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Das rote Tuch

von

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Der Kampf um Masyaf

Den entschlossenen Blick starr nach vorn gerichtet schritt der - bis an die Zähne bewaffnete - Malik durch das große Tor Jerusalems nach draußen. Schwer zogen Schwert und Ausrüstung verborgen unter seinem schwarzen Mantel an seinem breiten Gürtel, klackerten bei jedem Schritt metallen und leise gegen Schnallen und Nieten. Er hatte sich seine Kapuze noch nicht über den Kopf gezogen, denn damit hätte er wohl die Aufmerksamkeit der misstrauischen Torwachen auf sich gezogen. So offenkundig 'unschuldig' wie er aber gerade eben an ihnen vorbeimarschierte beachteten sie ihn kaum länger als ein paar wenige Sekunden. Leute, die die Stadt verließen wurden nicht kontrolliert; erst recht nicht die, die hier lebten und die man öfters auf den Straßen sah. Nur die, die Zuflucht in dem lauten Jerusalem suchten und eintreten wollten, wurden aufgehalten.

Sich den breiten Gurt seiner ledernen Umhängetasche zurechtrückend hielt der Dai nun verbissen auf die großen Stallungen vor der Stadt zu, nachdem er die Wachposten schnellen Schrittes passiert hatte. Er hatte es verdammt eilig, musste so schnell es ging nach Masyaf. Denn Altaïr hatte Recht gehabt, so Recht. Rashid ad-Din Sinan, Al-Mualim, war ein Verräter. Er war schon so lange Einer, verdammter Mist, und niemand hatte es bemerkt! Gewissheit darüber hatte Malik das kleine Buch gegeben, das seine drei Männer vor Tagen in Solomon's Tempel gefunden hatten. Es hatte sich als Journal herausgestellt, das Robert de Sable gehörte; und es wurde dem Kartografen schlecht, wenn er bloß daran dachte, wie oft der Name des Großmeisters seiner Bruderschaft dort in lateinischen Lettern drin stand. Er hatte ein paar der französischen Passagen mit Hilfe des sprachbegabten Informanten der Stadt übersetzt; viele davon hatte es aber nicht gebraucht, um sicher zu sein: Al-Mualim, dieser Hund, arbeitete mit den Templern zusammen; man musste ihn umgehend aufhalten.

Das Schlimmste an der heiklen Angelegenheit war aber, dass Altaïr in diesem Moment womöglich ebenso auf dem Weg 'nach Hause' war, um den größenwahnsinnigen Anführer zur Rede zu stellen – sofern er die Konfrontation mit de Sable überlebt oder Masyaf nicht schon längst erreicht hatte verstand sich. Malik schluckte schwer. Nicht auszudenken, was der alte Mann mit dem Adler machen würde, würde ihm die Sache zu brisant werden. Unter Drogen setzen würde er ihn wieder, ihn selbst als Verräter hinstellen und töten. Ja, das würde er, nicht wahr? Und wer wusste schon wie viel sich der wankelmütige Altaïr davon gefallen lassen würde; er hatte zwar eine große Klappe, doch wenn es um den Alten vom Berg ging, ging er bei direkter Konfrontation mit ihm und ab einem gewissen Punkt in eine Art... Angststarre über.

Malik hatte vor drei Tagen eine Brieftaube nach Akkon geschickt, um den alten Dai von dort zu alarmieren, ihm die Angelegenheit zu schildern und ihn eindringlichst um Hilfe zu bitten. Jabal war der Einzige der anderen hochrangigen Gelehrten, denen der Schwarzhaarige vertraute und zudem einer seiner damaligen Mentoren. Er war ein äußerst weiser, weltoffener Mann, der seine eigene Meinung zu Allem hatte und Al-Mualim und dessen konservativen Ansichten seit jeher kritisch gegenüber stand. Malik war sich sicher: Sein lieber Kollege würde ihn unterstützen so gut es ging.
 

Der hektische Kartograf verschwendete diesmal keine Zeit daran seine dunkel gefleckte Stute mit der schwarzen Mähne, Afya, überschwänglichst zu begrüßen, nachdem er die Stallungen erreicht hatte. Lediglich dem geschäftigen Stalljungen, der damit beschäftigt war Stroh zusammenzufegen, schnippte er eine Silbermünze zu.

Grimmigen Blickes sattelte Malik - der mit den düsteren Gedanken bereits viel weiter war als nur vor den Stadtmauern Jerusalems – sein Tier und stumm schwang er sich dann auf ihren breiten Rücken, um mit einem Zungeschnalzen los zu preschen. Mehr als einen Schatten würde man nicht von ihnen sehen.
 

II
 

Malik brachte sein schnaubendes Ross eineinhalb Tage später kaum zum Stehen, da sprang er bereits aus dessen Sattel und lief stolpernd los. Völlig atemlos, hungrig und erschöpft von der langen und heißen Anreise zum Dorf, das er seit einer halben Ewigkeit nicht mehr betreten hatte, trugen ihn seine schweren Beine quer durch Masyaf... und das ohne eine einzige Menschenseele anzutreffen.

Nicht gut. Dem Kartografen schwante Übles und er schluckte schwer. War er etwa zu spät gekommen? Er hatte sich doch so sehr beeilt; lediglich die Erschöpfungszustände Afyas hatten ihn unterwegs regelmäßige Pausen einlegen lassen.

„Malik!“ die tiefe Stimme seines alten Bekannten ließ den bangen Dai zusammenzucken und herumfahren, doch als er den Sprechenden in einer kleinen Seitengasse zwischen zwei alten Häusern erkannte, schien ihm eine gewaltige Last von den Schultern und ein mächtiger Felsbrocken vom Herzen zu fallen „Jabal!“. Oh, welch ein Glück! Sein alter Freund war tatsächlich hier! Und bei ihm drei Andere, die dem offenbar herbeigesehnten Dai Jerusalems ungeduldig entgegen linsten. Auf seinen schmerzenden Füßen eilte der 25-Jährige auf die Anderen zu, duckte sich zu ihnen in den schützenden Schatten des schmalen Sträßchens und zögerte nicht damit nachzuhaken, als ihm der gute Jabal die Schulter freundschaftlich drückte „Was ist los? Wo sind all die Leute?“. Bitterkeit lag auf diese Fragen hin im bedächtigen Blick des viel älteren Dais aus Akkon und er atmete tief durch bevor er ruhig sprach.

„Sie sind oben in der Festung.“ fing er mit gedämpfter Stimme an und fuhr sich nervös durch den langen grauen Bart „Irgendetwas schien sie dort hin getrieben zu haben, frag mich nicht was, Malik.“.

„Dann sollten wir nachsehen.“

„Nein. Viel zu viele Brüder bewachen den Hügel...“

„Und..?“

„Ich weiß nicht was in sie gefahren ist, aber sie greifen jeden an, der sich ihnen nähert. Sie sind wie von Sinnen.“ Jabal schüttelte seinen Kopf in großem Unglauben über seine Aussagen – er schien sie selbst nicht wahrhaben zu wollen. Völlig irritiert starrte Malik dem Alten entgegen ehe sein fragender, unbehaglicher Blick zu den anderen Dreien abwich „Von Sinnen?“.

Einer der drei Brüder nickte dann auch schon mit verzogener Miene in die Richtung eines Weiteren; eine fleckige Binde schlang sich um dessen Kopf und auch sein linkes Auge war sporadisch verbunden worden „Ilkim hier wollte sich heute über die äußere Felswand einschleichen, doch sie haben ihn gesehen. Er kann froh sein, dass er noch am Leben ist.“

Malik's braune Augen wanderten unschlüssig zwischen den vier Männern hin und her; mit dem breiten Rücken voran ließ er sich schlussendlich an die sandsteinfarbene Hauswand hinter sich sinken und erlaubte sich ein paar kurze Momente, um zu Luft und zu halbwegs klaren Gedanken zu kommen.

Die ganzen Dorfbewohner waren also in der Festung, die von den Assassinen verteidigt wurde? Hätte den Dai ja nicht sehr beunruhigt, wäre da nicht die prekäre Tatsache gewesen, dass eben jene Krieger den Sitz der Bruderschaft bis auf den Tod verteidigten. Und das auch gegen ihre eigenen Leute.

Wo blieb da der Sinn? Sie mussten wahrhaft verrückt geworden sein!

„Wir sind nur zu fünft, wir können nichts gegen diese Scharen dort oben ausrichten, mein Junge.“ meinte der Älteste der kleinen Truppe, wieder lag seine Hand auf Malik's Schulter.

Der 25-Jährige verengte die dunklen Augen und neigte seinen Kopf wieder in Jabal's Richtung. Durchdringend blieb sein angestrengt nachdenklicher Blick auf dem anderen Dai hängen „Habt ihr Altaïr gesehen?“.

„Nein.“

Malik presste die trockenen Lippen aufeinander, ballte die Hand zur Faust und zischte kurz darauf ein „Scheiße.“. Ein tadelnder Blick seitens des alten Dais Akkons folgte, doch Jabal sagte nichts.

Wenn die Lage in Masyaf tatsächlich so drastisch war, wie sie die Anderen schilderten, dann hatten sie ein gewaltiges Problem. Vermutlich war Al-Mualim nun komplett durchgedreht und hatte auf dieses goldene Ding aus Solomon's Tempel zurückgegriffen; wahrscheinlich gab er sich der fragwürdigen Macht dieses verwunschenen Apfels in diesem Augenblick hin. Malik wusste, wie anziehend dieses Gefühl von Unbesiegbarkeit war, das das goldene Ding ausstrahlte, er wusste wie gefährlich; denn er hatte es am eigenen Leib erfahren und würde dies nicht noch einmal erleben wollen.

Nur was zur Hölle wollte der dreckige Verräter am Berg mit all den Dorfbewohnern? Und... war Altaïr tot? Hatte sich Malik's übles Bauchgefühl bestätigt? Oh, bitte nicht, hoffentlich ging es ihm gut.
 

Der hin und her gerissene Kartograf versuchte seine finsteren Gedanken am Rande der Verzweiflung mit einem Kopfschütteln loszuwerden wie lästige Fliegen und lehnte sich hinter der Hauskante vor, um vorsichtig auf die unberuhigend leergefegte Straße blicken zu können. Gerade war keine Zeit, um Trübsinn zu blasen. Sie mussten handeln. Nur wie? Und wo?

„Sie sind von Sinnen, ja?“ sprach der grüblerische Mann mehr zu sich selbst als zu seinen älteren Begleitern, die dummerweise alle auf eine Entscheidung seitens des unschlüssigen Schwarzhaarigen warteten „Was, wenn wir auch so tun, als wären wir verrückt? Hm? Wir mischen uns unter sie und finden heraus was vor sich geht. Vielleicht schaffen wir es damit bis zu Al-Mualim.“.

„Und wenn das nicht funktioniert?“

„Dann... nunja, laufen wir Gefahr zu sterben.“

„Tolle Aussichten. Ist dein Plan nicht etwas überstürzt? Wir sollten-“

Warten? Fliehen? Nein. Wir können nicht einfach so gehen oder das, was hier vor sich geht noch weiter ausarten lassen. Wir würden Masyaf damit seinem Schicksal überlassen und die Bruderschaft verdammen. Dieser Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht.“

„Wahre Worte.“ brummte der gute Jabal einsichtig, doch beharrte auf der rationellen Denkweise der Gelehrten „Dennoch sollten wir Vorsicht walten lassen und nachdenken. Malik, du bist immerhin auch ein Da-“

Wir haben keine Zeit dazu.“ hielt der missgestimmte Malik mahnend dagegen, blendete den besonnenen Dai in seinen Kopf aus und wurde zu dem 'Beinahe-Meisterassassinen' von vor etwa einem Jahr „Ich denke sehr gern über alles Mögliche nach und schreibe es dir sogar in einem Journal auf, Jabal, doch jetzt sollte man Taten sprechen lassen. Menschenleben stehen auf dem Spiel!“

Ein tiefes Durchatmen und ein leises, entnervtes Stöhnen ging durch die kleine, unentschlossene Gruppe im Schatten der schmalen Seitengasse. Dann aber hob Malik, der nach wie vor beiläufig damit beschäftigt war suchend aus seinem sicheren Versteck hervor zu lugen, die Hand. Es war eine stumme Aufforderung an den Rest zu schweigen.

Seine braunen Augen folgten derweil einer weißen Gestalt, die soeben entschlossenen Schrittes den Weg, der gen Hügel führte, nahm. Eine knöchellange, reichlich bestickte Robe, ein aufrechter Gang, schwere Bewaffnung, eine versteckte Klinge... das dort war einer der ranghohen Meisterassassinen. Malik fühlte wie sein flatterndes Herz einen hohen Sprung machte obwohl er sich auf die weite Entfernung nicht einmal sicher sein konnte, das der Mann dort Altaïr war.

Bei Allah, hoffentlich war er es.

„Dort ist jemand, seht.“ flüsterte der hoffnungsvolle Dai über seine Schulter zu den aufhorchenden Anderen zurück. Auch sie beugten sich nun vorsichtig hinter der Hausecke hervor.

„Wir sollten ihm folgen.“ entschloss Malik knapp und ohne Umschweife.

Was?

„Ihr sagtet, die Anderen wären oben. Der hier kam aber gerade erst an. Vermutlich hat er keine Ahnung, was hier vor sich geht und ist bei Verstand. Wir sollten ihn zumindest warnen, meint ihr nicht auch?“

„Hm.“

Der junge Dai schnaubte leise und sah aus seinen Augenwinkeln stumm strafend zu seinen vier Begleitern hin „Ich werde ihm folgen. Von mir aus könnt ihr euch weiterhin feige hier verstecken aber ich gedenke das nicht zu tun...“. Mit diesen Worten hastete der aufgebrachte Malik dann auch schon los – ungeachtet dessen, ob ihm jemand folgte oder nicht. Die wenigen Schatten waren dabei seine innigsten Freunde; auf leisen Sohlen, doch schnell näherte er sich dem Neuankömmling unbemerkt. Und tatsächlich folgten ihm Jabal und die anderen Drei.
 

Die fünf Assassinen bahnten sich ihren Weg unbemerkt und flott zwischen den Häusern Masyafs hindurch. Zwei von ihnen bewegten sich über die hohen Dächer und erreichten die Felswände vor dem verletzten Ilkim, dem betagten Jabal und Malik, der mit nur einem Arm nicht wirklich dazu fähig war zu klettern. Eine dumme Tatsache, die der eingeschränkte Dai in diesem Augenblick zutiefst verfluchte, denn der wendige Meisterassassine, denen sie auf den Fersen waren, war nicht gerade langsam unterwegs. Mit gezogenem Schwert erklimmte er die schmale, ansteigende Straße zur ungewohnt stillen Festung.

Malik erkannte den Mann am Weg erst, als es beinahe schon zu spät war und sie die aggressiven Wachen vor der Burg fast schon erreicht hatten: Jabal hatte währenddessen erst einmal kapituliert und hielt sich seiner schmerzenden, alten Knochen wegen im Hintergrund während die anderen Vier ihrem Ziel über ein paar nicht allzu hohe Felsen in die Flanke gefallen waren. Meisterrobe hin oder her; war der Neuankömmling ihnen feindlich gesinnt, so hatte er keine Meter.

Der Jüngste - doch neben Dai Jabal Ranghöchste - der Gruppe rappelte sich schlussendlich auf und begab sich in das direkte Blickfeld des entschlossenen Assassinen am abgetretenen Sträßchen, der sofort aufmerksam inne hielt und den gewickelten Griff seines Schwertes fester mit den behandschuhten Fingern umschloss. Als sich ihre wachen Augen trafen, schienen beide für einen kurzen Moment lange den schweren Atem anzuhalten und Malik's finsterer Blick erhellte sich.

Altaïr.

Es war tatsächlich Altaïr!

Malik verkniff sich ein ungemein erleichtertes Auflachen und blieb auf der kleinen Anhöhe vor dem kampfbereiten Raubvogel stehen anstatt ihm sofort kopflos entgegen zu rennen; er winkte ihm zu „Altaïr!“.

Der angespannte Ältere etwas weiter unten zögerte und verengte seine goldenen Augen, um besser sehen zu können. Noch immer wirkte er kampfentschlossen und der, vielleicht zu leichtsinnige, Kartograf fürchtete schon, sein alter Freund stünde wie so viele Andere unter dem schrecklichen Bann Al-Mualims. Mit skeptischer Miene verharrte der jüngere Assassine an seinem Platz und nickte seine vier Begleiter stumm zu sich. Seine braunen Augen blieben dabei musternd an dem angriffslustigen Krieger am staubigen Weg hängen. Seine lange Robe war schmutzig, hier und da gar blutbefleckt.

War der Adler in Ordnung? Ging es ihm gut? Hatte er de Sable getroffen? Was war geschehen? Oh, was hätte der interessierte Dai gerade nicht dafür gegeben die Antworten auf all diese Fragen zu bekommen!

Nun, jedenfalls eine Antwort kam gleich. Und zwar in der Form eines plötzlichen, verschmitzten Grinsens seitens des älteren Mannes.

„Du hast dir eine gute Zeit ausgesucht, um hier aufzutauchen.“ stieß jener beinahe schon amüsiert aus und Malik fiel abermals ein Stein vom schnell klopfenden Herzen.

„Sieht so aus...“ entgegnete der sichtlich erleichterte Büroleiter lächelnd, als seine anderen Kameraden an seine Seite traten um Altaïr kritisch, aber respektvoll, zu beäugen.

„Al-Mualim hat uns betrogen.“ mit diesen feststellenden Worten wurde der Ausdruck Altaïrs wieder ernster und ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht. Malik machte sich nun - anstatt sofort zu antworten - daran von dem zerrütteten Felsen zu gleiten, auf dem er stand, um dem verstimmten Adler direkt gegenüberzutreten und um nicht von oben herab mit ihm reden zu müssen. Es war nicht besonders einfach mit nur einem Arm von einem hohen Vorsprung zu klettern, doch es ging einigermaßen.

Abgekämpft von den letzten Stunden und Tagen trat der beklommene Malik schließlich vor den abwartenden Assassinen; jener senkte sein Schwert und betrachtete den Schwarzhaarigen mit einem undeutbaren Blick im schmutzigen Gesicht. Wieder war da ein kleiner Anflug dieser... unterdrückten Freude und Erleichterung.

„Nicht nur uns. Seine Verbündeten unter den Templern ebenso.“ gab Malik abgespannt von sich, seine braunen Augen schienen den abwartenden Altaïr gerade fressen zu wollen. Gott, wie gerne hätte er diesen Kerl gerade umarmt...

„Woher weißt du das..?“

„Ich bin letzte Woche in den Tempel Solomons zurückgekehrt nachdem wir in Jerusalem miteinander gesprochen hatten. Robert hat detailliert Tagebuch geführt und darin vieles festgehalten das... Al-Mualim in derbe Mitschuld zieht. Es hat mir das Herz gebrochen, aber mir ganz neue Blickwinkel aufgetan...“ Worte, die dem 25-Jährigen schwer und zäh von der Zunge rannen; er schüttelte sein Haupt langsam und wendete den ärgerlichen Blick bitter zur Seite. Er hätte sich niemals gedacht jemals so hier stehen zu müssen. In solch einer Position; Einer, die gegen den Anführer der Bruderschaft stand und einer Rebellion gleichkam. Aber dem war nun eben so. Und er war froh, dass Altaïr gekommen war, dass er bis jetzt überlebt hatte.

„Du hattest die ganze Zeit über Recht, Altaïr. Al-Mualim wollte das heilige Land nicht schützen, er wollte es besitzen und wir, seine Laufburschen, sollten es ihm ausliefern.“ gab Malik mit einem dicken Knoten im leeren Magen zu und hob seinen todernst zielbewussten Blick wieder etwas an „Wir müssen ihn aufhalten.“.
 

Altaïr's berechnende Augen hatten die ganze Zeit über taxierend auf dem sprechenden Malik gelegen. Und nun, da der Dai ausgeredet hatte, lockerte sich die harte Mimik des Adlers etwas. Er schien nicht interessiert daran zu sein die ungute Lage ausschweifend zu diskutieren; er wirkte lediglich froh darüber, dass sein Bruder aus Jerusalem seine kritischen Ansichten endlich teilte „Sei vorsichtig, Mal.“. Der Kartograf blinzelte dem Anderen unsicher entgegen, einer seiner Mundwinkel zuckte schwach zur Seite.

„Sobald er die Gelegenheit dafür bekommt, wird er mit uns machen wollen was er auch mit den Anderen getan hat. Bleib um jeden Preis weg von ihm, verstanden?“

„Was..? Was schlägst du also vor? Ich will helfen, Altaïr, mein Schwertarm ist stark genug und ich habe vier fähige Leute bei mir, die uns unterstützen wollen. Es wäre falsch uns von alldem fernhalten zu wollen.“

„Dann... lenkt sie ab. Attackiert die Festung aus dem Hinterhalt und zieht die Aufmerksamkeit der wahnsinnigen Lakaien auf euch. Vielleicht bekomme ich damit die Chance Al-Mualim zu erreichen und ihn zu stellen.“

„Du willst was??“

„Zu Al-Mualim. Ich werde ihn töten.“

„Altaïr-“

„Shht.“

Malik entkam ein langgezogenes Seufzen und er wollte sich die kurzen Haare raufen, doch krampfhaft versuchte er seine Unruhe zu verbergen und sachlich zu antworten. Es war nicht die richtige Zeit zum Streiten „Ich-... ja, wie du meinst. Wir lenken sie ab.“.

Oh verdammte-

„Gut. Bedenke aber, dass diese ganzen Leute unter fremdem Einfluss stehen.“

„Sicher. Wir werden sie nicht töten, wenn es nicht vonnöten ist. Nur, weil Al-Mualim das Kredo gebrochen hat, tun wir dies nicht auch, um ihn aufzuhalten.“

„Mehr verlange ich nicht von dir. Friede sei mit dir, mein... Freund.“

„Deine Anwesenheit wird uns diesen bringen, Altaïr...“
 

Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit nach dieser Ansprache vor dem Adler Masyafs zu stehen und ihn für wenige tiefe Atemzüge lang einfach nur anzuschweigen. Malik bekam es in Folge kaum hin sich von dem furchtlosen Älteren abzuwenden, um los zu eilen. Doch als er dies tat, nickte er seinen vier abwartenden Begleitern auffordernd zu „Na kommt. Ihr habt ihn gehört.“.

Der junge Büroleiter bemerkte die tiefen Blicke Altaïrs nicht in seinem Nacken und wagte es nicht sich noch einmal zu ihm umzudrehen, als er mit seinen Männern verschwand, um den Lockvogel für all die Verrückten auf dem Berg zu spielen.
 

III
 

Hey!!“ Malik's raue Stimme erhob sich über die wirren Köpfe der unzähligen Wachen Masyafs und sofort galt all die ungeteilte Aufmerksamkeit der irren Männer ihm. Er schluckte trocken, als ihn die vielen abwesenden Augen fixierten und er umfasste sein... nein, Altaïr's Langschwert, das aus Solomon's Tempel geborgen wurde, fester. Er hatte Seines ebenso wiedergefunden, doch in Jerusalem zurückgelassen. Er hatte es bis zu seiner Rückkehr – wenn er denn nicht stattdessen... starb - in Karim's Obhut gegeben. Der quirlige Geselle hauste nun nämlich für die nächsten Tage zusammen mit zwei Anderen im geschlossenen Assassinenbüro und gab auf alles Acht. Er hatte versprochen all die wichtigen Aufzeichnungen dort mit seinem Leben zu schützen – nicht mehr und nicht weniger erwartete der korrekte Malik von ihm.
 

Kalter Stahl sirrte schneidend durch die Luft, als der erste verwirrte Assassine den provokanten Dai erwarteterweise erreichte und der flinke Malik duckte sich geschickt unter dessen weitem Schwerthieb fort. Für jemanden, der vor etwas mehr als einem Jahr knapp vor der Prüfung zum Meisterrang gestanden hatte, war es ein relativ Leichtes einfache Wachen der Festung auszuschalten. Wären davon bloß nicht so viele da gewesen! Wo kamen sie nur alle her?

Seitlich und mit einem Ausfallschritt trat Malik an seinen orientierungslosen Gegner heran und rammte ihm den Ellbogen hart und mit einem Ruck in das Genick, machte ihn somit unschädlich. Doch der Nächste stand bereits vor ihm und stieß mit seiner spitzen Waffe zu. Um nur eine Haaresbreite verfehlt schlug der wendige Dai dem rasenden Mann den Schwertarm mit der flachen Seite seiner Schwertklinge fort, um ihn nicht zu verletzen – und tat das aber so fest, dass der fremde Assassine seine eigene Waffe schmerzlich aufstöhnend fallen ließ. Malik's Schwertknauf traf den Mann daraufhin wuchtig im Gesicht und er ging ächzend, blutend und mit schwindendem Bewusstsein in die Knie. Leise entschuldigte sich der geistig zerrissene Kartograf, der keine andere Wahl gehabt hatte als seinem Gegenüber beim vorangegangenen Schlag die Nase zu brechen, für seine Tat.

Dem Büroleiter blieben nur Sekunden, um sich kurz nach seinen vier kämpfenden Begleitern umzusehen. Sie alle schlugen sich wacker gegen die Horden an hirnlosen Wachmännern. Noch. Denn anders als ihre Gegner waren sie von dem langen Ritt nach Masyaf erschöpft, sie würden schneller ermüden als die fuchtelnden Marionetten Al-Mualims.

Fest biss der Schwarzhaarige die Zähne aufeinander und fuhr zu einem weiteren Verrückten herum, als er dessen Präsenz wie einen kalten Hauch hinter sich verspürte. Sein schwarzer, bestickter Rafiksmantel, durch den er inmitten der vielen Leute wahrlich herausstach, flatterte dabei leise raschelnd hinter ihm her wie die Schwingen einer aufgeregten Krähe. Instinktiv riss er das lange Adlerschwert in eine defensive Haltung vor sich; Sekunden später schmetterte die Waffe des Anderen gegen deren Klinge. Und das so hart, dass das Nachvibrieren des heftigen Hiebs schmerzhaft bis in Malik's Schulter hochzuckte und der 25-Jährige verhalten aufächzte. Hätte er seinen linken Arm noch besessen, hätte er nun nach einem kleinen Wurfmesser gegriffen, um es seinem Gegenüber in eines seiner Beine zu rammen. Doch diese Option blieb ihm leider verwehrt – wie so viele andere auch. Ein Fluchen verließ die Kehle des entnervten Kartografen.
 

Erste Anflüge von vollkommener Müdigkeit zwangen den schwer atmenden Malik - nach vielen weiteren bewusstlos geschlagenen und leider zwei getöteten Wachen - gegen eine der steinharten Felswände ringsum. Mit einem langen, doch nicht zu tiefen, Schnitt quer über seinen Brustkorb und Blut an den Mundwinkeln, weil er sich bei einem unglücklichen Sturz fest auf die Zunge gebissen hatte, sank er seitlich an den kühlen Stein und blinzelte angestrengt vor sich in die Leere. Dass der versehrte Ilkim gefallen und der betagte Jabal schwer verletzt war, hatte sein von Adrenalin verklärter Geist in diesem brenzligen Moment völlig ausgeblendet. Denn hätte er das nicht, wäre der junge Büroleiter vermutlich der schweren Verluste wegen schreiend auf die weichen Knie gefallen... und hätte sich somit kaum gegen seine feindlich gesinnten Brüder erwehren können. Diese umzingelten ihn in dieser Sekunde schon wieder; drei an der Zahl stürzten einen schmerzenden Herzschlag später auf ihn los und er wehrte sich mit all seiner übrigen Kraft, die seinem geschwächten Körper noch zur Verfügung stand.

Er durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt. Altaïr brauchte ihn.

Noch einer der verblendeten Assassinen wurde Opfer eines heftigen Genickschlags, ein Weiterer geriet unter die fahrig zutretenden Lederstiefel des erschöpften Dais und der Letzte, der stieß den taumeligen Malik zurück an die harte Steinwand von gerade eben. Mit dem Unterarm gegen Malik's Kehle drückte er jenen an den spitzen Felsen; und der Kartograf, der sich den Hinterkopf derbe an der steinigen Wand hinter sich angeschlagen hatte, japste stöhnend und mit vielen kleinen, hüpfenden Sternchen im enger werdenden Blickfeld nach Luft. Er konnte seinen eigenen Puls unangenehm laut in seinen Ohren pochen hören, alle weiteren Geräusche ringsum – das Klirren von Metall, Schreie, fallende Körper – schienen plötzlich so weit entfernt. Am Rande der Bewusstlosigkeit entfloh Malik's wund gebissenen Lippen ein flaches Keuchen.
 

Und mit einem Mal war es vorbei.

Malik wusste nicht wie lange er hatte kämpfen müssen und warum er nicht schon längst tot war – erstochen oder erwürgt von dem großen, ihm fremden Mann vor ihm. Doch ganz plötzlich war die Bedrohung durch den – und hoffentlich auch die - wahnsinnigen Assassinen vorüber... glaubte er. Er rutschte an der Wand in seinem breiten Rücken ein Stückchen weit hinab, hustete dabei und sah irritiert und nach Atem ringend auf. Der dunkelhäutige Assassine vor ihm war mit geweiteten, gräulichen Augen und sichtlich verwirrt zurückgetreten und sein ungläubig geöffneter Mund formte eine Frage, die die pochenden Ohren Maliks nicht verstanden. Das Schwert fiel dem Fremden dabei aus der Hand und er hob seinen Kopf alarmiert gen Festung. Ein golden schimmernder Schleier schien über dem massiven Gebäude zu hängen.

Golden.

Malik's Mimik entgleiste, als er dem Blick des entrüsteten Gegenübers folgte und er sog den zitternden Atem, der ihm noch immer nicht regelmäßig in die Lungen dringen wollte, scharf ein. Wie in Trance und schwerfällig rappelte er sich wieder auf, stellte sich leise klagend auf die schwachen Füße und schüttelte den wirren, schmerzenden Kopf. Dann eilte er benommen los und wandelte so schnell wie ihn seine schweren Beine noch tragen konnten in die Richtung der Burg. Nur ein einziger Gedanke trieb ihn dabei voran – Altaïr. Er hatte keine Ahnung von der Macht des verzauberten Artefakts aus Solomon's Tempel. Malik musste ihn warnen; ihm helfen!
 

Der Weg zu der Festung gestaltete sich für den angeschlagenen Dai als äußerst schwierig. Viel zu steil für erschöpfte Füße und viel zu holprig für einen angeschlagenen Kopf. Doch - eher spät als zur rechten Zeit – stürzte der wieder etwas klarer sehende Malik in den Vorhof des massiven Bauwerks. Er hielt schnell und schwer keuchend inne, als er auf dem Platz - mit dem großen Trainingsring und den paar Stufen, die in das Innere des nun leeren Gebäudes führten - vielen ausdruckslos starrenden Menschen gegenübertreten musste. Dorfbewohner, kleine Novizen, erwachsene Assassinen; sie alle wirkten wie gebannt von dem hellen Schleier, der über Masyaf lag. Sie alle wirkten wie regungslose Puppen... nicht mehr aggressiv und offensiv die Waffen schwingend sondern... apathisch. Apathisch und so, als wären sie mental gar nicht anwesend.

Malik's braune, große Augen wanderten verunsichert zwischen den unzähligen Anwesenden umher und er tat nur äußerst vorsichtig ein paar hinkende Schritte in den Hof hinein. Niemand beachtete ihn. Ob man ihn überhaupt bemerkte..? Offenbar kaum.

Was war bloß in Al-Mualim gefahren, wozu brauchte er all diese armen Leute??

Sich auf der Unterlippe herumkauend bahnte sich der Kartograf langsam einen Weg durch die Menschentraube vor dem Eingang zu den Innenräumen der Festung. Immer wieder blickte er dabei beunruhigt um sich, die kalte Hand auf dem Knauf des Langschwertes an seiner Seite und bereit damit zuzuheben, wenn auch nur irgendjemand auf die dumme Idee kam ihn anzugreifen.

Doch es geschah nichts dergleichen. Nach wie vor blieb der matte Dai etwas Nichtbeachtetes inmitten der vielen Marionetten aus Fleisch unter dem fremden Einfluss des goldenen Apfels; niemand versperrte ihm den Weg. Somit ungehindert und wieder eiligeren Schrittes gelang der bange Mann also in die gespenstisch ruhige Eingangshalle der Burg, durchschritt diese mit einem ganz üblen Gefühl in der flauen Magengegend und bis aufs Äußerste angespannt. Es war so... so leise hier. Viel zu ruhig und so leer. Malik kam es gar so vor, als hallten seine schweren Schritte noch lauter von den dicken Steinwänden wider als er es in vager Erinnerung hatte. Oder lag das an seinen Sinnen, die sich gerade auf jeden noch so kleinen Laut konzentrierten?

Laute wie das Aufeinandertreffen von hungrigen Stahlklingen zum Beispiel. Der aufmerksame Kartograf horchte alarmiert auf und richtete seinen angestrengt wachsamen Blick gen Garten. Dort draußen war soeben ein Kampf losgebrochen; noch einmal folgte das helle Klingen von Metall, dann ein wütender, lauter Aufschrei. Malik zögerte keinen Augenblick und lief erneut los, nahm dabei zwei der steinernen Stufen zu dem schmiedeeisernen Gartentor gleichzeitig und stürzte dabei fast.

Letzteres war verschlossen worden. Eine Tatsache aufgrund der dem 25-Jährigen ein derbes Schimpfen entfloh. Er rüttelte wie ein Wahnsinniger, doch vergebens, an dem massiven Tor, das ihm den direkten Weg in den weiten, grünen Hinterhof versperrte während seine Aufmerksamkeit an den vielen Kämpfenden dahinter hing. Einer von ihnen war tatsächlich Altaïr... und der Rest-

Der Rest war Al-Mualim.

Ungläubig-empört verzog der überreizte Malik sein Gesicht, als er versuchte die vielen Duplikate seines ehemaligen Meisters zu zählen und er klammerte sich fester an die dicke, kühle Stange des Tors. Sein Mund stand in seinem großen Unglauben etwas offen und er ertappte sich dabei für viele Wimpernschläge lange den ungleichmäßigen Atem angehalten zu haben. Das bis an den Punkt, an dem sich zwei seiner Brüder aus der kleinen Gruppe von vorhin hastig zu ihm gesellten. Völlig erledigt fielen sie ebenso wie der gebannte Dai Jerusalems an das dunkle Türgitter und beobachteten das - so verdammt unwirklich erscheinende - Szenario in dem Hinterhof mit Ratlosigkeit, die Malik sogleich in Form von Worten entgegenschlug: „Dai, was geht hier vor??“.

Doch Malik beachtete die drängende Frage der Männer neben ihm kaum, zu sehr war er mit ängstlichem Blick darauf konzentriert Altaïr's schnellen Bewegungen zu folgen: Der geübte Adler schwang sein beflecktes Schwert gegen seine einstige Respektsperson, gegen denjenigen, dem er bisher auf einfältigste Weise hörig gewesen war. Dieser irre Alte hielt seinem ehemaligen und besten Schüler mit seiner eigenen Waffe in der Rechten und mit dem hell glimmenden Artefakt aus dem Tempel in der Linken entgegen. Gleich mehrere Trugbilder seines Körpers gingen auf Altaïr los: Vier griffen ihn zeitgleich an, schlugen zu, traten und zogen dem überforderten Assassinen die Füße vom ebenen Boden fort. Mit einem lauten Ächzen landete der überwältigte Adler Masyafs auf seinem Rücken und der mitgerissene Malik fuhr heftig zusammen „Altaïr!!“. Seine zitternde Hand wollte die dunkle Eisenstange des Tors in diesem Moment förmlich zerquetschen und unruhig kam ihm der Atem über die rauen Lippen „Pass auf!!“.

Die goldbraunen Adleraugen trafen den äußerst aufgebrachten Dai kaum einen Bruchteil einer Sekunde später, dann warf sich der Gewarnte auch schon zur Seite fort und entkam der scharfen Klinge des geisteskranken Meisters nur um einen Deut.

Womöglich hätte Altaïr nun gerne perplex in Malik's Richtung gesehen und ihn herrschend angebrüllt, ihn gefragt was er hier suchte und ihn dazu aufgefordert umgehend zu verschwinden. Doch dazu kam der um sein Leben ringende Assassine nicht. Denn die vielen grinsenden Ebenbilder seines einstigen Lehrers hielten ihn mehr als nur beschäftigt und folgten jedem seiner Schritte unnatürlich flink. Zusammen mit dem belagerten Meisterassassinen verschwommen sie vor den geweiteten, glasigen Augen des Kartografen zu einem Wirrwarr aus Weiß, Schwarz und Rot; das hohe Aufklingen von Stahl auf Stahl hallte immer wieder zu laut an seine Ohren, das schmerzliche Aufstöhnen und verärgertes Kampfgeschrei seines bedrohten Bruders begleitete es stetig und fuhr Malik durch Mark und Bein.
 

Dann, ganz plötzlich, lief durch den zerschundenen Körper des schockierten Dais ein abrupter Ruck und er setzte sich in Bewegung. Mit einem Tritt und fest aufeinander gebissenen Kiefern trat der haltlose Malik gegen das versperrte Tor, das es ihm verwehrte Altaïr, seinem Altaïr, im Hintergarten der Festung schwertschwingend beizustehen. Zwischen seinen Zähnen presste er irgendwo ein „Das darf doch alles nicht wahr sein!“ hervor, als er zwanghaft versuchte sich etwas zu fassen, um über einen anderen Zugang zum Garten nachzudenken. Doch es gab keinen, verdammt. Nur die steilen Klippen am hinteren Ende des Berges - und das mit dem Klettern konnte Malik mit seinem einen Arm ja wohl vergessen! Scheiße!

Hektisch und verbissen sah der gereizte Büroleiter um sich während der unerbittliche Kampf im Hintergarten weiter tobte. Als sein forscher Blick dabei seine beiden Gefährten streifte, zuckten jene kaum merklich und in großem Respekt vor dem viel Jüngeren zurück.

Draht. Ich brauche einen Draht oder Ähnliches!“ fauchte Malik den beiden ratlosen Assassinen bei sich entgegen.

„Wie..?“

„Ich breche das Schloss auf!“ seine suchenden, braunen Augen waren - in weiser Voraussicht über den eher spärlichen Nutzen seiner beiden Brüder - bereits weitergewandert und streiften über das Innenleben der Burg. Völlig von sich und unter zweifelnden Blicken hastete er auch sogleich durch den weiten Raum, kramte nach etwas, das er als Dietrich zweckentfremden konnte und warf dabei achtlos Dinge wie Räuchergefäße oder Wasserpfeifen um. Scheppernd gingen sie zu seinen Füßen zu Boden, als er erneut leise vor sich hin schimpfte „Helft mir wenigstens beim Suchen!“.
 

IV
 

Malik war nach seiner harten Kindheit auf den Straßen Damaskus' schon immer jemand gewesen, der sich stillen Künsten, die manch Andere abschätzig als 'schurkisch' bezeichneten, verschrieben hatte. Taschendiebstahl, Schleichen und Schlösser zu knacken hatten dem schmutzigen, in löchrige Kleidung gehüllten Kind vor vielen Jahren oftmals das Leben gerettet oder ihm und seiner kleinen Familie das tägliche Überleben gesichert. Und natürlich verlernte man solche wichtigen Dinge nicht. Etwas, das der tief durchatmende Dai mit Wohlwollen feststellte, als er vor dem versperrten Tor zum großen Garten Masyafs hockte und ein verbogenes Stück dünnen Metalldrahts vorsichtig in dessen Schlüsselloch drehte. Eine, vermutlich improvisierte, Aufhängung einer kleinen Öllampe hatte schlussendlich dafür herhalten müssen und bewährte sich hoffentlich gleich. Mit dem Ohr nahe am zu öffnenden Schloss bewegte der zittrige Malik das Drahtstück, tastete sich damit im komplizierten Mechanismus des eisernen Verschlusses voran. Eher ungläubig über dessen Fähigkeiten beobachteten ihn die beiden Assassinen hinter ihm, warteten jedoch schon mit gezogenen Waffen darauf endlich in den Hinterhof der sonst gähnend leeren Festung stürmen zu können.

Malik sah während seines Tuns immer wieder nervös durch die dicken Torstäbe zum erschöpften Altaïr und den Ebenbildern Al-Mualims, gegen die jener sich erwehrte, hin; völlig abgelenkt kostete ihn die Prozedur des Schlossknackens somit wertvolle Sekunden.

Mittlerweile standen nur mehr zwei von Al-Mualim's wahnsinnigen Duplikaten, eines davon fiel gerade in diesem Augenblick dem geschwungenen Dolch Altaïrs zum Opfer; denn sein schartiges Schwert, das hatte er unglücklicherweise und im Zuge des Gefechts irgendwo in einer anderen Ecke des Außenbereichs fallen lassen. Der stolpernde Krieger blutete aus einer Wunde am Kopf und seine Kapuze hing ihm schief in das schweißnasse Gesicht, verwehrte ihm damit wohl die volle Sicht. Er hustete kehlig, hatte nach einem Knaufhieb gegen seine Brustgegend offenbar Probleme damit zu Atmen, und er ging etwas gekrümmt, als er von dem Alten vor sich abwich. Er sah nicht gut aus... ganz und gar nicht gut; und es wirkte so, als habe er richtige Schwierigkeiten damit seinen letzten Feind zu fokussieren. Al-Mualim hingegen war so gut wie unversehrt und erdreistete sich über den erbärmlichen Zustand des armen Adlers zu lachen, als er auf ein Neues und mit erhobener Klinge auf diesen losstürzte. Altaïr wich etwas schwerfällig aus und verlor dabei auch noch seinen langen Dolch, bekam einen ruckartigen Tritt gegen eines seiner Knie, verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings. Wieder schrie Malik - der in diesem heiklen Moment und vor Schreck seinen Draht fallen ließ - den Namen des schlappen Assassinen am Boden.

Anders als zuvor stand Altaïr nicht mehr auf. Ächzend ließ er seinen versehrten Kopf zurück in das knöchelhohe Gras sinken und rang sichtlich mit seinem labilen Bewusstsein.

Nein, Altaïr!!

Ein erneutes Auflachen des ehemaligen Meisters der Bruderschaft und ein schweres, schmerzverzerrtes Ausatmen des blutenden Mannes am Grund folgten, als der Alte dem Liegenden einen Fuß auf die Brust setzte und irgendetwas zu ihm sagte. Noch einmal rief Malik hysterisch etwas, merkte dies selbst aber kaum und tastete – die panischen Augen auf die Szene im versperrten Hinterhof gerichtet – blind nach dem rostigen Draht zu seinen Knien. Und er fand ihn auch; zu seinem Ärger änderte dies aber nichts an seinen fahrig zitternden Fingern und so vermochte er es erst viel zu viele schnelle Atemzüge später das alte Schloss des geschmiedeten Tors zu öffnen.
 

Als Malik und seine zwei gewappneten Begleiter in den großen Garten eilten, hatte sich Lage zwischen dem ausgelaugten Altaïr und dem größenwahnsinnigen Al-Mualim aberplötzlich gewendet. Auf einmal war der schreiende Krieger über dem Älteren, ehe man sich versah und mit letzter Kraft rammte er ihm seine versteckte Klinge in die ungeschützte Kehle. Man konnte Wirbel laut knacken hören, als das schmale Stück stahl in Fleisch versank.

Über den röchelnden, alten Mann gebeugt blieb der schnaubende Altaïr auf der Wiese sitzen und der bestürzte Malik wagte es kaum sich dem anderen Assassinen in diesem prekären, so surreal erscheinenden Moment zu nähern; er stutzte und hielt inne. Wie gebannt verharrte er kurz nach dem aufgebrochenen Gartentor auf seinem Platz und beobachtete die unwirkliche Szene, die sich ihm und seinen beiden fassungslosen Brüdern bot, atem- und sprachlos.

Es mutete immer so verdammt... seltsam an, wenn der exzentrische Adler kurz nach einem gelungenen Attentat bei den Dahinsterbenden verweilte und sie abwesenden Blickes festhielt. Das hatte er schon immer getan; auch als Jugendlicher und bei seinen ersten 'Versuchen' an Tieren. Man mochte fast glauben, er spreche stets mit geflüsterten, sanften Worten zu den Todgeweihten; und es schien währenddessen auch so, als wäre er geistig gar nicht hier. Auch jetzt war das so: Über seinem ehemaligen strengen Meister kauernd wisperte der weiß Gerobte dem Alten unverständliche Dinge zu und wartete manchmal, legte Gesprächspausen ein als würde der im Sterben Liegende antworten – was natürlich vollkommener Quatsch war, denn von den Lippen des Grauhaarigen kamen lediglich ein nasses Gurgeln und dunkelrotes Blut, das ihm den Bart verklebte.
 

Es dauerte eine gefühlte, zähe Ewigkeit bis sich der irgendwie... unheimliche Altaïr wieder zögerlich erhob und Al-Mualim's schlaffe Leiche achtlos liegen ließ, um auf das goldene Artefakt zuzuschreiten. Dieses war seinem Opfer zuvor aus der Hand gerollt und lag schwach glimmend auf dem weißen Pflasterstein, der Gehwege durch den Hintergarten zog. Mit ausgefahrener verborgener Klinge hielt der Mann davor inne und Malik's Eingeweide wollten sich vor Aufregung umdrehen; er tat einen Schritt weiter in den Garten hinein und auf Altaïr zu.

Wollte der Adler dieses verdammte Ding zerstören? Er tat gut daran!

Doch Der Kartograf wartete vergebens. Anstatt auf den magischen Apfel einzuheben, sprach der taumelige Altaïr schon wieder mit sich selbst und der helle Schein des Balles kehrte zurück, um sich erneut golden zu erheben. Ungläubig neigte Malik seinen brummenden Kopf dem gespenstischen Schimmer, der sich über dem Kopf seines befangenen Freundes zu einer Kugel formte, entgegen. Wieder weiteten sich seine skeptischen Augen und noch einmal umfasste er das Adlerschwert fester.

Was geschah hier? Was passierte nun?

Wie zur Eissäule erstarrt blieb der vor sich hin redende Altaïr vor dem schwebenden Lichtball mit den aufblitzenden, kleinen Lichtpunkten darin, stehen und senkte seinen Waffenarm. Wie eine der menschlichen Puppen vor dem Burgtor starrte er dieser... dieser elenden Hexerei mit offenstehenden Lippen entgegen. Erst Malik selbst riss den abwesenden Mann wieder aus seinem tranceähnlichen Zustand „Altaïr!“. Grob rempelte der Schwarzhaarige den verwundeten Assassinen von der Seite an, griff nach dessen hängender Schulter und trat vor ihn um ihn sofort impulsiv von dem Apfel fortzudrängen und ihm die Sicht darauf - so gut es eben ging - zu versperren „Altaïr, hör nicht auf das was es sagt!“.

Bestimmt hatte dieses verdammte Ding mit dem verwundeten Krieger gesprochen. Genauso wie es damals im Tempel mit dem ratlosen Dai geredet hatte – mit diesen verzerrten Stimmen, die wie aus dem Nichts kamen und einem Anweisungen gaben, die man nicht missachten konnte, sofern man sie verstand. Altaïr durfte nicht darauf hören!

Ibn-La'Ahad, sieh mich an!“ blaffte Malik dem Anderen entgegen und suchte dessen apathischen Blick. Es war ein apathischer Blick aus goldenen Augen, der dem größeren der beiden Assassinen nach barscher Ansprache sofort entfiel und Platz für einen völlig anderen, entgegengesetzten Ausdruck schaffte: Altaïr erschrak ob der lauten Worte, die ihm der bange Büroleiter entgegen spie, heftig und so, als wache er gerade aus einem schrecklichen Alptraum auf. Er zuckte zusammen, sah von dem wabernden Lichtball in der Luft fort und fixierte den aufgebrachten Malik sogleich vollends irritiert.

Schnell schien sein blutender Kopf zu realisieren, was Sache war – und gewesen sein musste - und ebenso bald gab der aufgelöste Altaïr einen völlig überforderten Laut von sich. Blanke Emotion spiegelte sich in seiner sonst immer so kühlen Miene wider; nach der großen Verwirrung und Orientierungslosigkeit kam panische, bittere Verzweiflung; und diese zeichnete sich nicht nur in dem großen Blick des Adlers ab sondern auch in seinen physischen Bewegungen. Während der überrumpelte Malik versuchte den Größeren eisern im Schach zu halten, wollte sich dieser losreißen als wäre der Schwarzhaarige ein böser Dschinn oder gar der Teufel in Person. Er schrie laut und wand sich halbherzig, wollte augenscheinlich fort, doch der Dai ließ ihn nicht sondern redete wieder auf ihn ein „Ruhig, ganz ruhig!“.

Ruhig, das wurde der körperlich und mental erledigte Krieger aber keineswegs. Zu Malik's purem Entsetzen brach er dann auch noch aberplötzlich in Tränen aus und sank im Griff des Jüngeren träge zu Boden, schwer wie ein nasser Sandsack, blutend und stoßweise atmend ging er vor ihm nieder und weinte wie ein kleines Kind. Sich im ersten Moment zu gar nichts mehr imstande sehend und vollends aus der Bahn geworfen blieb der fassungslose Malik ein paar schnelle Herzschläge lange einfach nur irritiert stehen und starrte entrüstet auf Altaïr hinab. Er hatte den Assassinen damals schon oft in schrecklichen Situationen erlebt, in denen er psychisch erschöpft niedergesunken war; doch dermaßen von sich und so laut aufheulend hatte er den Älteren noch nie erlebt.

Oh, um Himmels Willen, was sollte er nun machen?? Was, wenn der Adler Masyafs nun komplett durchdrehte?
 

„Hey... hey, ist ja gut.“ die beiden anderen bestürzten Brüder, die bei ihm standen hatte der gebeutelte Malik vollkommen ausgeblendet, als er langsam vor dem Schluchzenden zu seinen schmerzenden Füßen in die Hocke ging. Wie ein kleines Häufchen Elend saß Altaïr da und vergrub sein blasses Gesicht in seinen blutverschmierten Händen. Der vorsichtige Dai, der gerade sehr darauf bedacht war die verbliebenen Waffen des gefährlichen Assassinen nicht außer Acht zu lassen – denn man wusste ja nie, was gerade in dessen Kopf vor sich ging; was, wenn ihm der Apfel befahl Malik zu töten? - schob er seinen Arm in einer tröstenden Geste um den älteren Mann. Doch das böse Artefakt schien nicht mit dem nervlich zusammenbrechenden Altaïr zu sprechen, nicht mehr. Denn anstatt noch einmal damit zu flüstern, trafen die verzweifelten Worte des Adlers den, der ihn gerade umarmte und fest an sich drückte: „Er... er ist tot, Mal...“.

Der etwas unbeholfene Kartograf stutzte, schluckte ob dieser vergrämt feststellenden Äußerung schwer und erwiderte nichts. Er ahnte, dass sich das, was gerade in Form heißer Tränen aus dem abgehetzten Altaïr herausbrach, all die vielen Monate lange in jenem aufgestaut haben musste. Der überhebliche, doch pflichtbewusste Raubvogel hatte stets stark sein und in kürzester Zeit so viele Menschen töten müssen... Malik hatte noch nie zuvor von jemandem gehört, der die Dinge vollbracht hatte, die Altaïr hatte tun müssen, um seinen hohen Rang wieder herzustellen. Sein Stolz und diese... verbissene Zielstrebigkeit, die auch sein Vater Umar aufgewiesen hatte, hatten ihn dabei angetrieben und das ungeachtet seiner tiefen Zweifel an Al-Mualim, dem zunehmend schlechten Gewissen seinen Opfern gegenüber und den grauenvollen Bildern, die sich in seinen Kopf gebrannt haben mussten und über die er mit niemanden hatte reden können.

All das... war jetzt vorbei.

Doch was nun? Die Sicherheit des Dorfes war zwar wieder einigermaßen gewährleistet, doch die große Bruderschaft war führerlos und würde ohne einen neuen Meister zerfallen. Und sollte Altaïr etwa-

Die geröteten, braunen Augen Maliks wurden größer, als er auf das weinende Bündel Assassine, das sich mittlerweile schmerzhaft an ihn klammerte, als gäbe es keinen Morgen, hinab sah.

… Sollte Altaïr etwa der neue Großmeister werden? Er hatte den rasenden Al-Mualim getötet und Masyaf gerettet, ja, darum lag dieser dumme Gedanke nahe. Doch er war ein eigenbrötlerischer Einzelgänger, freiheitsliebend, unberechenbar und... nunja, kein Anführer. Man konnte diesen Mann – auch gerade wegen seiner derzeitigen Verfassung, die sich so schnell nicht bessern würde, denn er hatte viel zu viel aufzuarbeiten – nicht an die Spitze der Assassinen Syriens stellen! Bei aller Liebe aber- oh, nein!

In diesem Augenblick wurde dem unwohlen Malik bewusst, dass gar nichts sein 'Ende hatte'. Die heftigen Strapazen, die Altaïr die letzten Monate über erleiden hatte müssen und die vielen Verantwortungen, die ihm auf den Schultern gelastet hatten, waren zwar vorüber, doch gerade, da taten sich viel zu viele neue Probleme auf: Der goldene Apfel war noch nicht zerstört und die Templer nicht ein für allemal besiegt worden, die lose Bruderschaft brauchte eine neue Ordnung, es gab aberdutzende Tote in Masyaf und nicht auszudenken, was passierte, wenn die Berichte über das, was hier geschehen war, nach außen drangen! Sie würden den Rat - bestehend aus lauter alten, weisen, doch etwas verkorksten Männern und Meistern - außerordentlich interessieren. Ein falsches Wort seitens des eigensinnigen Adlers ihnen gegenüber – und er war ja auch so impulsiv! - und man würde ihn als verachteten Mörder am Meister seiner Bruderschaft hinrichten lassen.

Oh, das Ganze würde übel werden... ganz, ganz übel. Malik senkte sein erbleichendes Gesicht an die weiße Kapuze vor sich und schlug die glasigen Augen nieder.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Momokolloi
2013-07-19T06:17:39+00:00 19.07.2013 08:17
ahhhhh schon wieder ein neues Kapitek und so toll geschrieben (wie immer)
♥ it!


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