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Wenn der Frühling aller Dinge Anfang ist, so ist der Winter das End

sie kommen und gehen
von

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Wenn der Frühling aller Dinge Anfang ist, so ist der Winter das Ende

„Mama, Mama!“, kreischte es von unten herauf.

Sie rollte nur mit den Augen. Genervt schaute sie wieder auf das Buch vor ihr, konnte aber die Stelle nicht finden, an der sie Stecken geblieben war. Genervt schnaubte sie. Das passierte ihr andauernd.

Sie las gerne. Ein richtig schönes, dickes Buch, ihr Walkman und ein paar Kopfhörer waren alles, was sie zu ihrem Vergnügen brauchte. Oder jedenfalls alles, was sie sich zum Vergnügen leisten konnte.

Begann sie erst einmal zu Lesen, konnte sie nicht mehr aufhören. Es war, als würden die Texte sie mitten ins Geschehen hineinsaugen. Wenn sie las, dann war sie nicht einfach mehr sie selbst. Wenn sie las, dann war sie Mitspieler. Sie befand sich in der Geschichte, beobachtete alles hautnah, sah die Charaktere vor sich, die Schauplätze, sie vergass sogar gänzlich, dass sie überhaupt noch las. In ihrem Kopf spielte sich nicht einfach nur ein Film ab, nein, die Abenteuer fanden direkt vor ihr statt.

Sie weinte innerlich, wenn etwas Schreckliches passierte, sie musste bei sarkastischen Bemerkungen grinsen und ein leichter rötlicher Schimmer durchzog ihre Wangen, wenn etwas peinliches passierte.

„Mama! Maaaa… Maaaaa!“

„MAMA IST NICHT DA!“, brüllte sie und schnaubte voller Zorn. Wütend klappte sie das Buch zusammen, riss sich die Stöpsel aus den Ohren und rauschte aus ihrem Zimmer, die Treppe hinunter.

Da, mitten in der Stube, stand ihre kleine Schwester, noch in Wintermantel, Mütze und Schal gehüllt.

„Was ist denn?“, fragte die ältere Schwester, als sie die letzte Stufe erreichte.

„Das glaubst du, glaubst du nicht!“

Plötzlich fiel der Blick der älteren Schwester auf die Füsse der Kleineren, dann auf den Boden, der mit dreckigem und halb geschmolzenem Schnee übersäht war.

„Hab ich dir nicht tausend mal gesagt, du sollt die Schuhe ausziehen, bevor du reinkommst?!“, brüllte die ältere Schwester, nur um dann festzustellen, dass sie die Kleinere beinahe zum weinen gebracht hatte. Seufzend schüttelte sie den Kopf, kniete sich vor die Schwester und umarmte sie.

„Tut mir Leid, Mel. Nächstes Mal denkst du einfach dran, okay?“

Einen Moment lang starrten sich die beiden Mädchen in die Augen, bevor die Ältere fortfuhr: „Und, was ist denn passiert?“

Der ängstliche Blick der kleinen Schwester, Mel, entspannte sich wieder, und die grossen Augen begannen vor Aufregung zu leuchten, als sie ohne Punkt und Komma zu erzählen begann: „Ich war draussen, Spielen im Schnee, mit Robin und den Anderen, als wir Lewis und seine Freunde kamen, und uns verhauen wollten, plötzlich flog ihm ein Schneeball ins Gesicht und auf einmal waren alle nett und wir machten eine Schneeballschlacht, als plötzlich eine Riesenlawine vom Dach stürzte, direkt auf mich, aber Ja-“

„Was?! Hast du dir wehgetan? Ist etwas passiert? Ist den an-“ Die ältere Schwester ergriff sofort die Kleinere, wendete deren Kopf und Arme in ihren Händen, um zu sehen ob sie sich etwas getan hatte. Doch abgesehen von den Fingern und der Nasenspitze, die aufgrund der Kälte leicht gerötet waren, schien alles in Ordnung zu sein.

„Jetzt lass mich doch ausreden“, stürmte Mel unter den Händen der Schwester hervor, „es ist nichts passiert, Jack Frost hat mich gerettet!“

Die Schwester hob kritisch eine Augenbraue. „Jack Frost? Väterchen Frost? Der alte Mann mit weissem Bart und so?“

„Nein, erzähl nicht so einen Scheiss!“

Doch Mel wurde schnell ein Finger auf den Mund gepresst. „Keine solchen Wörter, verstanden?“

„Aber Papa…“

„Such dir ihn gar nicht als Vorbild aus! Keine bösen Wörter hab ich gesagt!“

Beleidigt zog die kleine Mel eine Schnute, bevor sie mit ihrer Erzählung weiterfuhr: „Es war kein alter Mann, sondern ein ganz Junger! Und er hat mit uns weiter gespielt!“

„Hm. Dann sollte ich mich wohl bei ihm bedanken gehen.“

Doch die kleine Schwester, immer noch mit Wintermantel bekleidet, hielt die Ältere auf, noch bevor sie die Schuhe aus dem Holzschrank neben der Tür erreichte, die im Übrigen noch offenstand, und eine eiserne Kälte hereinliess. Sie konnte gerade noch einen Blick hinaus werfen, auf die Wiese neben dem Nachbarhaus, bevor Mel sie erreichte. Sie glaubte noch, eine blaue, etwas grössere Gestalt unter den Kindern ausmachen zu können, bevor sie sich der Kleinen zuwenden musste.

Grosse, grünlichbraune Augen starrten zu ihr hinauf, beinahe traurig.

„Was ist denn?“, fragte die grosse Schwester, bevor sie sich hinunter beugte.

„Du kannst ihn nicht sehen.“

„So, ich verstehe.“

„Nein, du verstehst nicht“, murrte Mel beleidigt, „er ist nicht einfach so ein imaginärer Freund. Du weißt, dass ich nicht mehr an so Sachen glaube, ich bin immerhin schon gross!“

Der Älteren huschte ein Lächeln über das Gesicht.

„Na dann, erzähl mal. Was ist denn so besonders?“

Das kleine Mädchen grinste spitz. „Nur Kinder können ihn sehen!“

„Kinder? Und wie haben die es verdient?“

„Weil wir daran glauben! Dass hat er jedenfalls gesagt, er sagte, wir sollen fest daran glauben!“

Das ältere Mädchen lachte. Die Fantasie ihrer kleinen Schwester faszinierte sie. Noch so unschuldig und rein, noch nicht zerstört oder verdorben.

„Ich geh dann mal wieder, die Schlacht ist noch nicht vorbei!“ Und die kleine Mel raste hinaus in den Schnee und rollte schon den ersten Schneeball.

„Viel Spass. Und ich wird dann mal deine Sauerei aufwischen.“ Kopfschüttelnd über das Energiebündel schloss das ältere Mädchen die Tür und machte sich an die Arbeit. Ihr Buch musste wohl noch etwas warten.
 

Schreie. Klirren von zerberstendem Glas.

Es war dunkel im Zimmer. Sie blickte aus dem Fenster und betrachtete den sternenklaren Nachthimmel. Kühl zog die Nachtluft um ihre Ohren und Zehen, doch es war ihr egal. Sie hatte es längst aufgegeben, diese Geräusche von Unten mit Musik zu überdecken. Sie bekam auch keine Albträume mehr, denn sie hatte sich daran gewohnt.

Zum Glück war ihre kleine Schwester nicht Zuhause. Wie an den meisten Wochenenden hatte sie es geschafft, Mel bei einer Freundin unterzubringen. Sie wollte nicht, dass die Kleine alles mitbekam. Sie wollte nicht, dass sie dasselbe durchmachen musste wie sie.

Das Mädchen im jugendlichen Alter kuschelte sich tiefer in die Decke, als es begann zu schneien. Sie sah, wie die Flocken sich langsam auf dem Fensterbrett sammelten und eine nasse Pfütze auf den Dielen unter dem offenen Fenster hinterliessen, doch sie bewegte sich nicht. Sie schloss die Augen und versuchte sich voll und ganz auf das Rauschen des Windes zu konzentrieren und die schmerz- und hasserfüllten Schreie zu ignorieren.
 

Es war ruhig. Einzig das Surren des Toasters und das Klappern von Besteck war zu vernehmen.

„Mama, was ist mit deinem Auge passiert?“, fragte Mel nun endlich, die die Mutter schon länger scheu anschaute.

Die Mutter, welche den Kindern gerade den Rücken zugewandt hatte, und ein Pausenbrot schmierte, zuckte zusammen. Sie verharrte kurz regungslos, bevor sie nur schwach antwortete: „Nichts Schlimmes, Schätzchen. Mir ist bloss das Bügeleisen vom Schrank gefallen.“

„Aber das Bügeleisen liegt doch in der Schublade.“

Die Mutter wandte sich den beiden Kindern am Küchentisch zu und lächelte so unbeschwert wie nur möglich. Egal wie sehr sie es auch versuchte zu verdecken, die Blutergüsse rund ihr rechtes Auge waren nicht zu übersehen.

„Ich hab’s gestern wohl falsch untergebracht, und wollte es and den richtigen Ort legen.“

„Ab-“

Doch bevor die Kleine ein Weiteres Wort des Protestes loswerden konnte, ergriff die ältere Schwester sie an der Hand und zog sie mit sich.

„Trödel nicht so rum! Du willst doch nicht am zweitletzten Tag vor den Ferien zu spät in die Schule kommen, nicht? Hoch mit dir, Zähneputzen! Wir können auf dem Weg auch deine Freundin abholen. Los jetzt!“ Und sie schickte die Kleine die Treppe hinauf. Dann wandte sie sich der Mutter zu. Diese hatte sich auf den freien Stuhl am Esstisch gesetzt und vergrub ihr Gesicht unter den Händen.

„Danke…“

Die ältere Schwester nickte nur um zu zeigen, dass sie den Dank zu schätzen wusste, und machte sich dann selbst auf nach oben.
 

Draussen war es herrlich. Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel, jedoch nicht genug stark, um den Schnee schmelzen zu lassen, der im gleissenden Licht wunderschön glitzerte. Durch den Anblick das Ereignis des Morgens vergessend, liefen die beiden Schwestern Hand in Hand die Strasse entlang. Mel erzählte von ihren Abenteuern, die sie teilweise erfunden hatte, aber auch teils der Wahrheit ersprachen, während die ältere Schwester aufmerksam zuhörte und nur ein paar Bemerkungen machte, um das kleine Mädchen zu necken.

Wie versprochen klingelten sie bei Mels Freundin, doch die hatte das Haus schon ein paar Minuten zuvor verlassen. So machten sich die Zwei auf den Weg, um die kleine Schwester zur Schule zu bringen.

Schon bald trafen sie jedoch ein paar von Mels Klassenkameraden, die während dem Laufen versuchten, kleine Skulpturen aus Schnee zu formen.

Die grosse Schwester beobachtete das kleine Mädchen noch eine Weile, als es zu den Anderen lief und schaute ihnen beim Spielen mit dem Schnee zu. Die grösstenteils etwas schiefen Figuren heiterten ihr Gemüt auf. Besonders eine Figur tat es ihr aber besonders an, nicht weil sie schief war, nein, ganz im Gegenteil. Sie war im Gegensatz zu den anderen schön geformt, fast zu schön um von Menschenhand gemacht zu sein. Es war ein niedlicher kleiner Katzenkopf. Irritiert fiel ihr nun auch auf, dass der Kopf mit blossen Händen geformt wurde. Die Kinder trugen sonst alle Handschuhe.

Erst jetzt bemerkte die Jugendliche, dass die kleine Schneeskulptur nicht von einem Kind, sondern von einem Jungen, ungefähr in ihrem Alter, geformt wurde.

Sie sah und hörte gleichzeitig, wie ihre kleine Schwester auf den Jungen zuging und sich für etwas bedankte, bevor sie mit den Anderen in Richtung Schule weiter zog.

Die ältere Schwester beobachtete den Jungen einen Moment, der den Kindern zufrieden hinterher blickte. Er hielt in der einen Hand die Schneeskulptur, in der anderen einen seltsam geformten Holzstab. Er trug bloss einen blauen, weiss gemusterten Pullover, dessen Musterung sie irgendwie an frostige Scheiben erinnerten, braune Hosen, deren Enden ganz zerschlissen waren, und er hatte… Sah sie das richtig? Nackte Füsse?

Etwas verstört ging sie auf den Jungen zu und sprach ihn an: „Hey.“

Doch der Junge rührte sich nicht.

„Entschuldigung? Hallo?“

Erst jetzt drehte sich der Junge zu ihr um und blickte ihr erstaunt direkt in die Augen. Die Schwester vergewisserte sich kurz, dass dies der Junge sein musste, von dem ihre Schwester letzte Woche geredet hatte, und fuhr dann fort: „Bist du vielleicht der Junge, der die Kinder letzten Freitag vor der kleinen Schneelawine gerettet hat?“

Doch der Junge antwortete ihr nicht. Seine Augen weiteten sich nur bei jedem Wort und auch sein Mund öffnete sich leicht in Staunen.

„Eh… Alles in Ordnung?“

Der Junge schluckte bloss und gab zur Antwort bloss die seltsam überflüssige Gegenfrage: „Du… Kannst mich sehen?“

Die ältere Schwester hob fragend beide Brauen. „Klar, wieso? Sollte ich nicht?“

„Hah, das“, der Junge fuhr sich vor Überwältigung durch die schneeweissen, leicht silbern schimmernden Haare, „das ist ja unglaublich!“

„Unglaublich? Also das einzige unglaubliche hier, ist deine Art, dich im Winter zu kleiden“, antwortete das Mädchen ihm gegenüber schnippisch. Sie fragte sich, an was für einen komischen Kauz sie da geraden war.

„Jedenfalls… Ich wollte mich nur dafür bedanken, dass du meine kleine Schwester gerettet hast. Ist heute nicht mehr selbstverständlich.“

Der Junge blickte sie immer noch aus grossen Augen an, hatte aber nun definitiv wieder die Sprache gefunden: „Kein Thema. Du kannst mich wirklich sehen und hören und so? Mein Name ist übrigens Jack Frost.“

„Ja, ich kann dich sehen, hören und so. Allerdings sollte ich nun wirklich los, habe auch Verpflichtungen und so. Vielen Dank nochmals, war nett dich kennenzulernen!“ Sie wollte den Jungen so schnell wie möglich loswerden. Er war irgendwie… Mysteriös.

Doch der Junge lies sich nicht so einfach abwimmeln. Sofort ging er ihr hinterher, als sie die Strasse überquerte.

„Hey, warte!“

Die ältere Schwester warf kurz einen Blick zu ihm zurück, hielt aber nicht an. Der Junge mit dem eher gewöhnungsbedürftigen Namen Jack Frost holte sie binnen Sekunden ein.

„Was?“

„Eh“, Jack kratzte sich nervös am bleichen Kinn und versuchte anscheinend ein Thema anzuschneiden, „wie heisst du?“

Das Mädchen grinste. Das war wohl einer der billigsten Kennenlernsprüche, die sie kannte. Trotzdem hatte der mysteriöse Junge etwas an sich, was ihr sympathisch vorkam. Doch sie antwortete nicht.

„Na gut, dann such ich mir eben einen Namen aus.“

„Du suchst dir einen Namen für mich aus? Such dir lieber zuerst Schuhe für dich aus, ich frier allein schon beim Anblick deiner Füsse.“ Irgendwie kam sie nicht über seine der Jahreszeit nicht sehr entsprechenden Füsse hinweg.

Jacks Grinsen wurde breiter. Er verschränkte die Hände auf seinem Hinterkopf, ohne den Stab aus der Hand zu lassen und lief fröhlich weiter. Er bewegte sich allgemein sehr frisch fröhlich und kindlich, wie dem Mädchen mit der Zeit auffiel. Es war ihr ein Wunder, dass die anderen Leute auf der Strasse nicht seltsam zu ihnen hinüber blickten.

„Fay!“

„Was?“ Aus den Gedanken gerissen, schaute sie zum mysteriösen Jungen.

„Ich sagte doch, ich suche mir einen Namen für dich aus. Der fiel mir gerade ein.“

Das Mädchen schüttelte amüsiert den Kopf.

„Also… Warum glaubst du immer noch?“

Das Mädchen schaute verwirrt zu Jack, der gerade auf eine verschneite Gartenmauer hüpfte und seinen Weg dort oben fortsetzte.

„Glauben? Woran denn? Ich bin genau so Gläubig wie dieser Stein dort drüben.“

„Du kannst es mir schon sagen, ich werde dich nicht auslachen“, meinte er plötzlich in einer ungewohnt ernsten Stimme.

Die Jugendliche schaute immer noch verwirrt zu ihm.

„Stell dir einmal vor, du würdest den Weihnachtsmann sehen. Wie würdest du ihm erklären, dass du ihn siehst, obwohl du schon bald erwachsen sein wirst?“

Verwirrung widerspiegelte sich im Gesicht des Mädchens. Sie wagte es nicht zu antworten, da sie sich nicht sicher war, was er damit meinte. Sie blieb stehen und verschränkte kritisch die Arme.

Jack ging hinunter in die Hocke, denn er stand immer noch auf der Mauer, und schaute dem Mädchen tief in die Augen. Eine Weile lang starrten sie sich schweigend an, bis der der Junge ihr vorsichtig mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze tupfte.

Ein seltsames Kräuseln ging durch die Nase des Mädchens, als der kalte Finger sie berührte, und sie musste niesen.

„Was soll das? Wie hast du…?“

Ein kurzes Lachen entfuhr Jack, bevor er sich auf die Mauer setzte und auf den Platz neben sich deutete, von dem er gerade den Schnee wegwischte. Mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht setzte sich das Mädchen neben ihn. Er wartete, bis sie es sich einigermassen bequem gemacht hatte, und deutete dann mit seinem Stock nach vorne.

„Noch einmal von Anfang. Stell dir vor, der Weihnachtsmann stünde direkt vor dir. Er würde dir sagen, dass du ihn nur sehen kannst, weil du an ihn glaubst. Dann würde er dich fragen, warum du an ihn glaubst. Was würdest du antworten?“

Das Mädchen fand diese Frage völlig sinnlos, antwortete jedoch wahrheitsgemäss: „Wohl, dass meine Fantasie das Einzige wäre, dass sie mir nicht wegnehmen können.“

Schweigend sassen Beide einen Moment auf der Mauer und starrten auf den leeren Fleck vor ihnen. Es war Jack, der als Erster wieder das Wort ergriff: „Solltest du nicht auch in die Schule?“

Sofort Sprang das Mädchen auf. Sie war so auf den fremden Jungen fixiert gewesen, dass sie die Uhrzeit ganz vergessen hatte.

„Ach du heilige Schei- Ich muss dann mal los, mach’s gut Ja-… Jack?“

Doch der Fremde Junge war spurlos verschwunden.
 

Und schon wieder fing es an.

Der Vater war ausnahmsweise früher nach Hause gekommen, die Kinder waren noch nicht eingeschlafen.

Es schepperte, zwei Stimmen brüllten durcheinander. Das Mädchen fragte sich, wieso die Nachbarn noch nie die Polizei gerufen hatten. Sie hatte den Glauben an die Hilfsbereitschaft Anderer schon längst verloren. Schon damals, als sie noch etwas jünger als ihre kleine Schwester gewesen war, damals als es begann. Damals, als die Eltern ihren ersten Streit hinter sich brachten. Das war nun schon beinahe acht Jahre her.

Ohne auf das Geschrei zu achten, schlich das Mädchen hinüber, über den Flur ins Zimmer ihrer kleinen Schwester. Dort angekommen, schloss sie die Tür hinter sich und ging auf das leere Bett zu. Sie wusste wo sich Mel in solchen Situationen befand.

„Ist schon gut, komm raus. Ich bin da.“

Seitwärts legte sie sich auf den Boden vor dem Bett und zog die Decke hoch, nur um das verängstigte Geschöpf, das sich darunter befand, vorzufinden. Unter Schluchzen und Tränen liess sich die kleine Schwester hervor ziehen und kuschelte sich in die Arme der Älteren.

„Es wird alles gut. Ich pass auf dich auf.“

Trost spendend nahm die ältere Schwester die kleine Mel in die Arme, streichelte ihr sanft über den Kopf und sang ihr leise ihr Lieblingslied vor.

Es dauerte einige Zeit, doch der Lärm im unteren Stock erstarb. Mel war eingeschlafen und döste friedlich vor sich hin. Vorsichtig wurde sie von der älteren Schwester hochgehoben, auf das Bett gelegt und zugedeckt.

Sie gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn, bevor sie ihr gute Nacht wünschte, das Licht ausschaltete und die Tür schloss.
 

Sie sass wieder auf ihrem eigenen Bett. Sie hatte das Fenster aus Versehen offen gelassen, weshalb die Zimmertemperatur unangenehm niedrig war. Es fröstelte sie im dünnen Pyjama, die Wärme, die ihr ihre kleine Schwester gerade noch gespendet hatte, verflog im nu.

So sass sie auf der Bettkante, müde, aber nicht bereit zum Schlafen. Es tat zwar nicht nur ihrer kleinen Schwester, sondern auch ihr selbst gut, jemanden zu trösten. Doch trotzdem, blieb dieses dunkle, kalte Gefühl in ihrem Magen. Denn sie konnte zwar Mel trösten… Doch wer tröstete sie?

„Und, ist dir deine Fantasie immer noch geblieben?“

Sofort wirbelte das Mädchen herum und erblickte eine ihr bekannte Gestalt auf dem Fensterbrett.

„Jack! Was machst du denn hier? Warte… Wie bist du überhaupt hier rauf gekommen?“ Empört dachte sie an die geschätzten drei Meter Höhenunterschied zwischen dem Boden und ihrem Zimmerfenster. Jack Frost erwiderte nur ein Grinsen.

„Was bist du denn für ein Stalker?“

„Stalker? Ist das nicht ein bisschen arg heftig?“ Der Junge hüpfte vom Brett hinunter und kam auf das Bett zu. Er setzte sich auf die andere Seite und wandte ihr den Rücken zu.

„Hast wohl wirklich nicht viel Anderes.“

Das Mädchen zuckte bei dieser Bemerkung zusammen. Bei einer kurzen Berührung ihrer Rücken fiel ihr auf, wie kalt der Junge hinter ihr zu sein schien.

„Dann hast du es mitbekommen?“

„So was ist wohl schwer zu überhören.“

Eine Weile sassen sie schweigend hintereinander, Jack, den Raum inspizierend, das Mädchen, ihren Gedanken nachgehend. Sie war es auch, die die unangenehme Stille unterbrach, indem sie ihren Rücken an seinen presste, in der Hoffnung ihn aufzuwärmen, da er doch so kalt war.

„Wie heisst du eigentlich wirklich? Und wo kommst du her? Ich hab dich hier noch nie gesehen.“

Jack, überrascht von der plötzlichen Geste wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Er könnte ihr schon die Wahrheit sagen, doch das würde sie ihm wohl nicht glauben. Es bestehe höchsten die Chance, dass sie ihren Glauben verlieren würde, immerhin versuchte sie jetzt schon, sich einzureden, dass sie nicht glaubte.

„Ich hab’s dir doch gesagt, mein Name ist Jack Frost. Du hast mir übrigens deinen noch nicht verraten.“

„Hmm. Bleiben wir lieber erst einmal bei Fay.“
 

Es war seltsam. Sie hatten sich einige Male getroffen und jedes Mal tauchte Jack wie aus dem Nichts auf, und verschwand auf demselben Weg. Manchmal vergingen nur ein paar Stunden, manchmal Wochen, sie sich wieder trafen.

Er hörte ihr zu, wenn sie jemanden brauchte, dem sie ihre Probleme Zuhause schildern konnte, von denen die Meisten nichts wussten. Im Tausch dazu erzählte er ihr oft Geschichten, die so unwirklich klangen, und doch eine Art von Realismus beinhalteten, welche die Jungendliche faszinierten. So erzählte sie viele der Geschichten ihrer kleinen Schwester, um diese von den Problemen daheim abzulenken.

Sie wurde nie ganz schlau aus diesem rätselhaften Jungen, und doch entstand eine Freundschaft zwischen ihnen. Jack erzählte ihr oft, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, wann er das letzte Mal mit jemandem in seinem Alter geredet hatte, was seine Erscheinung nur noch bizarrer werden liess.

Und als die Zeit verging, wurden seine immer seltener. Der Schnee begann zu schmelzen, nur noch vereinzelte Hausdächer waren davon bedeckt. Und so kam es auch, dass der Junge verschwand. Niemand wusste wohin er gegangen war, die meisten hatten ihn gar noch nie gesehen. Es war fast, als hätte es ihn nie gegeben.

Sogar die Kleine Mel, die den Jungen selbst getroffen hatte, schien ihn in kürzester Zeit vergessen zu haben. Noch voller Hoffnung hatte sie sich über die rätselhaften, absenderlosen Weihnachtsgeschenke gefreut, welche die beiden Schwestern an Weihnachten in ihren Zimmern gefunden hatten. Doch schon bald darauf änderte sich alles. Die Streitereien der Eltern wurden immer offensichtlicher, sie versuchten nicht mehr, alles geheim zu halten.

Und die kleine Mel hörte auf zu glauben.

Sie war noch so jung, doch wollte sie am Ostersonntag keine Eier mehr suchen. Sie hatte genug von diesem „Babykram“. Sie wollte von der grossen Schwester nicht mehr in den Arm genommen werden, auch keine tröstenden Worte oder Lieder mehr hören.
 

Und so war das Einzige, was der älteren Schwester weiterhin blieb, ihre Fantasie. Ihre Fantasie, ihre Erinnerungen an Stunden, in denen sieh ihre Welt vergessen konnte, in denen sie hoffte, aus ihren Leben ausbrechen zu können, die Stunden, in denen sie sich erlaubte, ein Kind zu sein und die merkwürdigen Tatsachen um ihren mysteriösen Besucher nicht hinterfragte.

Doch viel Kraft war nicht mehr übrig. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das Licht vergehen, der letzte Funke erlöschen würde, und mit ihrer Hoffnung und Fantasie alles seinen Sinn verlor.
 

Ein Jahr war seit ihrem ersten Treffen vergangen. Ein weisser Schleier, wie aus Puderzucker, legte sich über das Dorf, der Winter kam. Und mit ihm, ein gewisser Hüter des Vergnügens.

Doch der friedliche Schein trog.

Nicht wissend weshalb, doch innerlich darauf brennend, diesem kleinen Dorf wieder einen Besuch abzustatten, machte sich Jack Frost auf den Weg, um sich für seine Abwesenheit zu entschuldigen. Doch dazu kam es nicht.

Guter Laune lief er der Abkürzung zwischen zwei Wohnblöcken entlang, die er letztes Jahr entdeckt hatte. Es dauerte auch nicht lange, bis er jemandem begegnete, der ihm bekannt vorkam. Schon von weitem sah er eine rote Mähne unter den anderen Kindern hervorstechen.

Er ging auf die Kinder zu. Lange Zeit bemerkten sie ihn nicht, vermutlich waren sie zu sehr mit ihren eigenen Spielen beschäftigt.

Mit einem spitzbübischen Grinsen auf dem Gesicht holte Jack etwas Schnee vom Boden und formte ihn zu einem kugelrunden Ball. Eines der Kinder als Ziel im Auge, warf er den Ball sanft hinüber. Er verfehlte sein Ziel nicht und traf den kleinen Jungen an der linken Schulter. Alarmiert blickte dieser auf und Starrte zum engen Trampelpfad.

Sofort versammelten sich die anderen Kinder um den Jungen, der etwas verstört in die Richtung deutete, aus der der Schneeball geflogen kam. Neugieren blickten die vielen Kinderaugen zum vergnügten Wächter.

Etwas stimmte nicht. Die ganze Sache stank zum Himmel.

„Hey, wieso die starren Blicke? Habt ihr nicht Lust auf ein bisschen Spass?“, fragte Jack die Kinder nun direkt. Doch keiner Antwortete ihm. Nur einige tuschelten heftig, doch er konnte nicht verstehen, was sie sagten.

„Was?“, fragte er erneut.

Einer der Jungs, etwas grösser und breiter als die meisten, trat hervor und blickte entschlossen zum Pfad. Selbstsicher schlug er sich auf die Brust, murmelte etwas vor sich hin und kam dann auf Jack zu.

„Hey, Kleiner, das hat aber ged-“ Es traf ihn wie einen Blitz.

Der Junge passierte durch ihn.

Er fühlte nichts.

Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch es traf ihn mehr, als alles andere, was er seit langem erlebt hatte. Der Junge stand vor ihm und plötzlich hinter ihm.

„Nein…“ Er rannte auf die Kinder zu, zu schnell, um noch anzuhalten. Doch keiner ging ihm aus dem Weg und ehe er sich versah, stand er hinter ihnen.

Sie konnten ihn nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen.

Sie glaubten nicht an ihn.

Der Schock sass ihm tief in den Knochen. Schleunigst rief er den Wind herbei und liess sich hoch hinauf, über die Wolken tragen. Schützend hielt er die Hand vor die Augen, als das warme Sonnenlicht auf ihn traf. Was war passiert? Seit einem knappen Jahr glaubten die Kinder an ihn, mehr und mehr, in den letzten Monaten hatten ihn fast alle Kinder gesehen. Doch jetzt…

Im Jahr zuvor hatten sie noch an ihn geglaubt. Er war mit ihnen Schlitten gefahren, hatte den naheliegenden Teich für sie eingefroren und schaute nachts darauf, das Dorf in ein neues Schneelaken zu hüllen.

Sie glaubten nicht mehr an ihn.

Jack schüttelte den Kopf, als wolle er den Gedanken aus seinem Kopf schütteln. Er liess sich wieder unter die Wolkendecke fallen und glitt mit dem Wind zur nächsten Stadt. Er musste einen kühlen Kopf bewahren.
 

Es war bereits Nacht, und der Mond stand hoch oben am Himmel, als er sich wieder zurücktreiben liess. Geräuschlos liess er sich auf einem Fensterbrett nieder und betrachtete die Fensterscheibe vor sich. Das Fenster war geschlossen, die Vorhänge gezogen.

Er klopfte sanft an die Scheibe. Keine Antwort. Jack Frost stutzte, bevor er nochmals an die Scheibe klopfte, diese Mal etwas heftiger. Immer noch bekam er keine Antwort. Irritiert liess er sich zurück auf die Strasse fallen, von wo er das Haus als Ganzes betrachten konnte.

Und als sässe der Schock von heute Mittag nicht mehr tief genug in den Knochen, traf es ihn nun ein zweites Mal. Er war sich sicher, am rechten Ort zu sein. Ein panischer Blick nach rechts und links gab ihm auch Gewissheit. Doch was er vor sich sah, schien völlig fehl am Platz zu sein.

Es war ein Haus. Es sah dem Haus aus seiner Erinnerung ziemlich ähnlich, doch es war nicht das, an welches er sich erinnerte.

Jack sprang auf den Baum im Garten des Hauses, der ganz sicher derselbe war, doch irgendwie sah dieser Baum… Mitgenommen aus. Der Wächter sass nun auf einem Ast und nahm das fremde Gebäude genauer ins Auge, als ihn jemand von hinten ansprach, oder wohl eher die überraschte Bemerkung von sich gab: „Wow!“

Jack wirbelte herum, nur um einen kleinen Jungen mit blauer Hornbrille im Nachbarshaus zu sehen, der in seinem Pyjama staunend am halb geöffneten Fenster klebte.

„Bist du Jack Frost?“, fragte der Junge kaum verständlich hinter dem Glas hervor.

Der Angesprochene hüpfte auf und Sprang in einem Satz hinüber auf das Fensterbrett des bebrillten Jungen, was diesen nur noch mehr ins Staunen versetzte. Vorsichtig stiess Jack den geöffneten Fensterflügel etwas mehr auf, um besser mit dem Jungen sprechen zu können.

„Hallo kleiner Mann, weißt du vielleicht, was mit dem Haus passiert ist, dass letztes Jahr noch dort stand?“

Der kleine Junge riss seine Brille hinunter, rieb sich die Augen und setzte die Gläser zurück auf die Nase.

„Voll krass.“ Der kleine Junge mit Brille und schwarzen Locken schien so erstaunt zu sein, dass er die Frage einfach überhörte. Beruhigt darüber, doch nicht in Vergessenheit geraten zu sein, konnte der Wächter des Vergnügens es nicht lassen, die Scheibe neben sich einfrieren zu lassen, und einen lächelnden Schneemann darauf zu zeichnen.

„Der Wahnsinn!“, kommentiere der kleine Junge im Pyjama begeistert.

Jack, der die Hoffnung aufgab, etwas vom Jungen zu erfahren, erhob sich aus der gebeugten Haltung, um zu gehen. Doch gerade jetzt schüttelte der Brillenträger den Kopf und schien seine Fassung wieder zu erlangen.

„Das Haus da“, meinte er und deutete nach vorne, „ist neu. Vor Monaten hat das alte gebrannt, also haben sie ein Neues gebaut.“

„Gebrannt?“

„Abgebrannt, hat Mama gesagt. Aber Danny meinte, jemand hätte es angezündet.“

„Angezündet?!“ Die Geschichte wurde immer abenteuerlicher.

„Ja, das verrückte Mädchen soll es abgefackelt haben.“ Jack zuckte zusammen.

„Das… Verrückte Mädchen?! Was ist mit der Familie passiert?“

„Meine Mam hat mir nicht viel gesagt… Aber Danny von nebenan meinte, der Mann, der da wohnte, sei ein ganz schlimmer Typ gewesen! Aber jetzt ist er tot.“

„Was?!“ Empört erhob sich Jack und blickte zum Haus, das für ihn so fehl am Platz wirkte.

„Ja, und das verrückte Mädchen auch! Das andere Mädchen, das geht jetzt in meine Parallelklasse, und man sagt, sie hat seit diesem Tag kein Wort mehr geredet. Es lebt mit seiner Mam am anderen Ende des Dorfes. “

„Danke, junger Mann…“ Jack tätschelte ihm den Kopf. Sein Blick zog wirr in der Gegend umher. Für ihn war der Fall klar. Es passierte immer wieder, und doch war es jedes Mal aufs Neue schwer. Keine seiner Bekanntschaften hielt mehr als ein paar Jahre, denn keiner glaubte ewig.

„Jack! Kannst du es wirklich schneien lassen?“ Unbeirrt funkelte der kleine Junge mit der Brille ihn mit einem Hundeblick an. Jack fühlte sich zwar miserabel, doch war ihm seine Aufgabe bewusst.

„Klar doch“, antwortete er so fröhlich wie möglich, schwenkte seinen Stock und flog hoch über die Wolken, aus denen nun unzählige Flocken hinab auf die Erde tanzten.



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