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Leidensgenossen

von

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Nachdem Helena ihm angedeutet hatte, Hilfe bei der Rückeroberung ihrer Heimat zu erwarten, waren sie schweigend weitergezogen. Rufus war noch immer etwas fassungslos und gleichzeitig auch enttäuscht. Er hatte angenommen, Helena wäre ein nettes Mädchen dass ihm ohne Hintergedanken helfen wollte. Wie er sich doch getäuscht hatte...

Sie folgten einem kaum erkennbaren Pfad durch den Wald und stießen nach einer Weile auf eine Straße. Rufus wollte schon auf den plattgetretenen Weg zusteuern, da fasste seine Begleiterin seine Schulter.

Als er sich zu ihr umdrehte schüttelte sie den Kopf.

„Wenn wir die üblichen Wege nehmen werden sie uns schnell finden.“ Natürlich; dachte Rufus und folgte ihr zurück ins Unterholz. Sie gelangten immer tiefer in den Wald, die Bäume rückten dichter zusammen und dornige Ranken zogen sich über den unebenen Boden. Je weiter sie liefen, desto dunkler wurde es. Nicht nur weil die Sonne langsam den Horizont erreichte, sondern auch weil das Blätterdach sie abschirmte.

Als der Abend gekommen war zog Helena eine Fackel unter ihrem Gewand hervor, von der Rufus sich fragte, wo sie die verstaut hatte, und zündete sie mit einem Streichholz an.

„Wo führst du mich hin?“ fragte Rufus und beobachtete mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, wie Helena nach Lonán ausschau hielt, ihn aber nicht mehr am Himmel erkennen konnte. Der schwarze Vogel segelte langsam zu ihnen aus der Finsternis herab und setzte sich auf Helena's ausgestreckten Arm.

„Es ist nicht mehr weit.“ meinte Helena nachdem Lonán ihr etwas ins Ohr gekrächzte hatte und deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung, die sie einschlagen wollte.

„Nur noch ein oder zwei Kilometer, dann haben wir es für's erste geschafft...“

„Noch einmal: wohin führt ihr mich!“ langsam verlor Rufus die Geduld. Er wurde von Banditen und einer völlig durchgedrehten geheimen Organisation gejagt, hatte ein Buch in den Händen welches er nicht benutzen konnte weil er den Preis nicht kannte und war am verhungern. Letzteres untermalte ein lautes Magenknurren.

„Ich gehe keinen Schritt weiter ehe ich nicht von dir erfahren habe wohin ihr beide mich bringen wollt.“ Seine Miene war entschlossen, seine Stimme zitterte im Anflug eines mit Mühe unterdrückten Wutausbruchs.

„Rufus bitte, dafür haben wir keine Zeit.“ versuchte Helena ihn zu beruhigen und streckte die Hand nach ihm aus. Er wich vor ihr zurück und stolperte dabei über eine Wurzel. Wie ein gefällter Baum knallte er auf den harten Erdboden und spürte wie die Anzahl seiner Blutergüsse wuchs. Mit schmerzverzerrtem Gesicht setzte er sich auf und rieb sich den Hinterkopf, der einen der großen Steine, die überall aus dem Waldboden ragten, verfehlt hatte und blickte zu Helena auf.

Ihre Augen funkelten einen Moment lang belustigt, dann trat Entsetzen ein und sie streckte abrupt ihre Hand nach ihm aus.

Die Worte, die über ihre unter dem Mundschutz verborgenen Lippen kamen, gingen im Lärm der unter ihm wegbrechenden Erde unter. Kurz verlor er die Orientierung als er in die Dunkelheit einer großen Höhle stürzte. Dann klatsche er in eisiges Wasser und tauchte spuckend und hustend aus dem kalten Nass auf.

Er blickte hoch, zu dem Loch durch das er gestürzt war und sah Helena mit der Fackel am Rand auftauchen.

„Alles in Ordnung?“ rief sie hinunter. Ihre Stimme hallte von den hohen Wänden wieder.

„Ist das Buch noch heil!“ setzte sie sofort hinzu ohne seine Antwort auf die erste Frage abzuwarten.

Rufus verdrehte genervt die Augen.

„Ja, mir geht’s gut, danke der Nachfrage... und dem Buch...“ Ein Schock ging durch seinen Körper – wo war das Buch!? Mit wachsender Angst streckte er die Arme aus und suchte angestrengt im Zwielicht nach dem Betrayal. Seine Finger stießen gegen etwas, das nur wenige Zentimeter neben ihm an die Oberfläche stieg.

Mit einem erleichterten Seufzen griff er zu und zog den Gegenstand, der sich seltsam rund anfühlte zu sich. Erst als er im spärlichen Licht erkennen konnte, was er da gefunden hatte schrie er auf und ließ den mit ledriger Haut überzogenen Schädel fallen. Die Haare waren zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden und trieben auf der Oberfläche.

Rufus presste sich die Hand auf den Mund um nicht noch einmal zu schreien und kämpfte gegen den aufkommenden Brechreiz an. Er blickte hoch zu Helena und sah wie sich etwas im Dunkeln an der Decke kaum merklich im leichten Wind bewegte.

„Helena...“ sagte er laut und atmete tief durch.

„Hast du das Buch!“ rief sie hinunter und beugte sie ein wenig tiefer hinab. Sein Geschrei kümmerte sie wohl nicht.

Nun erleuchtete sie etwas mehr als nur das Loch durch das er gestürzt war und wieder ging ein Schock durch Rufus' Körper. Er starrte die unzähligen Schädel an, die an ihren Haaren aufgehängt von der Decke hingen.

Luft zum Schreien hatte er keine mehr in der Lunge.

„Jetzt antworte mir endlich!“ schrie Helena in die Höhle und riss ihn aus seiner Schockstarre.

„Mit dem Buch ist alles in Ordnung.“ antwortete Rufus nach einem tiefen Atemzug. Er konnte nicht sagen woher er das wusste, aber er war sich sicher, dass seine Aussage stimmte.

„Wirf mir eine Fackel runter!“ forderte er sie auf.

Helena schüttelte den Kopf.

„Wenn ich sie dir runterwerfe fällt sie am Ende noch ins Wasser. Ich lasse dir eine Fackel und die Streichhölzer an einem Seil herunter.“ Hoffnungsvoll blickte Rufus zu ihr auf.

„Du hast ein Seil!?“ rief er hoch.

„Ja, aber das ist zu dünn um dich zu tragen.“ zerstörte sie seine Hoffnung aus diesem Loch zu kommen.

„Hast du denn nichts stärkeres mit!?“ Sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe nicht damit gerechnet dich aus einem Loch ziehen zu müssen!“ blaffte sie und band ein dünnes Seil um eine zweite Fackel und die kleine Schachtel mit Streichhölzern. Sie ließ den dickeren Faden langsam durch ihre Finger gleiten bis Rufus die Dinge entgegennehmen konnte.

Er bewegte sich ein paar Meter aus dem dünnen Lichtkegel bis seine Füße einen festen Stand hatten und er mit etwas Mühe die Fackel entzünden konnte.

Mattes Licht erfüllte die Kammer und machte Rufus deutlich wie viel Glück er gehabt hatte.

Denn knapp unter der Wasseroberfläche ragten spitze Felsformen empor die ihn mühelos aufgespießt hätten wäre er auf sie gestürzt. Er konnte die Steinnadeln im kristallklarem Wasser gut erkennen und auch die Knochen, welche zwischen Steinen und Schlamm am Grund lagen.

Er blickte zu Helena hoch, die stumm den unterirdischen See betrachtete.

Lonán tauchte neben ihr am Rand auf und hüpfte in das Loch. Er segelte elegant zwischen den an der Decke hängenden Schädeln hindurch und landete mit einem aufforderndem Krächzen auf dem Betrayal.

Das Buch trieb langsam auf der Wasseroberfläche und kam nach einer Minute ins Rufus' Reichweite. Der Rabe setzte sich auf seine Schulter und schien fasziniert die Knochen im Wasser zu betrachten.

Rufus nahm das Buch an sich und stellte zu seiner Überraschung fest dass es weder Innen noch Außen nass war. Die Tropfen perlten von seinem Einband und den Seiten ab wie von einem Seerosenblatt.

„Hab das Buch!“ rief der junge Hüter mit kindlicher Freude zu seiner Begleiterin hoch und wedelte mit dem Band.

„Gut, dann seh dich nach einem Ausgang um. Ich werde vorgehen und auf euch beide warten. Lonán kennt den Weg und wird dich schon sicher zu mir führen.“ sagte Helena und verschwand von dem Loch ehe Rufus protestieren konnte.

Mit offenem Mund starrte Rufus zu dem Loch hoch, dann wandte er sich an Lonán.

„Jetzt lässt die mich schon wieder allein!“ nörgelte er.

Der Rabe gab ein protestierendes Krächzen von sich und hackte dem Jungen leicht gegen den Kopf. Rufus zuckte unter der Attacke zusammen und fluchte leise.

„Tschuldige...“ nuschelte er und rieb sich die schmerzende Stelle.

„Ich hab nichts gegen dich, aber ich hätte schon gern jemanden an meiner Seite mit dem ich auch reden kann.“ Der Rabe drehte beleidigt den Kopf zur Seite und gab eine Art Schnauben von sich. Rufus seufzte.

„Ist jetzt auch egal... kannst du mal ne' Runde durch die Kammer drehen und nach einem Ausgang sehen?“ fragte er den Raben und bekam als stumme Antwort einen scharfen Blick aus kleinen schwarzen Augen die so etwas wie: „Du kannst mich mal!“ aussagten. Der junge Hüter hob ergeben die Hand mit dem Buch.

„Ist gut. Ich geh selber suchen. Mach es dir einfach bequem...“ sagte er und begann langsam durch das brusthohe Wasser zu waten. Schlamm und Knochen gaben unter seinem Schuhwerk nach und er tauchte einmal mehr ungewollt in dem kalten Nass unter. Geistesgegenwärtig streckte er die Hand mit der Fackel hoch damit die Flamme nicht erlosch und kam einmal mehr hustend und spuckend aus dem Wasser.

Auch Lonán, der nicht schnell genug von Rufus' Schulter hatte fliehen können, war untergetaucht und gab etwas von sich, das sich wie husten anhörte.

„Hätte ich doch nie dieses verfluchte Buch in die Hand genommen...“ stöhnte Rufus und begann seine Suche.
 

Nachdem er ein paar Minuten durch das kalte Wasser gewatet war, fand er, versteckt hinter einem großen Felsen, eine Tür. Er sah die alte und verwitterte Holzplatte mit Schanieren mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Seine Finger schlossen sich um die rostige Türklinke und drückten sie herunter. Laut und gequält knarrend bekam er die Tür mit ein wenig Gewalt auf und streckte die Fackel vor.

Er erleuchtete einen Gang, der direkt in den Fels geschlagen und schon so lange nicht mehr benutzt worden war, dass Spinnweben sich wie staubige Schleier über die Wände zogen.

„Hallo...?“ rief er in den Gang. Seine Stimme hallte lange wieder und verlor sich irgendwann in der tief schwarzen Ferne. Ein heulender Wind fegte ihm aus dem Gang entgegen und ließ die Spinnweben flattern.

Lonán auf seiner Schulter schüttelte sich vor unbehagen.

Rufus armete tief durch, straffte die Schultern und betrat den Gang.

Verschiedene Insekten und Spinnen flitzten über die glatten, feuchten Wände, gelegentlich huschten Nager zwischen den Schuhen des Jungen hindurch. Er erschauderte, wann immer der Wind erneut durch den Gang rauschte und ihm Staub und Spinnweben entgegenbließ.

Mit zum Schutz vor die Augen gehobener Hand folgte Rufus dem, nebenbei seine Kleider trockenpustendem, Luftstrom und staunte nicht schlecht als er in einer heimisch eingerichteten, hell erleuchteten Kammer landete.

Zwischen hohen Säulen und einem alten Altar, waren verschiedene Möbel und sogar ein bequem aussehendes Bett aufgestellt. Ein Tisch mit Reagenzgläsern, verschiedenen Flaschen und Schalen mit ihm unbekannten Pflanzen stand in einer der Ecken. Regale voller Bücher und Flaschen, ausgestopfter Tiere und Skelette, standen wie Trennwände im Raum und über einer kleinen Feuerstelle köchelte eine lecker riechende Suppe in einem großen Messingtopf.

Rufus' Magen knurrte lautstark und verkrampfte sich schmerzhaft. Er trat näher an den Topf, blickte zu den Seiten ob noch jemand außer Lonán und ihm im Raum war und griff nach dem großen Holzlöffel.

Gerade wollte er kosten als erneut ein heftiger Luftzug durch den Raum rauschte und er Schritte hörte. Sofort ließ der Junge den Holzlöffel zurück in den Topf fallen und sah sich panisch nach einem Versteck um.

Und wohin mit der brennenden Fackel!?

Er versuchte sie auszublasen, doch die Flamme tänzelte nur auf dem, mit brennbarem Harz bestrichenen Fackelkopf. In seiner Verzweiflung tauchte er die Fackel in die Suppe und warf sie dann auf einen Haufen Brennholz, das neben der Feuerstelle lag. Unter den Ästen und Zweigen fiel die nasse Fackel nicht weiter auf.

Er eilte zum Bett und krabbelte darunter, machte sich klein und versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen. Lonán setzte sich auf eines der Regale, neben einen ausgestopften Artgenossen und das Skelett eines Affen und bewegte sich nicht mehr. Keine schlechte Idee. dachte Rufus und lauschte.

Es dauerte nicht lange bis die Schritte lauter wurden und ein paar Stiefel im Sichtfeld des Jungen auftauchten. Schwere Schritte hallten in dem großen Raum wieder als sich der Mann von dem Bett entfernte und an seinen Arbeitstisch trat. Er war groß und kräftig, seine Haare waren strohblond und reichten ihm wellig bis auf die Schultern, die Haut war blass. Sein Mantel war dreckig, eine dicke Schicht Schlamm und Staub klebte als Kruste auf dem Rauleder, der Hose und den Stiefeln.

Leise vor sich hinmurmelnd packte er ein paar Dinge aus seinen Manteltaschen auf den Tisch, Knochen von kleinen Tieren und verschiedene Pflanzen.

Er drehte sich um und Rufus schlug sich die Hände vor den Mund um nicht zu schreien.

Der junge Hüter blickte in das Gesicht des Banditen... und doch nicht.

Die Augen des Mannes waren dunkel und glommen blau, er war blond und blass und die Narbe fehlte, das konnte einfach nicht der selbe Mann sein.

Er trat an das Regal auf dem Lonán stillstand und langte nach einem der Bücher darin. Seine Finger fassten die obere Kannte des ausgesuchten Bandes und kippten es aus der Reihe. Er schlug es auf, ließ den Blick noch einmal suchend über die oberste Reihe des Regals und die Ausstellungstücke darüber schweifen und erstarrte.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die zwei Raben.

Ein amüsierter Ausdruck huschte über sein Gesicht und noch bevor Lonán ängstlich krächzend die Flucht ergreifen konnte, hauchte der Mann ein paar Worte in den Raum, die Rufus nicht verstand.

Innerhalb von Bruchteilen von Sekunden kam Leben in das Affenskelett. Die Knochenfinger fassten Lonán und hielten ihn fest, drückten den sich wehrenden Raben auf das Regalbrett und hielten ihm den hackenden Schnabel zu.

„Sieh an was sich in mein bescheidenes Heim verirrt hat.“ murmelte der Mann und streckte dem Affenskelett seinen Arm entgegen. Die Knochenpuppe kletterte auf die Schulter des Mannes ohne den Griff um Lonán auch nur ein Stück zu lockern und hielt seinem Meister den gefangenen Raben entgegen.

„Ich hatte schon befürchtet heute Abend wieder nur Gemüse auf dem Teller zu haben, aber es sieht so aus als ob es diesmal Geflügel gibt...“ sagte der Mann, nahm dem Affenskelett Lonán ab und streckte den Arm noch einmal nach dem Regal aus damit das Skelett seinen alten Platz einnehmen konnte. Er hielt dem Raben den Schnabel zu und klemmte ihn so zwischen seinem Arm und seiner Brust fest, dass er weder Krallen noch Flügel rühren konnte.

Der Mann trat an den Kessel, nahm den Löffel heraus und führte ihn zum Mund.

Mit einem derben Fluch und vor Ekel verzerrtem Gesicht warf er den Holzlöffel zurück in den Topf.

„Ach verdammt, schon wieder angebrannt...“ murrte er und ließ den Blick abermals durch sein Heim schweifen. Wieder blieb sein Blick hängen. An einer erloschenen Fackel die auf seinem Feuerholzstapel lag.

„Komm raus, wo auch immer du dich versteckst...“ knurrte der Mann und sah sich suchend um.

„Ich weiß genau dass du da bist!“ donnerte seine Stimme durch die hohe Kammer.

„Los! Sonst schicke ich meine Diener aus...“ zischte er drohend.

Rufus warf einen hilfesuchenden Blick auf das Betrayal.

Die Linien verformten sich eiligst.

Zu seiner Überraschung riet ihm das Buch sich zu stellen. Er schluckte schwer.

Na hoffentlich ist das kein Fehler... dachte der Junge.

Er versteckte den Band so gut es ging unter seinem Wams und kroch vorsichtig aus seinem Versteck.

„Wer bist du? Und wie kommst du in mein Heim?“ fragte der Mann scharf und betrachtete Rufus mit hochgezogenen Brauen, dann streifte sein Blick über den Bauch des Jungen und er bemerkte, dass Rufus etwas darunter verbarg.

„Antworte nicht... ein Dieb bist du und willst mir eines meiner kostbaren Bücher stehlen!“ bellte er und langte mit dem freien Arm nach Rufus. Er packte den Jungen und warf Lonán dem Affenskelett entgegen. Es sprang von seinem Platz und fing den Raben in der Luft ab bevor dieser seine Flügel entfalten und fliehen konnte.

Der Mann zerrte, trotzdem der Junge sich heftig wehrte, das Buch unter dessen Wams hervor.

Er starrte das Buch in seiner Hand an und ignorierte den zeternden Jungen.

Seine Augen weiteten sich erst, dann verengten sie sich zu Schlitzen.

Das eine Wort, das er dann aussprach, hallte in dem Raum unheilvoll wieder.

Betrayal...

Er hielt es sich vor Augen, drehte es und betrachtete jede feine Musterung auf dem Einband.

„Kein Zweifel... Es ist eines der Zeitenbücher...“ murmelte er gedankenverloren und wandte sich an den Jungen.

„Wie um alles in der Welt, kommt ein Kind an das legendere Betrayal...?“ fragte er misstrauisch und hielt sich den nach ihm schlagenden Rufus auf armeslänge vom Leib.

„Wo hast du das her? Wem hast du es gestohlen?“ wollte der Mann wissen. Er nahm abrupt seinen Arm von Rufus Schulter, sodass der Junge im Schwung seines schwächlichen Angriffs gegen die Brust des Mannes prallte. Noch ehe der junge Hüter wusste wie ihm geschah nahm der Fremde ihn auch schon in den Schwitzkasten.

„Antworte!“ forderte er und drückte ein wenig fester zu.

„Ich bin kein Dieb! Es gehört mir...“ brachte Rufus mühevoll hervor.

„Ja sicher...“ sagte der Mann spöttisch und hielt sich das Buch vor Augen.

„Wenn deine Geschichte stimmt kannst du es noch nicht lange haben.“ mutmaßte der Fremde.

„Und wie kommen sie darauf?“ murrte Rufus. Eine Antwort hätte er nicht erwartet.

„Weil du ansonsten in einem deutlich schlimmeren Zustand wärst... Weißt du denn nicht dass jedes dieser Bücher einen Preis verlangt?“

„Doch, weiß ich. Aber ich weiß nicht, was Betrayal verlangt...“ gestand Rufus. Sein Gesprächspartner gab einen erstaunten Laut von sich aus dem ein kurzes, bitteres Lachen wurde.

„Was genau es verlangt kann ich dir auch nicht sagen. Aber es ist nicht gesund auch nur eines dieser Bücher zu benutzen! Sie tragen ihre Namen nicht umstonst, glaub's mir. Ein gut gemeinter Rat, Junge: werd' das verfluchte Ding schnellstmöglich los!“

„Sie haben doch keine Ahnung!“ blaffte Rufus.

„Ach, glaubst du...“ meinte der Mann und etwas an seiner Stimme ließ Rufus aufhorchen.

„Wenn ich mich kurz vorstellen darf...“ sagte der Mann und ließ Rufus los. Der Junge stolperte einige Schritte zurück und plumpste alles andere als elegant auf seinen Hintern.

Mit einer ausschweifenden Handbewegung verneigte sich der Mann und sprach:

„Gestatten, mein Name lautet Artas ty Dragovis und ich bin einer der unzähligen, ehemaligen Besitzer des verdammten Zeitenbuches Loss...“ Jedes seiner Worte troff vor abscheu.

Rufus starrte sein Gegenüber fassungslos an.

„Dieses Buch hat mein Leben ruiniert...“ seufzte der Mann. Er trat auf Rufus zu und streckte dem Jungen die Hand entgegen. Der junge Hüter sah ihn misstrauisch an.

„Nun komm schon, ich beiße nicht.“ meinte der Mann.

Zögerlich griff Rufus zu und war erstaunt als Artas ihm das Buch entgegenhielt.

„Wollen sie es mir nicht wegnehmen...?“ fragte er nach. Er ernetete einen Blick der so viel aussagte wie: Bist du verrückt? und bekam das Buch gegen die schmächtige Brust geschlagen.

„Nicht einmal für alles Geld der Welt würde ich wieder der Hüter eines solchen Dings sein wollen!“ sagte er bitter.

„Wenn diese Bücher so furchtbar sind, warum will man mich dann wegen Betrayal umbringen?“ wollte Rufus wissen.

„Weil die Menschen dumm sind. Sie wissen die Dinge die sie haben nicht zu schätzen und kommen nicht mit der Welt klar, die sie durch ihr eigenes Verschulden erschaffen haben...“

„Was meinen sie damit?“

Artas sah den Jungen traurig an.

„Ich hatte alles. Ich war der Schüler eines hochrangigen Elemantarmagiers am königlichen Hofe; hatte eine Frau, die mein Kind erwartete und einen gutherzigen Bruder der immer für mich da war.“ begann er zu erzählen.

Mit bedächtigen Schritten trat er auf Lonán zu, der, noch immer vom Affenskelett gefesselt, am Boden lag und hob ihn auf. Er befreite den Raben von seiner knochigen Fessel, steuerte seinen Arbeitstisch an und stellte Lonán darauf ab.

Erst wollte der Vogel nach ihm hacken, doch der Mann hob drohend den Zeigefinger und wies ihn an sich zu benehmen sonst könnte er doch noch im Kochtopf landen.

Das Affenskelett erstarrte auf dem Tisch als habe es sich nie bewegt.

„Mein Bruder war ein königlicher Hexenjäger, hat Magier gejagt, die sich der streng verbotenen Kunst der Nekromantie widmeten und kam eines Tages mit einem Buch, dass er bei einem verhafteten Hexer gefunden hatte zurück. Er hat es mir geschenkt, da es sich scheinbar nicht um die verbotene Kunst drehte und ich damals, wie auch heute noch, seltene Bücher sammelte. Es war Loss. Du kannst dir sicher vorstellen, was für ein Schock es war meine Lebensgeschichte, von dem Zeitpunkt, an dem ich Loss entgegengenommen hatte an, auf den Seiten dieses Buches vorzufinden. Und als es das erste Mal zu mir... sprach, wenn man es so ausdrücken möchte. Ich war entsetzt und fasziniert zugleich.“ schwämte er und lehnte sich mit dem Hintern an seinen Arbeitstisch.

„Dann kam jener verhängnisvolle Tag... Mein Bruder wurde von seinen eigenen Kameraden vor Gericht gezerrt. Angeblich habe er sich der Nekromantie bedient. Er selbst beteuerte mir, nicht gewusst zu haben, dass das Schwert, das er aus einem der Hexenhäuser mitgenommen und seither geführt hatte, mit der verbotenen Magie versehen war. Der hohe Rat der Magier und der Herr der Schwarzen Bibliothek ließen mich begutachten, ob das Schwert wirklich verhext war...“ Er hielt inne und atmete mehrmals tief ein bevor er mit belegter Stimme fortfuhr.

„Es war verhext. Mit einer art von Magie, die ich nicht zuordnen konnte. So verdammt machtvoll wie ein Drache... Jedenfalls trug ich meinen Bericht vor... und unterschrieb damit sein Todesurteil. Er wurde wenige Stunden später hingerichtet. Damals kannte ich die Macht des Buches noch nicht. Ich wusste nicht, dass ich ihn damit retten konnte. Erst Jahre später traf ich einen seltsamen... nein, eher verrückten Mann, der beteuerte, einst der Herrscher über eine ganze, wenn auch kleine, Insel gewesen zu sein und Piraten befehligt zu haben. Der ehemalige Pirat erzählte mir von den Zeitenbüchern, was sie konnten und dass alles einen Preis habe. Natürlich vergaß er dabei zu erwähnen wie der jeweilige Preis aussah. Ich kramte das Buch aus meiner Sammlung hervor und suchte die Stelle, an der mich der Rat fragte, ob das Schwert meines Bruders verhext sei und änderte meine Antwort. Ich dachte mir: Was habe ich noch zu verlieren? Hätte ich das damals gewusst... Kaum hatte ich geändert was ich ändern wollte, fand ich mich an jenem Tag und jenem Ort wieder und log die versammelten Magier an. Ab da nahm mir das Buch alles...“ erzählte er.

„Wie...?“ fragte Rufus verständnislos.

„Das Buch gibt dir die Chance etwas in deiner Vergangenheit zu ändern. Und zwar nur eine Sache, eine Kleinigkeit und reißt dir danach die Zügel aus der Hand. Mein Leben raste in einem solchen Tempo an mir vorbei dass ich nicht sehen konnte wechle Lebenswege ich einschlug, bis zu jenem Tag an dem ich die Änderung vorgenommen hatte zurück...“ Ein freudloses Lächeln trat auf Artas' Lippen.

„Der Preis von Loss ist das Buch selbst.“ sagte er bitter.

„Ich fand mich in dieser Gruft hier wieder. Ohne dieses verdammte Buch und nicht mehr als der angesehene Schüler eines Elementarmagiers, sondern als Zögling eines durchgedrehten Nekromanten!“ flucht er und stampfte wütend mit dem Fuß auf.

„Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, war mein neuer Mentor der Ansicht, ich sei gerade einmal talentiert genug um eine seiner unzähligen Knochenmarionetten zu werden! Er wollte mich umbringen und meine Knochen verzaubern... Ich bin nicht gerade stolz darauf besser als er gewesen zu sein...“ meinte Artas und tätschelte einen Schädel, der neben Lonán und dem Affenskelett auf dem Arbeitstisch stand.

Rufus wurde bei seinem Anblick ganz mulmig.

„Wenn's nur ein neuer Meister gewesen wäre, hätte ich ja noch damit leben können. Aber das war leider noch nicht alles. Nachdem ich den Weg der Todesmagie eingeschlagen hatte war meine schwangere Frau abgehauen und aus meinem Bruder wurde ein Monster... doch nicht durch das Schwert und dessen Magie. Wenige Tage nach seinem Freispruch wurde er zu einem Auftrag ausgesandt, von dem nur er als einziger Überlebender zurückkehrte. Verändert. Ich weiß nicht was ihm wiederfahren ist und er wird es mir sicher nicht erzählen... ich habe ihn schon einige Jahre nicht mehr gesehen...“ sagte er und kratzte sich den blonden Schopf.

„Wie dem auch sei. Du solltest zusehen, dass du das Ding loswirst. Die Bücher tragen ihre Namen nicht umsonst... Loss verliert man sobald auch nur eine Zeile der Geschichte geändert wird. Struggel spaltete angeblich die Seele und löst einen inneren Kampf aus der seinenTräger irgendwann in den Wahnsinn treibt. Und Betrayal...“

„...wird mich irgendwann verraten.“ stellte Rufus fest und warf einen Blick auf das Buch in seinen Händen.

Konnte er diesem Buch wirklich trauen?



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