die Kleine machen mussten.
 

Aber die meisten beobachteten das nur mit einem stillen Neid. Sie hatten langsam begriffen, dass von diesen beiden keine Gefahr drohte. Natürlich konnten sie immer noch vorspielen, nett zu sein, aber den Eindruck hatte kaum jemand. Und warum sollten sie ihnen helfen, wenn sie sie nur zurückbringen wollten? Und wer würde glauben, dass ein Magier eine solche Begeisterung an den Tag legen würde, wie es Dhaôma tat, wenn er etwas Neues fand. Dazu noch die Drachen. Von den Drachenreitern hatten auch sie schon gehört und sie hatten die Glocke aus den Legenden gehört, die sie ankündigten. Und Drachenreiter, das waren Friedensboten und sie hofften darauf, dass es stimmte.
 

Die nächsten Tage beobachteten die Halblinge Mimouns und Keithlyns Bemühungen, den Holzdrachen zu basteln. Manche erklärten sich bereit, die Häute von Lulanivilays Beute zu gerben, um die Flügel damit zu bespannen.

Lulanivilays Laune besserte sich ein paar Tage später um einiges, weil er Drachenartige gefunden hatte, wie er stolz berichtete. Er nahm Dhaôma mit, um sie ihm zu zeigen, und verstrickte sich mit einem von ihnen in einen Kampf. Der vier Meter lange Alligator endete als blutig zerfleischte Beute. Sie seien dümmer als die magielosen Drachen und es nicht wert, so auszusehen als wären sie Drachen, war die Begründung dafür, dass Lulanivilay sie fraß.

Dhaôma begriff in dieser Zeit, dass die Hitze Lulanivilay vor allem wegen der stechenden Insekten zu schaffen machte, die in dieser Zeit besonders aktiv waren, weshalb er begann, ihn jeden Morgen und Abend mit Schlamm einzureiben, der verhinderte, dass sie unter die Schuppen krauchen konnten. Leider wurden seine Bemühungen durch Lulanivilays Faible für schnelle oder auch ausgiebige Bäder boykotiert.

Noch immer schliefen die Drachenreiter auf ihrer eigenen Insel, was vor allem der Tatsache geschuldet war, dass Lulanivilay wenigstens nachts seine Ruhe haben wollte, denn Keithlyn war ein wenig klettig, sofern sie nicht bastelte.
 

Und dann war der große Tag gekommen. Der Jungfernflug sollte zwar schon einen Tag früher stattfinden, doch ein Regenschauer kam ihnen dazwischen. Für Wesen wie Mimoun und Lulanivilay wäre es noch zu bewerkstelligen gewesen, für das starre Gestell aber, das Keithlyn das Fliegen ermöglichen sollte, war es nicht zu schaffen gewesen.

Schon früh am Morgen war klar, dass an diesem Tag ein besserer Tag werden würde für erste Flugübungen. Die Vorfreude und Nervosität standen dem Kind deutlich ins Gesicht geschrieben, als sich ihre Finger erwartungsvoll um die Griffe klammerten.

„Wenn du Angst hast, verschieben wir es besser.“, riet Mimoun. Beinahe entsetzt ruckte ihr Kopf zu dem Geflügelten herum und ihre in einem Zopf gebändigten weißen Haare peitschten durch die Luft. „Wenn du Angst hast, wirst du schnell Fehler machen.“, erklärte er ihr, bevor sie Einwände erheben konnte.

Fast sofort wandelte sich ihr Blick, ließ nur noch pure Entschlossenheit erahnen. Sie atmete einmal tief durch und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie bereit war. Kritisch beäugte Mimoun das Mädchen und lächelte zufrieden.

„Gut. Dann los.“

Ein letzter Blick aus roten Augen glitt zu ihrer erwartungsvollen und bangen Großfamilie, die im Hintergrund stand, und stieß sich über die Klippe ab. Zeitgleich erhoben sich auch Mimoun und Lulanivilay in die Lüfte, um notfalls eingreifen zu können.

Anfangs ging alles gut. Die schlammiggelben Fluten des trägen Flusses blieben hinter ihnen zurück und begeistert jauchzte der kleine Halbling auf. Bevor Mimoun irgendetwas sagen konnte, riss sie das Gestell nach oben, um in höhere Luftströmungen zu gelangen.

„Du Dummkopf!“, rief Mimoun ungehalten. Schon im nächsten Augenblick kippte der Drache weg. Das Gerät war für solche abrupten Kursänderungen, vor allem nach oben, nicht gemacht. Und dann zwang das Ungleichgewicht der verschieden dicken Häute, das sie bisher mit eisernem Willen und Gewalt hatte ausgleichen können, Keithlyn gen Erdboden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  KuroMikan
2015-01-05T18:46:48+00:00 05.01.2015 19:46
Hallö^^

ein tolles kapitel :) armer mimoun das ist echt nicht das passende wetter für ihn ...
ich find die idee mit dem fluggerät super :) ist irgendwie knuffig wie die sich reinhängen ^^

bis zum nächsten kapitel

lg Mikan
Antwort von:  torateh
06.01.2015 08:52
*lach* ja, armer mimoun. ich erinnere mich noch an seine worte: "wo auch immer ihr überwintern wollt, da kann auch ich sein. von meiner seite gibt es doch keine einschränkungen." da hat sich wohl jemand selbst ins knie geschossen ^^


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