Kopf oder Zahl
AN: So, nach sechs Wochen melde ich mich endlich zurück – und dann sogar gleich mit zwei Kapiteln! Okay, eigentlich ist ein langes Kapitel, das ich nach seinem Abschluss in zwei Kapitel aufgeteilt habe. :P Irgendwie hatte ich, nachdem ich es gefühlt drölftausend Mal zur Korrektur gelesen hatte, den Eindruck, dass es für euch Leser angenehmer wäre, wenn ich in der Mitte einen Break mache.
Danke für die lieben Kommentare und keine Sorge: Ich arbeite immer noch brav an dieser FF, ich hab bloß einen sehr anstrengenden Job und wenig Zeit zum Schreiben. ^^'
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Mittwoch, 19. Juli 20xx
Die Münze wirbelte durch die Luft. Sie erreichte den Scheitelpunkt ihrer Flugbahn und blitzte verspielt im Sonnenlicht auf. Dann fiel sie, immer noch wild kreiselnd, Richtung Boden, doch sie wurde von der Hand ihres Besitzers aufgefangen, kurz bevor sie auf besagtem Boden aufschlagen konnte. Kaito lächelte vage, ein Hauch von Melancholie geisterte über seine Mimik. Die Münze zeigte Kopf, wie bei den 97 vorherigen Runden. Jetzt fehlten ihm nur noch zwei weitere Würfe …
Er drehte seine Hand mit einer schnellen, routinierten Bewegung, sodass die Münze von seinem Handrücken auf seinen Daumen rutschte. Er schnippte die Münze mit seinem Daumen nach oben. Die Münze wirbelte durch die Luft …
„Oyaji! Oyaji!“ Kaito zupfte aufgeregt am Hosenbein seines Vaters. „Ich habe einen neuen Trick gelernt! Wetten, dass ich es schaffe, diese Münze 50 Mal hintereinander so zu werfen, dass sie immer mit dem Kopf nach oben zeigt?“ Er drehte die Spielmünze in seiner Hand hin und her, damit sein Vater sehen konnte, dass sie tatsächlich nur auf einer Seite Kopf und auf der anderen Zahl anzeigte.
Toichi schob das Gerüst aus Stangen und Seide, an dem er bis eben noch gearbeitet hatte, beiseite und grinste. „Oho, das klingt interessant. Und worum willst du wetten?“
„Wenn ich gewinne, zeigst du mir endlich diesen neuen Trick, an dem du schon so lange arbeitest!“
„Einverstanden.“ Toichis Grinsen wurde breiter. „Aber wenn du verlierst, musst du ohne zu murren einen Monat lang brav dein Gemüse aufessen!“
Kaito erbleichte angesichts dieser Forderung, doch gleich darauf trat ein entschlossener Ausdruck auf sein Gesicht und er nickte eifrig. „Einverstanden!“
Sie verlinkten ihre kleinen Finger, um die Abmachung zu besiegeln, und dann begann Kaito die Münze zu werfen. Ein wenig nervös machte es ihn schon, die Aufmerksamkeit seines Vaters so sehr auf sich gerichtet zu wissen, doch er tat sein Bestes, um diese Nervosität zu verdrängen und sich auf seinen Trick zu konzentrieren. Schließlich musste er in der Lage sein, sein Pokerface zu wahren, wenn er ein guter Zauberer werden wollte, das hatte Oyaji ihm immer wieder erklärt. Und der Trick mit der Münze war wirklich nicht sehr schwer – es ging nur darum, die Münze mit der richtigen Technik in die Luft zu schnippen, damit sie gleichmäßig im Flug rotierte, und dann konzentriert zu zählen.
Es geschah beim 47. Wurf: Kaito verhaspelte sich beim Zählen und als er die Münze auffing, landete sie falsch herum auf seiner Hand. „Nein!“ Er starrte mit einer Mischung aus Entsetzen und Scham auf die kleine 1, die in die Münze eingraviert war. Er hatte es vermasselt. Total vermasselt! Jetzt musste er einen Monat lang Gemüse essen, aber viel schlimmer – viel, viel schlimmer! – war, dass er sich vor seinem Vater blamiert hatte.
Toichi, der Kaitos Verzweiflung bemerkte, legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. „Das war schon mal ein guter Anfang“, sagte er aufmunternd. „Immerhin hast du es 46 Mal in Folge richtig gemacht.“
„Das ist doch egal! Es hat nicht geklappt! Ich habe einen Fehler gemacht!“, jammerte Kaito, und als wäre die Situation nicht schon schlimm genug, stiegen ihm jetzt auch noch Tränen in die Augen.
Toichi grinste schon wieder. „Soll ich dir mal ein Geheimnis verraten?“, flüsterte er verschwörerisch.
Kaito versuchte, sich möglichst unauffällig mit der Hand über die Augen zu wischen und nickte beschämt, aber auch ein wenig neugierig. „Was für ein Geheimnis?“
„Ich mache auch Fehler“, sagte Toichi. Kaito starrte ihn mit offenem Mund an. „Aber das geht doch nicht! Du bist der größte Zauberer aller Zeiten! Ich habe noch nie gesehen, wie einer deiner Tricks schiefgelaufen ist!“
Toichi lachte. „Natürlich mache ich Fehler. Jeder macht Fehler, Kaito, das ist völlig normal und mal unter uns, ein Trick, der gleich von Anfang an perfekt funktioniert, ist sowieso langweilig.“ Er zwinkerte. „Entscheidend für einen Zauberer ist nur, dass er sich seine Fehler nicht anmerken lässt. Das ist es, was einen guten Zauberer von einem sehr guten Zauberer unterscheidet: Ein guter Zauberer übt seine Tricks vor seinen Auftritten so sorgfältig, dass es während seiner Show gar nicht erst zu Fehlern kommt. Und ein sehr guter Zauberer ist darüber hinaus noch in der Lage, seine Fehler so zu verschleiern, dass niemand im Publikum bemerkt, dass er überhaupt einen Fehler gemacht hat. Er lässt es so aussehen, als wäre alles Teil der Show.“
„Dann hast du also auch schon mal einen Fehler bei einem deiner Auftritte gemacht?“, hakte Kaito nach.
„Nein. Aber wenn mir ein Fehler unterlaufen würde, wüsste ich trotzdem, wie ich ihn kaschieren kann.“ Toichi zwinkerte erneut. „Schließlich bin ich der größte Zauberer aller Zeiten.“
Die Münze fiel. Kaito wartete ab; er wollte die allerletzte Sekunde vor ihrem Aufschlag auf dem Boden abpassen. Die Münze drehte sich. Er streckte die Hand aus und –
Etwas Hartes knallte mit großer Wucht gegen seinen Hinterkopf und für einen kurzen Moment wurde ihm im wahrsten Sinne des Wortes schwarz vor Augen.
„Kaito?“ Aokos Stimme drang verschwommen in sein von Schmerzen betäubtes Bewusstsein vor. Er spürte, wie jemand (höchstwahrscheinlich Aoko) nach seinen Schultern griff und ihn schüttelte (Ja, definitiv Aoko. Niemand sonst wäre so blöd, ihn in diesem Zustand durchzuschütteln.) „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Aoko, ohne ihn loszulassen und ohne das Schütteln einzustellen. Die Schmerzen in seinem Kopf tanzten synchron zum Mittagessen in seinem Magen Tango.
Als er nicht regierte (weil er zu sehr damit beschäftigt war, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten) schien Aokos Besorgnis mit Lichtgeschwindigkeit wieder in Wut umzuschlagen. „Du Idiot! Pass gefälligst auf, wenn ich mit meinem Mob nach dir schlage!“
Und auf einmal schien die Vorstellung, ihr aus Rache vor die Schuhe zu kotzen, gar nicht mehr so übel zu sein, aber Kotzen war uncool und unterhalb seiner Würde.
„Aokoooooo …“ Er schlug einen jammernden Tonfall an (Weil das ja viel cooler und würdevoller war als Kotzen.) „Du bist zu brutal! Siehst du nicht, dass ich leide? Womit habe ich das verdient? Wenn du so weitermachst, wirst du nie eine Frau werden! Was machst du überhaupt hier, der Unterricht ist schon seit über einer Stunde vorbei!“
„Was?! …Ich … das …“, stammelte Aoko entrüstet. „Das wollte ich dich auch gerade fragen!“
Kaito sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich sollte doch das Klassenzimmer putzen.“
„Weil du schon wieder im Unterricht eingepennt bist“, schnaubte Aoko. „Ich weiß.“
Kaitos rechte Augenbraue rutschte noch ein Stück höher. „Okay, wir wissen also beide, warum ich hier bin. Was meine Frage von vorhin nicht beantwortet: Warum bist du hier?“ Und warum hast du mich mit einem Mob geschlagen, fügte er in Gedanken hinzu.
„Ich wollte nur sichergehen, dass du deine Arbeit erledigst.“
Und nun rutschte seine linke Augenbraue ebenfalls nach oben, sodass sie wieder auf gleicher Höhe mit seiner rechten war. Sein Blick verfehlte seine Wirkung nicht. Aoko zappelte eine Weile lang nervös mit den Händen, bis es aus ihr herausbrach: „Ich hab mir Sorgen gemacht, okay?! Du bist nicht an dein Handy gegangen!“
„Ach, du hast mich angerufen?“, fragte Kaito überrascht. Das hatte er gar nicht bemerkt.
„Ja, verdammt! Du Idiot! Ich war schon zuhause und habe dich angerufen, um dich nochmal an die Hausaufgaben zu erinnern-“
„Hausaufgaben? Welche Hausaufgaben?“
Sie schloss die Augen, als würde sie eine höhere Macht um mehr Geduld anflehen. „Den Biologie-Aufsatz. Aber du bist wieder mal nicht an dein Handy gegangen, und-“
„Und da hast du es für eine gute Idee gehalten, mich mit einem Mob zu verprügeln.“ Kaito nickte verständnisvoll, als wäre dies das Normalste von der Welt. Aokos Wangen verdunkelten sich (Ahh, wie sehr er es liebte, sie erröten zu sehen!) und Kaito lächelte. „Da du schon mal hier bist, können wir auch gemeinsam nach Hause gehen. Denn wie du siehst, bin ich schon mit allem fertig.“ Er breitete die Arme aus, um sie auf den sauberen Zustand des Klassenzimmers aufmerksam zu machen.
„Genau das ist es, was mir Sorgen macht“, murmelte Aoko langsam. Sie blickte sich argwöhnisch im Klassenzimmer um, als würde sie jeden Moment damit rechnen, von einer finsteren Gestalt aus einer Ecke angesprungen zu werden. „Es passt überhaupt nicht zu dir, so eine Strafarbeit einfach gehorsam auszuführen. Hast du wieder einen deiner dämlichen Streiche vorbereitet?“
Ahh, sie war misstrauisch. Natürlich war sie das. Sie hatte allen Grund dazu. Kaito beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie sie zu ihrem Schreibtisch herüberging und ihn öffnete, um zu überprüfen, ob noch alles an seinem Platz und in Ordnung war. Höchste Zeit für einen Gegenangriff, um ihre Bedenken zu zerstreuen!
„Ein Streich?“ Er tippte grinsend mit dem Zeigefinger gegen sein Kinn, als müsste er darüber erst nachdenken. "Ah, wo wäre denn der Spaß, wenn ich dir das jetzt schon verraten würde?“ Sie wirbelte wie erwartet herum, um ihm eine wütende Antwort entgegenzuschleudern, doch Kaito stand nicht mehr dort, wo sie ihn erwartet hatte, sondern direkt neben ihr – wo er perfekten Zugriff auf ihren Rocksaum hatte. „Es würde die Überrasch- GAAAAAAH!“ Er sprang mit einem entsetzten Schrei zurück, knallte mit dem Rücken gegen den Schreibtisch, der seit Hakubas Rückkehr nach England unbesetzt war, und fiel zu Boden. Sein rechter Arm, der erst vor wenigen Tagen Bekanntschaft mit Snakes Revolverpatrone gemacht hatte, protestierte energisch, aber nicht so energisch wie Kaito selbst. „Der F-fisch! Du hast schon wieder den Slip mit dem Fischmotiv angezogen!“ Das war … nicht fair! Absolut inakzeptabel! Er hatte sie nur ein wenig ablenken wollen und was bekam er dafür? Das Fischhöschen of Doom! … Nicht fair.
Aoko stand immer noch vor ihrem Schreibtisch, hin- und hergerissen zwischen Entrüstung und Erheiterung. Nach einigen Sekunden ließ sie die Klappe ihres Schreibtischs geräuschvoll zufallen. „Geschieht dir völlig recht! Und wenn du so weitermachst, werde ich in Zukunft nur noch Unterwäsche mit Fischmotiven anziehen!“
„Nein! Das darfst du nicht!“
Aoko ging mit einem entnervten Schnauben um ihren Schreibtisch herum, packte ihn am Kragen und begann, ihn wie einen Sack Kartoffeln hinter sich her zu schleifen. „Jetzt hör auf zu jammern und komm! Es ist schon spät und ich habe noch einiges zu erledigen und- oh. Du hast deine Münze vergessen.“ Sie hob die Münze vom Boden auf, ausnahmsweise einmal ohne darauf zu achten, ob Kaito ihr von seiner Position aus unter ihren Rock gucken konnte.
„Hm. Welche Seite hat denn nach oben gezeigt?“
„Zahl, wieso fragst du?“
„… Ach, nur so.“
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Nakamori starrte auf eine unbedeutende Wortgruppe in dem Bericht, den er gerade zu lesen versuchte. Er starrte, bis die Schriftzeichen vor seinen Augen zu einem konturlosen Tintenfleck verschwammen. Mehrere Sekunden vergingen, bis ihm auffiel, dass er schon seit Längerem geistesabwesend ins Leere starrte, und danach vergingen noch ein paar Sekunden, bis er begriff, dass er kein Wort von dem, was er bisher gelesen hatte, verinnerlicht hatte.
Er blätterte zurück zur ersten Seite und fing noch einmal von vorne an, nur um sich wenige Minuten später dabei zu erwischen, schon wieder gedanklich abzudriften. Er zerknüllte den Bericht mit einem entnervten Schnauben zu einer kleinen Papierkugel und warf die Kugel in den Papierkorb neben seinem Schreibtisch. Es war ein befriedigendes Gefühl, aber bei Weitem nicht befriedigend genug.
Verdammt, er brauchte Schlaf. Ein Blick auf seine Armbanduhr machte ihm unmissverständlich klar, dass er keine Zeit für Schlaf hatte. Verdammt, er brauchte Kaffee.
Er rollte zum anderen Ende seines Büros – der Luxus, den ein Bürodrehstuhl mit sich brachte – wo seine Kaffeemaschine stand. Die Maschine war ein Geschenk von Kuroba Chikage, ein neumodisches Teil, das mit neumodischen Pads befüllt werden musste. Nakamori mochte keinen neumodischen Kram. Und diese komischen Pads mochte er auch nicht, weil er damit keine Möglichkeit hatte, seinen Kaffee selbst zu dosieren. Aber die Kaffeemaschine war ein Geschenk, noch dazu ein ziemlich teures, und er brachte es einfach nicht übers Herz, das Ding wieder gegen seine gute alte traditionelle Kaffeemaschine auszutauschen. Was der Grund dafür war, dass er jetzt ein neumodisches Pad aus einer schrill-bunten Aluminiumdose friemelte, das neumodische Pad in seine neumodische Kaffeemaschine legte, einen der vielen (neumodischen) Knöpfe drückte und dabei zusah, wie die neumodische Kaffeemaschine neumodischen Kaffee in seinen altmodischen Kaffeebecher goss. Und während er seinen neumodischen, viel zu dünnen Kaffee trank, versuchte er nicht an die Karte zu denken, die an diesem Morgen zusammen mit dem Sunlight Spark, dem Diamantring, den Kid am letzten Samstag gestohlen hatte, auf seinem Schreibtisch gelegen hatte.
Vielleicht sollte er einfach mal einen Blick in die Zeitung werfen, um sich abzulenken? Ja, das klang nach einer guten Idee. Er rollte zurück zu seinem Schreibtisch, klaubte die zusammengefaltete Zeitung auf und überflog die Schlagzeilen: Ein Banküberfall in Ikebukuro, eine Schulbusentführung in Kyoto, ein Giftmord in Beika, meisterlich aufgeklärt durch den „Schlafenden Mori Kogoro“- und schon waren seine Gedanken wieder bei der Karte. Dieser verdammten, merkwürdigen, ungewöhnlichen Karte. Mein aufrichtiges Beileid stand auf der Karte, mehr nicht. Das war nicht einmal ein vollständiger Satz, und doch gingen ihm diese Worte nicht mehr aus dem Kopf. Die übliche Kid-Karikatur fehlte – Nakamori konnte nur mutmaßen, dass Kid es nicht für angebracht hielt, eine Beileidkarte mit einem hämisch grinsenden Doodle zu unterzeichnen. Trotz der fehlenden Karikatur bestand kein Zweifel daran, dass Kid der Absender dieser Karte war, aber Nakamori wusste nicht, was er von der Sache halten wollte. Handelte es sich bei dieser Geste einfach nur um ein Zeichen von Anteilnahme? So abwegig, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mochte, war das gar nicht. Kid hatte schon in der Vergangenheit ein unnatürlich beschützendes Verhalten gegenüber der Polizeieinheit an den Tag gelegt, die schon seit Jahren erbittert versuchte, ihn hinter Gitter zu bringen. Das war absurd, aber so war Kid eben: eine wandelnde Absurdität.
Oder hatte Kid die Karte hinterlassen, weil er sich schuldig fühlte? Niemand wird verletzt – für diesen Ehrenkodex war Kaito Kid berühmt; er war einer der Gründe, warum der Dieb so eine große Fangemeinde hatte und auch der Grund dafür, dass Nakamori ihm widerwilligen Respekt entgegen brachte (wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, ihn anzubrüllen oder wütend in seine Richtung zu fuchteln.) Fühlte sich Kid also schuldig, weil jemand in den Nachwirkungen seines Raubzugs verletzt – getötet – wurde? Aber das war nicht das erste Mal, dass einer seiner Diebstähle von einem Mord überschattet wurde, und damals hatte Kid keine Beileidskarten verschickt. Steckte noch mehr dahinter? Konnte es sein, dass Kid in irgendeiner Weise direkt in diesen Mord verwickelt war?
(Der Kaffee rann seine Kehle hinab, warm und ätzend wie Spülwasser.)
Edogawa hatte es so dargestellt, als wären die Angreifer nur zufällig aufgetaucht, doch Nakamori hatte dieser Geschichte von Anfang an wenig Glauben geschenkt. Es gab einfach zu viele Ungereimtheiten: Warum hatte Takishima Kid im Alleingang verfolgt, statt wie angeordnet mit seinem Team zu zusammenzuarbeiten? Woher hatte er überhaupt gewusst, welchen Fluchtweg der Dieb nehmen würde? Und warum hätte eine Gruppe von „Drogendealern“ ausgerechnet in der Nähe des Museums, für das Kid in dieser Nacht einen Coup angekündigt hatte, herumlungern sollen? Und warum war Edogawa dort gewesen, und warum hatte er gelogen? Nakamori würde den Bengel am liebsten noch einmal verhören, um der Sache auf den Grund zu gehen, doch dazu fehlte ihm die Befugnis. Für Mord war Megures Dezernat zuständig; Nakamori hatte den Fall unmittelbar nach der Aufnahme von Edogawas Aussage an das erste Dezernat weiterleiten müssen, und dieser Grünschnabel Takagi schien den Aussagen dieses Jungen blind zu vertrauen.
Mein aufrichtiges Beileid. Plötzlich wirkten die Worte auf ihn wie blanker Hohn. Nakamori spülte den Rest seines Kaffees in einem Zug herunter und fluchte leise – über den schlechten Geschmack des Kaffees, über Kid, Takishima, Edogawa, alles. Dann fischte er den zusammengeknüllten Bericht wieder aus seinem Papierkorb. Er begann zu lesen. Er versuchte, nicht an die Beileidskarte zu denken, oder an das tränenüberströmte Gesicht von Takishimas Ehefrau, die weinend vor ihm zusammengebrochen war, als er ihr die Nachricht überbracht hatte. Die Schriftzeichen vor seinen Augen verschwammen zu einem konturlosen Tintenfleck.
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Aoko wurde den Eindruck nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Dass Kaito ihr irgendetwas Wichtiges verschwieg. Sie fühlte sich deswegen seltsam schuldig, immerhin war Kaito ihr bester Freund. Und auch wenn er schon immer etwas unberechenbar und verschlossen gewesen war, hatte sie jahrelang in der unerschütterlichen Überzeugung gelebt, dass er zumindest ihr gegenüber stets aufrichtig war - und diese Überzeugung jetzt in Zweifel zu ziehen, kam ihr wie ein fürchterlicher Vertrauensbruch vor. Und doch konnte sie nicht anders, als zu zweifeln … zumindest ein wenig.
… Aber vielleicht war sie auch nur paranoid und bildete sich das alles nur ein. Sie klammerte sich fast schon verzweifelt an die Hoffnung, es sich nur einzubilden.
Ihr ungutes Gefühl hatte nichts mit Kaito Kid zu tun. Sie konnte zwar nachvollziehen, warum Hakuba-kun glaubte, dass Kaito und dieser elende Dieb ein und dieselbe Person waren (denn Kaito hatte tatsächlich das notwenige Talent dafür, das musste sogar sie einsehen), aber dennoch wusste sie, dass Kaito nicht Kaito Kid war. Ja, sicher, Kaito war ein Idiot und er liebte es, Regeln zu brechen und Leute zu ärgern und ihnen idiotische Streiche zu spielen (weil er ein Idiot war!), aber das war harmlos im Vergleich zu dem, was Kid tat. Kid war nichts weiter als ein aufmerksamkeitsgeiler Verbrecher, der sich einen Spaß daraus machte, Leute zu bestehlen und die Polizei zu demütigen. Er tat dabei immer so nobel, aber er interessierte sich einen Scheißdreck für die Gefühle seiner Opfer, für den Schaden, den er anrichtete, indem er den Ruf der Polizei so nachhaltig ruinierte, für die gewaltigen Verwaltungskosten, die durch die Polizeieinsätze bei seinen Diebstählen verursacht wurden, für all die Tage, an denen sie ihren Vater vermisste, der zu sehr von seinem Job vereinnahmt wurde … Sie wusste, dass Kaito niemals so tief sinken würde wie dieser Kaito Kid. Außerdem hatte Kaito mehrere Alibis, die bewiesen, dass er nicht Kaito Kid sein konnte.
Also nein, ihr ungutes Gefühl hatte nichts mit Kaito Kid zu tun. Aber es war … beunruhigend, dass Kaito in letzter Zeit so oft im Unterricht einschlief. Immer, wenn sie ihn fragte, warum er so müde war, gab er ihr nichtssagende Antworten und dann schaute er unter ihren Rock und machte sich über ihr Aussehen lustig, nur um wenig später wieder unter ihren Rock zu schauen … dieser Idiot! Und noch beunruhigender als seine Müdigkeit waren die vielen Tage, an denen er gar nicht erst in der Schule auftauchte, angeblich weil er krank war. Kaito war als Kind nie krank gewesen, aber jetzt erkältete er sich ständig. Und wie oft im Jahr konnte ein Mensch seinen Regenschirm vergessen und dann in einen so heftigen Regenschauer geraten, dass er sich dabei gleich eine Erkältung einfing? Aoko hatte schon darüber nachgedacht, ihm einen Regenschirm zu schenken. Oder ihn mit einem Regenschirm zu verprügeln. Oder beides. Und wo sie schon beim Thema Verprügeln war – es war ihr schon seit Ewigkeiten nicht mehr gelungen, ihn mit ihrem Mob zu erwischen, aber ausgerechnet heute, als sie es gar nicht darauf angelegt hatte, hatte sie ihn regelrecht damit niedergestreckt. Weil er unaufmerksam gewesen war. Und das war beunruhigend. Kaito war sonst nicht so unaufmerksam.
Aber …
Als sie gemeinsam nach Hause gingen, wirkte alles so normal: Sie plauderten über belanglose Dinge, Kaito riss seine dummen Witze, verspottete ihre „unweibliche“ Figur und rannte lachend vor ihr davon, als sie versuchte, ihm einen Rüffel zu verpassen. Sie rannte schreiend hinter ihm her, doch schon nach wenigen Metern wurde sie von seinem Gelächter angesteckt und lachte ebenfalls. Und als sie bei ihrer Haustür ankamen und er sich wie gewohnt von ihr verabschiedete, reichte Kaito ihr eine rote Rose. Sie wurde rot und er lächelte.
Es war so normal und so schön, und sie wollte den Moment nicht durch ihre Zweifel und ihr Misstrauen kaputt machen.
Aber …
Aoko öffnete den Mund und starrte Kaito an. Kaito zog die Augenbrauen in einer fragenden Geste nach oben und wartete ab.
„Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast“, sagte sie schließlich lahm.
Sein fragender Blick wurde noch fragender. „Ich bringe dich jeden Tag nach Hause.“
„… Ja. Trotzdem danke.“
Er nickte, drückte ihr die Rose in die Hand. Drehte sich um. Drehte sich dann noch einmal um, um sie wieder anzusehen. „Aoko?“
Sie drückte die Rose so fest, dass die Dornen in ihre Haut schnitten. „Ja?“
„Hättest du Lust, an diesem Wochenende etwas zu unternehmen?“
Ihr Griff lockerte sich etwas. „Ja“, sagte sie etwas atemlos. „Natürlich!“
„Wunderbar!“ Er lächelte das Lächeln, das sie an ihm am meisten mochte; fröhlich, ohne Spott, unbeschwert.
„Aber nur, wenn du mir versprichst, mir dabei kein einziges Mal unter den Rock zu gucken!“
„Was?!“ Er wirkte entsetzt, aber dann trat wieder das übliche, schalkhafte Funkeln in seine Augen. „Dann werde ich stattdessen einen Blick unter dein Shirt werfen!“
„Kaitoooooo!“
… Ja, sie hoffte wirklich, dass ihre Sorgen unbegründet waren.