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Der Anfang vom Ende

Destiel
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das lästige vornweg:

Meine allererste Supernatural-Fanfiktion und ihr sollt wissen, dass hier drin mein Herzblut liegt. Ich hab zwar schon wirklich viel zu allerlei Themenbereichen geschrieben, aber noch nie hat mich eine Geschichte so vereinnahmt wie das hier.
Es hat wirklich unglaublich viel Spaß(?!) gemacht, die beiden agieren zu lassen.
Ich hoffe, es ist noch jemand genauso in der Lage sich für dieses Pairing zu begeistern wie ich es tue.

Achso und: Viel Spaß beim Lesen.

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10 Sekunden

10 Sekunden
 

(Two Minutes To Midnight, 5x21)
 

Er hätte nicht den Fehler machen sollen diese grenzenlose Naivität als Schwäche abzutun.

Denn in exakt diesem Augenblick traf sie ihn hart – ungebremst und mitten ins Gesicht.

Die dünne Haut seiner Unterlippe sprang zeitgleich.

Dann die seiner Schläfe.

Und trotz dessen kam der Schmerz erst, als er am Boden lag – und in sein Gesicht starrte.

Sein Gesicht, zu dem Zeitpunkt, in dem sich sein Glaube, alles, an was er glaubte, in ein winselndes Häufchen Selbstverachtung verwandelte.

In etwas, was still um Erlösung bettelte.

Die er ihm nicht geben würde, eher noch würde er im Himmel zu Kreuze kriechen.
 

Niemand musste es ihm sagen. Es gab Dinge, die wusste er einfach. Mit einer solchen Gewissheit, dass sogar er davor zurückschreckte, sie sich einzugestehen.

Und schlagartig überkam ihn dieses Gefühl zu viel zu sehen, zu viel zu wissen und zu tief drin zu stecken. In diesem Engel.

„Na komm schon, tu es!“, raunte er, mit dem Geschmack von Eisen in seinem Mund, an welchen er sich längst gewöhnt hatte.

„Nein“, antwortete er, mit der Entschlossenheit eines Engels des Herrn, der an nichts mehr glauben konnte außer an diesen einen Menschen. Seinen Menschen …
 

Es war der eiserne Griff an seinem Kragen, der Dean schließlich aus dem Dreck zog.

Dieselben Hände, die ihn dort erst hinunter befördert hatten.

Und mit einer Kraft, die fernab von menschlich lag
 

Es kam ihm vor wie der schlechteste Witz aller Zeiten und trotzdem war er gewillt zu lachen - bis ihn schließlich diese Lippen trafen, die so weit von gewöhnlich wie er von rechtschaffen entfernt waren.

Männerlippen.
 

Dean wusste nicht, ob er jetzt doch lachen, weinen oder dem Dreckskerl eine reinhauen sollte – selbst wenn das vollkommen nutzlos und reine Kraftverschwendung gewesen wäre.

Vielleicht sollte er sich aber auch anfangen zu fragen, warum die Engel – mal abgesehen davon, dass er Michaels wahre Hülle war – so viel Gefallen an ihm fanden.

Aber es war keine Entscheidung, die er wirklich fällen wollte.

Stattdessen konnte er nichts anderes als festzustellen, dass Castiels Lippen nach Verzweiflung schmeckten, sein Atem sich wie Enttäuschung anfühlte und ihm der warme Körper gegen seinen eigenen wie der Verrat an sich erschien.
 

Von irgendwoher nahm er die Kraft ihn von sich zu drücken, nur ein paar Zentimeter.

Und ihm wurde klar, dass Castiel in diesem Moment ebenso himmlisch und heilig war wie er selbst, denn er ließ es geschehen.

Dann wusste er noch nicht mal, was ihn mehr traf: Castiels aufkeimende Menschlichkeit oder seine mangelnde Abneigung.
 

Dean fand keine Worte, aber Flucht war keine gute Alternative mehr.

Glücklicherweise nahm Castiel ihm den Denkprozess ab: „Gebunden.“

Er sagte es, als ob dieses Wort allein schon alles erklären würde.

Aber Dean verstand es nicht, wie er so einiges nicht begriff.

Wusste weder, was dieser Kuss zu bedeuten hatte, noch was er mit dieser dreisilbigen Aussage anfangen sollte.
 

Er verzog nur das Gesicht, nicht sicher, ob es mehr die Verwirrung, der Schock oder die Schmerzen waren, denen er sich plötzlich wieder allzu bewusst wurde.
 

Verärgere nie den Vorzeigeengel.
 

Castiel schien die unausgesprochene Frage zwischen ihnen nicht zu verstehen, dafür fehlte ihm wohl letztendlich doch der menschliche Impuls.

Er starrte Dean einfach an. So wie er es immer tat, mit diesem intensiven Starren. Es brannte sich durch seine Haut direkt in ihn hinein. Eine Mischung aus begrenzter Geduld und vollkommener Gleichgültigkeit und etwas, von dem Dean wusste, dass er es noch nie zuvor bemerkt hatte. Seine Augen nur minimal verengt, aber Dean war sicher, dass es etwas zu bedeuten hatte.

Irgendetwas.

Aber er verstand es nicht, konnte es nicht entschlüsseln, wie so vieles.
 

Es war wirklich schwer genug diesem Blick standzuhalten.

Irgendwann scheiterte Dean, mit einer Resignation, als wäre er dazu bestimmt gewesen, nutzte er seine Schwäche fadenscheiniger denn je aus, um sich mit einem Ärmel das Blut aus den Mundwinkeln zu wischen. Aber nichts wurde dadurch besser als vorher.
 

„Ja“, kam es letztlich rau, tonlos aus seinem Mund und er sprach jenes aus, von dem er erahnte, dass Castiel es hören wollte. Und das, obwohl er nichts verstanden hatte, gar nichts.
 

Dem Engel schien dies auszureichen. Die Finger an seiner Stirn bestätigen ihm wenigstens das richtig gemacht zu haben. Man scheitert in vielen, aber nicht in allen Fällen.

Dann waren sie in Bobbys Wohnzimmer. Und Dean dachte, nichts hätte sich verändert.
 


 

***
 

Dieses Stechen, monoton, dumpf, lästig.

Kopfschmerzen.

Wieder eine Unannehmlichkeit, der er Beachtung schenken musste. Respekt zollen musste, wo Schmerzen zu seiner Zeit als Soldat Gottes nie eine besonders große Rolle gespielt hatten.

Sie kamen und gingen.

Warum hatte er dann bei diesen hier die Befürchtung, sie würden nie enden?

Und er begann sich unwillkürlich die Frage zu stellen, ob diese aufkeimenden Schwächen denn irgendwann ein Ende haben würden. Oder ob er wenigstens mit ihnen vertraut wurde.

Früher oder später.

In diesem Fall konnte man dieses sogenannte Später allerdings in Frage stellen.
 

Menschen dehydrieren – seine Kehle war so trocken wie es tausend Wüsten nicht hätten sein können.

Menschen litten unter Schmerzen – sein ganzer Körper brannte wie es Höllenfeuer nicht hätte tun können.

Und er war sich nur allzu gut darüber bewusst, dass diese Vergleiche utopisch waren.

Unrealistisch – aber menschlich.
 

Dean hatte ihn verdorben. Es war ein schleichender Prozess gewesen, der bereits bei ihrer ersten Begegnung begonnen hatte. Dieser Mensch hatte ihn voll und ganz in seinen Bann gezogen.

Und dieser Körper versagte ihm gegenüber seinen Dienst – wegen mangelhafter Flüssigkeitszufuhr.
 

Er hatte keine Zeit zu verlieren – und dieser Bus hielt alle 5 Minuten an einem anderen Ort.

Den verborgenen Sinn dahinter konnte er beim besten Willen nicht erkennen.

Sam und Dean konnten längst tot sein, von der Pest dahingerafft wie lästige Schädlinge, Ungeziefer – Menschen, denn mehr waren sie nicht für diesen apokalyptischen Reiter – und er hatte Kopfschmerzen.
 

Wie konnte ein Mensch das nur ertragen?
 

***
 

(Swan Song, 5x22)
 

Dean war nicht mehr in Gefahr Michaels Hülle zu werden.

Es machte fast den Eindruck als hätten sie wenigstens ihn gerettet. Er wusste es besser.

Nun hätte er getrost behaupten können, dass noch ein Fünkchen Selbsterhaltungstrieb in Dean existierte, doch dann hätte er mit Sicherheit gelogen. Und nicht nur an dieser Fähigkeit mangelte es ihm.

Er hatte es begriffen, vollständig verinnerlicht. Es gab nur einen einzigen erwähnenswerten Grund, warum Dean seinem Märtyrertum entgangen war. Er hieß Sam – und war gleichzeitig alles, was ihm geblieben war.

Alles, was er seiner Meinung nach noch hatte.

Das Wichtigste daran war, dass Dean es so sah. Der Rest zählte kein bisschen. Und es war gut so.
 

Die Aussicht mit ansehen zu müssen, wie Sam ja zu Luzifer sagt und damit die größte Fehlentscheidung seines bisherigen Lebens traf – die einzig mögliche Wahl, löste in ihm vorerst nur die bedeutungslose Frage aus, ob es eigentlich immer nur einem von diesen Brüdern gegönnt war vernünftig zu sein. Einem oder keinem.
 

Es war ein notwendiger Schritt. Ein geringes Opfer für das Wohl der Allgemeinheit. Sechs Milliarden Menschen, die leben würden, während einer starb. Oder schlimmer, in der Hölle dahinsichte.

Eben diese erbarmungslose Rationalität hätte er an den Tag gelegt – wäre er nicht so tief gefallen.

Jetzt trieb ihn diese Erkenntnis fast in den Wahnsinn.
 

Er wollte das, wovon er sein ganzes Leben lang ferngehalten worden war. Er wollte Alkohol – und irgendwas verriet ihm, dass er dieses Mal keinen ganzen Schnapsladen leeren musste, damit der gewünschte Effekt eintrat.

Vielleicht würde er heute sogar weniger vertragen als Sam.

Aber in jedem Fall würde es ihm helfen das Ganze irgendwie zu verkraften – überhaupt zu verkraften.

Warum strömten ausschließlich die negativen menschlichen Empfindungen ungehindert auf ihn ein?

Erst ein Tag „Menschsein“ und er fühlte nicht mehr und nicht weniger als Wut, Trauer, Schmerz, Enttäuschung, Reue, Verzweiflung und Sorge. Nicht einzeln, nicht nacheinander, sondern zusammen.

Und wieder fragte er sich, was war so erstrebenswert an dieser Menschlichkeit?
 

Und wenn – falls – Sam es nicht schaffte den Teufel höchstpersönlich zu unterjochen und in das Loch zurückzusperren, aus welchem er gekrochen war, dann war es vorbei, endgültig.
 

Und sei es, dass ihm dieses Vorhaben gelang, dann war es das Ende – und zwar für Dean.
 

Diese Brüder lebten in einer derart perfiden Abhängigkeit voneinander, dass er sich meistens nicht sicher war, ob es sich groß von dem unterschied, was man in psychologischer Hinsicht als „krankhaft“ diagnostizierte.
 

Das Ende für alle oder das Ende für Dean.
 

„Die Wahl zwischen Pest und Cholera“, würde Dean sagen, sein Gesicht zu diesem schiefen Grinsen verziehend, obwohl sogar er wusste, dass nichts daran auch nur im Ansatz witzig war.

Aber er würde ihm diese seltsamen Vergleiche lassen, denn er wusste, dass es für Dean irgendetwas damit zu tun hatte seine Verlustangst zu verdrängen.
 

Überhaupt alles zu verdrängen.
 

Dean trug das aussichtslose Duell mit seiner Hilflosigkeit allein aus.

Und er konnte an nichts anderes denken als an diese … Dinge.

Delikte, Vergehen, Fehler, alles womit er in dieser menschlichen Ära konfrontiert war, schwirrte in seinen Gedanken auf und ab. Auf und nieder, immer wieder … Drängender und unnachgiebiger als jedes Gebet, was er je vernommen hatte.
 

War das der Rettungsanker, an den sich die Menschen klammerten, wenn sie keinen Ausweg mehr sahen?

Eigentlich war es ihm gleich– denn es gab nur eine Sache, an die er sich klammern wollte.
 

***
 

„Dean.“ Die ruhige, monotone Stimme, das wohl einzig verbliebene Engelsgleiche an Castiel, auch wenn der Raum bei ihrem Klang keinesfalls erstrahlte.
 

„Was?!“ Besagter zuckte zusammen, fuhr herum mit einer Miene, die zwischen purer Aggressivität und zielgerichteter Wut schwankte. Zeitgleich ärgerte er sich darüber, dass er den verdammten Engel nach wie vor nicht früh genug bemerkte, wenn er in seinem unmittelbaren Umfeld auftauchte.
 

Möglicherweise hätte er es gleich zu Beginn klar stellen müssen, aber das hier war definitiv keiner dieser seltenen Momente, in denen man Beistand suchte, in denen er Beistand suchte.

Allerdings hätte ihn Castiels unangekündigter Aufritt wahrlich nicht überraschen sollen, bekanntlich besaß dieser ja noch weniger Taktgefühl und Einfühlungsvermögen als er selbst.

Dementsprechend nicht das kleinste Bisschen.
 

Dennoch schien dieser Engel etwas zu registrieren, irgendetwas, das ihm vielleicht verriet, dass dieser Anblick von Dean weder für seine Augen noch für überhaupt irgendjemandes Augen bestimmt war.

Er sah es an dieser fast einstudiert wirkenden Manier, wie Castiel den Kopf schief legte und damit nicht mal mehr ansatzweise wie der gefährliche Gegner aussah, der er war.

Eher wie ein Kind, das die Welt nicht mehr verstand. Oder nie verstanden hatte.

Und da es für ihn keinen Sinn ergab, hatte er auch nicht die Güte zu verschwinden.
 

„Komm schon, Cas. Ich hab jetzt keinen Nerv für dein Engelsgedüns. Ich weiß selbst, dass es die einzige Möglichkeit ist“, seine Stimme lag irgendwo zwischen maßloser Frustration und Argwohn. So bitter die Worte aus seinem eigenen Mund auch klingen mochten, irgendwie erhoffte er sich dadurch diesem Blick, der auf ihm lastete, zu entkommen.

Genauso gut hätte er aber auch versuchen können, Dämonen mit bloßen Fäusten zurück in die Hölle zu prügeln.

Denn das hier war kein normaler Blick; es war die Vereinnahmung dieses ganzen beschissenen Raumes.
 

Dieses Zimmer, das vor langer Zeit ein Schlafzimmer gewesen sein konnte – oder eben eine Rumpelkammer, bei der Füllmasse.

Bis gerade eben hatte es seinen Zweck, den „alles und jedem aus dem Weg gehen“ jedenfalls erstklassig erfüllt. Und dann war dieser „Nicht-mehr-ganz-Engel“ gekommen – ohne den geringsten Schimmer von Privatsphäre.
 

Langsam aber sicher manifestierten sich Mordgedanken in seinem Kopf.
 

Castiel mochte dies zwar sowohl an seiner Mimik als auch an seiner Gestik erkannt haben, denn Dean war nun wirklich nicht schwer zu lesen, allerdings war ihm diese Tatsache entweder vollkommen gleichgültig oder es war ihm möglich sie besonders gekonnt zu ignorieren.

Diese emotionslose Maske, die andere vielleicht als Gesicht bezeichnet hätten, bewältigte ihre Aufgabe dabei mehr als ausgezeichnet.
 

„Das ist nicht mein Anliegen.“ Die Engelsgeduld meldete sich wieder zu Wort und wurde auch mit diesen Worten keinen Deut präziser. Schön, Dean hatte ohnehin nicht damit gerechnet das Ganze hier kampflos zu gewinnen. Wenn Castiel also erst eine dämliche Debatte benötigte, um zu begreifen, dass er sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand, dann würde Dean sie ihm mit Freuden geben.
 

„Natürlich nicht“, antwortete er nicht weniger angesäuert und seine Augen verdrehten sich dabei fast von allein.

Castiel konnte selbstverständlich nicht ahnen, dass alles, was er sagte unmittelbar auf dasselbe hinauslief – also Dean gewaltig auf die Nerven ging.

Die Antwort des Engels bestand daraufhin allem Anschein nach im Wesentlichen darin, seinen Kopf noch einige unscheinbare Millimeter weiter in die Waagerechte zu legen.

Wie immer, wenn ihm etwas, das Dean sagte, schleierhaft vorkam.

Dabei war doch eindeutig Castiel es, der nicht auf den Punkt kam!

Und Dean wurde wieder schmerzlich bewusst, wie schwer Menschen – Engel, irgendetwas dazwischen – zu handhaben waren, die völlig immun gegenüber dem Gebrauch von Ironie und Sarkasmus waren.
 

Ein frustgeladenes Seufzen.

Eine fahrige Bewegung, mit der er sich durch die kurzen Haare fuhr.

Dumme Angewohnheiten, die ihm nicht halfen diesen Engel vor sich besser einschätzen zu können.

Während zwischen ihnen nichts zweiter als Schweigen lag.

Unangenehme Stille, bei der er der Einzige zu sein schien, den sie störte.
 

Demnach war er auch derjenige, der dazu verdammt war sie zu durchbrechen.
 

„Nun sag schon, was du willst!“, ein Knurren, kraftlos, resigniert, derweil er sich fragte seit wann Castiel auf eine – auf seine – Erlaubnis wartete, um sich zu erklären.

Normalerweise kam er doch –für einen von diesen Flattermännern – relativ schnell zur Sache und knallte ihm die harte Wahrheit ohne jegliches Feingefühl mitten ins Gesicht.

Dean hatte es ja immerhin jedes Mal auf irgendeine Weise verkraftet. Heute allerdings war etwas anders. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er behauptet Castiel wäre unsicher. Nervös.

Bei genauerer Betrachtung wies sein Körper jedoch keinerlei Anzeichen für diesen Gefühlszustand auf. Keine dieser üblichen Symptome, die er von Menschen kannte.

Und trotzdem lösten seine Worte irgendetwas in ihm aus.

Etwas Undefinierbares flackerte in diesen blauen Augen auf – bei genauerer Betrachtung – war das Erleichterung, was ihn da erfasste? Dean wollte lachen, nicht weil er das Szenario besonders lustig fand, sondern weil es abstruser nicht hätte sein können.

Machte er jetzt nicht nur sich, sondern auch Castiel kirre?

Um ein Haar hätte ihn seine aufkeimende Neugier veranlasst näher zutreten, andererseits war Distanz ein hart erarbeiteter Zustand, den er ungern missen wollte.
 

„Wie geht es dir, Dean?“, es war diese eine simple Frage, auf die Castiel keine Antwort bekam.

Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass dieser Fall eintreten würde, denn er reduzierte den Abstand zwischen ihnen auf ein Unwesentliches, entgegen der Tatsache, dass Dean soeben sämtliche Gesichtszüge entglitten, als hätte er die Kontrolle über ihre Muskulatur verloren.

Was noch freundlich ausgedrückt war, wenn man bedachte, dass er eine Grimasse zog, die dazwischen zu schwanken schien, ob er lediglich an Castiels geistiger Gesundheit zweifelte oder ihm gleich eine Reihe an grausamen Schmerzen zufügen würde.

Auf eine wundersame und unerklärliche Weise schaffte es sein Mund als stiller Teilnehmender den Kampf für sich zu entscheiden.

„Ist das dein Ernst?!“, seine Stimme war um einiges zu laut und um ein Vielfaches zu erregt, als dass er sich jetzt noch einreden konnte, dass er mit der Situation schon irgendwie klar kam.

Es lief aus dem Ruder, so wie alles prinzipiell zu eskalieren schien, was er begann.

Nur zwei Schritte, dann stand er direkt vor dem Engel und seine Gedanken konnten um nichts anderes mehr kreisen, als um die Genugtuung, die es in ihm auslösen würde das erste und letzte Mal bewusst Schmerzen bei seinem Gegenüber erzeugen zu können.

Und wenn der Anlass dafür nur diese selten dämliche Frage war.

Seine Hände schlossen sich dermaßen routiniert um den Kragen des Trenchcoats, dass jenes erzeugte Hochgefühl, nicht mehr ganz klar unterlegen, sondern überlegen zu sein, eine fast vertraute Gänsehaut bei ihm auslösen konnte.

Er war wütend, so verdammt wütend und auch wenn er wusste, dass er Castiel nicht im Geringsten dafür verantwortlich machen konnte, liefen seine Aggressionen gerade zu ihrer absoluten Hochform auf.
 

Er richtete seinen Blick auf diese blauen Augen, die nach wie vor etwas derartig Übernatürliches in sich trugen und hoffte darin nicht mehr und nicht weniger als pure Provokation zu finden.

Doch war dem nicht so - und sein Griff lockerte sich entgegen seiner Absicht beinahe von selbst.

Das war Wahnsinn. Brutaler, impulsiver und völlig abgedrehter Wahnsinn.

Und er allein war die Quelle dieser Verrücktheit.

Wem oder was versuchte er hier denn etwas vor zu machen? Das war krank. Hier stehen und sich nichts sehnlicher wünschen, als dem einzigen Verbündeten, Freund, den er noch hatte, eine richtige schöne Tracht Prügel zu verpassen.

Um vielleicht etwas Erleichterung zu spüren?
 

„Du bist verärgert.“ Diese Feststellung verließ den Mund des Engels, welcher ihm nach wie vor als die Ruhe selbst erschien, während er nicht den Eindruck machte, als schenke er dem, was sich in Dean gerade abspielte, auch nur die geringste Beachtung.

Ja, als hätte ihm die Androhung nach Schlägen auch nur ein einziges Mal aus seinem natürlichen Gleichgewicht gebracht.

Dean hätte es wirklich besser wissen müssen. Sogar in seinem Menschsein war Castiel noch kühler und unerschrockener als eine Backsteinmauer.

„Und das verstehe ich, Dean. Wenn du dich danach besser fühlst, dann schlag mich. Ich versichere dir, dieses Mal werde ich den Schmerz spüren“, fuhr Castiel fort und klang dabei, als sei es die normalste Sache der Welt sich von jemanden verletzen zu lassen, damit dieser sich auf verstörende Art und Weise besser fühlte.

Und er meinte es so ehrlich, dass Dean ihm allein für die Dummheit dieses Angebotes am liebsten geschlagen hätte. Aber das war ein Teufelskreis. Und er würde ihn nicht eingehen.
 

***
 

Ein Schlag … Dean geholfen… Den Schmerz verdrängt …

Tatsächlich hatte sich in ihm die leise Hoffnung geregt, Dean wäre so einfach gestrickt wie man es von einem Menschen seines Kalibers erwartet hätte.

Etwas in ihm war mit Sicherheit davon ausgegangen, dass Dean sich dieser offensichtlichen Provokation hingeben würde. Wieder hatte dieser seine Erwartungen über den Haufen geworfen.

Es war kein gut gehütetes Geheimnis, dass Dean ziemlich leicht reizbar war, impulsiv handelte und sein Gehirn erst im Nachhinein seinen Dienst antrat.

Meistens. Nicht immer. Und zu seinem Leidwesen gerade jetzt nicht.

Stattdessen hakte Dean nach. Vielleicht, um von sich selbst abzulenken, vielleicht, um auf andere Gedanken zu kommen. In jedem Fall aus Eigennutz.

Castiel jedenfalls widerstrebte der Pfad, den dieses Gespräch jetzt einzuschlagen versuchte.

„Ich dachte, du kannst nicht lügen.“ Dean stand immer noch so nah genug vor ihm, dass Castiel ohne Probleme den Blick deuten konnte, mit dem er betrachtet wurde, nämlich als sei er selbst Schuld an allem Übel auf dieser Welt. Und es gefiel ihm nicht, dass Dean ihn so ansah.

„Ich kann nicht lügen“, wiederholte er zur Bestätigung und fragte sich zeitgleich, was das eine mit dem anderen zu tun hatte und warum Dean zu jeder Zeit in Rätseln sprechen musste.

Zugleich hätte er sich aber auch fragen müssen, warum es auf diesem Planeten Menschen gab, die ihre Tiere heirateten, Dean Essen wie eine Art Fest zelebrierte und Sam, wann immer er eine Information brauchte, diese flimmernde Kiste zur Rate zog.

„Dann behaupte verdammt nochmal nicht, dass du es verstehen würdest!“, der Griff an seinem Kragen verschwand so abrupt und ruckartig wie er gekommen war.

Er konnte den vertrauten Geruch von Whisky riechen. Und Dean.

Und dann von einem zum anderen Moment lag wieder ein guter Meter zwischen ihnen.

Wenn es Castiel je gelingen sollte das Verhalten von einer Person richtig einzuschätzen, dann würde es sich dabei höchstwahrscheinlich um niemand anderen als Dean handeln. Dieser hatte ganz klar seine Verhaltensmuster, weshalb sogar er die Situation schnell analysiert hatte.

„Dir missfällt, was ich gesagt habe.“ Es war eine Feststellung, keine Frage und die Tatsache, dass ihn Dean daraufhin mit einem vernichtenden Blick strafte, bekräftigte seinen Verdacht.

„Ja, mir missfällt, was du gesagt hast.“

Castiel erinnerte diese Betonung zu allererst an ein Kind, das etwas wieder ausspuckt, weil es ihm nicht schmeckt und Deans Gesichtsausdruck lief ungefähr auf dasselbe hinaus.

Wieder legte sich sein Kopf in Seitenlage, während er Dean ein weiteres, aber auf keinen Fall letztes, Mal erwartend entgegenblickte. Natürlich war es erst mal um einiges leichter festzustellen, ob diesem etwas nicht passte, als den Grund dafür ausfindig zu machen.

Also wartete er ab.

Denn bei Dean brauchte man keine Geduld.

„Du verstehst einen Scheiß!“, schlug es ihm fast auf Kommando aufgebracht entgegen.

Seine Stirn legte sich Falten, da die Erkenntnis nach wie vor ausblieb. Wie konnte man einen Scheiß überhaupt verstehen? Und allein das schien Dean noch rasender zu machen als es ohnehin schon der Fall war.

„Woher willst ausgerechnet du wissen, wie ich mich fühle? Wie kannst du behaupten, zu verstehen, dass ich wütend bin? Du hast keine Ahnung von dem, was es für mich bedeutet hier rum zu stehen und nichts tun zu können.“ Dean war außer sich. Und fernab von sich helfen lassen.

„Dean…“, die einzig logische Reaktion war ruhig und sachlich zu bleiben. Aber das war gegen Deans vorbestimmte Natur. Er war gnadenlos in seinem Wortschwall. „Jetzt komm mir nicht mit Dean.“

Das hier war keine Diskussion, das hier war der bloße Abbau von Deans angestauter Frustration. Ein Ventil für seine überschüssige Energie.

„Bis vor einigen Monaten warst du auch nicht mehr als eine von Gottes leblosen Marionetten. Du hast dich einen Dreck für auch nur einen von uns interessiert. Für euch waren wir doch nur ein Haufen dummer Ameisen, zu wertlos, um überhaupt existieren zu dürfen.“ Seine Stimme überschlug sich beinahe; er war aufgebracht, laut und sich bei jedem weiteren Wort mehr und mehr in Rage redend. Dean war wie ein ausgehungertes Raubtier, welches sich mit letzter Kraft auf einen Beutefetzen stürzte.

Nur war Dean zu verzweifelt, um zu bemerken, dass er sich gerade an etwas festbiss.

An dem er sich die Zähne ausbeißen würde.

„Das stimmt nicht“, antwortete er in der Pause, die Dean allem Anschein nach benötigte, um einen neuen Schwall seiner Hasstriade vorzubereiten – oder Luft zu holen, während er den angeborenen Impuls zu seufzen unterdrückte. Warum strengte ihn dieses Gespräch auf einmal so furchtbar an, wo er sich doch bestens darauf vorbereitet hatte, nichts anderes als genau das zu hören?

„Ach wirklich? Du bist doch nur bei uns, weil dein sogenannter Vater euch hat sitzen lassen, ansonsten wärst doch nie auf die Idee gekommen uns …“

Und dann war auf einmal alles anders …
 

***
 

Sogar Dean ahnte, dass er mit diesen Worten zu weit gegangen war.

Als im darauffolgenden Moment jedoch der staubige Dielenfußboden seinen Rücken hart und schmerzhaft begrüßte, fühlte er sich in seiner Befürchtung voll und ganz bestätigt.

Die blauen Augen, in deren Aufmerksamkeitsmittelpunkt nichts anderes als seine eigenen lagen, verrieten ihm parallel dazu, dass er soeben einen viel größeren Fehler gemacht haben musste, als Michael nur seinen Körper anzubieten.

Wenn er jetzt behauptet hätte, Verärgerung würde sich in diesem Blick wiederspiegeln, dann wäre das nicht nur untertrieben gewesen, sondern grob fahrlässig.

Komischerweise war der erste klaren Gedanke, den er zu fassen im Stande war, dass er Castiel ohne seinen Engelsmagiekram viel weniger Kraft zugetraut hatte, als nötig gewesen war, um ihn auf den Boden zu befördern. Bedeutend weniger.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er nicht mehr und nicht weniger Muskelkraft besitzen dürfen als seine Hülle zu Lebzeiten. Allein aufgrund von ausgleichender Gerechtigkeit.

„Rede nicht so mit mir! Nicht du.“, riss Castiel ihn grob aus seinen Gedanken, derweil Dean sich beinahe der grotesken Faszination verlor, wie viele greifbare Emotionen sich mit einem Mal auf dem Gesicht des Engels wiederspiegelten.

Er konnte sie unmöglich alle benennen.

Was dem Umstand allerdings nichts entgegen tat, dass sie ausnahmslos Schuldgefühle bei ihm hervorriefen.

„Ich habe alles für dich gegeben. Alles. Wegen dir bin ich gefallen …“, er spürte die dumpfe Vibration des Holzes, welche von der Faust des Engels ausging, die soeben mit einer erbarmungslosen Härte auf den Fußboden geprallt war. Er kam nicht umhin erst jetzt zu bemerken, dass Castiel sich unmittelbar über ihm kniend befand und ihm somit jeden nur erdenklichen Fluchtweg auf effektive Weise abschnitt. Vorausgesetzt der Tatsache, dass er sich hätte zur Wehr setzen wollen.

Dean schloss die Augen, atmete einmal tief ein und ließ die angestaute Luft aus seinen gepressten Lungen, ehe er sie wieder öffnete. Dafür würde er sich definitiv nicht die Schuld zuschieben lassen. Noch mehr davon konnte er unmöglich ertragen.

„Niemand hat dich gezwungen …“ Er war mehr als froh darüber, dass seine Stimme kraftvoller klang, als er es angenommen hatte. Schwäche gehörte zu den Dingen, die er sich gegenüber Castiel keinesfalls erlauben durfte. Auch, wenn es an dieser Stelle wohlmöglich ratsamer gewesen wäre endlich welche zu zeigen. Allerdings nur, wenn er in Betracht zog wie sich zur Erwiderung die Finger dieses Engels in seinen Oberarm bohrten.

Rein äußerlich betrachtet blieb er vollkommen unbeeindruckt. Er blinzelte auch nicht, als sich die Augen seines Gegenübers in bedrohlicher Weise verengten.

„Aber du hast mich darum gebeten.“ Leise, nur ein Hauch. Als würde er nachgeben, aber Dean wusste, dass dieser Fall nie eintreffen würde.

Aufgeben, nachgeben lehrte man im Bibelcamp nicht.

Und Dean begann zu grinsen. Dieses schiefe, verzogene und falsche Grinsen, von dem er wusste, dass Castiel es nicht gern an ihm sah. „Seit wann tust du, was ich dir sage?“

Zähneknirschen. Leise, aber andauernd und nur ein weiteres sicheres Zeichen dafür, dass Castiel gleich der Geduldsfaden reißen würde, wenn Dean nicht mit den nächsten Worten einlenkte.

Nur hätte er dafür zumindest die Absicht einer Versöhnung gebraucht und die lag im Moment in weiter Entfernung.
 

Es war ein egoistisches, aber durchaus angenehmes Gefühl nicht mehr der Einzige zu sein, dem es an geistiger Zurechnungsfähigkeit mangelte. Milde ausgedrückt.

„Ich komme, wenn du rufst. Ich helfe euch bei allem, selbst wenn eure Vorhaben unüberlegt sind und nicht selten an reine Todessehnsucht grenzen. Ich töte ohne zu zögern meine Brüder und Schwestern. Ich tue alles, was du sagst, Dean, ohne zu hinterfragen, ohne Gegenleistung, ohne Pakt. Und dafür würde ich sterben.“ Das waren die unverkennbaren Worte ihres Engels, seines Engels, von welchen Dean mit absoluter Sicherheit behaupten konnte, dass er sie auch so meinte. So verflucht ehrlich, dass es wehtat. Und eigentlich hätte ihm all das ein schlechtes Gewissen bereiten müssen. Die bloße Tatsache, dass jemand auf Erden wandelte, der seine Existenzgrundlage aus reiner Überzeugung von seiner Person heraus aufgab, hätte ihm schlaflose Nächte bereiten müssen, hätte ihn innerlich zerreißen müssen. Derart abstrus war dieser Gedanke.
 

Aber das tat es nicht, stattdessen sog er diese Offenbarung auf, als handle es sich dabei um puren Sauerstoff. Beinahe, als hätte er sie zum allerersten Mal aus dem Mund des Engels gehört, dabei wusste er und hatte längst verinnerlicht, was Castiel ihm hier so eindrucksvoll klar zu machen versuchte.

Dean war keinesfalls berechnend oder wusste nicht über die Ausmaße dieser Versprechungen Bescheid. Er war lediglich verdammt egoistisch und in abnormalen Ausmaßen fixiert. Er hatte diesen übertriebenen Beschützerinstinkt und dieses manchmal kaum in Zaum zu haltende Bedürfnis nach Aufrechterhaltung von menschlichen Bindungen.

Übersteigerte Verlustangst.

Um nichts auf der Welt würde er sie reißen lassen.

Und dann war es ihm schlagartig klar.

„Warum …?“ Nur leider klang es nicht wie die Frage, die es hätte sein sollen. Dafür war das Ganze viel zu offensichtlich.

Castiel reichte es als Grund aus, um seine überlegene Position aufzugeben.

Auf dem staubigen Dielenboden sitzend wirkte der Engel nun dermaßen menschlich und im selben Maße zerbrechlich, dass es bei Dean schon fast physische Schmerzen auslöste. Aber er blieb standhaft. Er hatte nicht vor diesen Engel ohne eine akzeptable Antwort gehen zu lassen.

Auch er hatte diesen abrupten Positionswechsel dazu genutzt sich aufzusetzen.

Und jetzt lag nichts weiter zwischen ihnen als ein halber Meter Luftlinie und eisernes Schweigen.

Für nichts auf der Welt hätte er im Moment mehr gegeben, als für die Fähigkeit in diesen verflucht blauen Augen erkennen zu können, ob sein Gegenüber wenigstens noch über seine Frage nachdachte oder ob seine Gedanken bereits woanders waren.

Dabei war es vollkommen irrelevant wie intensiv ihr Blickkontakt jetzt war – es war ihm einfach nicht möglich auch nur irgendetwas darin zu erkennen, was er einschätzen konnte.

Ein ungeklärtes Mysterium.

„Weil du es bist, Dean“, erreichte Dean von einen auf den anderen Moment die Antwort, die er am allerwenigsten noch erwartet hatte. Nur handelte es sich dabei nicht gerade um das, was in ihm grenzenlose Begeisterung auslöste.

„Drück dich klarer aus, Mann!“, erwiderte er und konnte unmöglich verhindern, dass sein Ton wieder eine Oktave zu tief und eine Spur zu scharf in dem kleinen Raum wiederhallte.

Dean war kein besonders geduldiger Mensch.

„Bei unserem ersten Zusammentreffen in der Hölle … In dieser Scheune … Ich war fasziniert, zu fasziniert – und dann war ich gebunden, an dich, an dein Schicksal, an alles.“ Dean glaubt, etwas herauszuhören, was in menschlicher Hinsicht auf peinlich berührt oder schämend hinausgelaufen wäre, nur wusste er nicht genau zu sagen, ob Engel überhaupt zu so einer reuevollen Reaktion in der Lage waren. Vielleicht nicht alle Engel, aber bei Castiel schien es so zu sein.

Dean versuchte sich an einer Art Lächeln, scheiterte aber schon zu Beginn. Vermutlich wäre dies ein ziemlich herzerwärmendes Geständnis gewesen – wenn er denn die vollen Ausmaße begriffen hätte.

Dennoch stand ihm nicht der Sinn danach tiefer in diese Materie einzudringen. Irgendetwas sagte ihm, dass er gerade nicht bereit dafür war zu erfahren, was an seiner Person einen Engel zum Fallen bringen konnte.

„Hast du mich deswegen geküsst?“ Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, bereute er sie auch schon. Er wusste nicht mal, was genau ihn jetzt dazu bewogen hatte plötzlich diese selten dumme Frage los zu werden, wo er das Geschehnis doch eigentlich so gut wie nur irgend möglich verdrängt hatte. Er war ein hoffnungsloser Vollidiot.

Und er durfte aus nächster Nähe dabei zusehen, wie der Körper des anderen ruckartig in seine steife Ausgangshaltung zurückfuhr.

Dann folgte diese Geste, die vermutlich Ungewöhnlichste von allen. Er wandte den Blick ab.

Castiel zog es vor seine Knie einer näheren Betrachtung zu unterziehen, statt Dean die Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, die er ihm sonst in nur jedem erdenklichen Moment schenkte.

Dieses Mal allerdings war Dean sich sicher, dass er wirklich so etwas wie Scham empfand.

„Ich entschuldige mich für mein unangemessenes Verhalten. Es war sehr unpassend. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“, ertönte sogleich die kühle monotone Stimme und eine Entschuldigung, die Dean mit ziemlicher Sicherheit erwartet und mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit nicht vor hatte zu akzeptieren.

„Verarsch mich nicht!“ Dean entließ hörbar die angestaute Luft aus seinen Lungen. Scharf, rasselnd und weit weg davon sich beruhigen zu wollen.

Keine Geduld, immer noch nicht.

„Mir würde nie in den Sinn kommen dich …“ Aber für Dean stand auch außer Frage, irgendeine Ausrede gelten zu lassen. Also fuhr er unbeirrt fort.

„Natürlich hast du dir etwas dabei gedacht. Du bist ein gottverdammter Engel, du denkst dir immer etwas dabei. Und wenn du gedacht hast, ich lasse die Sache einfach unter den Tisch fallen, dann hast du dich geschnitten.“

Castiel, der seinen Blick inzwischen wieder gehoben hatte, Dean aber keinesfalls ansah, machte nun den Anschein, als würde er sowohl einen Tisch als auch ein Messer ausfindig machen wollen.

Ein frustriertes Seufzen, von dem Dean sich aufhörte zu fragen, dass wievielte es während ihres Gespräches bereits war.

Redewendungen, die sein Gegenüber nicht verstand, waren eine wahrlich schlechte Methode, um eine ernste Diskussion zu führen. Er musste besser aufpassen, was er sagte.

„Ich werde es nicht vergessen und du schuldest mir eine verdammte Erklärung!“, setzte er nach und stellte mit geringer Genugtuung fest, dass zumindest diese Aussage ihre Wirkung nicht verfehlte.

Und wieder machte dieser Engel nicht den Eindruck, als würde er sich möglichst bald zu einer Antwort herablassen. Aber Dean würde nicht locker lassen, würde er nie.

Es war ganz eindeutig Vortäuschung falscher Tatsachen, was Castiel ihm hier bot. Dean wusste ganz genau, dass er nicht über seine Antwort nachdenken musste, sondern sie sich bereits nach Beendigung seiner Frage im Kopf des anderen manifestiert hatte.

Auch bemühte sich sein Gegenüber nicht, die Sache besonders schonend auszudrücken, denn er sagte die Dinge schon aus Prinzip ehrlich und offen heraus.

Dean wusste besser, als es ihm lieb gewesen wäre, dass dieser Engel alles nur hinauszögern wollte.

Diesmal war er es, dessen Zähne knirschten, als er seinen Ober- und Unterkiefer zu fest aufeinander presste und er fragte sich, wann der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie die Rollen wieder getauscht hatten.

„Castiel“, es war eine unausgesprochene Drohung, die hinter der Nennung seines vollen Namens lag.
 


 

***
 

Anders als erwartet wusste Castiel sehr wohl, was es zu bedeuten hatte, wenn man statt mit seinem üblichen Spitznamen plötzlich mit dem vollen Namen angesprochen wurde. Er hatte es bei Eltern und ihren Kindern gesehen, die ihre Schützlinge nur bei ihrem richtigen Namen riefen, wenn sie sich nach der Meinung ihrer Mutter oder ihres Vaters falsch verhalten hatten. Zumeist drohte ihnen dann eine Strafe.

Irgendetwas sagte ihm, dass Dean in diesem Fall keineswegs verständnisvoller wäre als die meisten Eltern, die er in seiner Zeit hier auf der Erde beobachtet hatte.

Leider wusste er nicht recht zu sagen, ob es vernünftiger gewesen wäre lieber gar nicht mit der Sprache rauszurücken – oder ob er wenigstens versuchen sollte Dean die ganze Sache begreiflich zu machen.

In beiden Fällen war ihm dessen Zorn gewiss.

Und die Intensität würde dabei schon fast ein Bonusfaktor sein.

Er konnte nur verlieren.

Und zum ersten Mal schien er ein Gefühl dafür zu bekommen, was es hieß in einer Zwickmühle zu stecken, auch wenn ihm dieser Ausdruck nach wie vor vollkommen abstrus vorkam.

Schließlich öffnete er den Mund, schleierhaft, woher diese blitzartig getroffene Entscheidung rührte.

Immerhin besaß er keinerlei Erfahrungswerte, auf die er hätte aufbauen können, keinen siebten menschlichen Sinn, der ihm instinktiv sagte, was er zu tun hatte.

Da war nichts, außer diesem Etwas. Irgendetwas.

„Damals hast du Jo geküsst, bevor sie gestorben ist.“ Er konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Dean die seinigen warnend verengte und wusste, dass die von ihm erhoffte Reaktion ausbleiben würde.

Das Einzige, was er stattdessen auslöste, war eine Welle an alptraumartigen Erinnerungen.

Es brachte ihn dazu den Kopf zu schütteln.

In einer Geste resignierter Verzweiflung suchte er den Blick seines Gegenübers und sah ihn an.

Begegnete diesen Augen mit einem Ausdruck, der Dean zeigen sollte, dass er nicht wusste, wie er es erklären sollte, dass er ratlos war und menschlich – aber davon noch viel zu wenig hierfür.

Dean schien nicht einmal in Erwägung zu ziehen ihm zu helfen.

Eher verhielt er sich, als würde er ihn herausfordern.

Etwas, das sagte: Versuch es und du wirst sehen, ob es richtig ist lag zwischen ihnen. Restlose Überforderung machte sich in ihm breit, aber er wusste, dass er nur die Wahl zwischen verlieren und Dean verlieren hatte. Auf die eine oder andere Weise.

„Du küsst Menschen, um ihnen zu zeigen, dass sie dir etwas bedeuten.“

Weil du es nicht anders kannst. Aber das behielt er für sich.

Es war eine knappe Feststellung, keine Frage, denn niemand als Castiel und Dean selbst wusste besser, dass dies der absoluten Wahrheit entsprach.

Dean Winchester war kein Mensch großer Worte. Und das schon gar nicht in den richtigen Momenten. Er fand sie nicht.

Nicht, weil er überheblich, zerschlagen und abweisend zugleich war, sondern weil er es nie gelernt hatte.

Taten hatten für ihn schon immer mehr als Worte gezählt.

Er musste nichts bereuen, was er aus dem Bauch heraus tat, denn er wusste, dass es das einzig Richtige war.

Die Antwort war und blieb ein Schnauben. Ein frustrierter Laut als Zeichen dafür, dass es ihm weder reichte noch ihn in irgendeiner Hinsicht befriedigt hatte. Dean reichte es natürlich nicht, dass Castiel nur Aussagen über ihn traf und damit das Wesentliche außer Acht ließ.

Er wollte diese Antworten. So eindeutig, so unverblümt, so gnadenlos ehrlich, dass er sofort entscheiden konnte, ob es sich dabei um die volle und einzige Wahrheit handelte.

Gern hätte Castiel über diese maßlose Sturheit die Augen verdreht – wäre dies nicht eine so erschreckend menschliche Angewohnheit gewesen, die er sich momentan beim besten Willen nicht leisten konnte.

Stattdessen gab er Dean, was er wollte.

„Ich wollte dir zeigen, dass du mir etwas bedeutest. Michael ist nicht die Lösung.“

Dieses Mal musste Dean wissen, was zwischen den Zeilen stand. Es schrie ihn an: Du hast nicht nur Sam und Bobby. Nicht mehr.

Aber Castiel war sich schmerzhaft bewusst, warum ihm diese Worte schwerer über die Lippen gekommen waren, als alles andere auf der Welt.

Denn Dean schien es nicht zu interessieren – oder er hatte endlich gelernt seine Gefühle nicht für jeden sichtbar zur Schau zu stellen. Sein Gesicht wirkte versteinert. Fremd.

Es war emotionslos, als er sich von dem staubigen Fußboden erhob.

Es blieb erkaltet, als er dem Engel den Rücken kehrte und sich der Tür entgegen reckte, als gäbe es keinen Ort, wohin er jetzt lieber gehen würde.

Und es war ebenfalls ohne jede Regung, als ein paar letzte Worte seine unbelebten Lippen verließen.

„Wenn du jemanden küsst, um ihm zu zeigen, dass er dir etwas bedeutet, küsst du ihn länger als 10 Sekunden.“

Dann ging er, fast, als wäre es nur eine simple Lektion gewesen, die er dem Engel erteilt hätte. Irgendetwas Alltägliches, was sich lohnt zu wissen.

Als würde das alles nichts bedeuten.

Aber Castiel wusste nicht genau, ob das nun der Anfang oder das Ende von etwas war. Sein Gefühl sagt ihm beides, also versuchte er sitzen zu bleiben, bis er es wusste.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Riafya
2013-05-17T22:16:43+00:00 18.05.2013 00:16
Oh, dieses Kapitel war wundervoll!
Mir gefällt sehr, wie du den Dialog aufgebaut hast und ich bin schon sehr gespannt, was es mit dem "gebunden" auf sich hatte.
War es wirklich nur Cas' Versuch, Dean zu zeigen, dass er ihm etwas bedeutet? Oder steckt da mehr dahinter?
Außerdem bin ich gespannt, wie du weiter vorgehen wirst. Wirst du dich an dem Plott der Serie halten? Oder wirst du ihn umschreiben? Es geht doch weiter, oder?
Liebe Grüße, Ria
Von:  Minaco
2013-04-04T09:28:36+00:00 04.04.2013 11:28
Das Kapitel ist sehr schön geworden =)
besonders Deans letzter satz, der Castiel damit zeigt das dieser ihn länger küssen musste. Schade das Castiel das nicht versteht und es nicht gleich in die tat umsetzt XD
das Kapitel scheint ziemlich abgeschlossen, aber die Geschichte ist noch nicht abgeschlossen, kommt da noch was?
würde mich freuen ^^

LG Minaco


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