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lucky failure

KaitoxSaguru
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kommentar vorab: Weiter unten käme an sich ein neuer Code (kursiv gedruckte Passage), den ich hier nicht darstellen kann, weil der PC mit den vielen Tags überfordert ist. Den Text MIT CODE schicke ich gerne auch in einer Privatnachricht.
Der Text stammt aus einer älteren Holmes-Sammlung von Ullstein: Sir Arthur Conan Doyle, Sherlock Holmes Stories, Band 2, herausgegeben von Nino Erné. Komplett anzeigen

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rush hour

„Wie uns soeben berichtet wurde, wurde im Service-Center des Nationalmuseums in Tōkyō am frühen Nachmittag eine Nachricht des berühmten Meisterdiebs Kaito Kid aufgefunden, in der er einen weiteren spektakulären Diebstahl ankündigt. Die Polizei geht davon aus, dass er bald zuschlagen wird, hat das rätselhafte Schreiben zur Stunde allerdings noch nicht entschlüsselt. Rechts oben im Bild haben wir eine Kopie der Ankündigung eingeblendet.
 

Unter dem weißen Licht des Vollmonds werde ich den Hochzeitssaal studieren

und nach einem Bekannten suchen, der nach 1945 Tausende von Jahren gealtert

ist.

Ich werde Saguru finden und ihn stehlen – aber ich will mich nicht

wiederholen, auch wenn ich auf halbem Wege abgebrochen und noch einmal

von vorne begonnen habe.

Meine Wertschätzung demjenigen, der Datum und Uhrzeit kennt.

cu, xxx, Meisterdieb 1412

PS: An den ewigen Zweiten – 10912121121313514185913!
 

Wenn Sie, liebe Zuschauer, zu wissen glauben, was Kaito Kid uns damit sagen möchte, können Sie im Chat mit unseren Experten über Ihre Ideen diskutieren. Nichiyuri TV freut sich auf rege Beteiligung. Über weitere Entwicklungen halten wir sie selbstverständlich auf dem Laufenden. Schalten Sie also-“
 

Ein spontaner Griff nach der Fernbedienung und schon fehlten der charmanten, blonden Nachrichtensprecherin die Worte. Shinichi Kudo erlaubte sich, seine Gedanken sekundenlang von Kids Schreiben abdriften zu lassen, um sich ganz der Frage zu widmen, aus welchem Grund Mizunashi Rena nicht wieder zum Sender zurückgekehrt war, nachdem das FBI sie wieder in die Organisation eingeschleust hatte, richtete den Fokus aber bald wieder auf das aktuelle Problem. Immerhin war es gut möglich, dass sie vorerst kurz gehalten und strikt überwacht wurde und sie warten musste, bis die Organisation ihr wieder vertraute und sie wieder eigenständig ihrer Arbeit nachgehen ließ. Diesbezüglich musste er sich wohl oder übel in Geduld üben.

Er schlug sein Notizbuch auf und notierte ein paar Schlagworte, die ihm ins Auge gesprungen waren, während er Kids Nachricht gelesen hatte, sowie die lange Zahlenreihe aus dem Postscriptum. In welchem Bereich des Nationalmuseums Kaito Kid zuschlagen würde, war offensichtlich. So offensichtlich, dass selbst die Polizei mittlerweile dahinter gekommen sein musste. Offen blieben folglich nur Datum, Uhrzeit und Zielobjekt, die sich hinter einem minimal anspruchsvolleren Code versteckten.

Es dauerte nicht lange, bis Shinichi die Bedeutung der Nachricht voll erfasst hatte, und als er das Ergebnis klar vor Augen hatte, musste er lachen. Er hatte zweierlei begriffen: diesmal musste er den Ermittlungen fern bleiben, denn Kaito Kid hatte ausdrücklich nach einem anderen Detektiv verlangt und so wie er den Meisterdieb kannte, musste es dafür einen wirklich guten Grund geben. Zum anderen ahnte er, dass sich besagter Detektiv mit Feuereifer auf den Fall stürzen würde, um Kid heimzuzahlen, dass er ihn in aller Öffentlichkeit beleidigt hatte. Das könnte nun durchaus sehenswert sein und er beschloss, sich am angekündigten Tag zumindest unter die Menge der Schaulustigen zu mischen, die von Kids Auftritten angezogen wurden wie die Motten vom Licht, um das Duell live und in Farbe mitzuerleben.

Einen Tipp musste er der Polizei allerdings zukommen lassen, wenn er sichergehen wollte, dass Kids Nachricht den richtigen Empfänger erreichte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es häufig nicht genügte den zuständigen Beamten gegenüber einen Namen zu erwähnen, um den gewünschten „Sachbearbeiter“ anzulocken und so lange er noch im Körper eines Erstklässlers herum lief, bot es sich an, Kogoro als Medium zu benutzen. Umso mehr, da er nicht selbst in das Geschehen involviert werden wollte.

Als er das Büro betrat, fand er sein auserwähltes Medium schlafend auf seinem Stuhl. Der Kerl hatte ganz eindeutig eine Fahne und unter diesen Umständen war es höchst zweifelhaft, ob er sich überhaupt in der Lage befand, Shinichis Botschaft korrekt zu übermitteln. Er entschloss sich, kein Risiko einzugehen und einmal mehr auf den Stimmentransmitter in seiner Fliege zurückzugreifen. Es war ohnehin schwer genug, Inspektor Nakamori dazu zu bewegen, einem anderen Ermittler – und somit einem Konkurrenten – Gehör zu schenken; da konnte er nicht in Kauf nehmen, dass Kogoros mögliche Unzurechnungsfähigkeit den Erfolg der Mission gefährdete.

Er kletterte auf einen zweiten Stuhl, um das Telefon zu erreichen und wählte die Nummer von Inspektor Nakamoris Diensthandy. Als der Polizist das Gespräch entgegen nahm, fiel er sogleich mit der Tür ins Haus, aus Angst, er könnte sofort wieder auflegen, wenn er erst realisierte, mit wem er sprach.

„Ah, Inspektor Nakamori“, grüßte Kogoros Stimme möglichst neutral. „Ich wollte mich erkundigen, ob Sie Hakuba schon benachrichtigt haben. Kids Nachricht ist schließlich ganz eindeutig an ihn gerichtet.“

acquaintance

„Das Spiel ist aus, Kid!“, erklärte Hakuba, sorgsam darauf bedacht, den Mann, der nur wenige Meter von ihm entfernt an einem Fenster des alten, abbruchreifen Hauses stand, in das ihn seine übereilte Flucht geführt hatte, nicht aus den Augen zu lassen. Im fahlen Licht des Vollmonds konnte er die Gesichtszüge von Shinichi Kudo erkennen. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob das wirklich eine Maske war oder ob der Meisterdieb nur etwas mit Frisur und Kleidung gespielt hatte, denn schließlich sah Kaito Kuroba ihm zum Verwechseln ähnlich. Und daran, dass Kaito Kuroba und Kaito Kid ein und dieselbe Person waren, bestand kein Zweifel. Hakuba wusste nur, dass er sich maßlos darüber ärgerte, dass dieser arrogante Dieb ausgerechnet diese Verkleidung gewählt hatte. Das schlug dem Fass die Krone ins Gesicht. Schon in seiner Ankündigung hatte er ihn nonstop beleidigt. Woher nahm er das Recht, ihm ständig unter die Nase zu reiben, dass jemand anderes seinen Platz als Schülerdetektiv Ostjapans eingenommen und auch die Jagd nach Meisterdieb 1412 weitestgehend an sich gerissen hatte?! Immerhin konnte Kid sich glücklich schätzen, dass er seinem Ruf überhaupt gefolgt war, denn Großbritannien lag nicht gerade um die Ecke.

„So?“ Kid setzte sein übliches, zum Schreien überhebliches Grinsen auf und damit war eines klar: das war keine Maske, das war wirklich sein Gesicht. „Ich sehe das etwas anders. Das Spiel ist erst vorbei, wenn ich in Polizeigewahrsam bin und davon sind wir noch meilenweit entfernt, nicht wahr? Trotzdem nett, dich zu sehen.“

„Spar dir den Spott“, wies Hakuba ihn an. Er versuchte sachlich zu bleiben, aber so recht wollte ihm das nicht gelingen. Er fühlte sich, salopp gesagt, verarscht. „Deine Ankündigung war eine Beleidigung für jeden ernstzunehmenden Detektiv! Ich habe keine zehn Minuten gebraucht, um hinter die Bedeutung zu kommen!“

Kid lachte. „Schade, schade“, meinte er vergnügt. „Ich dachte, ich tu dir damit einen Gefallen.“

„Hältst du mich wirklich für so beschränkt, Kaito?“, knurrte Hakuba, nun sichtlich verärgert. Er wurde und wurde das Gefühl nicht los, dass er es hier nicht mit einem von Kids üblichen Auftritten zu tun hatte, sondern dass hinter alledem noch etwas anderes steckte. Etwas persönliches.

Sein Gegenüber zuckte nur indifferent mit den Schultern, wohl um ihn weiter zu provozieren. Dann ließ er die Verkleidung fallen. Seine zuvor so schemenhafte Gestalt leuchtete weiß und klar im Mondlicht. Übertrieben theatralisch, dachte Hakuba wütend, obwohl ihm durchaus bewusst war, dass Kid mit diesem Aufzug mehr bezweckte, als bloße Selbstdarstellung. Hatte er einmal einen Auftritt angekündigt, konnte er davon ausgehen, dass eine riesige Menschenmasse nach seinem weißen Anzug Ausschau hielt. Versteckte er das Weiß unter dunklen Verkleidungen, fiel es ihm leicht, unbemerkt zu verschwinden.

„Immerhin bist du inzwischen nur noch die Nummer Zwei unter den Detektiven, wogegen ich noch immer der Größte bin“, erläuterte der Meisterdieb schlussendlich und Hakuba war versucht, das Reden sein zu lassen und ihn grün und blau zu prügeln. Was hatte er in dieser Nacht nur mit dem Thema?

„Aha“, konstatierte er reichlich unterkühlt.

Kaito Kid musterte ihn schmunzelnd. „Bist du echt sauer, weil ich dich ein bisschen mit Kudo aufgezogen habe?“

Was für eine Frage! Natürlich war er sauer. Aber zugeben würde er das selbstverständlich nicht. Wenn er verhindern wollte, dass Kaito weiter nachbohrte, musste er das Thema wohl auf eine andere Schiene lenken.

„Wenn ich wütend bin, dann nur wegen deinem haarsträubend einfachen Code!“, erklärte er äußerst reserviert. „Sag bloß, dir ist nichts besseres eingefallen.“

Kid lachte abermals. „Aber nie im Leben! Meine Fantasie ist unerschöpflich. Ihr Detektive seid doch diejenigen, denen es an Kreativität mangelt.“

Hakuba schnaubte verächtlich. „Hast du einen Sprung in der Platte? Den Satz hab ich schon ein paar Hundert Mal gehört! Außerdem erklärt das nicht, warum du dir mit der Ankündigung so wenig Mühe gegeben hast.“

„Wie ich bereits gesagt habe“, erläuterte Kid vergnügt „war das ein Geschenk an dich. Ich konnte ja nicht wissen, wann die Polizei dich benachrichtigt und wollte nicht, dass du zu spät kommst, weil du den Code nicht rechtzeitig knacken konntest.“

„Seit wann legst du denn Wert auf meine Anwesenheit?“

„Ganz ohne einen ernstzunehmenden Gegner würde ich mich nur langweilen. Und außerdem-“ Kid stockte und zögerte einen Moment. Dann entschied er, das „außerdem“ vorerst ungeklärt zu lassen. Er wollte aus Hakubas Mund hören, wie er auf die Lösung gekommen war, bevor er ein wirklich ernstes Thema anschnitt. So viel Zeit musste schon sein. „Wenn mein Code so einfach war, kannst du mir bestimmt auch sagen, wie du auf die Lösung gekommen bist.“, forderte er.

Ein Anflug seines üblichen detektivischen Stolzes ließ Hakuba spontan vergessen, dass er eigentlich zu wütend war, um Kid auch nur irgendeine Bitte zu erfüllen und ein siegessicheres Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

„Nichts leichter als das. Dass du im Heseikan zuschlagen würdest, war mir von Anfang an klar. Die Worte „Hochzeitssaal“ und „studieren“ haben es mir verraten. Das Heisekan wurde zur Feier der Hochzeit eines Kronprinzen erbaut und studieren kann man dort, weil sich darin ein Hörsaal befindet. Ich musste also nur herausfinden, was du stehlen und wann du zuschlagen wirst. Ich wusste, dass die Antwort in den ersten anderthalb Sätzen versteckt sein musste. Besonderes Augenmerk habe ich selbstverständlich auf meinen eigenen Namen gelegt, weil du angekündigt hast, mich oder besser gesagt dieses Wort zu stehlen. Weiter unten hast du geschrieben, dass du dich nicht wiederholen wirst. Diese Regel bedeutet, dass alle Worte, die im Text mehr als ein Mal erscheinen, herausgestrichen werden müssen. Folglich musste „Saguru“ aus dem Text verschwinden. Du hast das Kanji weiter oben schon einmal verwendet, als du sagtest, du wolltest einen Bekannten „suchen“ - „saga“su. Hat man das Wort herausgestrichen, sieht man sich mit einer Lücke konfrontiert, die irgendwie gefüllt werden muss. Es liegt nahe, meinen Nachnamen einzusetzen: Hakuba. Du hast geschrieben, dass du kommen wirst, wenn der Vollmond „weiß“ leuchtet – „shiroi“. Folglich muss das Kanji „Haku“ auch heraus gestrichen werden. Übrig bleibt „Ba“ oder auch „Uma“: Pferd. Ich wusste also, dass dein Zielobjekt ein Pferd sein würde. Natürlich kein echtes, denn Tiere sind im Nationalmuseum nicht erlaubt.“ Er lachte kurz und freudlos über seinen eigenen dummen Witz. „Welches Pferd verraten die Worte „Bekannter, nach 1945 um Tausende von Jahren gealtert“. Es gibt nur eine einzige Pferdefigur im Nationalmuseum, die schon seit langem bekannt gewesen, aber deren Alter erst später erkannt worden war: Die Pferdekeramik aus der Jōmon-Zeit. 1945 steht für den August 1945, das Ende des zweiten Weltkrieges, nach dem die Radiokarbonmethode zur Altersbestimmung und somit auch das wahre Alter der Keramik bekannt wurde. Fehlte nur noch Datum und Uhrzeit. Wer Datum und Uhrzeit kennt, sollte deine Zuneigung haben, folglich musste die Information in den gebräuchlichen Kürzeln "cu" und "xxx" stecken. Wenden wir zunächst die bereits bekannte Regel an und streichen Wiederholungen. Cu bleibt bestehen, aber von den drei x bleibt nur eines. Ich habe geahnt, dass dein Code etwas mit dem Alphabet zu tun hat und habe die Buchstaben zunächst von A bis Z mit 1 bis 26 durchnummeriert. Das Ergebnis macht wenig Sinn: 03.21., 24 Uhr. Es gibt keinen 21. Monat und bis zum 21. März dauert es noch eine Ewigkeit. Es muss also noch eine zweite Regel geben. Bisher ungeklärt war, was du abgebrochen hast und was noch einmal von Vorne begonnen hat: es bezieht sich auf die Nummerierung. Man muss das Alphabet in zwei Hälften Teilen und von 1-13 durchzählen. Dann erhält man den 03. August, 11 Uhr. Zuerst glaubte ich tatsächlich, das sei die Lösung, aber dann fiel mir auf, dass ich Regel Nummer 1 außer Acht gelassen hatte: ich durfte nichts wiederholen. Eine 11 besteht aus zwei Einsen, also muss eine davon verschwinden. Ich hätte schon beim x ansetzen können, das aus zwei schrägen, sich überkreuzenden Strichen besteht. Nimmt man einen weg, bleibt wiederum eine 1. 03. August, ein Uhr nachts. Damit hatte ich deine Botschaft entschlüsselt. Leider hast du es geschafft, aus dem Museum zu entkommen und ich konnte dich erst hier stellen. Und? Willst du dich nicht ergeben?“

„Hast du heute deinen lustigen Tag?“, antwortete Kid mit einer Gegenfrage. Sich einfach so ohne guten Grund zu ergeben kam überhaupt nicht in Frage, zumal er Hakuba noch nicht gesagt hatte, weshalb er ihn hierher bestellt hatte. Seine Nachricht hatte er wie erwartet perfekt gelöst, aber Kid konnte wenigstens einen kleinen Sieg verbuchen: die drei x hatten ihn verwirrt. Er war zufrieden.

Hakuba verzichtete darauf, etwas zu erwidern und kam frech ein paar Schritte näher. Noch hielt Kid es allerdings nicht für notwendig, zurückzuweichen.

„Ich habe dir gesagt, was du wissen wolltest“, erklärte Hakuba geschäftsmäßig. „Jetzt könntest du mir erklären, warum du wolltest, dass ausgerechnet ich mich um diesen Fall kümmere und nicht dieser Dreikäsehoch.“

„Das wäre nur fair“, stimmte Kid zu und steckte eine Hand in die Tasche seines Jacketts, um das Schreiben hervorzuholen, dass er seinem alten Gegenspieler unbedingt überreichen musste, wenn er eine Katastrophe verhindern wollte.

„Es gibt etwas, das solltest du unbedingt wissen“, begann er seine Erklärung, unterbrach sich jedoch sofort selbst, als ihm ein leuchtender, roter Punkt auffiel, der über Hakubas Kleider wanderte, ein paar Mal die Position änderte und dann mitten auf seiner Stirn zum Stillstand kam. Er begriff sofort; auch, dass die Zeit zu knapp war, um noch eine überzeugende Warnung auszusprechen. In Sekundenschnelle warf er sich auf den Detektiv, packte ihn fest und sprang mit ihm durch das geschlossene Fenster hinaus in eine enge, dreckige Gasse.

Mit den Händen schützte er Hakubas Kopf, damit er nicht auf dem Boden aufschlug; und sie waren noch nicht gelandet, als Schüsse knallten. Zwei oder drei, das war nicht genau zu sagen. Zersplittertes Glas regnete auf sie herab und der Aufprall war hart. Aber Prellungen und Platzwunden waren allemal besser, als eine Kugel im Kopf und das Haus, in dem sie sich befunden hatten, hatte glücklicherweise nur zwei Stockwerke.

Hakuba hörte sich selbst schreien, als er so plötzlich mit dem Rücken voran durch das Fenster gerissen wurde. Zwar kollidierte sein Kopf nicht mit dem Boden, aber ein beißender, jäher Schmerz fuhr ihm in den Rücken und Steine und Scherben drückten durch seine Kleider hindurch in die Haut. Sein rechter Arm prallte gegen irgendeine Kante, aber er nahm es kaum wahr.

Es dauerte eine Weile, bis der erste Schock abgeklungen war und er wieder ein paar klare Gedanken fassen konnte. Ihm wurde schnell klar, dass Kaito ihnen beiden mit seiner unerwarteten Stunt-Einlage wohl das Leben gerettet hatte; er musste später nach den Projektilen suchen. Der Anschlag hatte sich eindeutig gegen ihn gerichtet, denn andernfalls hätte Kaito entweder nichts bemerkt oder wäre aus dem anderen Fenster gesprungen. Soweit er wusste, hatte auch ein Meisterdieb keine Augen im Hinterkopf und da er nur den Laserpointer eines Scharfschützengewehrs oder den Schützen selbst entdeckt haben konnte, hatte er entweder dem Schützen gegenüberstehen müssen – in diesem Fall wäre er vermutlich durch das Fenster hinter ihm geflohen und das auch nicht dermaßen überstürzt – oder mit dem Rücken zu ihm. Ein Laserpunkt auf Hakubas Körper wäre ihm viel eher aufgefallen, und wenn der Schütze sein Ziel bereits fixiert hatte, dann erklärte das auch, dass er so schnell hatte handeln müssen.

Na wunderbar, dachte Hakuba. Er zählte Kaito Kid nicht zu den Menschen, denen er gerne sein Leben zu verdanken haben wollte, denn er ahnte, dass ihm diese „Schuld“ nur in die Quere kommen würde. Apropos Kaito...

Innerhalb von Sekunden waren Hakuba so viele Spekulationen, Analysen und Schlussfolgerungen durch den Kopf geschossen, dass er überhaupt nicht realisiert hatte, dass der Dieb noch immer über ihm lag, die Finger in seinen Haaren vergraben und anscheinend selbst nicht wenig erschrocken. Er zitterte ein wenig, aber Hakuba hatte nicht vor, sich diese Chance vor lauter Schreck, Dankbarkeit oder Mitgefühl entgehen zu lassen, denn so nahe würde er so schnell nicht wieder an den Meisterdieb heran kommen. An Kaito Kuroba vielleicht, aber nicht an Kaito Kid. Wenn er ihn jetzt demaskierte und festnahm, war ein für allemal der Beweis erbracht, den er schon so lange vergeblich suchte.

Ohne länger zu zögern, packte er seinen Retter. Aber nur an der linken Schulter, weil sich sein rechter Arm einfach nicht bewegte. Er verstand schneller, dass er körperlich ganz offensichtlich im Nachteil war, als Kid begriff, dass er Gefahr lief, gefangen zu werden, griff fester zu und drehte sich mit Schwung herum, um nun den Dieb unter sich zu begraben und durch so viel Körpereinsatz nicht ausschließlich auf seine lädierten Arme angewiesen zu sein. Was folgte, war eine kleine Rangelei, die genau so lange andauerte, bis Hakuba die Schmerzen in Rücken und Arm nicht mehr ertragen konnte und zuließ, dass Kaito Kid sich aus seiner Umklammerung befreite.

Der Meisterdieb brachte knappe zwei Meter Sicherheitsabstand zwischen sie und setzte mit einem etwas pikierten Gesichtsausdruck seinen Zylinder wieder auf, der ihm irgendwann in dem Durcheinander vom Kopf gefallen war.

„Sowas Undankbares wie du ist mir noch nie untergekommen“, beschwerte er sich, und es war nicht ganz klar, ob er nicht tatsächlich ernst meinte, was er sagte. „Sagt man nicht 'eine Hand wäscht die andere'? Du solltest besser zum Arzt gehen und dir Gedanken darüber machen, wer versucht haben könnte, dich zu erschießen, anstatt sinnlos hinter mir her zu jagen.“

Hakuba schnaubte entnervt. Da erzählte er ihm nichts Neues: selbstverständlich musste er in Erfahrung bringen, was hinter diesem Mordversuch steckte, aber nichtsdestotrotz tat es weh, Kaito Kid wieder einmal nicht erwischt zu haben. In der Ferne heulten schon Polizeisirenen und für Kid wurde es höchste Zeit zu verschwinden. Diese Chance hatte er vertan.

„Wir sehen uns, ewiger Zweiter“, verabschiedete sich der Dieb und zauberte einen kleinen, schwarzen Papierumschlag aus dem Ärmel, den er ihm ungewöhnlich lieblos entgegen warf. „Ich habe dir noch etwas zu sagen. In der Zwischenzeit solltest du dir den Inhalt dieses Umschlags näher ansehen, vielleicht bist du danach ein bisschen klüger.“

Danach war er schnell in der Dunkelheit der Nacht verschwunden.

tension

Hakuba verbrachte den Rest der Nacht im Krankenhaus. Als die herbei geeilten Polizisten ihn gefunden hatten, hatten sie sofort einen Krankenwagen gerufen und die Sanitäter hatten ihm erklärt, dass sein rechtes Handgelenk kompliziert gebrochen war. Somit trug er neben diversen Pflastern und Druckverbänden an Rücken und Beinen auch noch einen Gips und ärgerte sich maßlos darüber, dass dieser Fall eine dermaßen unglückliche Wendung genommen hatte.

Sollte ihm wirklich ein Killer auf den Fersen sein, konnte es für ihn den Tod bedeuten, nicht voll auf der Höhe zu sein. Hinzu kam, dass Kaito Kid ihn einfach so hatte stehen lassen ohne ihm zu erklären, was zur Hölle hier vor sich ging. Er schien etwas zu wissen; andernfalls hätte er ihn kaum nach Japan gelockt.

Der Brief, den er ihm in letzter Sekunde noch hatte zukommen lassen, lag ungeöffnet in der Tasche seines Jacketts, aber obwohl Hakuba unzweifelhaft neugierig auf den Inhalt war, wollte er ihn im Moment nicht lesen. Er hatte genug.

Inzwischen ging es auf vier Uhr morgens zu und er hatte noch kein Auge zu getan. Wenn er übermüdet, nervös und verwirrt war, erschwerte das nur die Ermittlungen und das musste er nach Kräften verhindern. Daran, dass er ermitteln würde, bestand selbstverständlich nicht der Hauch eines Zweifels. Als die Polizisten drei Geschosse auf dem Gelände und zurückgelassene Patronenhülsen in einem Zimmer des gegenüberliegenden Hauses sichergestellt hatten, hatte er sie nicht darüber aufgeklärt, dass der Schütze es auf ihn und nicht etwa auf Kaito Kid abgesehen hatte, weil er nicht riskieren wollte, unter Zeugenschutz gestellt zu werden. Nachdem er nun schon körperlich beeinträchtigt war, wollte er nicht auch noch seinen Handlungsspielraum einbüßen.

Ein Mordanschlag... Er konnte sich beim besten Willen an keine Begebenheit erinnern, die als Motiv für eine solche Tat hätte herhalten können..

Wieder kamen ihm Kids Worte in den Sinn: „Du solltest dir den Inhalt dieses Umschlags näher ansehen, vielleicht bist du dann ein bisschen klüger.“

Wahrscheinlich hatte der Kerl Recht. Es war reine Zeitverschwendung, sich über den Anschlag den Kopf zu zerbrechen, ohne zuvor den Brief – so es denn überhaupt einer war – gelesen zu haben. Er musste endlich zur Ruhe kommen und ein bisschen schlafen. Am Morgen sah die Welt bestimmt schon wieder besser aus und fürchten musste er sich höchstwahrscheinlich auch nicht.

Er war in den letzten Stunden ständig von Polizeibeamten umgeben gewesen, sodass es für den Täter zu gefährlich gewesen wäre, noch einmal sein Glück zu versuchen. Zumindest in dieser Nacht konnte er davon ausgehen, sicher zu sein.

Hakuba atmete ein, zwei Mal tief durch, weil er gehört hatte, dass das angeblich ein wenig Ruhe in einen angespannten Körper bringen sollte. Brachte es kaum, und so wählte er eine andere alte Methode: Schäfchen zählen. Er hatte ungefähr 237 Stück gezählt, als die lieben Tierchen begannen, immer erschreckendere Ähnlichkeit mit Kaito Kid anzunehmen. Nach vier weiteren war er eingeschlafen.
 

Kaum drei Stunden später, gegen sieben Uhr, kam eine Krankenschwester, um das Fenster zu öffnen und Hakuba aus seinem kurzen, seichten Schlummer zu wecken.

Ein paar Sekunden benötigte er, um sich zu orientieren, dann erinnerte er sich sofort an den geheimnisvollen Brief. Da es nun Tag geworden war und keinerlei Notwendigkeit mehr bestand, sich selbst zur Ruhe zu zwingen, zögerte er nicht lange, das verheißungsvolle Kuvert aus der Jackett-Tasche zu nehmen.

Vorausschauend, wie es sich für einen guten Detektiv gehörte, hatte er sich Handschuhe vom Personal 'geliehen', um keine Fingerabdrücke auf dem Umschlag zu hinterlassen. Zwar wusste er nicht, von wem der stammte, aber genau zwei Dinge waren klar: er hatte etwas mit dem mysteriösen Schützen zu tun und Kaito Kid hatte ihn in der Hand gehabt. Folglich bestand durchaus die Möglichkeit, dass einer von beiden Spuren zurückgelassen hatte. Und er war der Letzte, der Beweismittel in blanker Unvorsicht zerstörte.

Hakuba stellte fest, dass sich der Brief schon ungeöffnet äußerst interessant, wenn auch provokant gestaltete. Der Umschlag war nicht adressiert, einzig und allein zwei Namen waren darauf zu lesen. Genau mittig stand Shinichi Kudo geschrieben; oder besser gesagt: gedruckt, denn der Schriftzug war aus einer Zeitung ausgeschnitten und fein säuberlich aufgeklebt worden. Die Zeichen waren durchgestrichen und darunter befand sich sein eigener Name, ebenfalls aus einer Zeitung entnommen. All dies wies darauf hin, dass das Schreiben von jemandem stammte, der nichts Gutes im Schilde führte. Möglicherweise von demjenigen, der in der Nacht auf ihn geschossen hatte.

Bis zum Äußersten gespannt öffnete er das Kuvert und fand darin eine Karte aus dünner Pappe.

Auf der Vorderseite befand sich der Abdruck eines alten Holzschnitts, der eine schaurige, große Qualle zeigte und höchstwahrscheinlich einem alten Tierlexikon entnommen war. Auf der Rückseite war folgender Text zu finden:
 

Schülerdetektiv Shinichi Kudo Saguru Hakuba, nimm' dich in Acht!

Drehe und wende meine Botschaft, bis du anderer Ansicht bist!

Sonst erwartet dich, was deinesgleichen übersehen hat!

1 13 1 20 15 18 3 21 12 21 19

1 13 1 20 15 18 5 13

3 1 16 9 20 1 12

13 15 18 19

The Lion's Mane
 

Wieder ein Code. Ebenfalls interessant, aber nicht sonderlich überraschend, wie Hakuba fand. Dass die Nachricht ursprünglich an Shinichi Kudo gerichtet gewesen war, fraß dann aber doch wieder an seinem Stolz. Allerdings musste er zugeben, dass es nicht ganz so erniedrigend und unangenehm war, diese Beleidigung von einem unbekannten Killer hinnehmen zu müssen, als wenn sie von Kaito kam. Alte Rivalen sollten sich einfach nicht schäbig behandeln. Und ganz im Gegensatz zu Kudo kannte er immerhin Kids wahre Identität. Aber er schweifte ab.

Vermutlich war Kudo auch dieses Mal nicht auffindbar gewesen und er hatte als Ersatz hinhalten müssen. Die Kugeln waren trotzdem für ihn bestimmt gewesen und damit war ihm der Fall ganz eindeutig übertragen worden. So zumindest sah er das.

Auch das weitere Vorgehen hatte er bereits geplant: Zunächst würde er den Code entschlüsseln. Mit etwas Glück war er nicht sonderlich kompliziert, aber auch nicht völlig dilettantisch, denn wenn bereits der Verfasser Fehler gemacht hatte oder die Kreativität eines Kaito Kid besaß, dann war das Rätsel nur unter größeren Schwierigkeiten zu lösen. Anschließend wollte Hakuba in Erfahrung bringen, wie Kid einen Brief in die Finger bekommen hatte, der eigentlich an ihn gerichtet war.

Ihm war klar, dass sich dieses Unterfangen als äußerst schwierig erweisen konnte, denn so lange Kaito Kuroba nicht zugab, dass er Kid war, war es so gut wie unmöglich, ihn außerhalb seiner Diebestouren zu erreichen und Kid selbst war sein einziger Anhaltspunkt.

Nun, darüber würde er sich später Gedanken machen. Oberste Priorität hatte vorerst der Code von The Lion's Mane.

Seltsam... Spontan wusste Hakuba nicht, wo er die 'Löwenmähne' einordnen sollte, aber er war sich sicher, dass er das Wort schon einmal in einem anderen Kontext gehört hatte; und mit einem leibhaftigen Löwen hatte das nichts zu tun gehabt. Er würde sorgfältig darüber nachdenken müssen. Gleich, nachdem er die Zahlenreihen in verständliche Wörter verwandelt und begriffen hatte, was es mit den Textkennzeichnungen auf sich hatte.

1 13 1 20 15 18 3 21 12 21 19

Er musste die Sache systematisch angehen. Wenn man es mit einem unbekannten Code zu tun hatte, konnte es nicht schaden, das Alphabet durchzunummerieren. Lateinische Buchstaben waren bei den Verfassern leichterer geheimer Botschaften recht beliebt, und da auch Kid in seiner letzten Botschaft darauf zurückgegriffen hatte, lag der Gedanke nahe.

Tatsächlich hatte Hakuba auf Anhieb Glück; die Zahlenreihen ließen sich ohne weiteres übertragen. Er schrieb sein Ergebnis in ein Notizbuch. In Reihenfolge stand dort:
 

amatorculus

amatorem

capital

m o rs
 

So wie es aussah, hatte Hakuba damit lediglich ein Zwischenergebnis erreicht, denn einen Sinn ergaben die vier Wörter auf den ersten Blick nicht. Besonders das letzte, 'mors', fiel auf. Nicht nur war der Anfangsbuchstabe hervorgehoben; es war auch fett gedruckt und seltsam auseinander gezerrt.

Hakuba war beinahe ein bisschen erleichtert. Wäre die Nachricht des unbekannten Schützen so leicht zu entschlüsseln gewesen, wäre bei der Aufklärung des Falles wohl sein kriminalistischer Spürsinn nicht voll ausgelastet gewesen. Einen dermaßen bescheuerten Täter hätte selbst ein Kind zur Strecke bringen können.

„Amatorculus, amatorem, capital, mors“, deklarierte eine weibliche Stimme aus Richtung Tür. Als Hakuba sich überrascht umwandte, sah er sich einem hübschen jungen Mädchen im kurzen, roten Kleid gegenüber, das lässig im Türrahmen lehnte. Sie grinste schief und hob die Hand zum Gruß.

„So sieht man sich wieder, Hakuba.“

Der Detektiv brauchte keine halbe Sekunde, um zu verstehen, mit wem er es hier zu tun hatte. Aus dieser Entfernung hatte das Mädchen unmöglich lesen können, was er notiert hatte, und um den Code selbst entschlüsseln zu können, musste man ihn entweder verfasst oder Gelegenheit gehabt haben, die Nachricht zu lesen.

„Willst du, dass ich dich doch noch festnehme, Kaito?“, erkundigte er sich in einem Tonfall, der einen angemessenen Grad an Desinteresse zur Schau stellen sollte und tat sein bestes, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Kids Auftauchen wirklich erstaunte. Noch dazu in diesem Aufzug. So oft, wie er sich in Frauenkleider zwängte, konnte man in dieser Richtung fast eine geheime Vorliebe vermuten.

„Nicht doch, nicht doch!“, wehrte Kid ab. „Ich bin gekommen, um unsere Unterhaltung fortzusetzen. Heute Nacht wurden wir schließlich unterbrochen, bevor ich dir alles sagen konnte, was ich zu sagen geplant hatte.“

„Hat das, was du mir sagen möchtest, vielleicht etwas mit dem Mordanschlag auf mich und dem Schreiben von Lion's Mane zu tun?“, hakte er weiter nach.

Kid antwortete nicht gleich, schritt würdevoll und betont sexy in den Raum hinein und ließ sich frech auf Hakubas Krankenbett nieder. Erst jetzt fiel dem Detektiv auf, dass er farblich passende Highheels trug. Gott sei Dank war der Kerl nicht wirklich eine Frau! Schlimm genug, dass er sich als Modepüppchen verkleidete. Kurzzeitig überlegte Hakuba, ob er zur Strafe für diese Geschmacklosigkeit nicht vielleicht doch die Polizei rufen und Kid verhaften lassen sollte, aber ihm war selbstverständlich bewusst, dass das nicht die klügste Taktik war, wenn er wollte, dass Kid ihm erzählte, was er wusste. Wahrscheinlich würde er ohnehin nur wieder entkommen.

„Äußerst scharfsinnig von dir“, spottete Kaito und klimperte wie ein Idiot süßlich mit den Wimpern. Dann wurde er ernst. „Hast du den Code schon gelöst?“, wollte er wissen.

Hakuba schüttelte versöhnt den Kopf. Wenn Kid sich normal benahm, konnte er sogar sein Outfit akzeptieren; auch wenn er nicht so recht wusste, wie er ihn ansehen sollte, ohne in sein falsches, aber üppiges Dekolletee zu schielen.

„Nein“, erwiderte er. „Ich habe bisher nicht mehr verstanden, als dir anscheinend auch schon bekannt ist. Woher hast du überhaupt den Brief, Kaito?“

Kid konnte die lange Erklärung vorerst aufschieben, denn kaum dass Hakuba den Mund geschlossen hatte, öffnete sich die Türe und eine Krankenschwester trat ein, um das Frühstück zu bringen.

Sie musterte den aufwändig verkleideten Meisterdieb irritiert und Hakuba verstand sie nur zu gut. Dieses schreiend auffällige Kleidchen war in einem Krankenhaus eindeutig fehl am Platz.

„Wer, wenn ich fragen darf, sind denn Sie, junge Dame?“, erkundigte sie sich bemüht höflich.

Kid ließ sich von so viel Argwohn natürlich nicht aus der Ruhe bringen. Er setzte ein sympathisches Lächeln auf, fuhr sich mit der Hand gespielt nervös durch die falschen, blonden Haare und erklärte ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern: „Oh, Verzeihung. Hätte ich mich anmelden müssen? Ich bin Yukie Iwai, Hakubas Freundin.“

secret

Während die Krankenschwester Kaito Kids Aussage kulant abnickte und lediglich anmerkte, wie reizend es doch von ihm war, seinem 'Freund' in einer Notlage beizustehen, hatte Hakuba Mühe, vor Schreck nicht laut aufzuschreien.

„Du...“, begann er säuerlich, wusste dann aber doch nicht so recht, was er sagen wollte und hielt vorsichtshalber den Mund. Langsam aber sicher bekam er wirklich Lust, die Polizei zu rufen. Glaubte dieser Mistkerl denn, dass er an Geschmacksverirrung litt? Niemals hätte er sich in eine so himmelschreiend aufgedonnerte Tussi wie ihn verliebt! Hätte er nicht unbedingt wissen wollen, was Kid ihm zu sagen hatte – und ihm darüber hinaus auch noch sein Leben zu verdanken gehabt – dann wäre er spätestens jetzt hinfällig gewesen.

„Bitte bleiben Sie nicht zu lange“, wandte sich die Krankenschwester noch einmal an Kid. „Herr Hakuba muss sich schonen. Morgen können Sie ihn dann mitnehmen.“

„Vielen Dank“, erwiderte der verkleidete Meisterdieb betont süßlich und kam Hakuba gefährlich nahe. „Zusammen werden wir das schon schaffen, nicht wahr, Schatz?“

Zu allem Überfluss gab er ihm auch noch einen vorsichtigen Kuss auf den Mund. Hakuba schmeckte Kirsche. Lippenstift mit Geschmack brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Kaum, dass die Schwester den Raum verlassen hatte, sprang Hakuba wie von der Tarantel gestochen auf und brachte erst einmal einen guten Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und Kid, bevor er ihm ein wütendes: „Du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!“ entgegen brüllte.

Der Meisterdieb legte kokett einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihm, still zu sein. Vermutlich, um zu verhindern, dass die Krankenschwester, die sich noch immer in unmittelbarer Nähe des Zimmers aufhalten musste, die Scharade durchschaute.

„Musste das denn unbedingt sein?“, erkundigte Hakuba sich etwas leiser, aber keineswegs milder gestimmt.

Kid ging nicht darauf ein. „Gibst du mir das Schreiben von Lion's Mane?“, fragte er stattdessen und Hakuba überreichte ihm den Brief, ohne zu wissen, warum er sich überhaupt so bereitwillig auf den abrupten Themenwechsel einließ.

„Und?“

„Ich habe dir ein lateinisches Wörterbuch mitgebracht“, erklärte der Meisterdieb und erfreute sich an der Verwirrung, die Hakuba für den Bruchteil einer Sekunde in demütigender Offensichtlichkeit ins Gesicht geschrieben stand.

„Ein lateinisches Wörterbuch?“, echote er verständnislos, so dass Kid sich bemüßigt sah, die nette Geste näher zu erläutern.

„Kudo wäre es sofort aufgefallen“, stichelte er vorab. „The Lion's Mane ist der Titel einer Sherlock Holmes-Kurzgeschichte. Der Mörder in diesem Fall war eine Qualle, die Cyanea Capillata, bei ihrem lateinischen Namen, genannt wird. Dabei handelt es sich um dasselbe Tier, das auch auf dieser Karte abgebildet ist. Vermutlich hat der unbekannte Schütze das Motiv aus zwei Gründen gewählt: Zum einen soll es eine Warnung darstellen. Die Fangarme dieser Qualle werden dich auch aus großer Entfernung erreichen und töten. Zum anderen weist es dich darauf hin, dass der Code auf Latein verfasst ist. Deshalb auch das lateinische Alphabet.“ Er bedachte seinen Widersacher mit einem ekelhaft süffisanten Grinsen.

„Dass das Latein ist, weiß ich selbst!“, fauchte Hakuba. Er fühlte sich seltsam in die Enge gedrängt. Kid war kein Detektiv, er war ein ganz gewöhnlicher Verbrecher! Wie kam er dazu, sich dermaßen offensiv in seine Arbeit einzumischen? Ihm war klar, dass er unfair wurde. Aus welchen Grund auch immer - Kid wollte ihm helfen und er konnte es sich nicht leisten, dieses Angebot auszuschlagen. Er rief sich selbst zur Ordnung. Sinnlos herumzustreiten war nicht seine Art und stand ihm auch nicht sonderlich gut.

„Sehr schön“, bestimmte Kid, sichtlich unbeeindruckt von seinem kleinen Ausbruch, und reichte ihm seinen Notizblock und einen Kugelschreiber. „An die Arbeit, Herr Meisterdetektiv.“

Hakuba kam der Aufforderung willig nach, suchte die vier Worte heraus und notierte sich die Übersetzung:
 

amātorculus → kümmerlicher Liebhaber

amātorem → Liebender, Liebhaber, Anbeter
 

capital → todeswürdiges Verbrechen / Kapitalverbrechen

m o rs → Tod
 

„Naja“, kommentierte Kid, der ihm in unangenehm aufdringlicher Art und Weise über die Schulter geschaut hatte. „Amātorem, nicht amātor. Das Wort steht im Akkusativ, folglich sagen uns die ersten beiden Wörter: Wer und Wen. Deshalb sind sie auch räumlich von den anderen getrennt.“

Nur mühsam konnte Hakuba die erneut aufkommende Wut über Kids altkluge Art herunter schlucken und notierte die Änderung, wobei er den Kugelschreiber unnötig fest auf das dünne Papier presste:
 

Der kümmerliche Liebhaber den Liebhaber.
 

„Zufrieden?“, wollte er wissen.

Kid grinste frech und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange, und Hakuba kam nicht umhin sich zu fragen, ob der Kerl nicht einfach nur vorbei geschaut hatte, um zu testen, wie viel er sich ihm gegenüber erlauben konnte.

„Sicher“, erklärte er. „Ich verspreche auch hoch und heilig, mich von jetzt an nicht mehr einzumischen. Mehr weiß ich wirklich nicht und ich vertraue darauf, dass du kalter, fantasieloser Logiker das Rätsel für mich lösen wirst.“

„Erstens“, begann Hakuba, tatsächlich reichlich unterkühlt, „ist der Brief an mich adressiert, allenfalls noch an Kudo und geht dich somit grundsätzlich nichts an, und zweitens wäre es wirklich hilfreich, wenn du versuchen würdest, mich wenigstens fünf Minuten am Stück nicht zu beleidigen.“

„Kann es sein, dass du heute besonders sensibel bist?“, wollte Kid wissen, wurde von Hakuba aber komplett ignoriert. Intuitiv ahnte er, dass es besser war, sich ein wenig zurückzuhalten, wenn er den seltenen Frieden nicht aufs Spiel setzen wollte. Auch wenn es ihm schwer fiel, seinen Lieblingsgegner nicht zu provozieren, er musste sich wohl oder übel in Disziplin üben.

„Nicht nur heute“, bestätigte Hakuba mit Nachdruck, und Kaito Kid beschloss, ausnahmsweise Rücksicht auf die Gefühle dieses Sensibelchens zu nehmen.

In stummer Übereinkunft widmeten sich daraufhin beide wieder der Nachricht des geheimnisvollen Schützen.

„Die bloße Übersetzung kann nicht die ganze Lösung des Rätsels sein“, dozierte Hakuba, der von einer Sekunde auf die Andere zu seiner sachlichen, professionellen Art zurückgefunden hatte.

„Die Anfangsbuchstaben sind unterstrichen, was nur bedeuten kann, dass sie eine besondere Bedeutung haben. Aacm, maac, caam, acam, maca... So wie es aussieht, ergeben sie kein weiteres Wort. Möglich wäre allerdings, dass es sich um gebräuchliche Abkürzungen handelt. Zwischen aa und cm hat der Schütze – oder sollte ich lieber sagen: die Schützin? - eine Leerzeile gesetzt; das dürfen wir nicht außer Acht lassen.“

„Die Schützin?“, hakte Kid neugierig nach, der die betreffende Schlussfolgerung noch nicht gezogen hatte.

„Natürlich“, setzte der Detektiv zu einer ausführlichen Erläuterung an. „Der Text spricht von zwei 'Liebhabern', also können wir davon ausgehen, dass es sich um eine Täterin handelt. Was ich jetzt sage, ist zwar nur blanke Spekulation, aber ich gehe davon aus, dass mit 'amātorculus' ein eifersüchtiger Ehemann gemeint ist, der einen Nebenbuhler getötet hat. Diese Nachricht weist auf einen ganz bestimmten Todesfall hin und es würde mich doch sehr wundern, wenn sich hinter dem so seltsam in Szene gesetzten 'mors' nicht ein Datum verbirgt, das uns direkt zu dem Fall führt, den ich – so wie es aussieht – noch einmal aufrollen soll.“

„Ein Fall, der vorschnell ad acta gelegt worden ist, nehme ich an“, bemerkte Kid, einer plötzlichen Eingebung folgend. Hakuba verstand sofort.

„A.a. Ad acta. Und was unklar ist, ist wohl die Todesursache: causa mortis.“, vervollständigte er.

Kid grinste stillvergnügt vor sich hin. Hakuba konnte denken und sagen, was er wollte: sie waren ein tolles Team. Gegen den Detektiv zu arbeiten war amüsant, aber mit ihm zu arbeiten gefiel Kid beinahe noch ein bisschen besser. Er kam nicht umhin, bereits in diesem Moment zu bedauern, dass ihre Zusammenarbeit eine einmalige, zeitlich eng begrenzte Angelegenheit sein würde.

„Und schon sind wir einen Schritt weiter!“, kommentierte er gut gelaunt. „Verrätst du mir auch das Datum, von dem du gesprochen hast?“

„Sehe ich aus wie ein Computerhirn?“, antwortete Hakuba etwas schnippisch, fühlte sich aber an seinem Ehrgeiz gepackt und notierte ein weiteres Mal das lateinische Alphabet in sein Notizbuch. 13 15 18 19. Diese Zahlenkombination hatte das Wort mors ergeben. Eine einfache Durchnummerierung von Eins bis 26. Das brachte ihn nicht weiter. Also tat er, was Lion's Mane von ihm verlangte und betrachtete alles aus einem anderen Blickwinkel, sprich: er nummerierte das Alphabet von hinten durch, beginnend bei Z. Das Ergebnis stellte immerhin eine vernünftige Arbeitshypothese dar.

„Ich soll einen Todesfall untersuchen, der sich am 14. Dezember 1998 ereignet hat“, teilte der Detektiv seinem neu gewonnenen Assistenten mit. Kid applaudierte frech.

„Ein Computer hätte es nicht besser gekonnt“, lobte er, abermals in einem Tonfall, der auf Anhieb nicht erkennen ließ, ob er es ernst meinte oder nicht. Hakuba nahm die Worte hin, wie sie waren: indifferent, aber weder verletzend, noch provokativ. Selbstverständlich schrieb er auch die Lösung des Rätsels fein säuberlich auf, in der festen Absicht, so bald wie möglich die Archive der größeren Tageszeitungen zu besuchen oder zumindest bei der Polizei um Auskunft zu bitten.

„Untersuche den Todesfall, der sich am 14.12.1998 ereignet hat und der vorschnell ad acta gelegt worden ist. Es handelt sich um ein Kapitalverbrechen, gestorben ist ein Liebhaber. Der Täter ist ein kümmerlicher Liebhaber. Wenn ich den Fall nicht löse, werde ich ebenfalls Opfer eines Verbrechens.“

Hakuba hatte leise und zu sich selbst gesprochen. Dass die Täterin ihre Drohung ernst meinte, hatte sie in der Nacht höchst eindrucksvoll bewiesen und mittlerweile hatte er ein mehr als ungutes Gefühl bei der Sache. Die unbekannte Frau hatte ihm nicht einmal Zeit gelassen zu ermitteln, was durchaus verwirrend war, wenn man bedachte, dass sie zu wollen schien, dass sich ein Detektiv ernsthaft mit dem alten Fall beschäftigte. Welcher Detektiv sich der Sache annahm, schien ihr dabei egal zu sein und dem Wortlaut der Botschaft nach zu schließen, war er nicht der Erste, der sich daran versuchte. Vielleicht hatte vor ihm nur die Polizei ermittelt und Shinichi Kudo hätte dank seinem phantastischen Ruf der erste Sachbearbeiter werden sollen. Aber es war ebenso möglich, dass ähnliche Nachrichten an andere berühmte Detektive gegangen waren und er nicht alleine auf der Abschussliste von Lion's Mane stand. Ja, es bestand sogar die Möglichkeit, dass Lion's Mane schon einen oder mehrere erfolglose Ermittler auf dem Gewissen hatte. Zwar hatte er nichts von einem derartigen Vorfall gehört, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Auf dem weiten Weg nach Großbritannien ging die ein oder andere Nachricht verloren und wenn er sehr beschäftigt war, widmete er den japanischen Nachrichten oft nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten. Auch danach würde er sich erkundigen müssen. In Archiven, im Internet, bei der Polizei oder aber auch bei einer anderen Quelle, die schon bereit stand. Kaito Kid hatte ihm noch immer nicht gesagt, was er ihm hatte sagen wollen und nun schien die Zeit reif, ein wenig nachzuhaken.

Wer, wenn nicht der Meisterdieb, konnte Hakuba sagen, woher die Botschaft von Lion's Mane kam? Irgendwie und irgendwo musste er sie in die Finger bekommen haben und die Tatsache, dass er einen seiner gefährlichsten Gegenspieler nach Japan rief, um ihn zu warnen, sprach dafür, dass er von Anfang an um die Gefahr gewusst hatte, die von der unbekannten Schützin ausging.

Kid hatte eine ganze Weile schweigend darauf gewartet, dass Hakuba wieder aus den Untiefen seiner Gedanken auftauchte. Als der Detektiv schließlich das Wort an ihn richtete, hatte er schon gar nicht mehr damit gerechnet und fuhr erschrocken zusammen.

„Da ich dir nun das Datum genannt habe, halte ich es für mein gutes Recht zu erfahren, wo du einen Brief her hast, der ganz eindeutig an mich adressiert ist. Ich hoffe, das ist kein Geheimnis?“

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„Das ist kein Geheimnis, aber dafür eine etwas seltsame Geschichte“, klärte Kid ihn auf. Überflüssig, befand Hakuba, denn seltsam war ohnehin alles, was sich seit seiner Rückkehr nach Japan ereignet hatte. Allerdings verkniff er sich den Kommentar, um Kid nicht wieder vom Thema abzubringen. Die Sache war zu heiß, um unnütz Zeit zu verschwenden.

„Ich habe den Brief im Nationalmuseum gefunden, als ich – nun ja- meine Vorbereitungen für den großen Tag getroffen habe“, fuhr der Dieb fort. „Ursprünglich hatte ich nicht vor, diese Pferdeskulptur zu stehlen. Du kennst meine Vorgehensweise: ich würde nie historisches Kulturgut entwenden, das sich in den Händen des rechtmäßigen Eigentümers, in diesem Fall in Händen des Staates, befindet.“

„Darf man erfahren, auf was du es abgesehen hattest?“, unterbrach Hakuba nun trotz aller guten Vorsätze, weil sich detektivische Neugier nicht so einfach abschalten ließ, aber Kid winkte ab.

„Das tut nichts zur Sache“, erklärte er etwas schroff und kehrte zum eigentlichen Thema zurück, ohne einer gesonderten Aufforderung zu bedürfen. „Jedenfalls musste ich mich vor Ort umsehen, um zu prüfen, ob und was sich seit meinem letzten Besuch verändert hat. An der Garderobe hing ein auffälliger roter Damenmantel, direkt neben meiner Jacke, den ich versehentlich runtergeworfen habe. Der Brief fiel dabei aus der Tasche. Weil er an dich adressiert war, habe ich ihn an mich genommen und einen Blick auf den Inhalt geworfen. Natürlich kam mir die Nachricht verdächtig vor, und deshalb bin ich bis zum späten Abend dort geblieben, um zu sehen, wer die Dame ist, der dieser Mantel gehört. Aber es kam niemand, um ihn zu holen. Als das Museum zu gemacht hat, musste ich gehen. Zuerst wollte ich dir den Brief schicken und die Angelegenheit vergessen, aber dann war ich doch zu neugierig und hab am folgenden Tag noch einmal das Nationalmuseum besucht. Der Mantel hing noch immer da, wo ich ihn zurückgelassen hatte, und in der Tasche fand ich ein Blatt Papier, auf das jemand folgende Textpassage mit eben denselben Markierungen gedruckt hatte.“

Er griff nach Hakubas Notizbuch und begann in aller Seelenruhe, einen doch recht langen Text aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Hakuba schluckte all die Fragen, die ihm auf der Zunge lagen mühsam herunter und ließ ihn schweigend gewähren, wobei er nicht umhin konnte, insgeheim das geradezu phantastische Erinnerungsvermögen seines ewigen Widersachers zu bewundern, denn Kid kam nicht ein einziges Mal ins Stocken.

Das Ergebnis schlussendlich, las sich wie folgt:
 

Der furchtbare Schrecken hatte auf meinen Gefährten eine geradezu lähmende Wirkung, während meine Sinne, wie sich denken lässt, aufs äußerste angespannt wurden. Und das erwies sich auch als notwendig, denn es sollte sich gleich herausstellen, dass wir einem ganz außergewöhnlichen Fall gegenüberstanden. Der junge Mann trug lediglich seinen Burberry-Mantel, seine Hose und ein paar Segeltuchschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Als er zusammenfiel, rutschte ihm der Mantel, den er nur übergeworfen hatte, von der Schulter und entblößte seinen Oberkörper, den wir bestürzt anstarrten. Der Rücken war mit dunkelroten Striemen bedeckt, als hätte man ihn auf grässliche Weise mit einer Drahtpeitsche gezüchtigt. Offensichtlich war es ein biegsames Folterwerkzeug gewesen. Denn die langen entzündeten Striemen bogen sich um Schultern und Rippen. Blut tropfte ihm vom Kinn herab, weil er sich im Paroxysmus seines Todeskampfes die Unterlippe durchgebissen hatte. Sein schmerzverzerrtes und verkrampftes Gesicht drückte nur zu sprechend aus, wie grauenhaft dieser Tod gewesen war...
 

...“Schließlich hat der arme Mensch sich ja nicht selbst diese gräßlichen Wunden beigebracht. Irgendeines Hand muss schon die Peitsche – oder was es war – geführt haben. Sein Bekanntenkreis in dieser Einöde war sicher beschränkt. Wenn wir ringsum nachforschen, dürften wir sicherlich das Motiv herausfinden und dadurch wiederum auf die Spur der Täter stoßen.“

Es wäre ein ergötzlicher Spaziergang durch die thymianduftenden Downs geworden, hätte die Tragödie, die wir miterleben mussten, nicht unsere Gemüter vergiftet. Das Dorf Fulworth liegt in einer Niederung, die sich im Halbkreis um eine Bucht schmiegt. Hinter dem altertümlichen Weiler waren am Abhang entlang einige moderne Häuser gebaut. Zu einem von diesen führte mich Stackhurst.

„Das ist der 'Hafen', wie Bellamy sein Heim genannt hat. Sehen Sie, das dort mit dem Eckturm und dem Schieferdach. Nicht schlecht für einen Mann, der aus dem Nichts heraus angefangen hat... Himmel, was sagen Sie dazu?“

Das Gartentor am „Hafen“ öffnete sich und heraus trat ein großer, dunkler Mann. Es war kein Irrtum möglich: Diese eckige, abwesende Erscheinung konnte nur die des Mathematikers Murdoch sein. Einen Augenblick später lief er uns auf der Straße in die Arme.
 

The Lion's Mane
 

„Das sind zwei Auszüge aus der Sherlock Holmes Kurzgeschichte 'The Lion's Mane'“, erläuterte Kaito Kid. „Ich habe beide nachgeschlagen und das Papier auf Fingerabdrücke hin untersucht, aber nichts gefunden, das von Interesse gewesen wäre. Lion's Manes Code hingegen war nicht schwer zu entschlüsseln. Wenn man die unterstrichenen Buchstaben in Reihenfolge hintereinander ließt, dann ergibt sich:
 

Der Finder meines roten Mantels möge Holmes und Watson die Nachricht übermitteln.

Drei Tage, dann segeln sie alle über den Stüks. M.m., wohl memento mori.
 

Selbstverständlich muss man Groß- und Kleinschreibung ein bisschen anpassen. Und das Wort 'Stüks' ist eine erbärmlich schlechte Konstruktion. Gemeint ist 'Styx', der Fluss, den die Toten auf ihrem Weg in die Unterwelt überqueren. Der Täter – entschuldige: die Täterin - hatte in ihrem selbst gewählten Text gegen Ende weder ein x, noch ein y zur Verfügung und musste deshalb improvisieren. Hinter dieser geradezu poetischen Formulierung verbirgt sich nichts anderes, als eine Morddrohung, kombiniert mit einem Ultimatum.

Die zweite Botschaft ist nicht geordnet; man muss zunächst die Worte, Silben und Buchstaben in die richtige Reihenfolge bringen. Lange dauert das nicht. Das Ganze liest sich:
 

Furchtbare Schrecken und Tod warten auf den, der diese Warnung nicht beachtet.
 

Ich hoffe, du kannst nachvollziehen, dass ich ein wenig besorgt um dich war und meine Pläne über den Haufen geworfen habe, um dich hierher zu holen. Als du mich gestellt hast, war das Ultimatum gerade abgelaufen und Lion's Mane hat seinen – ihren – Worten mit ein paar Kugeln deutlich Nachdruck verliehen. Vielleicht hätte ich dir einfach den Brief schicken sollen.“ Kid kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. „Aber nachdem ich selbst eine Botschaft von unserer Schützin erhalten habe, dachte ich, dass mich das alles auch etwas angeht. Ich wollte dir nur ein bisschen unter die Arme greifen. Tut mir echt leid, dass ich dich dadurch in Lebensgefahr gebracht habe.“

'Tut mir echt leid, dass ich dich dadurch in Lebensgefahr gebracht habe.'

Hakuba seufzte tief; sehr tief. Sicher, kein Problem, man geriet schließlich ständig irgendwo in Lebensgefahr. Dummerweise konnte er Kid keinen Strick daraus drehen, denn immerhin hatte er ihm auch das Leben gerettet und ihn darüber hinaus soeben wieder ein Stück weitergebracht.

„Jetzt ist mir immerhin klar, wie du so schnell auf ad acta gekommen bist und warum du vor mir wusstest, dass Lion's Mane sich nach einer Holmes-Geschichte benennt“, kommentierte der Detektiv etwas zu trocken. Diese ungeheure Fülle an Information musste er erst einmal verdauen.

Kid grinste verlegen, was sich auf dem künstlichen Frauengesicht nicht wirklich gut machte. „Du hast mich ertappt“, gab er zu. „Ich bin schließlich kein so großartiger Holmes-Experte wie Kudo.“

Hakuba sah ihn böse an.

„Oder du, oder du“, fügte er rasch beschwichtigend hinzu. „Allerdings musst du zugeben, dass es meine grandiose Eigenleistung war, m.m. Als Abkürzung der Phrase 'memento mori' zu identifizieren.“

Das war tatsächlich nicht zu leugnen und so ließ Hakuba sich dazu hinreißen, ihm anerkennend auf die Schulter zu klopfen. Im Nachhinein fand er, dass diese Geste zu kumpelhaft gewirkt hatte, um sie einem Kriminellen angedeihen zu lassen, doch da war es schon zu spät. Er beschloss, vorerst nicht weiter über sein eigenes Fehlverhalten nachzudenken und nahm ihm den Text aus der Hand. Eine Weile betrachtete er die Worte konzentriert. Dann wandte er sich wieder an Kid:

„Es bleiben noch genau zwei Fragen, auf die du mir keine Antwort geliefert hast“, stellte er fest. „Erstens: Lion's Mane spricht davon, dass 'sie alle' über den Styx segeln. Wer sind 'sie alle'? Ich glaube kaum, dass damit nur meine Wenigkeit und Watson, mein treuer Begleiter, gemeint sind. Zweitens: Lion's Mane hat keine Textpassage gewählt, in der die fehlenden Buchstaben x und y vorkommen. Warum? Der Text selbst muss für die Täterin von besonderer Bedeutung sein. Nur: was will sie uns damit sagen?“

Auch jetzt gab Kid ihm darauf keine Antwort. „Wo wir gerade sprechen: Wo ist Watson?“, erkundigte er sich stattdessen. „Du schleppst das Vieh doch sonst immer mit dir herum.“

„Watson ist kein Vieh!“, beschwerte der Detektiv sich sogleich. „Wenn überhaupt, dann ein Tier. Das klingt weniger abwertend.“

„Also gut“, lenkte Kid ein. „Wo ist das liebe Tier? Hat es sich verflogen?“

Wieder stellte sich Hakuba die Frage, ob sein Gegenspieler es mit Gewalt darauf anlegte, ihn wütend zu machen, sah schließlich aber kulant über die unpassende Bemerkung hinweg.

„Watson hat einen angeknacksten Flügel und muss zu Hause bleiben, um sich zu schonen“, gab er kurz angebunden Auskunft.

Kid nickte verstehend. „Wie der Herr sos Gescherr“, witzelte er. „Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass du deinen kaputten Arm schonen wirst...“

„Du kannst jetzt aufhören, mich zu bemuttern“, bestimmte Hakuba kalt. Warum wusste dieser Kerl denn nicht, wann es genug war? Er sollte es zumindest zu schätzen wissen, dass er in seiner Eigenschaft als Detektiv keinerlei Anstalten machte, ihn verhaften zu lassen, und das auch nur, weil seine Unterstützung in diesem Fall so gut wie unentbehrlich war. Kid wusste schlicht und einfach zu viel, als dass er auf ihn hätte verzichten können.

Apropos Fall...

Mit Schrecken stellte Hakuba fest, dass er sich einmal mehr hatte ablenken lassen. Sicher lag Watson ihm am Herzen, aber im Augenblick erschien es ihm grob fahrlässig, mit dem Meisterdieb über seinen treuen Begleiter zu plaudern, anstatt nach Spuren zu suchen, die ihn zu Lion's Mane führen würden.

Die unbekannte Frau trachtete ihm nach dem Leben. Und das Ultimatum, das sie gesetzt hatte, war abgelaufen. Wer konnte sagen, ob sie Hakuba nun überhaupt noch die Chance geben wollte, Ermittlungen in ihrem Fall anzustellen? Wahrscheinlicher war, dass Lion's Mane vorhatte, an ihm ein Exempel zu statuieren, damit ein anderer berühmter Detektiv ihrem Anliegen die Aufmerksamkeit widmete, die sie verlangte.

So wie es aussah, war er der Erste, der eine Nachricht von Lion's Mane erhalten hatte. Die Formulierung 'sie alle' bezog sich möglicherweise auf ihn und seine Nachfolger. Und wenn Kid sich weiter in seiner unmittelbaren Nähe aufhielt, geriet er vermutlich selbst in Lebensgefahr.

Nicht, dass er sich Sorgen um ihn gemacht hätte, doch wegschicken musste er ihn so oder so. Kids Anwesenheit lenkte ihn ab und Ablenkungen konnten in einem Fall wie diesem tödlich sein.

„Hör mal, Kaito“, begann er, versuchte, streng zu klingen. „Danke für deine Hilfe, aber ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Du hast die Krankenschwester gehört: du sollst nicht zu lange bleiben.“

Kid sah ihn ziemlich entgeistert an. „Was bitte?“, fragte er ungläubig. „Heißt das, du schmeißt mich raus?“

Hakuba seufzte abermals. Wer war denn hier nun das Sensibelchen? „Nein. Nein, das ist es nicht“, versuchte er, ihn zu beruhigen. „Das ist alles unglaublich viel Information. Ich brauche ein bisschen Ruhe, um nachzudenken und ein paar Nachforschungen anzustellen.“

„Aha. Und dabei störe ich dich?“

„Genau so ist es“, bestätigte der Detektiv reichlich taktlos. „Du störst.“

„Das wirst du noch bereuen!“

Mehr hatte Kid dazu nicht mehr zu sagen. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte er aus dem Zimmer, ohne sich auch nur zu verabschieden. Konsequent verzichtete auch Hakuba auf diese höfliche Förmlichkeit. Allerdings wusste er, kaum, dass die Türe hinter ihm ins Schloss gefallen war, dass er keine Ruhe finden würde, bevor er sich nicht wenigstens im Klaren darüber war, ob Kaito Kid schon immer so zickig gewesen war oder ob seine Verkleidung auf irgendeine mysteriöse Art und Weise auf seinen Charakter abgefärbt hatte. Dieser Abgang war durchaus bemerkenswert gewesen.

Verwirrt ließ er sich auf sein Bett sinken und wühlte planlos in seinen Notizen herum, ohne so recht wahrzunehmen, was er tat. Er bemerkte kaum, dass die Türe noch einmal aufschwang und die Krankenschwester auf leisen Sohlen hereinkam.

„Ihre reizende Freundin ist gegangen?“, erkundigte sie sich höflich und der Klang ihrer Stimme ließ Hakuba überrascht zusammenfahren.

Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, dann nickte er schwach, obwohl er nach wie vor nicht der Meinung war, dass Kid in dieser monströsen Verkleidung eine reizende Freundin abgab.

„Ich bin sicher, sie wird Sie Morgen abholen“, fuhr die Krankenschwester freundlich lächelnd fort. „Vorerst sollten Sie versuchen, sich auszuruhen. Das wird ihrem Handgelenk gut tun. Ich habe Ihnen eine Schmerztablette gebracht. Es ist dieselbe Sorte wie gestern Abend. Die haben Sie gut vertragen, nicht wahr?“

Hakuba nickte wieder und nahm die unappetitlich gelbe Tablette entgegen. Er war nur froh, dass er nicht allzu lange hier bleiben musste...

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Als die Schwester ihn wieder verlassen hatte, legte Hakuba die Tablette zunächst beiseite, denn er hatte keine Schmerzen und war der Meinung, dass es besseres zu tun gab, als sich um seine Gesundheit zu kümmern.

Zuallererst musste er die Fakten ordnen, die er bereits in Händen hielt. Da waren zum einen die mysteriösen Umstände, unter denen Kaito Kid den Brief in die Hände bekommen hatte und die möglicherweise darauf schließen ließen, dass er nicht nur Recht mit seinem Verdacht hatte, dass es sich bei dem unbekannten Täter um eine Frau handelte, sondern auch darauf, dass diese Frau in irgendeiner Form in Bezug zum Nationalmuseum Tokyo stand. Selbst, wenn sie nur eine Ausstellung besucht hatte, musste sie auf den Bändern der Überwachungskameras zu sehen sein und das bot einen ersten Anhaltspunkt.

Ferner musste er herausfinden, was am 14. Dezember 1998 geschehen war und Einsicht in eventuell vorhandene Akten nehmen. Möglicherweise fand sich ein Bild der unbekannten Frau unter den Daten der damals vernommenen Zeugen.

Wenn er sich alles angesehen und ausgewertet hatte, würde er mehr wissen. Gut, dass man ein Telefon zur freien Verfügung auf dem Zimmer hatte, wenn man privatversichert war.
 

Kaum zwei Stunden später erschien ein Polizist im Krankenhaus, der ihm das Band der Überwachungskamera und eine dünne Mappe aus hellem Karton vorbei brachte.

Er hatte sein Anliegen nicht einmal detailliert darlegen und seine Forderung nach Akteneinsicht nicht großartig begründen müssen und das war zweierlei Umständen zu verdanken: Zum einen seinen guten Kontakten zu ranghohen Mitarbeitern der Kriminalpolizei und zum anderen der Tatsache, dass man dem alten Fall, den er zu untersuchen gedachte, bisher kaum Relevanz beigemessen hatte. Hätten sich die Ermittler schon einmal eingehend damit beschäftigt, hätte er es nicht nur mit einem kaum überschaubaren Stapel von Heftern und losen Blättern voller Berichte und Informationen zu tun bekommen, es wäre auch wesentlich schwieriger gewesen, Zugang dazu zu erhalten.

Natürlich stieg damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich jemand etwas übersehen hatte – in diesem Fall wohl, dass sich hinter einem vermeintlichen Unfalltod ein heimtückischer Mord verbarg.

Ehrlich neugierig auf das, was ihn erwartete, schlug er die Mappe auf.

Ein alter, vergilbter Zeitungsartikel fiel ihm entgegen. Oben rechts hatte jemand das Erscheinungsdatum auf die Seite gekritzelt: der 15. Dezember 1998; genau ein Tag nach dem Zeitpunkt, den Lion's Mane angegeben hatte.

Das war gut, denn zeitnahe Berichte enthielten oft wertvolle Informationen, die weder dem Reporter, noch den Lesern, noch der Polizei als solche ins Auge gesprungen waren.

Der Artikel las sich wie folgt:
 

Tragischer Unfall – Mann verfängt sich in Fischernetz und ertrinkt
 

Tōkyō. Gestern zur Mittagszeit wurden Besucher der Beika-Seetierschau Zeugen eines grausigen Schauspiels: Beim Säubern der Requisiten verfing sich ein 31-Jähriger in einem Fischernetz, glitt auf dem nassen Boden aus und stürzte in das derzeit leere Haifischbecken.

Alle Versuche, ihn aus dem Wasser zu ziehen und ihn aus dem Netz zu befreien, schlugen fehl. Der Mann konnte nur noch tot geborgen werden.

Man werde den Fall untersuchen, erklärte Inspektor Megure von der Mordkommission, aber man gehe davon aus, dass es sich um einen Unglücksfall handle. Am Tatort deute nichts auf Fremdeinwirkung von außen hin und nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen war das Opfer bei all seinen Bekannten äußerst beliebt. Niemand habe ein Motiv für die Tat gehabt.

Dennoch nehmen viele Bürger Anteil am Schicksal des jungen Mannes und legen Blumen an der Unglücksstelle nieder. Da das Opfer keine lebenden Familienangehörigen hatte, hat sich der Veranstalter der Beika-Seetierschau in einer großzügigen Geste bereit erklärt, für eine angemessene Beerdigung zu sorgen. Die Trauerfeier findet am kommenden Montag statt.
 

Hakuba legte den Artikel beiseite und griff nach seinem Notizblock. Viel hatte er durch die Lektüre nicht erfahren, aber das Wenige genügte, um sich ein erstes Bild von dem Sachverhalt zu machen, um den er sich unter Einsatz seines Lebens zu kümmern hatte.

Was er sich notierte, waren vier neue Fragen, die der kurze Bericht aufgeworfen hatte und auf die er möglicherweise eine Antwort erhalten würde, wenn er den Rest der Akte durchsah:

Warum hatte die Polizei überhaupt erwägt, zu ermitteln?

Wofür hatte man in einer Seetierschau ein Fischernetz gebraucht?

Wieso hatte der Veranstalter der Beika-Seetierschau die Beerdigungskosten übernommen, obwohl der Verunglückte augenscheinlich eine Menge Freunde hatte?

Und wer hatte vergeblich versucht, ihn zu retten?

Er malte unnötig sorgfältig ein großes Fragezeichen auf die Seite, bevor er das nächste Blatt aus der Mappe nahm.

Es enthielt Angaben zur Person des Toten.

Shuichiro Takahashi, geboren am 14. Dezember 1967, gestorben am 14. Dezember 1998, zuletzt wohnhaft in Tōkyō, Bezirk Beika, Meeresbiologe, bereitete sich auf eine Promotion über das Korallensterben an der Universität Tōkyō vor. Nebenbei jobbte er als Tierpfleger und Mädchen für alles bei der Beika-Seetierschau, gemeinsam mit drei seiner ehemaligen Kommilitonen. Er war ledig, hatte keine Geschwister und seine Eltern waren Jahre zuvor verstorben. Nach Aussagen einiger engerer Freunde, soll er eine Freundin gehabt haben. Wie sie hieß und wo sie wohnte, war allerdings nicht bekannt. Unter seinen persönlichen Sachen fand sich eine Nachricht, die höchstwahrscheinlich an diese Frau gerichtet war, aber nicht entschlüsselt werden konnte. Nähere Nachforschungen sind unterblieben, da sich keine Indizien für ein Verbrechen gefunden haben.

Eine Kopie der Nachricht, die Takahashis Freundin nie erreicht hatte, war mit einer Büroklammer angeheftet und schon ein oberflächlicher Blick darauf verriet, dass die Rätsel vorerst kein Ende nahmen:
 

Er trug stolz das Stachelschwein im Wappen, weil es so exotisch war wie die Südfrucht, die die schönste Frau zwischen Anfang und Schluss benennt. Zwischen Liebe und Schmerz findest du die Antwort in seinem Namen und die Zeit in der Nacht, die ich voll Sehnsucht erwarte.

Bonne nuit, mon amour, bonne nuit.
 

Die Akte war überaus aufschlussreich, befand Hakuba. Er verstand, warum die Polizei zuerst an einem Unfall gezweifelt hatte, denn dass jemand exakt am Tag seines Geburtstages verstarb war so selten, dass es unter den Umständen des Falles verdächtig wirken musste.

Hinzu kam die verschlüsselte Nachricht an seine Freundin.

Niemand verfasste ein Rätsel, um sich zu einem Date zu verabreden. Das war nur dann notwendig, wenn es jemanden gab, der davon auf keinen Fall etwas erfahren durfte.

Die Heimlichtuerei ließ vermuten, dass Takahashis große Liebe bereits verheiratet gewesen war und diese Hypothese passte perfekt ins Bild, denn auch die Nachricht von Lion's Mane sprach von einem Liebhaber, der von einem kümmerlichen Liebhaber ermordet worden war.

Höchstwahrscheinlich war diese Frau identisch mit Lion's Mane.

Hakuba wusste, er musste sie finden, wenn er Gewissheit haben wollte und einen ersten Anhaltspunkt bot Takahashis Nachricht.

Die schönste Frau, die eine Südfrucht zwischen Anfang und Schluss benannte, musste unweigerlich sie sein. Wenn Hakuba das Rätsel löste, hatte er also ihren Namen; und wenn es nur ein Kosename sein sollte, war das immer noch besser als nichts.

Sekundenlang betrachtete er die Zeilen konzentriert. Er kannte diese Art der Formulierung aus der Tageszeitung. Die Macher der „um die Ecke gedacht“- Rätsel hatten den Trick schon so oft angewandt, dass es für viele Zeitungsleser ein Kinderspiel sein musste, die Lösung zu finden.

Anfang und Schluss, Liebe und Schmerz – hinter diesen Worten verbargen sich die Anfangsbuchstaben der gesuchten Begriffe. A und S, L und S.

Auf Anhieb konnte Hakuba nicht sagen, welcher Herrscher sich ein Stachelschwein aufs Wappen gemalt hatte. Mit Sicherheit konnte er nur sagen, dass es ein französischer König gewesen sein musste.

Französisch, weil Takahashi die Nachricht auf dieser Sprache beendet hatte, ohne einen anderen ersichtlichen Grund dafür gehabt zu haben und weil Lion's Mane denselben Kniff angewandt hatte. König, weil er eine Zahl hinter dem Namen stehen haben musste und weil kein Mann von seiner Geliebten erwarten würde, Recherchen über den gesamten Kleinadel Frankreichs anzustellen.

Allerdings hatte Hakuba nicht vor, sich lange an der Suche nach dem Stachelschwein-König aufzuhalten, denn ob er nun wusste, wann sich die beiden hatten treffen wollen oder nicht, war für seinen Fall zur Stunde nicht von Bedeutung.

Ihn interessierte eher die Südfrucht mit einem Frauennamen zwischen A und S.

Im Geiste ging er durch, was ihm an Obst nur einfiel und es dauerte nicht lange, da wurde er bei der Ananas fündig. Das Wort begann mit einem A und endete mit einem S und in der Mitte fand sich „Nana“. Er vermutete, dass die Unbekannte den Vornamen Nanako trug und sich gerne mit Nana hatte abkürzen lassen.

Und schon war er einen Schritt weiter.

Kaum zu glauben, wie leicht die Arbeit von der Hand ging, nun da Kaito nicht mehr hier war und ihn ablenkte.

Hakuba missfiel die Vorstellung, sich von ihm helfen zu lassen von Sekunde zu Sekunde mehr. Er hatte Kid bereits viel zu viel zu verdanken und ahnte, dass er es kaum mehr mit seinem Gewissen würde vereinbaren können, ihn nach all dem noch zu verhaften.

Ebenso wenig, wie er es mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, ihn nicht zu verhaften.

Er hasste es, wenn Arbeit und Privatleben ineinander flossen.

Welchen Platz nahm Kaito Kid denn nun in seinem Leben ein?

Und welchen sollte er einnehmen?

War er Kaito Kuroba, ein Klassenkamerad und Freund oder war er Kaito Kid, ein Dieb, dem das Handwerk gelegt werden musste? Oder war er eine ambivalente Figur, deren Rolle sich nicht genau bestimmen ließ?

Er hatte ihn nach Japan gelockt, er hatte ihm Lion's Manes Nachricht gegeben, hatte ihm das Leben gerettet und ihm weitergeholfen, obwohl er damit hatte rechnen müssen, dass Hakuba versuchen würde, ihn festzunehmen. Er hatte sogar diese verrückte Show abgezogen, um ihn besuchen zu können ohne Verdacht zu erregen.

Und trotzdem glaubte Hakuba, dass es nur vernünftig gewesen war, ihn rauszuwerfen. Wie man es auch drehte und wendete – sie standen auf verschiedenen Seiten des Gesetzes. Sie gehörten nicht zusammen.

Er musste an das denken, was Kid ihm über die Auffindesituation von Lion's Manes Brief gesagt hatte. Ein roter Mantel war ein ungewöhnlich auffälliges Kleidungsstück für eine Frau, die vorhatte einen Mord zu begehen. Ob diese Wahl ein weiterer Hinweis für ihn hatte sein sollen?

Möglicherweise war die Farbe aber auch einfach nur modern.

Nicht nur Kid hatte sich in seiner Verkleidung ganz in Rot präsentiert – Hakuba erinnerte sich daran, in der letzten Zeit außergewöhnlich viel rote Kleidung an Frauen aller Altersklassen gesehen zu haben.

Als er nach seinem letzten Japanaufenthalt nach Großbritannien zurückgeflogen war, hatte er am Flughafen Narita seinen Rucksack mit dem einer alleinreisenden Dame verwechselt. Nicht, dass er sie gesehen hätte, nein. Aber als er später rote Damenunterwäsche zum Wechseln in seinem Handgepäck vorgefunden hatte, hatte er so viel zwangsläufig begriffen.

Im Nachhinein hatte er sich auch nicht mehr über das vielsagende Grinsen des Sicherheitsbeamten beim Check-in gewundert.

Aus all diesen Beobachtungen schloss er, dass Rot zur Zeit tatsächlich groß in Mode war und dass er der Farbe des fraglichen Mantels besser nicht zu viel Bedeutung beimessen sollte, um nicht voreingenommen von einer ungeprüften Hypothese zu sein.

Und völlig unvermittelt kam ihm der alberne Gedanke in den Sinn, Kid könnte vielleicht einen Blick in die Vogue werfen, bevor er eine Verkleidung wählte.

Allein die Vorstellung war unerwartet amüsant.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Kids Nachricht ist zwar nicht besonders toll geworden, aber alle sind herzlich dazu eingeladen, daran herumzurätseln. Ich verspreche, sie ist lösbar, wenn auch nicht ganz einfach.
Allerdings hat ein Teil davon etwas mit Kanji zu tun... Und wenn mir dabei ein Fehler unterlaufen ist, bitte ich um Hinweis.
Shinichi wird nach dem Prolog übrigens überhaupt nicht mehr auftauchen - nicht, dass jemand vergeblich darauf hofft - und sämtliche Nebenrollen werden mit OCs besetzt.

LG, cork-tip Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Irene2399
2014-01-24T21:42:32+00:00 24.01.2014 22:42
Tse tse, mal wieder typisch Hakuba, dass der sich keinen Deut um seine Gesundheit schert o^o
Nja, aber wie schon gesagt, erst die Arbeit, dann das Vergnügen :D (ein gesunder Körper wird eh vollkommen überbewertet ;P)
Und dann werden noch ein paar Geheimnisse unserer Beiden aufgedeckt? *o*
Wer hätte gedacht, dass Hakuba mit Damenunterwäsche im Gepäck (*hust*verwechselt*hust*) reist? XD
Freu mich schon aufs nächste Kapi ;)
Von:  Irene2399
2013-12-14T23:11:20+00:00 15.12.2013 00:11
Haha, die Vorstellung wie Kaito aus dem Zimmer stolziert ist genial xD
Tja, wie heisst es so schön? Kleider machen Leute ;)
Und Hakuba hat natuerlich Recht, Kaito wuerde ohne Verkleidung eine viel reizendere Freundin abgeben *-* ;P
Antwort von:  cork-tip
15.12.2013 18:55
Guten Abend!

Danke für deine zwei netten Kommentare. Freut mich, dass dir die Story gefällt.
Zu dem Teil mit der "Freundin" kommen wir dann später. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

LG, cork-tip
Von:  Irene2399
2013-11-16T16:06:15+00:00 16.11.2013 17:06
Ich liebe es *-*
Die Idee ist einfach nur genial, genauso wie dein Schreibstil :)
Und zwischendurch waere ich fast vor Lachen gestorben xD
weiter so! :)


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