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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Integrationsprobleme

Kapitel 35

Integrationsprobleme
 

Aber bevor er sich mit anderen Problemen befasste, sollte er erst einmal im Dorf ankommen. Zuerst hieß es, sich orientieren. Der Sturm hatte sie gut weggewirbelt. Zusätzlich zu seinen eigenen Kursänderungen, befanden sie sich nun irgendwo im Nirgendwo. Zuletzt war den Rückweg zu finden nicht so schwierig wie erwartet. Dafür schwanden aber seine Kräfte schneller als erwartet. Um ihre Zeit nicht mit Landen zu verschwenden und seinen Freund nicht durch Pieken in die Seite zu erschrecken, rieb er vorsichtig seinen Kopf an dem seines Freundes.
 

Das holte diesen aus seinem Dämmerzustand und als er verstand, warum er geweckt worden war, verwandte er doch alle restliche Energie auf Mimoun. Zusätzlich zum Erneuern seiner Energie, suchte er nach Schmerzen und linderte sie, bis er spürte, dass er nicht mehr konnte. Aber in diesem Zusammenhang fiel ihm auf, dass ihm das Heilen bei Mimoun und seinesgleichen wesentlich leichter fiel als bei dem Magier. Woran das wohl liegen mochte?
 

Ergeben seufzte Mimoun auf. Dabei hatte er gerade noch anmerken wollen, dass er nur einen kleinen Energieschubs brauchte. Er hatte nicht einmal etwas heilen oder lindern sollen. Und nun hatte der junge Magier sich doch noch völlig verausgabt. Weil Mimoun nicht auf sich achten konnte.

Schon bald danach sah er die Insel vor sich auftauchen und nur wenig später kamen ihnen Geflügelte entgegen. Verwirrt sahen sie ihn an und wollten Fragen stellen, doch mit hastigem Kopfschütteln und einen energischen Zusammenpressen der Lippen zeigte er an, dass sie schweigen sollten. Die paar Minuten Schlaf wollte er seinem Freund noch gönnen. Und da sich der Tag nun sowieso schon dem Ende neigte, konnte er auch bis zum nächsten Morgen durchschlafen, wenn es sich einrichten ließ.

Die Rechnung hatte er natürlich ohne Amar gemacht. Lautstark tat dieser seine Freude darüber kund, dass die beiden wieder da waren. Ihm war es egal, welche Umstände sie dazu getrieben hatten. Das Ergebnis zählte.

„Du dummer Junge.“, herrschte er den Kleinen zischend an. Dass er Dhaôma geweckt hatte, bedeutete nicht unbedingt auch, dass das Baby erwacht war.
 

Blinzelnd musste sich der Braunhaarige erst einmal orientieren, bevor er Amar mit einer beschwichtigenden Geste beruhigte. „Wir sind wieder da.“, sagte er und mit einem leisen Kichern: „Und wir haben etwas mitgebracht, deshalb musst du ganz leise sein.“

Amars Augen wurden groß. Sie hatten etwas mitgebracht, was auf Lärm reagierte? Vielleicht ein Fanra? Neugierig versuchte er in Dhaômas Armen etwas zu erkennen und war damit Mimoun beim Fliegen im Weg und schließlich rief ihn Asam zur Raison. Er solle Geduld üben.

Endlich konnten sie landen und Dhaôma wurde abgesetzt. Seine Knie waren weich wie selten und er hielt sich an Mimoun fest, als Amar seine Ungeduld nicht mehr zügeln konnte und ihm in die Arme flog. Das Erschrecken Amars, als er auf unerwarteten Widerstand traf, und das Schreien des überrumpelten Babys taten ihr Übriges, dass Dhaôma in die Knie sank und lachte.

„Hey, hey, Kleine, nicht weinen.“, säuselte er unter unterdrücktem Lachen.

„Wow.“, staunte Amar, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte. „Dhaôma ist Mutter geworden. Ich hatte ja keine Ahnung.“
 

Als das Brüllen des Babys erklang, war auch Mimoun sofort zur Stelle und schob seine Finger unter den Poncho, um Dhaôma zu helfen, sie hervorzuholen. Sanft streichelte er ihr Köpfchen.

„Haben wir dir nicht gesagt, du sollst leise sein?“, fragte er schärfer als beabsichtigt. Eigentlich hätte er aufgrund der Aussage lachen müssen, aber ihm war irgendwie nicht danach.

Die Menge, die sich um sie herum versammelte und neugierig ihre Hälse reckte, wuchs innerhalb kürzester Zeit zu beachtlicher Größe an. Wütend schob Mimoun seine Flügel um Dhaôma und das Kind. „Macht gefälligst Platz.“, verlangte er. „Sie sollte dringend aus der Kälte raus.“
 

Jetzt lachte Dhaôma. Mimoun war so süß, wie er sie gegen diese neugierige Menge verteidigte. So gab er dem kleinen Amar das Gefühl, Recht zu haben, so dass er glaubte, dass sie wirklich die Eltern waren. Nichts desto trotz hatte er Recht. Der Wind hier oben war schneidend kalt.

„Los, Amar, sag Leoni und Addar bescheid.“, schlug er vor, denn beide hatte er noch nicht gesehen.

Und der Junge ließ sich das nicht zweimal sagen. Wie ein Irrwisch rannte er los, während Asam sich jetzt von der anderen Seite dafür einsetzte, dass Dhaôma und Mimoun in Ruhe gelassen wurden. „Sie werden es früh genug erklären.“ Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck, der zwischen Amüsement und Sorge schwankte. „Ich gebe euch dann Bescheid.“

Und auf diese Weise erreichten sie den Eingang der Hütte. Dhaôma wurde hindurch geschoben und von Amar an den Tisch gezogen. Addar, seine Tochter Marai, Leoni mit Seren auf dem Arm, Janna und ihre beiden Töchter Juri und Yaji sahen ihm entgegen. Schüchtern hob er eine Hand, um sie zu begrüßen. „Hallo. Entschuldigt, dass wir schon wieder stören.“

Hinter ihm kamen Mimoun, Asam und seine Schwester Karo herein, die wissen wollte, was los war. Damit waren alle vollständig.
 

Mimoun hielt sich dagegen nicht mit langen Begrüßungsformeln auf. „Leoni. Wir brauchen deine Hilfe.“, platzte er heraus. Der junge Geflügelte ergriff Dhaômas Schultern und schob ihn noch ein wenig in ihre Richtung. „Ich fürchte, wir sind nicht dafür gemacht, diesen Winzling zu versorgen.“ Hoffnungsvoll sah er sie an.

Addar hob mahnend eine Hand. „Erklärt doch erst einmal, was geschehen ist.“, bat er.

Mimoun wandte sich dem Ältesten zu. Alle Emotionen unterdrückend erklärte er knapp: „Das Magierdorf wurde ausgelöscht. Sie ist die Einzige, die überlebt hat.“, log er eiskalt. „Aber nicht lange, wenn wir keine Möglichkeit finden, sie zu versorgen.“
 

Dhaôma fühlte sich mit der ganzen Situation überfordert. Erst war es ihm peinlich, diese Familie ein weiteres Mal zu behelligen, dann überfuhr Mimoun sie auch noch mit dem Ende der Geschichte. Woher sollte Addar denn jetzt wissen, was passiert war?

„Mimoun, setz dich. Und Winzling, du hörst jetzt auf mit Schreien.“ Seinen Worten folgte ein schwaches Leuchten seiner Wangenlinien und tatsächlich beruhigte sie sich. Stattdessen starrte sie ihn mit großen Augen an, während er sich umständlich setzte. Amar klebte an seiner Seite.

„Ist das ein Magierbaby? Ist sie wirklich deins?“

„Mimoun sagte doch schon, dass wir sie gefunden haben.“, erwiderte er ruhig und Amar nickte verstehend. An die anderen gewandt sagte er leise: „Wir sind durch einen Sturm in die Nähe eines Magierdorfes geraten und haben sie dort inmitten von Trümmern gefunden. Ihr ist wie durch ein Wunder nichts passiert.“ Dann sah er zu Mimoun. War es Absicht gewesen, dass er den Mann nicht erwähnt hatte? Sollte er das etwa auch nicht tun?
 

Mimoun seufzte ergeben, als er sich setzte. „Wir haben außer ihr niemand anderen mehr gefunden. Niemand, der uns sagen konnte, wie sie heißt, wie alt sie ist oder wie man sie versorgt. Es tut mir Leid, Leoni. Du warst die Einzige in der Nähe, die uns einfiel. Wir konnten sie doch nicht dort lassen.“ Seine Finger strichen über ihr Bäuchlein und berührten dann ihre Faust, die sich öffnete und die Finger packte. Sanft lächelte er über diese Reaktion. „Wir können nicht bestimmen, wann das Dorf zerstört und wann sie das letzte Mal gefüttert wurde.“ Da er den Winzling angesehen hatte, überraschte es ihn, als plötzlich Leoni neben ihm hockte.

„Gib sie mir mal.“, bat sie leise.
 

Wortlos reichte Dhaôma sie weiter. Es war gut, sie nicht mehr halten zu müssen, da seine Arme der Müdigkeit nachgeben wollten.

Leoni wirkte nicht abgeneigt, als sie sie hochnahm. Vorsichtig setzte sie sie auf ihren Schoß und sah sie neugierig an. Wie hypnotisiert starrte der Winzling zurück und versuchte die Finger, die sein Gesicht streicheln wollten, einzufangen. Als Leoni das zuließ, begann die Kleine selig daran zu nuckeln.

Und die ganze Zeit saß Dhaôma schweigend dabei und hoffte darauf, dass sie nicht auf den Gedanken kommen würden, sie sei gefährlich, denn dann wäre es um sie mit Sicherheit geschehen.
 

„Ist sie nicht süß?“, fragte Mimoun und beugte sich ein wenig vor. Auch seine Finger suchten ihr Köpfchen. Als er sie berührte, begann sie zu quäken. Erschrocken zog er seine Hand zurück, doch es lag nicht an ihm, sondern an der Tatsache, dass die Finger in ihrem Mund nicht das gaben, was sie brauchte.

„Was sollen wir tun?“ Hilflos sah er die junge Mutter an, die seinen Blick nicht erwiderte, sondern auf das Baby auf ihrem Schoß starrte. Sofort begannen um sie herum die Diskussionen.

„Sie ist ein Magierkind.“, begann eine der Frauen. Sofort hob Addar die Hand.

„Das wird sicher keine Unterhaltung, der ein Kind beiwohnen sollte.“, wies er auf die Tatsache hin, dass seine Urenkel noch allesamt anwesend waren. Seren war zwar noch zu klein, um auch nur ansatzweise zu verstehen, was hier vor sich ging, bei Amar und seinen Cousinen sah das jedoch anders aus. Nur widerwillig verließen sie die Hütte. Zu spannend war das neue Baby.

„Es ist völlig egal, ob sie Magier oder Geflügelte ist. Sie ist ein Baby.“, warf Mimoun ein, nachdem auch das letzte Kind durch die Lederplane verschwunden war. „Sie ist hilflos.“

„Das ist ja gerade die Frage. Ist sie wirklich hilflos?“, fuhr Janna mit ihrer vorherigen Aussage fort. „Beherrscht sie bereits Magie? Welche wird sie lernen? Und was passiert, wenn sie die Kontrolle verliert?“
 

„Ich kann sehen, ob und welche Magie sie beherrscht.“, bot sich Dhaôma leise an. „Bekomme ich sie kurz zurück?“

Leoni reichte sie ihm und der Junge begann sie zu entkleiden. Die Sachen waren eh blutig und schmutzig und er würde sie waschen, bevor er ins Bett ging. Schon als er das Hemd entfernt hatte, wusste er es, und es gefiel ihm überhaupt nicht. So war das also. Sie war der Grund für die Zerstörung des Magierdorfes. Wahrscheinlich war sie nicht für die erste Welle an Feuer verantwortlich, aber die Reaktionswelle, die zweite, die kam sicherlich von ihr, sonst hätte sie nie so früh Magie entwickelt. Die Zeichen auf ihrer Brust verrieten es. Sie gebot über das Feuer. Schweigend suchte er weiter, fand außer den gewundenen Zeichen auf ihrer Brust aber nirgends einen Hinweis auf eine weitere Gabe. Dafür war ihre Windel voll. Urg.

„Und?“ Addar hatte ihn beobachtet und ihm war die leichte Sorge mit Sicherheit nicht entgangen.

„Feuer.“, war Dhaômas einzige Antwort. „Sie wird einmal das Feuer beherrschen.“

In der kleinen Hütte trat gespanntes Schweigen ein. Das war eine beunruhigende Nachricht.

„Sie wird es nicht wirklich nutzen können, dafür fehlt ihr der Wille und das Wissen. Und da die Magie schon erwacht ist, wird sie auch nicht in einer Katastrophe ausbrechen. Dennoch wird sie früher oder später jemanden brauchen, der sie anleitet.“ Seine Hoffnung, dass sie hier bleiben durfte, sank.

Dann begann sie auch noch zu quengeln und dann zu weinen. Leoni hatte genug. „Sie ist ein Baby, sie ist hier. Ich werde sie kurz füttern, danach sehen wir weiter.“ Und so resolut wie sie sich gerade fühlte, würgte sie ihren Mann und dessen Großvater mit einem einzigen Blick und dem Kommentar, sie hätte genügend Milch, ab, als sie Dhaôma das Baby abnahm und damit nach hinten verschwand. Asam folgte ihr besorgt.

„Und was, wenn sie dich verbrennt?“

„Er sagte doch, dass sie die Magie nicht nutzen kann, also stell dich nicht so an. Mir passiert nichts und falls doch, dann ist Dhaôma da, um mir zu helfen. Und jetzt suchst du Ersatzkleider von Seren für sie.“

„Aber…“

„Jetzt, bevor sie erfriert!“

„Leo…“ Die Häute schlugen vor den separaten Raum und schlossen die Stimmen aus. Janna begann zu kichern. Sie liebte es, wenn Leoni das tat, wenn sie die Dinge in die Hand nahm, bevor sie sich wirklich festfahren konnten.

„Also.“, begann Addar erneut. „Sie wird Feuer einsetzen können. Wer sagt uns, dass sie das nicht gegen uns tut?“

„Aber, sie ist ein Baby. Sie kennt noch keinen Hass, nicht wahr? So wie Amar keine Angst vor mir hatte, wird sie keine vor euch haben, also gibt es keinen Grund, sich zu verteidigen.“

Die Erwachsenen nickten und warfen sich Blicke zu. „Wie hattet ihr euch das gedacht?“

Dhaôma versuchte sich in einem Lächeln, das sichtlich misslang. „Gar nicht. Dass Leoni uns irgendwie hilft, bis wir Ersatzeltern gefunden haben, oder sie stark genug ist, dass sie bei mir bleiben kann.“

„Du willst sie auf deine Such zu den Drachen mitnehmen?“

„Warum denn nicht?“ Und dann seufzte er. „Nein, ich will sie nicht mitnehmen. Ich traue mir nicht zu, ein Baby zu versorgen. Mit Haru oder Amar zu spielen ist eine Sache, aber ein Kind wirklich zu versorgen, das bedeutet eine Verantwortung, die ich mir nicht zutraue. Ich weiß nicht, was ein Vater tut, damit es seinem Kind gut geht. Ich…“ Er schloss kurz die Augen, um sich zu überwinden, das Thema anzuschneiden. „…hatte nie einen netten Vater, den es gekümmert hätte, wie es mir geht.“
 

Er hat auch keine Mutter, die es kümmern würde, fügte Mimoun in Gedanken hinzu. Sacht suchten seine Finger den Rücken des Magiers, strichen vorsichtig auf und ab.

„Das sind meistens die besten Voraussetzungen.“, erwiderte Addar in die aufkommende, betroffene Stille. „All das, was du in deiner Kindheit vermisst hast, kannst du der Kleinen geben. Kleidung und Nahrung sind Grundvoraussetzungen, damit sie am Leben bleibt. Aufmerksamkeit und Liebe würdest du ihr mit Sicherheit im Überfluss angedeihen lassen. Sie wäre bei dir in den besten Händen.“
 

War das so? Dhaôma war den Tränen nahe, was nicht zuletzt der Müdigkeit geschuldet war. Er glaubte nicht daran! Er war nicht wie Asam, der sein Leben dafür aufgab, sein Kind zu beschützen, der nichts anderes tat, als an einem Ort dafür zu sorgen, dass es ihm gut ging. Er wüsste nicht einmal wie! Und es stand nicht in seiner Macht, an einem Ort zu bleiben, er wollte doch frei sein. Frei, dorthin zu gehen, wo noch niemand zuvor war. Er wollte zu den Drachen! Eine Reise über weites Land, über Flüsse und das Große Wasser. Und das möglichst schnell. Ein Kind würde sie aufhalten.

„Ihr traut mir zuviel zu, Addar.“, sagte er leise. In Gedanken suchte er schon die Karte ab, wo vielleicht Magier leben könnten, damit er sie dorthin bringen könnte, aber er war zu müde zum Denken. Außerdem würde das ein Kampf werden, von dort unbehelligt wieder zu verschwinden.

„Mal angenommen, sie würde bleiben.“, mischte sich jetzt Karo, Amars Mutter, ein. Sie hatte die ganze Zeit über geschwiegen. „Was würden wir mit ihr machen? Jetzt ist sie noch klein, dennoch wird sie mit vielen Kindern aufwachsen, die allesamt fliegen können. Sie wird es auch wollen und im schlimmsten Falle versuchen. Oder sie fühlt sich ausgeschlossen, weil sie anders ist als die anderen, oder wird von ihnen gehänselt. Und wenn sie älter ist, wird sie sich vielleicht verlieben…“

„Ich sehe darin kein Problem.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Würde sie bei mir bleiben, würde ich sie auch mitbringen, wenn ich euch besuche. Andererseits könnte es doch auch sein, dass sie davon profitiert, Menschen zu kennen, die anders sind als sie. Wenn sie lernt, ihre Fähigkeiten zu formen, dann kann sie euch helfen, indem sie die Hütten warm hält oder Feuer macht.“

„Und wenn sie beim Spielen jemanden verletzt? Oder verletzt wird und daraufhin zurückschlägt? Du weißt am besten, dass Kinder ihre Kräfte nicht so gut unter Kontrolle haben.“

Oh ja, das wusste er tatsächlich. Oft genug hatte er Kratzer davon getragen, weil die Fingernägel der Kleinen viel zu scharf waren. Dennoch war das kein Grund. „Wenn man Kindern sagt, dass sie vorsichtig sein sollen, dann sind sie es im Allgemeinen. Und Unfälle passieren immer mal. Das würde nicht zu einem handgreiflichen Krieg werden, in dem sie sich absichtlich gegenseitig verletzen. Wenn man sie richtig erzieht, dann kann man ihr auch von vornherein beibringen, dass ihre Gabe ein Segen ist und nicht dafür da, jemanden zu verletzen.“
 

„Ist es, weil sie eine Magierin ist?“, fragte Mimoun leise. Plötzliches Schweigen breitete sich in dem Raum aus und so fuhr er fort: „Wäre sie eine Geflügelte, würde niemand diskutieren, ob sie hier bleibt oder nicht. Im Gegenteil. Man würde darüber streiten, wer sie nun nehmen dürfte.“

Sein Blick war fest auf die Lederplane gerichtet, die ihm momentan die Sicht auf das Streitobjekt verwehrte. Er wirkte mit einem Mal müde. Zu viel war an diesem Tag geschehen, körperlich wie emotional. Und nun traten sie das weitere Schicksal dieses Kindes breit.

„Mit unseresgleichen wissen wir umzugehen. Natürlich fällt uns dort die Entscheidung einfacher.“, erwiderte der Älteste.

„Sie ist ein Baby. Wie jedes Kind muss sie einfach nur erzogen werden und ihre Kräfte und Grenzen austesten. Aber sie wird lernen. Und wenn sie hier sogar eine liebevolle Familie finden würde, warum sollte sie euch dann absichtlich Schaden zufügen wollen?“ Seine Hand hob sich schnell, bevor jemand einen Einwurf machen konnte. „Das ist es doch, was ihr befürchtet, nicht wahr? Dass sie ihre Andersartigkeit erkennt, sich ausgegrenzt fühlt und mit ihren Kräften austeilt.“ Sein Kopf wandte sich dem Ältesten zu. „Natürlich wisst ihr nicht, wie man mit Magiern umgehen soll. Das streite ich nicht ab. Dhaôma ist der Erste, mit dem wir engeren Kontakt haben und auch besseren Kontakt als blutiges Morden. Ich habe viel von ihm gelernt, aber ich bin mir auch sicher, dass ich bei einer Begegnung mit anderen garantiert… Fehler machen würde. Aber das liegt nur daran, dass wir zu wenig voneinander wissen. Dieses Kind ist noch unvoreingenommen. Sie kann noch lernen. Sie kann von beiden Völkern lernen.“ Bei diesen Worten sah er zu dem jungen Magier. „Aber sie müsste halt die Chance dafür kriegen.“
 

„Und sie braucht eine Chance, zu erkennen, dass Menschen, egal ob Hanebito oder Magier, einfach nur Menschen sind.“, fügte Dhaôma an und riebt sich über die Augen, die zufallen wollten. „Sollte ich sie tatsächlich zurück zu den Magiern bringen, wird sie so erzogen werden, wie alle, nämlich mit den Worten: Hanebito sind gefährlich, hüte dich vor ihnen und fürchte sie. Wenn ihr sie aufziehen würdet, als wäre sie ein normales Kind, ohne Vorurteil oder Hass, käme sie nicht auf den Gedanken, euch für gefährlich zu halten. Vielleicht wäre sie sogar diejenige, die den Magiern beibringt, mit euch zu leben, wenn der Krieg vorbei ist. Sie könnte euren Kindern vermitteln, dass es nicht nur Gut und Böse gibt, sondern, dass es in jeder Rasse solche und solche gibt. Und vielleicht fördert das gute Vorbild ja auch die Integrität von euch bei den Magiern, wenn es soweit ist.“

Dhaôma schüttelte sachte den Kopf, um die Müdigkeit ein weiteres Mal zu vertreiben. „Ihr lasst mich machen, wenn ich sage, ich suche Drachen, um den Frieden zu schaffen. Und Ihr, Addar, sagtet, ich solle eine solide Grundlage schaffen. Wäre sie nicht ein Anfang dafür? Ihr sagtet auch, dass ein Kind wie ich nichts machen könnte, um einen Krieg zu beenden, aber ihr alle könnt es. Ihr könnt den Streit, den ihr Erwachsenen miteinander habt, von den Kindern fernhalten. Ihr könntet ihnen wirklich Frieden geben, indem ihr ihnen nicht euren Hass aufbürdet. Ihr…“

Die Emotionen schwappten über. Nie hatte er darüber nachgedacht, aber jetzt erschien es ihm so einleuchtend. Natürlich war es so. Der Grund, warum keiner den Sinn hinter dem Krieg kannte, war der, dass man den Hass vererbte, ihn seinen Kindern anerzog. Im Grunde waren sie alle nur Opfer der Menschen, die vor Jahrhunderten gelebt hatten! Weil die ihre Kinder nicht aus ihren Streitigkeiten heraushalten konnten!

Unwirsch wischte er sich über die Augen. „Es tut mir leid.“ Seine Stimme stockte. „Ich… ich wollte Euch nicht… nicht beschuldigen und…“
 

„Das hast du nicht.“, erwiderte Addar ruhig. „Du hast uns nur Möglichkeiten aufgezeigt.“

„Du bist müde.“, stellte Mimoun dagegen sachlich fest. Es war verständlich. Der Magier hatte sich erst mit der Heilung des Mannes im Dorf verausgabt und dann noch Mimoun geheilt. Und die Erholungsphase war nicht sehr lang gewesen. Sanft ließ er seine Finger, die ihn die ganze Zeit gestreichelt hatte, höher wandern und zog ihn unnachgiebig in eine liegende Position, ließ keinen Protest zu. Anschließend wanderten sie weiter und blieben auf den Augen seines Freundes liegen. „Schlaf ruhig. Ich kümmere mich um den Rest.“ Entschuldigend fügte er für die Anwesenden hinzu. „Erst musste er mir nach dem Sturm wieder auf die Beine helfen, dann bei dem Rückflug unterstützen, damit wir es schnell schaffen.“

Ein verständnisvolles Nicken ging durch die Geflügelten. Darüber hinaus hatte der junge Magier ja am Vortag noch einmal zu Addars Genesung beigetragen.
 

„Mimoun! Wie soll ich jetzt schlafen?“, murrte Dhaôma - entgegen dem Verständnis der anderen, war er nicht einverstanden. „Es geht doch um den Winzling! Das ist doch wichtig.“ Dennoch wollten die Tränen nicht stoppen und er konnte die Hände auch nicht wegschieben, also gab er die Gegenwehr irgendwann auf.
 

„Sie werden ihr nichts antun. Keine Angst. Du kannst beruhigt schlafen.“ Mit der anderen Hand begann er sanft den Haarschopf auf seinem Schoß zu kraulen.

„Dann solltest du das auch tun.“ Mimoun blickte verständnislos auf und sah den Ältesten an. „Du hattest einen schweren Tag hinter dir. Und das obwohl ihr nicht einen Meter weiter gekommen seid.“

„Aber…“, begann der junge Geflügelte seinen Widerstand, wurde jedoch durch eine zurückgeschlagene Lederplane unterbrochen. Leonie kam zurück und hockte sich vor ihn. Das Baby in ihren Armen wirkte nun zufrieden Mit einem Lächeln löste er seine Finger von Dhaôma und nahm sie entgegen.
 

Dhaôma setzte sich auf, verdrängte die Müdigkeit noch einmal. Es war nicht so, als wäre er besorgt, aber sie hatte jetzt andere Kleider an und das erinnerte ihn daran, dass er die anderen waschen wollte. „Wie süß.“, wisperte er, als er sie ganz sah. „Jetzt sieht sie fast aus wie Seren. Nur die Flügel fehlen.“ Und die Hautfarbe war ein bisschen anders. Weich lächelnd rieb er sich über die Augen, bevor er aufstand.

Und Janna wusste sofort, was er vorhatte. „Vergiss es, Dhaôma, das kannst du morgen machen.“

„Aber…“

„Sie hat Recht. Seren wird ihre Kleider heute nicht mehr brauchen, also kann sie sie auch längere Zeit tragen.“ Addar amüsierte sich über die beiden Jungen. Sie waren so herzlich, dass es beinahe schon unglaublich war. Da fanden sie ein Baby und beide fühlten sich augenblicklich dafür verantwortlich, dabei waren sie selbst noch Kinder.

Janna nahm dem Braunhaarigen die Babykleider aus der Hand, während die anderen begannen, den kleinen Raum vorzubereiten, den sie vorher schon benutzt hatten. „Ihr schlaft beide erstmal und morgen sehen wir weiter.“

Wehren war zwecklos, wusste Dhaôma und fügte sich.
 

Eigentlich hatte er noch eine private Frage an Addar, also zögerte Mimoun noch, aber schlussendlich entschied er sich dafür, das ebenfalls auf morgen zu verschieben. Dhaôma würde versuchen, wach zu bleiben, sollte er nicht bei ihm sein. Und so zog er sich in den kleinen Raum zurück, Dhaôma vor sich herschiebend. Viel war da nicht vorzubereiten gewesen, hatten sie ihn doch am Morgen erst verlassen.

Erschöpft wickelte er das Baby in dicke Felle und schlüpfte unter die Decken. Die Decken für seinen Freund hob er so an, dass er auf der anderen Seite des Säuglings lag.
 

Dhaôma nahm das Angebot an. Und er bekam nicht mehr mit, dass Karo ein ernstes Wort mit Amar wechselte, als dieser sich zu ihnen legen wollte. Viel zu schnell schlief er ein.

Und erwachte am nächsten Morgen davon, dass jemand schrie. Wie schnell war er aus seinen Träumen heraus und saß senkrecht im Bett, bevor er merkte, dass es der Winzling war. Mitleidig nahm er sie hoch und seufzte.

„Du bist auch nicht gewollt, was?“, fragte er leise und ließ sie auf seinen Knien auf- und abwippen. „Ich frage mich, was wohl dein Name ist. Ob wir dir einfach einen geben können? Und ich frage mich, ob sie dich akzeptieren können, so wie sie mich akzeptieren.“ Sie schrie lauter und er seufzte. Wahrscheinlich hatte sie Hunger.

„Na?“ Leoni streckte den Kopf herein. „Ich bin grade mit Seren fertig, soll ich sie übernehmen?“

Dankbar nickte er und gab sie ihr.
 

Dhaôma war nicht der Einzige, der aus seinen Träumen geschreckt war, doch Mimoun war nicht undankbar. Seine Träume waren von Feuer und Blut geprägt. Fast meinte er, den Rauch noch schmecken zu können.

Müde wischte er sich über die Augen. Er wollte noch nicht aufstehen, doch ebenso widerstrebte es ihm, sich zum Dösen wieder zurückzulehnen.

Als Leoni mit der Kleinen aus dem Raum verschwunden war, umfing er Dhaômas Schultern. „Sie ist nicht ungewollt. Ich bin mir sicher, ihre Eltern haben sie geliebt. Ihre Mutter hat ihr Leben dafür geopfert, sie zu beschützen. Und wir wollen sie doch auch, nicht wahr? Wir sind halt nur noch nicht in der Lage, sie richtig zu ernähren.“ Der junge Geflügelte zog seinen Freund enger an sich. „Und du bist auch nicht ungewollt, hörst du? Lass uns das nicht schon wieder durchdiskutieren.“
 

Seufzend nickte Dhaôma, dennoch kam es ihm so vor. Die Hanebito wollten sie ja offenbar nicht und sie konnten sie nicht nehmen. Noch nicht.

Schmusebedürftig kuschelte er sich enger an Mimoun und schloss die Augen wieder. Und hätte die Ruhe ein Weilchen gewährt, dann wäre er sicher wieder eingeschlafen, aber Amar wusste, dass sie wach waren, und natürlich kam er herein.

„Was ist denn? Seid ihr noch müde? Ihr habt länger geschlafen als ich und gestern nichts mehr gegessen. Steht auf. Es gibt doch Frühstück.“

„Ja.“, gab Dhaôma wenig begeistert von sich. „Warte noch ein bisschen. Wir sind gleich da.“

Der Junge zuckte mit den Achseln und ging. Und der Magier seufzte tief. „Dann geht der Bittkampf von vorne los, nicht wahr?“
 

Unruhig begann der Geflügelte wieder auf seiner Unterlippe zu kauen. „Ehrlich gesagt, hab ich auf den Mist keine Lust mehr.“, offenbarte er zögerlich. „Für mich ist eigentlich nur noch wichtig zu wissen, wie lange es dauern würde, Winzling umzugewöhnen und ob Leoni bis dahin bereit wäre, sie mit durchzufüttern.“ Er ließ seufzend den Kopf in den Nacken fallen und betrachtete die Decke. „Das würde unsere Reise aber schon wieder zurückwerfen. Wahrscheinlich sogar um Wochen.“ Nun ließ er sich komplett zurückfallen, zog Dhaôma einfach mit sich.
 

Ja, so sah es aus. Das war alles ziemlich schwer. Und um diese Jahreszeit war es hier oben einfach noch immer zu kalt, um für längere Zeit unter freiem Himmel zu sein, dabei hatte er sich so auf den Frühling gefreut. Es würde bedeuten, dass er das zweite Jahr in Folge den Frühling verpasste.

„Du willst sie wieder mitnehmen?“, fragte er leise. „Sie aufziehen?“
 

Während die eine Hand begann, Dhaôma zu kraulen, legte er den anderen Arm über seine Augen. „Ja. Nein… Ich weiß nicht.“ Er seufzte abgrundtief. „Sie hat doch nun niemanden mehr. Und die anderen zerfleischen sich ja fast in der Diskussion, ob sie bleiben darf. Sollten… sollten sie noch immer so abgeneigt wirken, würde ich sie ungern hier lassen. Aber selbst wenn wir sie mitnehmen. Nicht nur, dass sie nicht laufen kann und somit momentan nur zusätzliches Gewicht wäre. Ständig wechselnde Umgebungen, ständiges Versteckspiel vor den Magiern, Suche nach Drachen, keine Gleichaltrigen oder einfach nur andere Kinder zum Toben und Kräftemessen.“ Der nächste Seufzer folgte. „Ich weiß nicht, ob man ihr so etwas antun sollte. Das würde sie kein halbes Jahr überleben. Und ich denke, zum glücklich Aufwachsen gehört ein gefestigtes Umfeld, sowohl menschlich als auch territorial, dazu.“ Er hob den Arm und seinen Kopf, um Dhaôma ansehen zu können. „Oder irre ich mich? Ist das bei euch anders?“
 

„Ich weiß es nicht.“, sagte der Braunhaarige nachdenklich. Im Grunde konnte er nichts Falsches daran finden, wechselnde Umgebungen und Drachen zu suchen. Und Magiern waren sie bisher Dank Mimoun nicht begegnet, sah man mal von dem Dorf ab. „Aber sobald wir die Drachen gefunden haben, hätte sie ein festes Umfeld, nicht wahr?“ Aber das war es wohl nicht, was Mimoun meinte.

Murrend wurschtelte er sich aus der Umarmung. „Das ist sooo doof.“, knurrte er, dann stülpte er sich den Pocho über den Kopf und hielt Mimoun die Hand hin. „Los, auf in den Kampf! Das hier ist unsere erste echte Friedensmission und wir dürfen nicht scheitern.“
 

Ein Stöhnen drang über seine Lippen, doch schnell begann er zu kichern. „Nicht kämpfen, doch kämpfen. Entscheide dich endlich mal.“ Er wusste genau, welchen Unterschied Dhaôma zwischen diesen beiden Arten des Kampfes finden würde, aber ein wenig Schabernack musste sein. Er griff nach der dargebotenen Hand und zog sich schwungvoll hoch. Er streckte sich ausgiebig, breitete die Schwingen dabei weit aus und füllte damit den kleinen Raum komplett aus. Noch kurz die Kopfhaut kratzen, Nacken einrenken und Schultern straffen. Als er endlich mit seinen Turnübungen fertig war, streckte er angriffslustig die Faust in die Luft.

„Auf geht’s!“, flötete er gut gelaunt und hielt die Plane für seinen Freund auf. Dadurch folgte seine nächste Äußerung prompt: „Uff.“ Amar hatte gucken wollen, wo sie blieben. Und um die Plane nicht umständlich aus dem Weg zu drücken, wollte er durchrennen. Da sie aber genau in dem Moment weg war, rannte er voll in Mimoun hinein.
 

Dhaôma begann zu lachen und fing den taumelnden Jungen ein. „Immer mit dem Kopf durch die Wand, Amar. Was bist du, ein Steinbock?“

„Steinböcke sind Beute!“, sagte dieser angewidert und hielt sich die Nase. „Ich bin ein Jäger.“

„Soso.“ Den Jungen vor sich herschiebend, trat Dhaôma endlich hinaus. Sie waren alle schon wach. Und es war ein herziges Bild, wie Juri und Yaji vor einem Korb saßen, in dem zwei blonde Schöpfe zu sehen waren. Die beiden waren leise am Diskutieren, man konnte sie nicht verstehen, aber dem Braunhaarigen hüpfte das Herz in der Brust. Sollte das vielleicht heißen, dass…?

„Guten Morgen.“, wurden sie begrüßt. Janna deckte den Tisch. Sie hatte eine seltsame Miene im Gesicht, als wüsste sie nicht, ob sie froh war oder wütend. Leoni war ganz ruhig, während Asam sie beobachtete, als warte er auf den richtigen Zeitpunkt, um sich zu entschuldigen. Addar nickte ihnen zu, war ernst und zurückhaltend, und Karo schien wirklich wütend zu sein.

„Uha…“ Am liebsten wäre Dhaôma wieder zurückgegangen, aber das ging ja nicht. Also riss er sich zusammen. „Guten Morgen.“, gab er zurück. Was war hier bloß los?
 

Diese seltsame Stimmung ließ auch Mimoun erst einmal einen Schritt zurückweichen, bis er sich dazu durchringen konnte, zurückzugrüßen. Unsicher ließ er seinen Blick über die Versammelten gleiten. All seine Selbstsicherheit und Energie schien mit einem Mal verflogen.

Nach einem letzten absichernden Blick auf das Babykörbchen ließ er sich an dem Tisch nieder. Solange gefrühstückt wurde, solange die Kinder anwesend waren, würde die Diskussion sowieso nicht von vorne starten. Obwohl… sie hatte anscheinend bereits begonnen. Wenn auch ohne sie.

„Sie wird erst einmal hier bleiben können.“, begann Addar. „Doch das sollte euch keinen Anlass zu überschwänglicher Freude geben.“

Das hatte Mimoun sowieso nicht geglaubt, als die Worte ‚erst einmal’ fielen. Es konnte einfach nichts Gutes verheißen. Seine Miene verfinsterte sich und er presste die Lippen aufeinander, als er den weiteren Worten des Alten lauschte.

„Sie kann nichts für das, was sie ist, aber sie ist eine Magierin. Sie wird, wie Dhaôma uns berichtet hat, ein gefährliches Element beherrschen. Diese Entscheidung müssen alle treffen.“

Mimoun runzelte die Stirn. „Alle im Dorf oder alle…“ Er ließ es unausgesprochen; Addars ernster Blick sagte alles. Die Hände des Jungen fuhren seufzend über sein Gesicht. Wegen dem Winzling sollte ein Rat einberufen werden. Das konnte doch nicht deren Ernst sein.
 

„Ja und das in seiner Kondition!“, fauchte Karo und schoss ihrem Großvater einen wütenden Blick zu. „Dabei hat Dhaôma dir Wärme verschrieben und keinen Tag in Zugluft.“

Da lag der Hase begraben. Deshalb war sie sauer. Dennoch… „Wovon wird hier geredet?“, fragte Dhaôma vorsichtig.

Ihm wurden Trockenäpfel in die Hand gedrückt, als sich Leoni vorlehnte. „Von einer Entscheidung durch den Hohen Rat.“, sagte sie. Ihr schien das ganze nichts auszumachen, während Asams Schultern herabsanken.

Unsicher, ob er sich da einmischen sollte, lehnte sich Dhaôma vor und fragte sie flüsternd, ob sie sich mit Asam gestritten hatte, aber sie lachte nur.

„Nein, nein.“ Und mit einem Blick zu ihrem Mann, der diesen hoffnungsvoll aufsehen ließ, flüsterte sie zurück: „Er muss sich bloß damit abfinden, seinen Schatz einige Tage allein zu lassen.“ Ihr Blick, der den seinen traf, war verschwörend, aber er verstand nicht ganz. Stattdessen empfand er Schuld, da der Rat ja wegen ihm und dem Winzling stattfinden würde. „Und jetzt isst du was, denn immerhin haben wir heute viel zu tun.“

„Haben wir?“

„Na, ihr wolltet doch lernen, wie man ein Kind versorgt, habe ich Recht?“

Perplex nickte Dhaôma, dann lächelte er. „Vielen Dank.“

„Danke mir nicht zu früh, das wird für euch beide sehr anstrengend werden, denn Kinder haben viele Bedürfnisse.“
 

Nach dieser Nachricht war ihm der Appetit gehörig vergangen und so stocherte Mimoun lustlos mit seinen Krallen in dem Fleisch herum. Warum musste alles so kompliziert werden? Warum musste deswegen der Rat einberufen werden? Mochte ja sein, dass es um einen Magier ging, aber im Gegensatz zu Dhaôma damals war sie doch gar nicht in der Lage, eine potenzielle Gefahr darzustellen.

Angewidert schob er die Schüssel unangetastet von sich und rutschte ein wenig zurück, bis er bei den Babys angelangt war. Es gab ein süßes Bild ab, wie die beiden Mädchen zusammengekuschelt in dem Körbchen lagen. Seine Finger suchten die Faust seines Findlings, die sich langsam darum schloss. Große Augen sahen ihm neugierig entgegen.

Er sah auf, als er seinen Namen hörte. Marai zeigte auf seine unangerührte Schüssel. Mit einem entschuldigenden Lächeln schüttelte er den Kopf. „Später vielleicht. Ich hab keinen Hunger.“ Und damit wandte er sich wieder dem Winzling zu. Er runzelte die Stirn. „Du brauchst dringend einen Namen.“, sagte er mehr zu sich selbst. „Sonst bleibt Winzling immer an dir haften.“
 

Nach dem Frühstück wurde aufgeräumt und Leoni zog Mimoun und Dhaôma auf die Seite. Jedem wurde ein Baby in die Hand gedrückt und dann hieß es Windel wechseln. Dhaômas Augen wurden ganz groß, als er die komplizierte Wickeltechnik sah. Wie sollte er das je nachmachen? Aber Leoni hatte da eine ganz einfache Antwort: üben.

Und währenddessen trafen sich Addar und Asam mit den restlichen Mitgliedern des Dorfes, um ihnen zu berichten, was das Baby gestern zu bedeuten hatte.
 

Als Mimoun noch jünger gewesen war und noch nicht mit auf die Jagd durfte, hatte er den Müttern von Haru und den anderen Kindern unter die Arme gegriffen. Da kam man schnell wieder rein. Doof war es nur, wenn die kleinen Plagen die Angewohnheit entwickelten, genau dann ihr Häufchen zu setzen, wenn die Windel gerade gewechselt worden war. Seufzend begann er seine Aufgabe von vorn. Als er auch das hinter sich gebracht hatte und das kleine Wesen hochnahm, entleerte sich Seren auf dem oberen Weg erst einmal auf sein Hemd. Es war nicht viel, nicht mehr als ein Spucken, es roch nur unangenehm. Kritisch musterte er das Kind, das glücklich zu glucksen anfing.

Noch bevor ihm Leoni die Anweisung Bespaßung geben konnte, hatte er sich zurückfallen lassen und damit begonnen, sie hochzuwerfen und wieder aufzufangen. Nicht oft, nur drei-, viermal. Mehr schien ihr nicht zuzusagen. Sie quengelte noch nicht, doch sie hatte ihr Gesichtchen missmutig verzogen. Schnell drückte er sie an seine Brust, das Hemd hatte er mittlerweile ausgezogen, und ließ sich vor und zurückschaukeln, sang leise für das Baby. Er verlor sich ganz darin, sich um das kleine Geschöpf zu kümmern.
 

Dhaôma hatte da mehr Probleme. Ihm wollte es nicht gelingen, die Windel wieder zu verschließen. Als Leoni ihm schließlich half, war er recht erleichtert.

„Keine Sorge, das braucht Übung.“, sagte sie und er nickte wenig überzeugt. Dennoch, als die Kleine ihn anstrahlte und zu lachen begann, als sie ihm an den Haaren zog, konnte er gar nicht mehr anders, als sich vorzunehmen, es wirklich zu lernen.

„Was mache ich jetzt?“

„Nimm sie hoch. Sie scheint das zu verlangen.“

War das so? Woran sah man das? Dass sie an seinen Haaren zog? Aber immerhin würde das Ziepen nachlassen, wenn er sie hochnahm. Und sie begann prompt an seinen Haaren zu nuckeln. Wenig begeistert zog er ihr die Haare aus dem Mund.

„Hier.“ Leoni hielt ihm ein wenig getrocknetes Fleisch hin. „Das ist, damit sie sich an den Geschmack gewöhnt. Es ist besser, wenn sie darauf rumkaut.“

„Sie müssen sich also wirklich daran gewöhnen?“

„Natürlich. Der Bauch geht sonst kaputt.“

Fasziniert betrachtete Dhaôma, wie die Kleine begeistert das Trockenfleisch ansabberte. Bah. „Sie spielt Schnecke.“, meinte er und sah zu Mimoun. Ob das bei ihm auch so war? Was war er erstaunt, als er diesen auf dem Rücken liegend vorfand, singend und mit einer beinahe schlafenden Seren auf der Brust. „Und er spielt Wiege. Man, er ist echt begabt.“

„Das nennt man Übung.“, lächelte Serens Mutter weich und strich dem Winzling auf seinem Arm durch das flaumige Haar. „Du wirst das auch bald können.“

Ja, sicher. Er konnte nicht singen. Und er hatte auch nicht das Talent, mit jedem und allem sofort zurechtzukommen. „Sag mal, Leoni, wie lange dauert es, bis sie feste Nahrung essen kann?“

„Du glaubst nicht, dass sie bleiben kann, oder?“ Offenbar hatte sie durchschaut, dass er fragte, wie lange er jetzt bleiben musste.

Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Sie wirkten gestern so abgeneigt. Und sie haben Recht, wenn sie sagen, dass es ein Risiko ist. Magie ist eine unkontrollierbare Sache, nicht wahr? Ich habe mehrere Gaben entwickelt und jedes Mal ist ganz zu Anfang jegliche Kontrolle abhanden gekommen.“

„Erzähle mir, was passiert ist.“, forderte sie und setzte sich gemütlicher hin. Ihre Augen ruhten auf der kleinen Magierin, die jetzt dabei war, Dhaômas Finger zu zerkauen. Ihn schien das nicht zu stören.

Der Braunhaarige nickte. „Ich erinnere mich nicht mehr wirklich an alles, ich weiß es nur aus Erzählungen. Die Magie der Pflanzen erwachte sehr früh. Als ich fünf war oder so. Und ich weiß noch, dass unser sorgfältig gepflegtes Gewächshaus überwuchert war mit Blumen in den schönsten Farben, bevor ich ohnmächtig geworden bin. Genau weiß ich es aber nicht mehr, denn sie haben es natürlich wieder hergerichtet, während ich geschlafen habe, denn so eine Unordnung kam nicht in Frage.“ Wieder hoben sich seine Schultern, dann lächelte er. „Mimoun hat erzählt, wie sein Flügel wieder heile war, nachdem die Heilkraft erwacht ist. Aber er hat es auch nicht gesehen. Aber ich habe Leder verrotten lassen und einen völlig zerstörten Körper wieder hergerichtet. Das könnte ich wohl jetzt nicht mehr. Wir waren eingeschlossen von lebenden Pflanzen, die eigentlich tot waren, als die Gabe erwachte, totes Holz zum Leben erwachen zu lassen. Und ein Gewitter habe ich gerufen, als die Wettermagie erwachte. Es hat wohl einige Stunden lang gefährlich getobt. Cerel meinte aber, dass es nicht zu ungewöhnlich war. Anscheinend gibt es das öfter hier oben. Die anderen Gaben… Ich weiß es nicht mehr. Das Eisschmelzen kam nach einer Lawine, mehr weiß ich darüber nicht. Du musst dir das so vorstellen, als würde all deine Kraft mit einem Mal aus dir heraus rinnen. Du kannst sie nicht halten, ob du willst oder nicht. Und die Magie tut in diesen Fällen, zu was sie fähig ist.“

Sie nickte. Wenn sie sich das so anhörte, kam es ihr nicht so gruselig vor, wenn Magie erwachte. „Und passiert das öfter?“

„Was?“

„Dass die Magie erwacht.“

„Ach so. Je nachdem. Es ist von Geburt an festgelegt, welche Gaben man hat, aber nicht jede Art ist mit jeder vereinbar. Dass ich zum Beispiel Feuer beherrschen werde, ist sehr unwahrscheinlich. Genauso unwahrscheinlich ist es, dass sie das Wasser beherrschen wird. Diese beiden Elemente vertragen sich einfach nicht.“

„Auch das meinte ich nicht.“, sagte sie geduldig. „Wie oft gibt es so einen Ausbruch?“

„So oft, wie man einen neue Kraft entwickelt.“

„Also wird sie keinen Ausbruch mit dem Feuer haben?“

„Nein, nicht mehr.“ Dhaôma strich dem gurrenden Kind über den Kopf, so dass es zu strampeln begann. „Wuah, was ist denn jetzt los?“, rief er erschrocken.

Lachend schüttelte Leoni den Kopf. „Keine Sorge. Sie will sich nur bewegen. Lass sie einfach runter.“ Vergnügt beobachtete sie, wie Dhaôma das Kind absetzte und wie es dann vorwärts kroch.

„Wirklich, wie eine Schnecke.“, murmelte der Magier fassungslos und brachte sie zum Lachen damit.

„Weißt du, Dhaôma, du bist unglaublich. Da redest du von Ausbrüchen von Magie, als wären sie gar nichts, aber wenn ein Kind sich bewegt, gerätst du in Panik.“ Und dann beobachtete sie mit Freuden, wie seine Wangen hochrot wurden. „Also, welche Magie wäre bei ihr denn noch möglich?“, fragte sie, um ihn nicht ganz verloren stehen zu lassen.

Dennoch benötigte Dhaôma einige Minuten, um sich wieder zu sammeln. „Wind.“, meinte er. „Das ist am Wahrscheinlichsten. Und Erde. Ich habe auch schon gehört, dass das Feuer sich mit Licht und Farben vergesellschaftet.“

„Farben?“

„Ja, diese Magier haben die Macht, die Farbe einer Sache zu ändern. Zum Beispiel können sie ihre Haare färben oder die Dächer ihrer Häuser. Und das Feuer ist in der Lage Gestein zu schmelzen und Glas daraus zu machen, aber diese Fähigkeit erlangen nur wenige. Und manche können Metall verformen oder aus Gestein lösen.“

Sie nickte und drehte die Kleine um, als sie bei ihr angekommen war, so dass sie sich jetzt auf den Weg zurück zu Dhaôma machte. „Danke.“

„Wofür?“

„Dass du ehrlich bist.“

„Ich hätte nichts davon zu lügen.“

„Ich weiß.“, lächelte sie. „Du hast es auch noch nie getan, nicht wahr?“

Er wurde erneut rot. „Doch. Ich habe meine Mutter angelogen, als ich gesagt habe, ich käme bald wieder, damit ich verschwinden kann.“

Sie runzelte die Stirn, dann seufzte sie. Er war zu ehrlich.
 

Als der fast panische Ruf Dhaômas erklang, hatte Mimoun neugierig aufgesehen. Da das Würmchen in seinen Armen völlig ruhig geworden war, konnte er nun mit dem Schaukeln aufhören und sich auf das Gespräch der beiden konzentrieren. Immer wieder verzogen sich dabei seine Mundwinkel zu einem amüsierten Lächeln. Der Kerl war schon lustig in seiner Art und seinem Verhalten.

Dann horchte er auf. Glas. Genau. So hieß das Zeug. Nicht, dass er es sich würde merken können, aber er wusste zumindest jetzt, was damit gemeint war.

Seinen Blick von seinem Freund abwendend, starrte er grübelnd an die Decke. Wie würden die nächsten Tage ablaufen? Da es um einen Magier ging, würde wahrscheinlich bereits am nächsten, spätestens übernächsten Tag eine Sitzung stattfinden. Die Frage war jetzt nur, ob verlangt wurde, dass der Winzling vorgeführt wurde und ob Dhaôma oder er als Fürsprecher auftreten durften. Mimoun runzelte die Stirn. Dhaôma dorthin zu schleusen war die einfachste Übung, Addar könnte ein wenig Wärme vertragen. Dumm wäre es nur, sollte er dann draußen warten müssen, selbst in der Kälte stehend, ungeschützt.

Langsam erhob er sich wieder in die sitzende Position. Seren war davon nicht angetan, aber darum konnte er sich nicht kümmern. Mit einem entschuldigenden Lächeln reichte er sie an ihre Mutter weiter. „Ich bin gleich wieder da.“, versprach er und wuschelte sowohl dem Winzling als auch Dhaôma kurz über den Kopf, bevor er nach draußen verschwand.



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