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Unter den Apfelbäumen

Prequel zu Drachenkind
von

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Die 7. Begegnung - Teil 1

Jonathan redete nicht über die Dinge, die geschehen waren.

Cecilia und sein Meister sahen ihn mit großen Augen an, als er allein zurückkehrte. Alles was er ihnen sagte war, dass Mary einen anderen geheiratet hatte.

Wenn er die Wahl gehabt hätte, wäre Jonathan wohl nicht zu seinem Meister zurückgegangen und hätte sich den mitleidigen Blicken ausgesetzt, die ihn in den kommenden Wochen folgten. Doch hatte er noch all seine Sachen dort, von denen er sich nicht trennen konnte. Außerdem war er fest entschlossen, seinen Auftrag – das Wandbild in der Küche – zu Ende zu bringen.

Jonathan arbeitete konzentriert und ausdauernd und seinem Bild, war jedoch nie zufrieden mit seiner Arbeit. Immer wieder fand er etwas, was er ausbesserte oder veränderte. Tief in seinem Inneren ahnte er wohl, dass er einfach nicht noch einmal von Mary loslassen wollte. Schließlich war sie die Frau, die man auf dem Küchenbild sehen konnte.

Trotzdem musste er irgendwann aufhören. Aber Mary ließ ihn noch immer nicht los. Seine Sehnsucht nach ihr war schmerzhaft und obwohl er nicht weiter an sie denken wollte, begann er ein weiteres Bild, in dem er seine Gedanken an sie hinein bannte. Zwei weitere folgten, alle die gleiche Größe. Auch der Ort auf seinen Bildern änderte sich nicht. Es war immer der Garten, den er malte.

Wenn er sich nicht in seinem Atelier einschloss und unter Leute ging, hörte Jonathan ständig ihr Kichern. Jede Frau mit braunem Haar, erinnerte ihn an sie und wenn er einmal eine Frau von hinten sah, die Mary ähnelte, glaubte er für einen Moment tatsächlich er würde Mary sehen, wenn sie sich nur umdrehte. Jedes Mal, hasste er sich selbst für diesen Gedanken, wusste er doch, wie unvernünftig es war.

Mehr als einmal war Jonathan kurz davor einfach zurückzureiten und sie mit sich zu nehmen – ganz egal wohin. Nur das Wissen, dass sie nicht mit ihm kommen würde, so lange es ihrem Vater so schlecht ging, hielt ihn davon ab. Dieser Enttäuschung würde er sich nicht aussetzen. Wenn ihr Vater gestorben wäre, dann wäre sie sicher mit ihm gekommen, überlegte er mehrmals. Doch in den Briefen seiner Eltern stand nichts dergleichen. Aus Angst vor ihren Belehrungen fragte er auch nicht danach.

Um Mary endgültig vergessen zu können und sie in seinen Leben hinter sich zu lassen, verlobte er sich sogar irgendwann mit einem Mädchen. Sie war vier Jahre jünger als er, hatte wie Mary braunes Haar und war von ihrem Körperbau nicht so schlank, wie die anderen Frauen, mit denen Jonathan sonst Zeit verbracht hatte. Jonathan wählte sie aus, weil er ihre Gesellschaft angenehm fand. Sie bedrängte ihn nicht, sondern leistete ihm auch schweigend Gesellschaft. Wenn sie miteinander sprachen, war ihre Stimme sanft und ihre Antworten überlegt und sinnvoll. Sie war klug und recht eigenständig. Sie langweilte ihn niemals mit Oberflächlichkeit. Dass sie aus einer angesehenen Familie kam und eine hohe Mitgift mitbrachte, war Jonathan dabei fast egal.

Aber er liebte sie nicht. Dennoch wählte er sie, weil er wusste, dass er mit ihr den Rest seines Lebens aushalten könnte und dass war mehr, als er von all den anderen Frauen sagen konnte. Weiterhin hatte er die Hoffnung, dass seine Eltern dann aufhören würden, ihn nach Bekanntschaften zu fragen.

Was jedoch werden würde, wenn er mit seiner Braut nach Hause zurückkehrte und Mary möglicherweise doch noch einmal traf, darüber wollte er lieber nicht nachdenken.
 

Ungefähr zehn Monate nach seiner überstürzten Heimkehr und erneuten Abreise erhielt Jonathan einen Brief von seinen Eltern. Er war etwas überrascht, hatte er ihnen doch erst vor wenigen Tagen geantwortet und auf keinen Fall konnte sein Brief sie schon erreicht haben. Irgendetwas musste sie also dazu bewegt haben, ihm gleich noch einmal zu schreiben und so etwas konnte nie etwas Gutes bedeuten, dachte er.

Mit klopfendem Herzen öffnete er den Brief. Als erstes sah er auf das Datum. Der Brief war 9 Tage zuvor geschrieben worden. Dafür war er recht schnell bei ihm gewesen. Als er den Brief gänzlich auseinander faltete, wurde ihm übel. Der Brief bestand aus nur zwei Zeilen und er hatte sofort das Wort Mary gelesen.

Mit angehaltenem Atem las er die zwei Sätze.
 

Mary ist krank. Du solltest nach Hause kommen.
 

Mehr stand nicht darin.

Mehr musste Jonathan nicht wissen.

Augenblicklich machte er alles für seine Abreise bereit. Er fragte Mister Alley, ob er ihn wieder begleiten würde, noch während er seine Tasche packte. Jonathan nahm nicht einmal seine Zeichensachen mit, sondern wirklich nur das, was er für die kommenden paar Tage benötigen würde: Kleidung und Geld. Cecilie drängte ihm noch etwas Proviant auf.

Mister Alley versuchte ihn von einem überstürzten Aufbruch abzuhalten, schließlich wisse er nicht, was genau mit Mary war. Außerdem hatte er nun eine Verlobte, doch Jonathan hörte ihm nicht einmal zu. Wenn seine Eltern ihm sagten, dass er wegen Mary nach Hause kommen sollte, wo sie sie in all ihren anderen Briefen nicht einmal erwähnt hatten, musste einfach etwas Schreckliches geschehen sein.

Während der gesamten Zeit seiner Rückreise hatte er immer nur ein Gedanke, der ihm mehr Angst einjagte als alles andere jemals zuvor und den er auch nicht verdrängen konnte: Er musste es rechtzeitig schaffen. Er wusste nicht wieso er gerade diesen Gedanken hegte, aber es graute ihm davor zu erfahren, was gesehen würde, wenn er zu spät war.

Weder Mister Alley, noch sich selbst oder gar den Pferden erlaubte Jonathan längere Pausen. Sie machten nur dann Halt und kehrten in einen Gasthof ein, wenn es wirklich unbedingt nötig war. Waren die Pferde zu erschöpft, um sie weiter tragen zu können, tauschte Jonathan sie kurzentschlossen gegen neue ein. So sehr wollte er unbedingt zu Mary gelangen.

So schafften sie jedoch das Unmögliche und erreichten die Heimat bereits nach acht Tagen. Es war nach Mittag, als sie in die Stadt einritten und Jonathan eilte sofort zu Marys zu Hause. Er sprang von seinem Pferd und hämmerte mit der Faust gegen die Tür.

„Mary! Mary, bist du da?! Mach die Tür auf!“, rief er verzweifelt. Dann überlegte er einen Moment. Wenn Mary krank war, würde ihre Mutter bei ihr sein. Sein Herzschlag hämmerte in seiner Brust so heftig, wie seine Faust gegen die Tür. „Clara! Mach auf!“ Niemand reagierte auf sein Klopfen.

Jonathan wurde panisch. Wo sollte sie sonst sein? Bei ihren Eltern? Hatte Clara sie vielleicht zu sich geholt, als es ihr immer schlechter gegangen war?

„Es ist niemand da“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich sagen. Jonathan wirbelte herum und sah einen Jungen von ungefähr zehn oder elf Jahren vor sich stehen.

„Kennst du sie?“, fragte Jonathan ihn.

„Ja. Sie war sehr nett, hat immer gelächelt“, antwortete der Junge. Ja, das war Mary, dachte Jonathan.

„Wo ist sie jetzt?“

„Wissen sie das nicht?“

„Nein, sonst würde ich nicht fragen“, blaffte er den Jungen an und dieser wich vor Schreck einen Schritt zurück. Jonathan rang nervös die Hände. „Entschuldige, ich bin nur… Ich habe einen weiten Weg hinter mir. Wenn du weißt wo Mary ist, sag es mir jetzt… bitte.“ Es kostete ihn Mühe ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte er den Jungen um eine Antwort bedrängt.

Der Junge musterte ihn einen Moment stumm und Jonathan erwiderte seinen Blick. Der Knabe hatte dreckiges braunes Haar, dunkler als Marys, seine Augen waren grün und seine Nase ziemlich breit. Sein Gesicht und seine Kleidung waren schmutzig.

„Neben der Kirche…“, antwortete er schließlich.

Starr blickte Jonathan auf das Kind. Er kannte die Kirche und die Umgeben. Aber dort gab es nichts. Dort war nur die Kirche und daneben der… Alles Leben schien aus seinen Körper zu weichen.

„Was?“, fragte er leise.

„Sie ist neben der Kirche, auf dem-“

„Nein!“ Jonathan packte den Jungen an seinem schmutzigen Kragen. Er schüttelte ihn so heftig, dass sogar dessen Zähne aufeinander schlugen. „Das ist nicht wahr!“, zischte er und erhob drohend die Hand. „Du sagst mir jetzt sofort die Wahrheit oder ich schlage dich grün und blau.“

Der Junge fing an zu weinen und das nächste was Jonathan noch wusste war, dass Mister Alley dazwischen ging. Er stieß Jonathan zur Seite und redete beruhigend auf das Kind ein. Mehr sah er nicht. Er rannte zu seinem Pferd, setzte auf und gab ihm die Sporen.

Jonathan ritt zu der Kirche, die etwas außerhalb der Stadt lag. Er war schon einige wenige Mal dort gewesen. Doch an diesem Tag beachtet er das Gebäude nicht weiter, denn auf der linken Seite befand sich der Gottesacker.

Auf seinem Weg gingen ihm nur die achtzehnTage im Kopf herum. Achtzehn Tage waren vergangen seit sein Vater den Brief geschrieben hatte. Mary war krank. Sie war nur krank und nicht… Unmöglich konnte so etwas in nicht einmal drei Wochen geschehen, nicht ihr. Nicht ihm.

Mit zitterndem Körper ließ er sich vom Rücken des Pferdes herunter gleiten. Jonathan schwankte und seine Beine drohten unter ihn nachzugeben. Seine Hand fasste nach dem Sattel, der ihn stützen musste. Schwer atmend stand er vor dem eisernen Tor. Die Grabsteine dahinter erhoben sich wie Gespenster vor ihm und jagten ihm Schauer des Grauens über den Rücken.

Sie konnte nicht hier sein. Nicht seine Mary. Was sollte sie auch an so einen Ort? Hier konnte sie nicht lachen, konnte keine Fragen stellen, konnte ihn nicht ausschimpfen. Nein, nein. Seine Mary war nicht hier. Der Junge hatte ihm einen Streich gespielt. Das taten Junge doch. Er war ja selbst nicht anders gewesen, dachte Jonathan wie im Fieber. Er würde nach Hause reiten und seinen Vater fragen, was dieser mysteriöse Brief zu bedeuten hatte. Vor allem würde er in Erfahrung bringen, wo Mary jetzt war. Er musste sie einfach sehen. Ja, ganz genauso würde er es machen, sagte er sich selbst.

Doch vorher… vorher würde er über den Friedhof gehen. Er würde mit eigenen Augen sehen, dass sie nicht hier war. Dann würde er sich diesen Bengel schnappen und ihn für seinen dummen Scherz wirklich grün und blau sagen. Ja… Ja, das war eine gute Entscheidung.

Noch einmal atmete Jonathan ein, dann ließ er den Sattel los. Mit einer Hand öffnete er das Tor, die andere hatte er fest zur Faust geballt. Seine Fingernägel schnitten ihm in die Handfläche und es schmerzte. Er merkte es kaum.

Mary war nicht an diesem Ort.

Sie konnte nicht an diesem Ort sein.

Es gab keinen Grund für sie.
 

Jonathans Blick schweifte über die Gräber. Die Steine und Holzkreuze vor ihm waren vom Regen und Wind gezeichnet. Ein Zeichen, dass sie schon älter waren. Er ging die Grabreihen entlang, während seine Augen über die Namen huschten. Nirgends entdeckte er Marys Namen. Erleichterung schlich sich in sein Inneres. Als er die ersten Reihen abgelaufen war, blieb er an der Ecke der Kirche stehen. Überall standen nur ältere Gräber, die er sich nicht einmal ansehen brauchte. Nein, sie war nicht hier. Der Bengel hatte sich wirklich nur einen dummen Scherz erlaubt. Als er um die Ecke der Kirche blickte, sah er dass der Gottesacker auf deenr Rückseite weiter verlief und von großen Kiefern eingerahmt war. Als er sich kurz diese Gräber besah, entdeckte er ein Grab, das noch recht neu aussah. Die Erde war noch angehäuft. Sofort wurde sein Mund trocken und der Schweiß brach ihm aus.

Das konnte nicht sein.

Das durfte nicht sein!

Nein, es war ein Irrtum! Das wusste Jonathan einfach. Schließlich sterben viele Menschen und werden begraben. Er sah sich weiter um und entdeckte noch zwei weitere recht neue Gräber, die erst ein paar Tage alt sein konnten. Es musste nicht Mary sein. Es war nicht Mary!

Er ging direkt zum ersten Grab. Das Holzkreuz war schon gesteckt worden. Es war der Name irgendeines Mannes. Ein Stein fiel von seinem Herzen. Jonathan ging weiter zum nächsten Grab. Es war höchstens ein Tag alt und ein Kreuz war noch nicht gesteckt worden. Er würde den Priester fragen müssen, wer darin lag. Natürlich nur um sicher zu gehen, dass es sie eben nicht dort war. Bevor er das jedoch tat, ging er zum letzten Grab. Dort steckte wieder ein Kreuz. Er wollte sich gerade abwenden, als er den ersten Buchstaben erblickte. Ein „M“. Jonathan machte einen zittrigen Schritt nach vorn. Er las die Inschrift auf dem Holzkreuz: Mary Williamson.

Ungekannte Erleichterung durchströmte ihn. Das war eine andere Mary. Nicht seine Mary.

Nein, sie war nicht hier. Er brauchte gar nicht erst mit dem Priester sprechen. Er würde nach Hause reiten und seinen Vater zur Rede stellen. Er würde ihm all seine Fragen beantworten können.

Jonathan wollte gerade gehen, als er den Namen auf dem Grab daneben las: George Summer.

Ihr Vater! Einen Moment stand er betroffen davor. George Summer war also wirklich gestorben und das vielleicht schon vor ein paar Monaten. Das Grab war älter und bereits bepflanzt. Es muss Mary schrecklich getroffen haben.

Jonathan betrachtet das Grab noch einen Moment, dann wieder das daneben. Wenn es wirklich seine Mary wäre, würde sie neben ihrem Vater begraben sein, überlegte er. Mary Williamson… Williamson, der Name rief eine Erinnerung in ihm wach. Wo hatte er ihn schon einmal gehört? Jonathan war fast sicher, dass seine Mutter diesen Namen erwähnt hatte. Nur wann? In ihren Briefen hatte er nicht von diesem Namen gelesen. Er hatte direkt mit ihr gesprochen. Wann war das? Es konnte eigentlich nur das letzte Mal gewesen sein, als er dagewesen war, damals als er und Mary… Richtig, seine Mutter hatte ihm erzählt, dass Mary einen Doyle gehreitat hatte. Einen Doyle Williamson…
 

Seine Knie gaben nach. Auf allen vieren kroch er zum Grab und starrte den Namen an, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen.

Nein!

Nein, das konnte nicht sein!

Nein, nicht seine Mary! Nein!

Sie hatte Doyle Williamson geheiratet und seinen Namen angenommen.

Sie war Mary Williamson.

„Nein, das ist nicht wahr. Nein… Nein…“

In seinem Inneren zog sich alles zusammen und begann zu schmerzen. Sein Herzschlag setzte aus, seine Atmung wurde flach.

„Es ist nicht Mary. Es ist nicht Mary.“

Nein, das war ein Irrtum. Das konnte einfach nicht sein. Es war schließlich nur ein Name. Nein, er musste es genau wissen. Er musste sehen, ob sie es wirklich war!

Jonathan grub die Finger in die Erde. Dann begann er sie zur Seite zu schieben.

„Nicht Mary… Nicht Mary…“ Immer und immer wieder sagte er diesen Satz. Gleichzeitig grub er weiter. Er musste es sehen. Er musste es mir eigenen Augen sehen. Er grub die Erde aus, schob sie mit den Armen zur Seite um Platz zu haben, um tiefer zu gelangen.

„Was machst du da?!“ Eine Stimme. Sie kam ihm bekannt vor. Egal. Er musste weiter machen.

„Nicht Mary… Nicht Mary…“, murmelte er.

Jemand packte ihn bei den Schultern. Zog ihn weg.

„NEIN! Ich muss es wissen! Lasst mich los!“, schrie Jonathan wütend. Er schlug um sich und stieß denjenigen, wer immer es auch war, von sich. Erneut begann er zu graben.

„Helft mir!“, rief die Stimme. Er hörte nicht hin. Er machte weiter.

Er wurde erneut gepackt. Es waren mehrere Hände, die ihn fortzogen.

„LASST MICH LOS!“, brüllte er und wehrte sich erneut. Doch dieses Mal kam er nicht gegen die Unbekannten an. Sie zogen ihn unerbittlich vom Grab weg. Jonathan versuchte mit den Füßen nach ihnen zu treten.

Sie schleiften ihn ein gutes Stück nach hinten, weg von dem Grab. „LASST LOS! ICH MUSS WISSEN, OB SIE ES IST!“

„ES IST MARY!“

Jonathan erstarrte. Äußerst langsam hob er den Kopf und sah die Männer an, die ihn noch immer festhielten. Es war Mister Alley und der andere war ich.

Ich hatte Mister Alley nur zufällig in der Stadt getroffen. Er hatte mich nach dem Weg gefragt. Ich habe ihn ein Stück begleitet und er hatte mir erzählt, warum er den Friedhof suchte.

„Nein!“ Diese Worte wurden nicht mehr von Wut getragen, sondern von Resignation, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Das letzte bisschen Farbe wich aus Jonathans Gesicht. Mit großen, ängstlichen Augen sah er mich. Fast wie in Kind.

Es tat mir in der Seele weh, ihm die Wahrheit zu sagen. „Sie starb vor zehn Tagen. Ich fand sie leblos in ihrem Haus. Mary hatte eine schlimme Lungenentzündung, von der sie sich nicht erholen konnte. Ihr Körper war geschwächt und-“

„Nein! Sie lügen! Sie ist nicht tot!“ Noch während Jonathan dies sagte wurde sein Körper bereits von den ersten Schluchzern erschüttert.

Jonathan starrte mich weiterhin an und versuchte wohl die Lüge in meinen Augen zu entdecken. Als er sie nicht sehen konnte, sah ich regelrecht etwas in ihm zerbrechen. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Vielleicht ist auch etwas in ihm gestorben.

„Sie ist… Mary ist…“ Seine Stimme war kaum noch zu hören.

„Ja“, sagte ich noch einmal. Zitternd zog er den Atem ein, dann schlug er die Hände vor das Gesicht.

„Bringen wir ihn weg hier“, sagte ich zu Mister Alley und dieser nickte. Beide griffen wir Jonathan unter die Arme und zogen ihn auf die Beine. Er konnte weder allein stehen noch laufen. Sein ganzer Körper bebte. Es war schlimmer als ein Blatt am Baum während eines Herbststurmes. Noch immer verbarg er das Gesicht hinter seinen Händen. Mister Alley und ich schleppten ihn vom Friedhof weg, hinaus zum Tor.

„Er kann unmöglich so reiten“, sagte Mister Alley. Ich nickte nur in Richtung meines Wagens, mit dem ich gerade von einem Hausbesuch kam, und Mister Alley verstand sofort. Wir legten Jonathan auf den Wagen. Als ich Jonathan kurz am Kopf berührte, merkte ich, wie kalt er eigentlich war. Sobald er lag, krümmte sich sein Körper zusammen und versteifte sich.

Ich stieg auf meinen Wagen und Mister Alley nahm Jonathans Pferd an den Zügeln. So schnell es mein Wagen erlaubte, brachte ich Jonathan zu seinem Elternhaus. Mister Alley ritt voraus, um uns anzukündigen.

Als ich schließlich dort eintraf, warteten Mathew und Magdalena bereits mit besorgten Gesichtern vor der Tür.

„Jonathan!“, stieß seine Mutter entsetzt aus, als sie ihren Sohn auf meinem Wagen liegen sah. Sein Blick war starr, sein Gesicht so weiß, wie Kalk – selbst seine Lippen – und immer noch zitterte er. Erneut legte ich ihm kurz eine Hand auf die Stirn und mir war, als wäre er noch kälter geworden.

„Maggie, geh aus dem Weg“, sagte Mathew zu seiner Frau und kam zu mir. „Die Mädchen machen gerade das Feuer an und richten sein Bett her“, erklärte er mir. Zusammen packten wir Jonathan und zogen ihn vom Wagen. Es gelang uns immerhin seine Hände von seinem Gesicht zu nehmen. Jonathan reagierte weder auf mich, noch auf seinen Vater oder seine Mutter. Beide versuchten sie mit ihm zu sprechen. Er zitterte nur und starrte weiter vor sich hin. Mühsam gelang es uns, ihn die Treppe nach oben zu führen. Halb mussten wir ihn tragen. Ich erinnere mich noch an ein Dienstmädchen, das an der Treppe stand und wohl gerade auf dem Weg nach unten war. Sie sah Jonathan entsetzt an. Als hätte sie nie etwas Schlimmeres gesehen.

Mathew und ich brachten ihn in sein Bett und deckten ihn mit mehreren Decken zu. Sein Vater ließ zwei Zinnwärmflaschen bringen. Eine davon legten wir ihm an die Füße, die andere neben den Oberkörper. Ich hoffte so, dass Zittern beenden zu können, doch es schien keinerlei Auswirkung zu haben.

„Jemand soll mir meine Tasche bringen“, sagte ich zu Mathew. Dieser schickte ein Dienstmädchen nach unten. Ich sah Magdalena an der Tür stehen, die Hände ringend und Mister Alley hinter ihr. Beide hatten einen hilflosen Ausdruck auf ihren Gesichtern. „Magdalena, mach bitte Milch heiß.“ Sie musste etwas tun, was ihre eigenen Nerven beruhigt und ihr gleichzeitig das Gefühl gab, ihrem Sohn zu helfen. Einen Moment stand sie unschlüssig im Zimmer. Sie wollte sich nicht von Jonathan trennen. Dann nickte sie schließlich doch und ging nach unten. Einen Augenblick später kam ein Dienstmädchen mit meiner Tasche unter dem Arm herein. Aus einer Seitentasche nahm ich eine kleine, braune, feste Nuss: eine Muskatnuss. Aus einem anderen Fach holte ich ein kleines spitzes Messer.

„Kann ich noch irgendwas tun?“, fragte Mathew mich, hielt sich aber im Hintergrund, um mir nicht im Weg zu sein.

„Ich brauche ein Stück Pergament oder einen Teller.“

Mathew verließ den Raum nicht, sondern ging sicher zum Sekretär, der in Jonathans Zimmer stand, öffnete ihn und zog einen ganzen Stapel Pergamente hervor. Er brachte es mir und legte es auf den kleinen Nachttisch. Mit dem Messer begann ich die Muskatnuss zu bearbeiten. Muskatnuss hat eine außergewöhnliche Wirkung. Sie beruhigt die Nerven und entkrampft den Körper.

Mathew berührte Jonathan vorsichtig am Arm, doch dieser zuckte sofort heftig zurück. Seine Finger vergruben sich in den Bettdecken. Seine Augen waren geschlossen, während seine Lippen stumme Worte formten. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf.

„Er wird es nicht nehmen können“, sagte Mathew und seine Stimme war schwer voll Sorge.

„Ich vermische es mit der Milch, dann bringen wir ihn schon zum Schlucken.“ Im gleichen Moment kam Magdalena und hatte einen Becher heißer Milch und einem Löffel in der Hand. „Ich hoffe es ist nicht zu heiß.“

Mit dem kleinen Finger überprüfte ich kurz die Temperatur, dann gab ich das Muskatnusspulver hinzu.

„Mathew, versuchen sie ihn aufzurichten“, wies ich Jonathans Vater an. Dieser stellte sich an das Kopfende und griff Jonathan unter den Kopf. Doch dessen Körper hatte sich so versteift, dass er nicht zu bewegen war.

„Alley, kommen sie her!“, sagte Mathew im Befehlston zu ihm, der immer noch mit bleichem Gesicht in der Tür gestanden hatte. Er stellte sich an die andere Seite des Bettes. Zu zweit schafften sie es, Jonathan wenigsten ein bisschen aufzurichten. Er zitterte immer noch. Doch da das Zittern auch seine Atmung erschwerte, hatte er den Mund geöffnet, um besser Luft zu bekommen. Das half mir sehr. Ich setzte den Becher an Jonathans Lippen, während sein Vater versuchte seinen Kopf so still wie möglich zu halten. Nur ein wenig von der Flüssigkeit floss in Jonathans Mund und dieser wollte sie wieder ausspucken. Sofort legte ich die andere Hand auf seinen Mund. „Den Kopf nach hinten“, sagte ich zu seinem Vater. Mit nach hinten gebeugtem Kopf, musste Jonathan die Milch schließlich schlucken.

Das Ganze wiederholten wir noch ein paar Mal, bis der Becher so gut wie leer war. Danach ließen Mister Alley und Mathew Jonathan los.

„Und nun?“, fragte Mathew und sah mich erwartungsvoll an.

„Jetzt warten wir, dass es wirkt.“

„Wie lange dauert das?“

„Es war eine höhere Menge als üblich, es sollte also nicht zu lange dauern.“

Tatsächlich beruhigte sich Jonathan schon nach kurzer Zeit. Seine Atmung ging nicht mehr so kurz und flach und sein Körper entspannte sich Zusehens. Ich schickte seine Eltern nach draußen und blieb bei ihm, bis er wirklich eingeschlafen war. Danach verließ auch ich das Zimmer.



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