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N.E.E.T. 4 Love

von

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Paranoia in Packages

Chapter 1 – Paranoia in Packages
 

Montag, der 23.
 

Schon durch die makellos geputzten Scheiben konnte Kazuki im Eingangsbereich des gigantischen Wohnkomplexes ganz deutlich das Paket stehen sehen. Nicht, dass er ständig auf anderer Leute Post geachtet hätte, ein Stalker war er wahrlich nicht, doch das unförmige Ding stand so prominent, dass er es beim Öffnen der Tür beinahe umwarf. Mit der fein säuberlich gezupften, in die Höhe gezogenen Augenbraue musterte der junge Mann den zerbeulten Karton und bückte sich schließlich ein Stück, um den abgeriebenen Adressaufkleber zu entziffern.
 

„Masamune Mononobe…“, murmelte er halblaut vor sich hin und stellte somit fest, dass der Besitzer dieses gut einen Meter langen Klotzes offensichtlich sein Sensei war, den er gerade zum ersten Mal besuchte. Mit prüfenden Blicken wog Kazuki ab, ob er sich dem Paket wohl gewachsen fühlte, stellte aber schnell das Gegenteil fest. Keuchend ließ er es die Millimeter aus seinen Händen gleiten, die er es nur mit allergrößtem Kraftaufwand gestemmt hatte. Sich die langen, knallrot gefärbten Haarsträhnen aus dem Gesicht streichend, konnte er nur den Kopf schütteln. Was ließen sich manche Leute in diesem Nobelbunker bloß schicken? Mamorplatten?!
 

Obwohl er vielleicht nicht größer als der Durchschnittsjapaner wirkte, war der Rothaarige derzeit in Höchstform: Er trieb Sport, war eigentlich jeden Tag mindestens zwölf Stunden in der Universität oder bei einem seiner unzähligen Jobs unterwegs und fuhr noch dazu überall mit dem Fahrrad hin. Kazuki war kräftig, das wusste er, aber mit dem Ding hier wollte er sich sicherlich nicht seinen Rücken ruinieren. Achselzuckend betrat er einen der vier Aufzüge, die um eine verschwenderisch große Theke angeordnet waren. Die herausgeputzte, junge Frau dahinter rief ihm gerade noch etwas überrascht hinterher, doch Kazukis charmantes Lächeln verschwand ziemlich schnell hinter den sich schließenden Aufzugtüren. Der Schmuck an seinen Ohren klimperte leise, als er auf die über ihm angebrachte Leuchttafel hinauf blickte und seufzte. Neunundvierzigstes Stockwerk – er fühlte sich unwohl und – obwohl man es dem selbstsicher auftretenden Mann vielleicht nicht ansah – zugegebenermaßen unpassend in diesem Umfeld. Das hier war zwar kein Hotel, aber die vielen Anwohner konnten es sich scheinbar ohne Weiteres leisten, eine Empfangsdame und einen Sicherheitsdienst zu unterhalten. Sich an den furchtbaren Menschen vor dem Eingang der Anlage erinnernd, fuhr sich Kazuki stöhnend durch das Gesicht. Seine Fingernägel waren noch vom Wochenende schwarz lackiert. Der Kerl hatte ihn jedenfalls zuerst nicht durchlassen wollen und erst nachgegeben, als sie gemeinsam mittels Gegensprechanlage Appartement 49 – 50 – 7 kontaktierten und dortiger Bewohner bestätigte, dass er einen Hanada Kazuki erwartete. Der aus dem Hörer erklingende Mann hatte sich eigentlich ganz nett angehört – sehr höflich und freundlich. Kazuki war gespannt auf ihr erstes Treffen.
 

Als er nach einer gefühlten Ewigkeit von der weiblichen Stimme des Aufzugs zum Aussteigen aufgefordert wurde, war er noch tief in Gedanken versunken. Er konnte wirklich stolz sein, sich zu den 10 ausgelosten Studenten zählen zu können, denen es vergönnt war, von Mononobe –Sensei höchst persönlich, zwei Mal die Woche unterrichtet zu werden – und das auch noch allein! Noch dazu war dieser Mann, der Schöpfer von „Fantasy Adventures“, ein Genius unter dem Game-Creator-Himmel, sein, Kazukis, größtes Vorbild. Der Designstudent strebte eine ähnliche, was dachte er, die gleiche Karriere an. Er wollte Computerspiele entwerfen, ganz so wie sein Sensei. Doch zuvor galt es, eine Doktorarbeit zu schreiben und er hoffte, dass ihm der Profi bei seinem Thema helfen könnte.
 

Irgendwann war er endlich vor der zweiflügligen Eingangstür angekommen, rief sich innerlich zur Ordnung und straffte seine Schultern. Die Lederjacke mit den abgetrennten Ärmeln knarzte bei dieser Bewegung. Nachdem er die Türklingel lang und deutlich betätigt hatte, geschah eine ganze Zeit lang einfach nichts. Ein plötzliches Summen ließ den Besucher jäh zusammen fahren und übereilt nach den auf Hochglanz polierten, metallenen Knäufen greifen. Tief verneigte sich Kazuki, nachdem er eingetreten war und sich insgeheim schon darüber gewundert hatte, wieso ihm die Person auf dem kleinen Absatz über ihm nicht selbst geöffnet hatte. Ein merkwürdiger Mensch eben, dem er sich trotz allem angemessen und höflich vorstellte. Viele Sekunden hing danach aber das Schweigen über dem großzügig angelegten Flur. Der junge Mann, noch immer unangenehm vornüber gebeugt, wagte endlich einen kurzen Seitenblick und bemerkte so, dass er von seinem Gastgeber durchgehend und sehr schweigsam gemustert wurde. Gerade, als sich eine Ader auf Kazukis Stirn deutlicher abzeichnen wollte, wurde die Stille von einer tiefen und sehr ruhigen Männerstimme durchbrochen:

„Freut mich, meinen Namen kennst du ja bereits, nehme ich an.“
 

Der Rothaarige seufzte innerlich vor Erleichterung und richtete sich wieder auf. Er mühte sich, seine neugierigen Blicke nicht allzu offensichtlich zu machen, als er sein hochgewachsenes Gegenüber betrachtete. Schlank, beinahe schon schlaksig, rabenschwarzes Haar, grüne Augen, etwa Anfang Dreißig in Anzughose, Hemd und Krawatte. Vermutlich war er gerade erst nach Hause gekommen. Der Jüngere hatte nie eine Vorstellung von seinem Idol gehabt, aber dennoch befremdete ihn die Erscheinung der Person vor ihm auf eine sonderbare Art und Weise. Mononobe-Sensei stand wie festgewachsen noch immer auf der Stufe über dem Eingangsbereich und hatte sich bisher keinen Millimeter bewegt.

Kazuki nickte. „Ich freue mich, an ihrem Tutorium teilnehmen zu dürfen und hoffe, dass ich ihre Erwartungen erfülle“, sagte er förmlich und erntete erneut diesen abschätzenden Blick des Älteren, der damit auch direkt zur Sache kam.
 

„Das wird sich zeigen. Aber genug von dem Vorgerede, verlieren wir keine Zeit. Wenn du mir bitte folgen würdest?“, der Schwarzhaarige wendete seinem Besucher den Rücken zu und tat einen Schritt in den Raum. Kazuki, der nach kurzem Zögern sorgsam seine Schuhe abstreifte und ihm folgte, beäugte nun neugierig die Umgebung. Irgendwie hatte er sich die Wohnung des Game-Designers völlig anders vorgestellt – etwa so, wie einen Otaku-Tempel? Das hier jedenfalls, untertraf in allen Punkten seine Erwartungen: Der Flur war zwar höchstwahrscheinlich so groß, wie sein eigenes Appartement, wirkte dafür jedoch wie ein Museum für japanische Heimatkultur. Das einzige Bild an allen Wandbereichen, die zum Teil durch teures Holz verziert waren, zeigte in Übergröße fliegende Kraniche über dem Fuji. Ein einziger Tisch war, gepaart mit einer auf ihm stehenden, unförmig wirkenden Skulptur das hervorstechende Dekoelement des gesamten Raumes. Bis auf zwei von hier abgehende Türen war er leer. Sauber, ordentlich, aber völlig schmucklos.
 

„Hier“, Masamune blieb abrupt stehen, sodass Kazuki, der soeben zu seiner Rechten einen unscheinbaren, in einer weiteren Tür endenden Gang entdeckt hatte, beinahe in ihn reingelaufen wäre. Verwirrt blinzelte der Rothaarige und folgte der erklärenden Geste des anderen mit den Augen.

„Das ist das Gästebad. Merk dir das.“

Der Jüngere nickte stumm, ging schließlich gemeinsam mit seinem Gastgeber auf das kopfseitige Zimmer zu und bemerkte das von ihm besitzergreifende Gefühl von Unwohlsein mit einem Mal nur zu deutlich. Der erste Eindruck der Wohnung seines Senseis bestätigte sich offensichtlich auch in diesem Zimmer… Kazuki suchte ein Wort und beschloss letztendlich, ihren künftigen Arbeitsraum auch genauso zu nennen, denn viel mehr als arbeiten könnte man hier ohnehin nicht. Bis auf einen länglichen Konferenztisch mit sechs Polsterstühlen, einen Beamer, ein Laptop und eine Leinwand befand sich hier nichts. Nicht einmal eine Pflanze oder ein weiteres von diesen hässlichen Gebilden wie im Flur, die Kazukis Meinung nach furchtbar gut in die sterile Umgebung gepasst hätte.
 

„Setz dich bitte“, mit diesen Worten schloss Masamune in einer umständlich wirkenden Geste mit dem Fuß die Tür und enttarnte so nun doch noch einen weiteren Gegenstand, der an ihrer Innenseite fest installiert war: Ein Schild. Als der Rothaarige die einlaminierten Zeilen kurz überflog, weiteten sich seine Augen in Erstaunen, aber bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, kam man ihm zuvor.

„Da du heute das erste Mal hier bist wünsche ich, dass du diese Regeln…“, die schlanken Finger des hochgewachsenen Mannes fuhren die einzelnen Punkte hinab „…hundertprozentig verinnerlichst. Sieh sie als Hausordnung für dich und die anderen, die ich unterrichte. Ich dulde nicht, dass sie missachtet werden und damit das von vornherein klar ist: Ich scheue mich nicht davor, jemanden notfalls auch ein für alle Male, vom Unterricht zu suspendieren.“

Scheinbar ignorierte er seinen Schüler, dessen beinahe schon fassungslose Blicke zwischen ihm und dem Gesetzestext hin und her glitten. Ohne einmal ablesen zu müssen, begann er zu zitieren.
 

„‘Nummer 1: Händewaschen bevor dieser Raum betreten wird.‘ Du weißt ja, wo sich ein Waschbecken befindet.“

Kazukis linke Augenbraue zog sich in Zeitlupe nach oben. Hatte er das gerade richtig verstanden?

„‘Nummer 2: Nur dieser Raum dient als Arbeitsraum‘, ‚Nummer 3: In dieser Wohnung wird weder gegessen noch getrunken‘ Damit meine ich auch Kaugummis. ‚Nummer 4: Keine persönlichen, unnötigen Fragen, die nichts mit dem Lernstoff zu tun haben‘ Das wäre auch schon alles.“

Der Schwarzhaarige pausierte für Sekundenbruchteile und holte geräuschvoll Luft.

„Hast du diese Regeln verstanden?“, seine Stimme erklang dunkel und Kazuki interpretierte ungewollt eine gewisse Bedrohlichkeit in sie hinein. Sehr langsam begann der Kopf des Studenten wie von selbst zu nicken und zauberte so ein völlig unerwartetes Grinsen auf das Gesicht des Anderen.

„Wunderbar! Dann sei so gut und befolge jetzt bitte Punkt 1.“
 

Mechanisch erhob sich der Angesprochene und war vollkommen unfähig, seine Blicke von Masamune zu wenden, der nun mit hinter dem Rücken verschränkten Armen undeutbar lächelnd darauf zu warten schien, dass sein Schüler seiner Aufforderung nachkam. Verwirrt zwinkernd tat dieser schließlich wie geheißen und entdeckte – keineswegs mehr zu seiner Verwunderung – endlich den Zwilling der Statur aus dem Eingangsbereich, der sich passend in das trockene Ambiente der Gästetoilette fügte.

„Ich hoffe, dass du für deine Prüfungen nicht so lange brauchst, wie zum Händewaschen“, gerade als der Rothaarige den Arbeitsraum wieder betreten und die Tür hinter sich verschlossen hatte, wurde er von der ungeduldig wirkenden Stimme seines Senseis empfangen. Verblüfft musterte er die an eine Wand gelehnte Gestalt und stellte im gleichen Augenblick fest, dass wohl in den letzten zehn Jahren niemand mehr so mit ihm gesprochen hatte, wie er in den letzten zwanzig Minuten. Er bemerkte wieder den abschätzenden Blick, mit dem er gemustert wurde.
 

„Du hast Wasser im Gesicht.“

„Oh, Verzeihung“, schnell wischte sich Kazuki die Tropfen vom Kinn, die er wohl übersehen haben musste und spürte förmlich, wie jede seiner Bewegungen registriert wurde. „Ich habe mich nur… abgekühlt. Es ist warm hier“, log er. Eigentlich hatte er tatsächlich ein wenig Zeit schinden wollen, um sich darüber klar zu werden, was hier gerade geschah und wie er all dem begegnen sollte. Er hatte gehofft, dass eine kleine Erfrischung seine Gedanken klärte. Es war nicht leicht, ihn aus der Raison zu bringen aber Mononobe Masamune war wohl auch keine von dieser Art Personen, mit denen er jeden Tag zu tun hatte und auf die er sich einstellen konnte. Um ehrlich zu sein, hatte der Designstudent noch nie jemanden wie ihn getroffen.
 

„Ah“, machte der Schwarzhaarige und stieß sich von der Wand ab. „Vielleicht solltest du dann besser etwas an deinem…“, er suchte nach Worten, „…Kleidungsstil ändern.“

Noch während sich Kazuki wieder auf einen der Stühle sinken ließ, sah er verärgert auf. Natürlich wusste er, dass sicherlich nicht die Dicke seiner Bekleidung gemeint war. Ferner seine Arbeitskleidung, die er noch trug, da keine Zeit gewesen war, sich ihrer auf dem Weg hierher zu entledigen.

„Verzeihung, ich bin Student und muss für meine Miete kellnern“, sagte er spitz und rückte seine Sitzgelegenheit geräuschvoll zurecht.

„Im Cosplay-Outfit?“, der leicht in die Höhe gehobene, verächtliche Mundwinkel von Masamune blieb Kazuki, ebenso wie der geringschätzende Unterton nicht verborgen.

„In einem Cosplay-Cafe“, antworte er leicht säuerlich. Für so offensichtlich befand er sein abgetragenes Lederoutfit nicht, immerhin verdeckte es beinahe alle Körperstellen bis auf die Arme. Alle Ketten, Schnallen, andere Utensilien und Schmuck hatte er schließlich schon in seinem Spind gelassen und überhaupt? Warum stellte sich der Kerl eigentlich so hinterweltlich an? Kazuki war überaus überrascht, nach dem wie es in seinem Heim aussah, dass er überhaupt wusste, was Cosplay bedeutete. Nach einer kurzen Pause fuhr er schließlich fort: „Ich dachte im Übrigen, dass persönliche Fragen hier verboten sind?“

„Für Studenten, ja.“
 

Unter einem leisen Klicken schaltete der Größere den Beamer auf dem Tisch an und tippte auf dem beistehenden Laptop herum: „Wollen wir dann anfangen?“

Der Rothaarige verdrehte die Augen: „Wenn sie nicht noch etwas über meinen Job wissen möchten, wäre ich sehr verbunden.“

„Oh, und ob. Mich würde interessieren…“, Masamune deutete auf die sich auf der Wand abzeichnenden Grafiken, „…ob Kenshin das hier interpretieren kann.“
 

Donnerstag, der 25.
 

Drei Tage später drückte Kazukis Zeigefinger den Knopf der Türklingel tief hinab. Sich nur schwer ein ergebenes Stöhnen verkneifend, klopfte sich der Student die Beine seiner Stoffhose ab, um sicher zu gehen, dass auch kein auffälliges Hundehaar mehr an ihnen klebte. Während er die gleiche Prozedur auch mit seinem schwarzen Hemd wiederholte, verfluchte er innerlich den kleinen Köter der reichen Dame, mit dem er vor wenigen Minuten noch im Park unfreiwillig Fangen gespielt hatte. Glücklicherweise wohnte sie nicht allzu weit von hier, sodass er noch einigermaßen pünktlich zu seinem Termin mit Mononobe-Sensei gekommen war. Zu einem seiner vielen Nebenjobs gehörte es hin und wieder, die Vierbeiner von betuchten Herrschaften auszuführen. Auch wenn ihn der Umgang mit ihren meist ziemlich verzogenen Lieblingen oftmals viel Zeit kostete, konnte er auf das gute Taschengeld, das er dafür bekam, keinesfalls verzichten. Je nach dem was in den Villen und Nobelwohnungen gerade anstand, gab es hin und wieder auch mal mehr zu verdienen. Gerade, als er sich fragte, warum der Türsummer nicht ertönte, erklang gedämpft aus dem Inneren Masamunes Stimme, der zu telefonieren schien. Kazuki musste sich nicht großartig anstrengen, um zu verstehen, was oder eher wie angeregt gesprochen wurde.
 

„Nein? Wie oft soll ich ihnen denn noch sagen, dass sie die Pakete VOR MEINE WOHNUNGSTÜR schaffen sollen?“, eine kurze Pause folgte und der Student machte plötzlich ein verstehendes Gesicht. Natürlich – der Karton von letztem Mal stand immer noch im Eingang. Jemand hatte ihn nur an die Wand geschoben.
 

„Das ist mir gleich, schließlich bezahle ich sie für diese Dienstleistung. Wenn das noch mal vorkommt, werde ich eine schriftliche Beschwerde einreichen. Auf Wiederhören.“

Kaum hatte das Telefonat geendet, brummte auch schon die Tür los und wurde hastig von Kazuki geöffnet. Was der Eintretende dann sah verwunderte ihn zwar ziemlich, so war er aber höflich genug die ärgerlichen Falten auf der Stirn seines temporären Gastgebers und dessen derangiert wirkende, halb herunter gezogene Krawatte nicht zu erwähnen. Tief neigte der Rothaarige seinen Oberkörper nach vorn.
 

„Guten Abend, Sensei. Ich hoffe, sie werden mich auch heute unterrichten.“

Das beiläufige und wenig begrüßende „Hallo“ gab dem Besucher trotzdem Grund genug, sich wieder zu erheben. Irgendwie mühte er sich, ein Lächeln zustande zu bekommen, fürchtete aber, dass es wie eine Grimasse wirken musste, weil er es eigentlich nicht ernst meinte. Der Ablauf des letzten Besuchs und vor allem die Tatsache, dass man ihn als „Kenshin“ betitelt hatte, nahm Kazuki zum Anlass nicht gerade mit bester Laune zum Unterricht zu erscheinen. Er legte immer besonders viel Wert auf Detailtreue bei seinen Kostümen und noch dazu war die Figur, die er an jenem Tag dargestellt hatte ein Nebencharakter aus einem der Spiele gewesen, die Mononobe-Sensei doch selbst entworfen hatte! Er war enttäuscht. Eigentlich, so hatte er es sich jedenfalls in den letzten drei Tagen überlegt, konnte es ja nur noch besser werden, denn immerhin war die Unterweisung seines Lehrers wirklich hervorragend gewesen – auch wenn… aber das wollte er ja lieber ausblenden.
 

Leise seufzend machte sich Kazuki gerade daran, einen seiner Schuhe mit der Hilfe des anderen Fußes auszuziehen, da ließ ihn das Räuspern des größeren Mannes aufblicken und in der Bewegung verharren.

„Natürlich werde ich“, antwortete Masamune nach einiger Zeit, „Aber zunächst lernst ausnahmsweise nur du eine wichtige Lektion.“

Der Angesprochene war sich nicht sicher, ob er ärgerlich oder doch besser panisch werden sollte. Was um Himmels Willen konnte nach den vier Geboten denn noch kommen?

„Und…. die wäre?“, fragte er unsicher und betrachtete argwöhnisch den erhobenen Zeigefinger des anderen.

„Demut.“

„Äh… Verzeihung?“ , Kazuki blinzelte irritiert.

Tief atmete der Schwarzhaarige ein und schloss die grünen Augen theatralisch langsam: „Zeige Demut, indem du das tust, was ich dir sage.“

Kazuki rümpfte seine Nase.

„Mache ich das nicht sowieso schon?“, murmelte er leise und rutschte wieder zur Gänze in sein Schuhwerk. Masamune beabsichtigte nicht, auf diese Frage einzugehen und fuhr nach einer kleinen Weile des Stillschweigens unbeirrt fort.

„Unten im Eingangsbereich steht ein Päckchen – die nette Dame vom Empfang hat mich darauf aufmerksam gemacht, weil der Paketdienst seine Arbeit in letzter Zeit wohl nicht allzu ernst nimmt. Bring es bitte hinauf.“

„Päckchen?“, keuchte Kazuki. Diesen Namen hatte der Klotz wahrlich nicht verdient. „Das Ding wiegt mindestens vierzig Kilo!“

Wissend nickte der Ältere: „Soso, dann hast du es ja schon bemerkt. Aber ich bin mir sicher, dass deine Jungend dir noch die Kraft verleiht, es hier hin zu schaffen. Also bitte?“

Der Mund des Studenten öffnete sich tonlos, Worte scheiterten jedoch an jenem, nicht deutbarem Lächeln des großen Mannes. Widerwillig und sich an seine guten Manieren erinnernd, fügte sich Kazuki in sein Schicksal. Er war schließlich kein wirklicher Gast – er war hier, um zu arbeiten. Wohl heute eher im wörtlichen Sinne.

„Ja, ja...“, seufzend machte er sich auf den Weg hinunter.
 

„Ah, gut dass sie es holen. Ich fürchtete schon, dass jemand darüber fällt.“

Überrascht blickte Kazuki auf, ließ zum unzähligen Male von den Kanten des Kartons ab, den er ohnehin nicht umgreifen konnte und fand in der freundlichen, jungen Frau hinter dem Tresen die Quelle der Stimme. Vor drei Tagen hatte hier noch eine andere Person gesessen. Ein gequältes Lachen kam ihm von den Lippen.
 

„Tja, dann ist ja jetzt wohl nicht nur der Empfänger glücklich, nicht wahr?“, zur Antwort schenkte ihm die schwarzhaarige Schönheit ein einstudiert wirkendes Lächeln.

„Na dann…“, raunte der Student mehr zu sich selbst und entschloss sich kurzerhand einfach dafür, das Paket bis zu den Aufzügen über die blank polierten Steinfliesen zu schieben. Das Geräusch, das wohl vereinzelte Sandkörner unter dem stabilen Pappboden in dem hellhörigen Gebäude verursachte, versuchte er zu ignorieren. Ebenso, wie ein wohl hier anwohnendes Ehepaar mittleren Alters, das soeben befremdlich blickend zum Ausgang schritt.

„Sind sie einer seiner Schüler?“, fragte die Empfangsdame ihn schließlich, als er für einen Moment in der Nähe der Theke pausierte, um nach Luft zu schnappen.

„Wie ein Verwandter sehe ich wohl nicht gerade aus“, Kazuki achtete peinlich genau darauf, dass der sarkastisch bis ärgerliche Unterton seiner Worte auch zum Ausdruck kam. Schnell wischte er sich mit dem Unterarm über seine Stirn.

„Stimmt. Die sieht man hier auch nicht… gerade häufig.“

Die Tatsache, dass sie den letzten Teil des Satzes vielleicht sogar ein bisschen hastig angefügt hatte, machte den jungen Mann hellhörig.

„So?“, er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Kann mir vorstellen, dass auch die keine große Lust haben, seine Post durch die Gegend zu schleppen. Lässt er immer irgendwelche anderen seine Arbeit machen?“ Als er den entschuldigenden Gesichtsausdruck der Dame vor ihm bemerkte, biss er sich auf die Zunge. Er sollte seine Wut wirklich nicht an ihr auslassen.
 

„Nehmen sie es ihm nicht übel. Freuen sie sich doch lieber, dass er sie empfängt“, entgegnete sie ihm beschwichtigend, anstelle der bissigen Antwort, die Kazuki eigentlich erwartet hatte und war erstaunt.

„Kennen sie sich?“

Die Frau schüttelte den Kopf: „Nein, nicht persönlich. Ich arbeite nur schon ein paar Jahre hier und habe die meisten Schichten. Da merkt man sich so einige Sachen, wissen sie?“

Der Rothaarige nickte automatisch, hatte aber keinen blassen Schimmer, von was sie eigentlich sprach.

„Wir haben abgemacht, dass ich ihm Bescheid sage, wenn etwas für ihn hier unten liegen bleibt. Meine Kollegen haben das noch nicht ganz auf dem Schirm.“

„Ah“, machte Kazuki und fühlte sich genau so schlau wie zuvor. Warum schaffte er seine Sachen nicht selbst nach oben? „Trotzdem. Ich frage mich-“

Sie unterbrach ihn und zwinkerte: „Er geht selten aus.“

„Aha“, seine hochgezogene Augenbraue untermalte seinen unverständlichen Gesichtsausdruck.

„Wie auch immer“, seufzte die Schwarzhaarige und wirkte irgendwie enttäuscht. „Sie tun ihm jedenfalls einen großen Gefallen. Und jetzt lassen sie ihn besser nicht länger warten“, sie verabschiedete ihn mit einem Handwink und einem bezaubernden Lächeln.

„Äh, ja. Danke“, irritiert betrat er schließlich den Aufzug und wurde sich auf dem Weg zurück in das neunundvierzigste Stockwerk bewusst, dass er seinerseits die merkwürdigste Unterhaltung war, die er seit sehr langer Zeit geführt hatte.
 

Nachdem er die Haustür aufgedrückt hatte, die zu seinem weiteren Ärger immer wieder zu fiel und natürlich nicht von jemandem aufgehalten wurde, musste er einen kleinen Kraftakt leisten und das Paket über die Schwelle heben. Noch bevor er es wieder fallen lassen konnte, ertönte schon die Stimme seines Senseis, der das Unterfangen seelenruhig von oberhalb beobachtete.

„Bring es bitte rein.“

„Wo-wohin?“, presste Kazuki unter der schweren Last hervor und mühte sich, das Gleichgewicht zu behalten. In seinem Griff quietschte und knarrzte der Karton verräterisch, aber der Träger war viel zu sehr damit beschäftigt, den Adressaten innerlich zu verfluchen. Sollte er es doch selbst reinbringen!
 

„In den Arbeitsraum. Auf den Tisch.“

Keuchend setzte der Student einen Fuß vor den anderen und dachte erst gar nicht daran, sich seiner Schuhe zu entledigen, bevor er die Stufe im Eingangsbereich erklomm. Er bemerkte wohl die erschrockene Geste und den folgenden stummen Aufschrei des Älteren, ignorierte das alles aber gekonnt. Musste er eben putzen.
 

Mit einem dunkeln Stöhnen setzte er das Paket schließlich mitten auf den Tisch, lehnte sich darauf und rang für einige Sekunden nach Luft. Sein Rücken schmerzte.

„D-danke“, die Worte seines Senseis ließen ihn aufblicken. Er beobachtete gerade noch, wie dieser einen großen, völlig überzogen wirkenden Schritt in das Innere des Raumes machte und so gezielt nicht auf die Stellen am Boden trat, die mit seinen Straßenschuhen in Berührung gekommen waren. Kazuki konnte sich das Augenrollen nicht verkneifen und setzte sich. Manche Leute stellten sich wirklich an. Als er dann noch beobachtete, wie Masamune mit dem Fuß die Tür regelrecht zu schubste, schüttelte er nur den Kopf. Eigentlich war der leicht verzweifelte Ausdruck in den Augen des Älteren in dieser Situation wirklich zum Schreien, aber dem Studenten war momentan nicht wirklich nach Lachen zu Mute.
 

„Keine… Ursache“, log er. Und ob es eine war. Wenn er morgen nicht mehr gerade gehen konnte, bliebe ihm nichts anderes als sich einen seiner Jobs abzuschminken.

„Ich werde mich erkenntlich zeigen“, sagte der Schwarzhaarige, der sich offensichtlich wieder gefasst hatte. Kazuki bemerkte, dass sogar seine Krawatte wieder förmlich gebunden war.

„Und wie?“

„Mit gutem Unterricht, zum Beispiel“, nach diesen Worten begann er schließlich.

Während der nächsten Stunde fiel es dem Besucher schwer, sich auf das zu konzentrieren, was Mononobe-Sensei ihm nahezubringen versuchte. Immer wieder glitten seine Blicke zu dem monströsen Klotz auf dem Tisch, der den Raum in etwa so abwechslungsreich gestaltete, wie die Oase eine Wüste. Er hatte vorhin gespürt, dass etwas wackelte, wenn man das “Päckchen“ bewegte. Angehört hatte es sich wie Plastikbehälter. Vielleicht waren sie gefüllt? Das könnte jedenfalls die Schwere erklären. Aber wenn ja, mit was? Nervös kaute er auf seinen mittlerweile wieder farblosen Fingernägeln herum, während seine Augen ungeduldig die Bewegungen seines Lehrers verfolgten. Kazuki war von Natur aus neugierig und nicht immer hatte ihn diese Eigenschaft rühmlich aus der Masse hervor stechen lassen. Dennoch. Je mehr Zeit gerade verstrich, desto dringender wollte er wissen, was sich im Inneren des Pakets befand – und weil er es bis hier hoch geschafft hatte, fühlte er sich sogar ein bisschen im Recht, das zu erfahren. Er musste nur irgendwie-
 

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“

Erschrocken zwinkerte der Angesprochene und konnte sich gerade noch zusammen reißen, nicht unvermittelt zusammen zu fahren. „J-ja, natürlich!“

„Du wirkst so, als ob du nicht verstehst, was ich dir gerade erkläre“, skeptisch musterte Masamune seinen Studenten, der entschuldigend lächelte und sich am Hinterkopf kratzte.

„Verzeihung“, ein breites Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als ihn mit einem Mal eine Idee überkam. „Es ist nur…“

„Was?“

Kazuki stammelte: „Es ist nur, dass ich das plastischer haben muss. Über Charakterdesigns zu sprechen ist die eine Sache, aber ich brauche etwas Handfestes. Ich muss es zeichnen und die nötigen Stichpunkte später für die Unterlagen haben. Haben sie vielleicht ein Handout?“

Der Schwarzhaarige seufzte: „Nein. Ich hatte befürchtet, dass eines verlangt wird. Hast du Stifte dabei?“

Das Kopfschütteln seines Gegenübers verneinte die Frage und das Gesicht des Lehrers verfinsterte sich. „Das nächste Mal mitbringen, wenn du es dir mit deinen Fingern besser einprägen kannst. Ich mache ein Handout fertig und schicke es dir per Mail.“

Hektisch streckte sich Kazuki in dem Lederstuhl: „Und was ist jetzt?“

„Wie jetzt?“, fragend sah Masamune den anderen an.

„Na… könnte ich mir vielleicht… ein paar Stifte von ihnen leihen?“ Stifte – genial. Die musste er holen. Und um sie zu holen, musste er den Raum verlassen. Er war ja so gerissen.

„Nein“, ertönte die nüchterne Antwort ziemlich schnell.

„Nein?“, mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verzweiflung blickte der Rothaarige auf.

„Ich meine…“, der Größere räusperte sich. „Ich gebe meine Stifte nicht einfach ab. Das ist etwas Persönliches.“

Natürlich. Am liebsten hätte Kazuki sich die Handfläche vor die Stirn gehauen. Er kannte einige, die tatsächlich niemanden an ihr Zeichenwerkzeug ließen; sei es aus Aberglauben oder anderen persönlichen Bindungen an sie.

„Dann vielleicht… ein kleiner Ausdruck von den Folien dort? Dann zeichne ich kurz mit dem Kuli und mach es zu Hause nochmal schön.“ Es verging eine ganze Zeit, in denen der Student eindringlich seinen Lehrmeister beobachtete, der angestrengt zu überlegen schien.

„Na schön. Warte bitte hier.“
 

Kazuki nickte eifrig und verfolgte innerlich triumphierend die Bewegungen der hochgewachsenen Gestalt. Er wunderte sich zwar still über dessen merkwürdige Fortbewegungsart, wusste aber, dass er noch immer vermied, auf gewisse Stellen zu treten. Als er sich sicher fühlte, hielt er es keine Sekunde länger mehr aus und sprang von seinem Stuhl auf. Hektisch tasteten seine Hände über den mittlerweile doch sehr ramponierten Karton. Schließlich fand er das, wonach er gesucht hatte: Einen kleinen Einriss an der Unterseite. Er wusste, dass es mehr als nur unhöflich war, was er gerade tat, konnte sich aber einen leisen Laut des Jubels nicht verkneifen, als die Lücke schließlich so weit aufgebogen war, dass einer seiner Finger hinein gleiten konnte. Er tastete Plastikfolie und darunter etwas Hartes. Stirnrunzelnd zog er die Kiste näher an sich, sodass sie nun zum Teil über der Tischplatte stand. Immer energischer bohrte er darin herum bis schließlich genau das geschah, was er eigentlich wirklich nicht gewollt hatte: Die Kartonage riss weiter ein.
 

Nicht etwa nur ein bisschen, Kazuki platzte direkt die gesamte, ihm zugewandte Seite entgegen und vor ihm ergoss, oder besser polterte sogleich der Inhalt zu Boden. In Viererpacks verschweißte Flaschen eines markenhaften Hygienesprays. Und davon gleich massenhaft. Geräuschvoll kamen sie auf dem Boden auf und verteilten sich sorgsam im Raum. Es grenzte an ein Wunder, dass keine von ihnen bei dieser Prozedur aufgeplatzt war. Völlig baff begutachtete der junge Student das grün-blaue Logo und erinnerte sich sogleich an die dazugehörige Werbung mit ihrem Jingle, die er aus dem Fernsehen kannte. Die, wo die unglückliche Mutter wegen des Drecks, den ihre Kinder täglich fabrizierten wieder lachen konnte, wenn sie das desinfizierende Wunderwerk der Chemie in ihrer Atemluft verteilte. Welcher Mensch brauchte davon aber gleich geschätzte hundert Flaschen? Der Karton jedenfalls war bis zum Bersten gefüllt. Der aufgerissene Karton von Mononobe-Sensei.

Sofort löste sich Kazuki aus seiner Starre und begann fiebrig die Plastikbehälter einzusammeln, um danach panisch eine Lösung für das Leck der Umverpackung zu finden. Da ihm nichts Besseres einfiel, kippte er die gesamte Kiste schlussendlich genau auf die zerrissene Seite und begann sie von unten zu füllen. Als er das Geräusch einer sich schließenden Tür vernahm, schaffte er es gerade so, den letzten Packen der rundlichen Sprühflaschen hinein zu quetschen, das ganze Ding fallen zu lassen und sich stürmisch wieder auf seinen Platz zu setzen.
 

„Ist was passiert? Ich habe ein Geräusch gehört“, Masamune sah fragend auf seinen Schüler, der zusammen gesunken vor dem Tisch hockte und sich kaum traute, aufzublicken. Verheimlichen konnte er die ganze Aktion wohl kaum, das wusste er.

„Äh, der Karton ist… geplatzt. Ich hab alles aufgesammelt. Alles heil“, seine Stimme war sehr leise. Eine ganze Zeit des Schweigens folgte, in der Kazuki es sich nicht wagte, dem anderen ins Gesicht zu sehen. Das Einzige, was er wahrnahm, waren die zitternden Hände seines Lehrers. Er schluckte hart und machte sich auf ein Donnerwetter gefasst, das aber zu seinem Unglauben ausblieb. Irgendwann fuhr Masamune einfach mit dem Unterricht fort. Eigentlich so, als ob nichts geschehen war. Eigentlich – denn seine Worte klangen so nervös, wie seine Finger sich bewegten.
 

Montag, der 29.
 

Stöhnend ließ Kazuki den Arm wieder sinken, fuhr sich in einer verzweifelten Geste durch das Gesicht und knirschte geräuschvoll mit den Zähnen. Die Türklingel blieb schon seit mehreren Minuten unberührt. Das gesamte Wochenende über hatte er sich die passenden Worte zurecht gelegt und war mögliche Gesprächssituationen im Geiste durchgegangen, nur um jetzt vor Mononobe-Senseis Wohnung zu stehen und doch nicht zu wissen, wie er ihm nach dem Unterricht letzte Woche begegnen sollte. Seine Neugier abermals verfluchend, trat er von einem Bein auf das andere und wendete seinen Blick hilfesuchend an die Decke. Ebenso war er zu keinem Ergebnis gekommen, was die Unmassen des Hygienesprays betraf – auch wenn er nur zu gut wusste, dass ihn diese Angelegenheit nichts anging, die Sache beschäftigte ihn. War er etwa ein heimlicher Vertreter? Arbeitete er für diese Herstellerfirma? Oder hatte er schlicht und ergreifend einen heimlichen Sauberkeitsfimmel? Aber Mononobe war doch ein Mann… Kazuki konnte sich keinen Reim darauf machen. Er hoffte nur inständig, dass sein Lehrer auch weiterhin kein Wort über den Karton-Vorfall verlieren würde. Vor vier Tagen hatte er ihn zwar gewohnt höflich verabschiedet, jedoch waren dem Design-Studenten die fahrigen Bewegungen des sonst so gefassten Mannes deutlich im Gedächtnis geblieben. Natürlich musste er seine Unverfrorenheit bemerkt haben, da gab es nichts dran schön zu reden. Wahrscheinlich hatte er sich und ihn mit seiner Aktion bis auf die Knochen blamiert. Geschlagen klingelte der junge Mann letztendlich doch. Er musste sich entschuldigen. Irgendwann. Bald summte die Tür und Kazuki trat mit gemischten Gefühlen ein. Zwar verneigte er sich in bekannter Manier, aber Masamune schien direkt zur Tat schreiten zu wollen.
 

„Hallo. Komm rein“, seine Stimme erklang schon aus dem hinteren Teil des Flures und als der Angesprochene aufblickte, entdeckte er den hochgewachsenen Mann im Anzug schon auf der Schwelle zum Arbeitsraum.
 

„Guten Abend“, murmelte Kazuki verwundert, streifte sich die Schuhe ab und schlug gerade die gleiche Richtung ein, ehe er abrupt verharrte und sich nach links wendete.

„Ah, einen Moment!“, rief er noch und verschwand für einen kurzen Augenblick im Gästebad. Er wollte tunlichst vermeiden, noch mehr negative Aufmerksamkeit auf seine Person zu lenken, also hielt er es für das Beste, den vier Geboten einfach nachzukommen. Schnell verschwand noch das Kaugummi im Abfalleimer, bevor er sich endgültig zu seinem Lehrer gesellte. Als er sich setzte bemerkte er unangenehm, dass er – wie die letzten Male auch – ausgiebig gemustert wurde.
 

„Heute hatte ich Zeit zum Umziehen, Sensei. Was ist es dieses Mal?“, Kazuki runzelte ein wenig ängstlich die Stirn.

„Mh. Wieder das Cosplay-Café?“, Masamune legte eine Hand an sein Kinn und schien zu überlegen.

„Ja. Da arbeite ich das ganze Wochenende“, die Falten über seinen Augen wurden tiefer. „Warum interessieren sie sich eigentlich so dafür? Mögen sie Cosplay?“

Der Student wusste, dass er soeben Regel vier gebrochen hatte, doch zu seinem Erstaunen erhielt er sogar eine Antwort.

„Nein. Ich weiß nur gerne, wo sich meine Studenten herum treiben.“

Kazuki verzog beleidigt die Mundwinkel: „Ts, herum treiben. Es macht zwar Spaß dort zu arbeiten, aber ich wüsste schon besseres mit meiner Zeit anzufangen, wenn ich das Geld nicht nötig hätte.“

„Das du dann für Haarfarbe ausgibst?“, der Größere deutete auf die ganz und gar nicht mehr rote Mähne seines Schülers.

„Nein, das ist Teil der Kostümierung…“, seufzend strich sich der Gefragte die wasserstoffblonden Haare aus dem Gesicht. „Das mache ich fast jede Woche und selbstverständlich zahlt der Arbeitgeber.“

„Ist das nicht… ungesund?“, fragend legte Masamune den Kopf eine Winzigkeit schief – eine Geste, die Kazuki irritierte. Er versuchte etwas in den durchdringenden, grünen Augen seines Gegenübers zu lesen, scheiterte aber kläglich.

„Ähh… ich weiß nicht? Sollten wir nicht eigentlich mal anfangen, Sensei?“

„Natürlich.“

Und so taten sie.

„Verzeihung, ich müsste mal wohin…“, entschuldigend lächelnd erhob sich der junge Mann von dem bequemen Polsterstuhl. Sie waren mit dem Stoff für heute wohl fast durch, aber seine Blase meldete schon seit einer ganzen Weile unangenehm ihren Füllstatus. Sein Sensei wirkte leicht genervt.

„Bitte“, der Handwink deutete zur Tür und Kazuki beeilte sich, aus dem Raum zu kommen.
 

Gerade, als er die metallene Klinke des Gästebads in der Hand hatte, gewahrte er zufällig aus den Augenwinkeln den unscheinbaren Gang, den er an seinem ersten Besuch zwar durchaus wahrgenommen, ihm aber seither keine große Beachtung mehr geschenkt hatte. In der Bewegung verharrend blickte er in den dunkleren Teil des Flurs und musterte die verschlossene Tür an seinem Ende.
 

Da meldete sie sich wieder, die Neugierde. Seine scharfen Blicke machten ein Schild aus, dessen Aufschrift er jedoch von dieser Position aus nicht lesen konnte. Die Finger des Studenten glitten geräuschlos von dem Griff. Sollte er? Mononobe würde es doch sicherlich nicht merken, wenn er einen Blick riskierte… Leise verschwand der Blonde hinter der einzigen, hervorstehenden Ecke des Raums und näherte sich vorsichtig der weißen Tafel.

„Never Ever Enter There“, las er halblaut die in Übergröße darauf abgebildeten Worte. Der Totenkopf unter ihnen sprach noch dazu Bände. Und wie es nun mal war, wenn man jemandem einen roten Knopf zeigte und gleichzeitig in aller Deutlichkeit verlangte, ihn um keinen Preis zu drücken, musste Kazuki seiner Zwangshandlung nachgeben. Fest packte er den Türdrücker und schluckte aufgeregt. Dies war ohne Zweifel der Eingang zu den privaten Räumen seines Senseis und er brannte förmlich darauf, einen schnellen, kurzen Blick zu erhaschen. Nur einen, er musste sich beeilen. Entschlossen drückte er die Tür auf und hoffte, dass er hier vielleicht sogar eine Erklärung für das merkwürdige Verhalten der Person fand, die hier wohnte.
 

Doch was er vorfand, war viel mehr als das. Ungläubig weiteten sich die braunen Augen, als er seine Blicke über das sich ihm bietende Ambiente gleiten ließ, das so völlig anders war, als das von dieser Wohnung bisher Gesehene. Das hier war ein Loft, ein unglaublich großes dazu, mit einer großzügig angelegten Galerie, von der noch weitere Zimmer abgingen. Hohe Fenster spendeten reichlich Licht und allein der untere Raum, in den Kazuki nun völlig fasziniert trat, war so gewaltig, das man darin hätte Tanzstunden geben können. Über die Kosten eines solchen Domizils konnte der Student jedoch momentan keinen Gedanken verschwenden, denn das Interieur war es, das seine gänzliche Aufmerksamkeit verlangte. Sein Unterkiefer klappte weit nach unten. Es war das Paradies, ein Museum, der Otaku-Tempel, das Nerd-O-Rama – er wäre gestorben für diesen Anblick! Keine der Wände zeigte mehr viel von der ursprünglichen Musterung, überall hingen Vitrinen, Poster oder Wandbehänge. Neben einer modernen Wohnlandschaft und vielen weiteren, sehr gemütlichen Sitzgelegenheiten standen allerorts Regale oder Schränke, die mit allerlei Dingen vollgestopft waren, die Kazukis Herz augenblicklich schneller schlagen ließen. Hunderte, wenn nicht sogar tausende Figuren aus Rollenspielen, Videogames, Anime oder Manga reihten sich aneinander. Bücher, DVDs ja sogar VHS nahmen ebenso einen Großteil der Stellfläche ein.
 

Als Kazuki seinen lebensgroßen Lieblingscharakter aus „Fantasy Adventures VI“ in einem Glaskasten gewahrte, entfuhr ihm ein kleiner Freudenschrei. Völlig verzückt trat der junge Mann noch einen weiteren Schritt in den Raum, da tönte plötzlich ein Alarmsignal los. Zwar nahm der Blonde das anhaltende und sehr störende Geräusch wohl als das wahr, was es eben war, es hinderte ihn jedoch nicht daran, zu besagter Vitrine zu stolpern und sein langjähriges Videospielidol in exklusiver Sonderedition anzuhimmeln.

„Seto-sama…“ stammelte er ungläubig während seine Finger auf der blankpolierten Glasvitrine schmierige Striemen hinterließen.
 

„Was tust du da?!“, Masamunes Stimme riss ihn plötzlich für einen kurzen Moment in die Realität zurück. Als er seinen Kopf wendete bemerkte er, wie sein Lehrer mit bebender Brust im Türrahmen stand und ihn völlig fassungslos anstarrte.

„Sensei!“ Kazuki strahlte, ungeachtet der Tatsache, dass der Ältere kurz vor einem Herzinfarkt stand, über das ganze Gesicht. Fasziniert ging er zum nächsten Regal: „Das ist unglaublich! Jetzt weiß ich, warum sie das hier wie einen Schatz hüten!“

Masamune beobachtete entsetzt, wie sich der Arm des Jüngeren zu einer der sauber aufgereihten Figuren aus dem achten Teil seiner Fantasy-Saga hob, doch sein „Fass sie nicht an!“, kam Sekundenbruchteile zu spät. Liebevoll befühlte der Student das bemalte Plastik in seinen Händen.
 

„Ahhhh, toll! Auch noch die Sonderedition, ich bin wirklich neidisch, Sensei“, sorgsam stellte er sie wieder zurück. Hatte er es doch gewusst –Mononobe Masamune war genau so ein Nerd wie er. Während er die nächste Skulptur berührte, zuckte er unvermittelt zusammen.

„Nicht anfassen, habe ich gesagt!“, brüllte Masamune, trat ärgerlichen Schrittes ins Zimmer und ließ das Alarmsignal verstummen. Kazuki erschrak – der schwarzhaarige Mann war wütend, dafür brauchte er ihn nicht gut zu kennen.
 

„Keine Sorge, ich bin vorsichtig. Ich weiß, was die Sachen wert-“

„Darum geht es nicht! Bist du auf den Kopf gefallen? Hast du das Schild da draußen nicht gelesen?!“ Seine Hände zitterten, sogar eine kleine Schweißperle löste sich von dem blassen Gesicht des Älteren.

„E-entschuldigung…“, verlegen blickte der Blonde zu Boden. Er war wohl zu weit gegangen.

„Das macht es auch nicht ungeschehen! Raus hier!“, das heftige Kopfnicken deutete auf die weit offen stehende Tür.

Verzweifelt suchte Kazuki die Blicke des anderen: „Es tut mir wirklich leid! Ich liebe ihre Arbeit, Sensei! Ich bin ein-“

Der Größere schnitt ihm kalt das Wort ab: „Raus hier, sagte ich.“

Nach einigen Sekundenbruchteilen hastete der Angesprochene wortlos aus dem Raum und verließ, nachdem er schnell seine Sachen geholt hatte, gänzlich das Appartement. Zurück blieb nur ein verdrießlicher Masamune.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ling_LingChan
2012-08-30T21:57:03+00:00 30.08.2012 23:57
Der Anfang ist viel versprechend. Bin schon gespannt, wie es weiter geht.
Masamune scheint ja ein richtiger Sauberkeitsfreak zu sein... hab ein bisschen Mitleid mit Kazuki.
Hiffentlich geht es bald weiter.

Lg. Das Lingling


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